Impressum

Hans Bentzien

Claus Schenk Graf von Stauffenberg

Der Täter und seine Zeit

ISBN 78-3-95655-453-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2004 im Verlag Das Neue Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Ist die Geschichte gerecht?

Es tut not, die Geschichte nicht gläubig zu lesen, sondern neugierig-misstrauisch, denn sie dient, die scheinbar unbestechliche, doch der tiefen Neigung der Menschheit zur Legende, zum Mythos - sie heroisiert bewusst oder unbewusst einige wenige Helden zur Vollkommenheit und lässt die Helden des Alltags ins Dunkel fallen.

Stefan Zweig

Eidbrüchiger Verräter?

Am 20. Juli 1944, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, detonierte im Führerhauptquartier „Wolfschanze“ bei Rastenburg eine Bombe. Claus Schenk Graf von Stauffenberg war der Mann, der die Bombe in Hitlers Hauptquartier brachte, um den obersten Vertreter des Deutschen Reiches, den „Führer und Reichskanzler“, wie er sich selber nannte und in allen offiziellen Dokumenten genannt wurde, zu ermorden. Hitler war der Mann, dem die Massen des Volkes zujubelten und als deren Sprecher er sich fühlte. Als Claus von Stauffenberg die Bombe legte, jubelte allerdings kaum noch jemand, und Hitler hielt sich hauptsächlich in einem vielfach gesicherten Lager mitten in einem Wald in der Provinz Ostpreußen auf. Wer zu ihm wollte, musste eine besondere Genehmigung haben, die nur bekam, wer das Vertrauen Hitlers und seiner Umgebung besaß.

Diesen Zugang erhielt Claus von Stauffenberg im Sommer 1944, als er zum Oberst befördert und angesichts der ungeheuren Verluste zum verantwortlichen Offizier für die Beschaffung neuen Kanonenfutters ernannt wurde. Hitlers ungeheure Erwartungen, einsatzfähigen, kampfbereiten Nachschub an jungen Menschen zu bekommen, ruhten besonders auf diesem energischen, klugen Offizier, den er deshalb mehrfach zum Vortrag befahl. Der Generalstabsoffizier von Stauffenberg hatte sich seit dem Frankreichfeldzug 1940 mit dieser Arbeit befasst, in ihr kannte er sich besonders gut aus; ihm war zuzutrauen, dass er aus halben Kindern gute Einheiten formte.

Auch der Autor war ein solches halbes Kind, beim Arbeitsdienst in einem Ausbildungslager, als die Nachricht von einem Attentat auf Hitler bekannt wurde.

Alle Lagerinsassen wurden zum Antreten befohlen, vor der Essenbaracke wartete bereits der Lagerführer, und kaum waren wir im offenen Viereck angetreten, begann die Übertragung des Rundfunks. Nach einer kurzen Musik hörten wir die wohlbekannte Stimme Adolf Hitlers, der dem Volk Ungeheuerliches mitteilte:

„Deutsche Volksgenossen und -genossinnen!

Ich weiß nicht, zum wievielten Male nunmehr ein Attentat auf mich geplant und zur Ausführung gekommen ist. Wenn ich heute zu Ihnen spreche, dann geschieht das aus zwei Gründen: Erstens damit Sie meine Stimme hören und wissen, dass ich selbst unverletzt und gesund bin. Zweitens, damit Sie aber auch das Nähere erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht.

Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab der deutschen Wehrmacht auszurotten. Die Bombe, die von dem Oberst Graf von Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter an meiner rechten Seite. Sie hat eine Reihe mir teurer Mitarbeiter sehr schwer verletzt, einer ist gestorben. Ich selbst bin völlig unverletzt bis auf ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen oder Verbrennungen. Ich fasse es als eine Bestätigung des Auftrags der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen, so wie ich es bisher getan habe ... Diesmal wird nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind.“

Deutlich wird, wie schnell Wahrheit und Dichtung bereits wenige Stunden nach diesem Ereignis eng zusammenfügt sind. Wahr ist, dass alle Leute wissen wollten, ob Hitler lebte, denn die Verschwörer, die „kleine Clique“, hatten verbreitet, Hitler sei tot. Es stimmt, dass Claus von Stauffenberg die Bombe gelegt hatte, und auch die Folgen waren richtig beschrieben, das Attentat war nicht gelungen. Hitler und seinem Apparat war auch ohne Weiteres zuzutrauen, dass unerbittlich „abgerechnet“ werden würde. Das Wichtigste jedoch, das Motiv zur Tat, blieb unerwähnt, es wurde nicht einmal versucht, damit zu argumentieren.

Inzwischen war auch bekannt geworden, dass Stauffenberg und ein paar eingeweihte Männer seiner Umgebung sofort, „standrechtlich“, erschossen worden waren, und diese Art von Justiz wurde allen angedroht, die sich ihren Pflichten entziehen wollten.

Hing das Attentat mit der besorgniserregenden Lage an den Fronten zusammen? Stimmte es, dass die Russen, Amerikaner, Engländer und Franzosen nicht mehr aufzuhalten waren, wie die Leute hinter vorgehaltener Hand munkelten? Laut wagte man nicht, solche verräterischen Gedanken zu äußern, jetzt schon gar nicht mehr. Der Endsieg durfte nicht bezweifelt werden. Aber diese wenigen Männer - auch darin hatte Hitler recht -, die es besser wissen mussten, hatten doch wohl ihre Zweifel gehabt?

Noch viele andere - Militärs wie Zivilisten - teilten das Schicksal Claus von Stauffenbergs, kamen vor ein Standgericht und wurden als Saboteure, Attentäter und Defätisten erschossen. So erging es jedem, der sich gegen den Krieg wandte - ob als bekannter Oberst oder als unbekannter Unteroffizier. Heute fragt man, ob diese Männer Helden oder Verräter waren. Aber die Fragestellung müsste wohl eher lauten: Wie wird ein Soldat, der geschworen hat, zu gehorchen und auszuführen, was auch immer seine Vorgesetzten ihm befehlen, auch wenn es ihn das Leben kosten sollte, zum Verweigerer der Befehle, zum Gegner, gar zum Attentäter?

Adel der Gesinnung

Nach dem 2. Weltkrieg, als der Autor an einer Grundschule unterrichtete, stellte ein älterer Schüler die Frage, ob er auch auf Menschen geschossen habe und ob es keine Möglichkeiten gegeben hätte, sich zu verweigern. Da war es gut, von Claus Stauffenberg und anderen, die persönlichen Widerstand gegen Hitler und das Naziregime geleistet hatten, berichten zu können. Menschen in den verschiedensten Positionen hatten sich wie Stauffenberg verweigert, hatten versucht, gegen den Wahnsinn des Krieges etwas zu unternehmen, und mancher verlor dabei sein Leben. Und doch waren es unter allen Deutschen nur wenige, die ihr Leben einsetzten, um die Kriegsmaschinerie zu stoppen. Nicht jeder war bereit und besaß den Mut, sich selbst zu opfern. Außerdem fühlten sich die meisten dem Eid verpflichtet, den sie geleistet hatten.

Doch ist es gerechtfertigt, sich auf einen Eid zu berufen, wenn er unter anderen und, wie sich erwies, unter falschen Voraussetzungen abgelegt worden ist?

Mit dieser Frage beschäftigte sich der Widerstandskreis im Militär beständig, nachdem er erkannt hatte, dass Hitler das Volk ins Verderben führte. Viele konnten nicht begreifen, dass ein Eid nur bindet, wenn er von demjenigen, der ihn entgegennimmt, nicht missbraucht wird. Ob das der Fall ist, kann in der Praxis schwer festgestellt werden, denn ein Krieg wird immer im Namen „höherer Werte“ geführt. Auf dem Koppelschloss der deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges stand die Parole: „Mit Gott für König und Vaterland!“ Dadurch wurde bei jedem Soldaten - die meisten waren gläubig - der Eindruck erweckt, Gott stehe auf der Seite des Deutschen Reiches und seines Kaisers, und damit sei der Krieg gerechtfertigt. Aber auch auf der Gegenseite segneten Priester die Waffen und schickten nach dem Gottesdienst im Namen des Allerhöchsten die Soldaten an die Front. Auf wessen Seite also stand Gott? An dieser Frage litten die Kirchen, denn nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine Austrittswelle. Die zurückkehrenden Soldaten und die trauernden Witwen konnten nicht verstehen, dass Gott so viel Leid und Tod gutheißen sollte; so war es nicht weit zu der Erkenntnis, dass sie in seinem Namen für eine verbrecherische Sache missbraucht worden waren.

Auch Claus von Stauffenberg war gläubig, und er brauchte Jahre, viel länger als manche seiner Altersgenossen und Kameraden, den Entschluss zur Verweigerung und zur Tat zu treffen. Wir werden sehen, welche Lebenssituationen und Krisen er überstehen musste, um sich zu entscheiden. So gelangte er bereits früh, in seinen Jugendjahren, zu der Erkenntnis: Adel der Geburt ist nur gerechtfertigt, wenn er von einem Adel der Gesinnung begleitet wird. Wer Vorrechte der Geburt in Anspruch nehmen kann, darf es nur in Verantwortung vor der Gemeinschaft tun. Sein Gewissen, nicht der Zwang der Umstände muss sein Handeln leiten, das erst ergibt innere Ruhe und Gelassenheit.

Ein heute fast vergessener Dichter, Stefan George, verfügte damals über einen erheblichen Einfluss unter der suchenden Jugend. Claus von Stauffenberg gehörte zu seinem Kreis, und über den Jüngling hat der Dichter Verse geschrieben, die uns eine Vorstellung von seiner jungen Persönlichkeit geben:

 

Bald traf ich ihn, der mattgoldnen Gelocks

austeilte ein Lächeln, wohin er trat,

die heiterste Ruh - von uns allen erklärt

zum Liebling des Glücks bis spät er gestand,

im Halt des Gefährten hab’ er sich verzehrt –

Sein ganzes Dasein ein Opfer.

 

Das klingt wie eine Vision.

Familie und Kindheit

Aufgewachsen ist Claus von Stauffenberg im Stuttgarter Königsschloss, dem „Altes Schloss“ genannten Bau, der heute ein Landesmuseum beherbergt, nachdem es im 2. Weltkrieg nach einem verheerenden Bombenangriff völlig ausgebrannt war. Die Angestellten des Museums waren überrascht, als der Autor nach der Wohnung des Oberhofmarschalls Alfred Schenk Graf von Stauffenberg fragte - als höchster Beamter des Königs hatte er mit seiner Familie im 2. Stock des Schlosses gewohnt, um immer zur Hand zu sein, wenn der König ihn brauchte. Niemand wusste mehr darüber Bescheid; alle waren ratlos, und außerdem war beim Neuausbau die Anordnung der Räume geändert worden.

In Stuttgart ergab sich jedoch der Kontakt mit einem Jugendfreund Claus von Stauffenbergs und seiner Brüder, Dr. Theodor Pfizer. Er hatte mit ihnen das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium besucht, mit ihnen zusammen gespielt und gelernt und ist bis heute ein Freund der Familie geblieben. Der frühere Oberbürgermeister von Ulm und Präsident der Deutschen Hölderlingesellschaft erinnerte sich gut an die Einzelheiten ihrer Kinder- und Jugendjahre. In den weitläufigen Räumen der Schlosswohnung war reichlich Platz für wilde Spiele, für Konzerte und Dichterabende, ja sogar für die Aufführung von Schauspielen. Die Mutter der drei Jungen Alexander, Berthold und Claus liebte die Literatur und achtete auf eine gründliche Beschäftigung ihrer Kinder mit Literatur, Musik und Theater. Auch sie, Gräfin Caroline von Üxküll-Gyllenband, kam aus altem Adel, ihre Vorfahren lebten zum Teil im Baltikum. Sie vor allem achtete auf die Erziehung der Jungen, denn der Vater Alfred konnte nur selten für die Familie da sein. Dann aber beschäftigte er sich gern mit praktischen Dingen. Er konnte sich als geschickter Handwerker sehen lassen, viele kleinere Arbeiten im Familiensitz Lautlingen erledigte er selbst, er tischlerte und tapezierte, zog Pflanzen und Blumen im Schlossgarten, ja sogar Artischocken in dem rauen Klima der Schwäbischen Alb.

Woher kommt der markante Name des Geschlechts? Ein Stauff ist ein Pokal, und auch die Bezeichnung Schenk weist darauf hin, dass die Männer in der Familie das wichtige Amt eines Mundschenks innehatten. Und in der Tat waren die Stauffenbergs die Mundschenken bei regierenden Fürsten, im 13. Jahrhundert auf jeden Fall, das ist nachgewiesen, bei den Herren der Zolllernburg. Seit dieser Zeit gilt das Amt des Mundschenken als erbliches Reichsamt. Die Stauffenbergs standen also im Dienst des Reiches und seiner Fürsten und hatten selbst als Ministrale jahrhundertelang wichtige Ämter inne. In der Nähe der Zolllernburg soll auch die Stammburg der Stauffenbergs gestanden haben. Wenn man aber in der Nähe von Lautlingen auf einem Felsvorsprung, dem Felsentor, steht und auf den Thierberg sieht, dann scheint sich über der ehemaligen Straße auf einem Plateau der Grundriss einer alten Burg abzuzeichnen. Würde man dort graben, stieße man ganz sicher auf die alten Grundmauern Wie es auch gewesen sein mag - die Stauffenbergs gehörten zu einem alten, wichtigen Geschlecht in Süddeutschland. Sie hatten Besitzungen auch in Franken, und Claus von Stauffenberg ist - am 15. November 1907 - im bayrischen Jettingen geboren, wohin sich Gräfin Caroline zur Niederkunft zurückgezogen hatte. Seine Jugend verbrachte er jedoch in Stuttgart und häufig auch in Lautlingen.

Als er geboren wurde, waren die Stauffenbergs bereits seit über 100 Jahren Reichsfreiherren und gehörten damit zu den oberen Adelsfamilien. Im Range standen sie gleich nach den Fürsten, wurden zu erblichen Grafen erhoben, hatten aber auch wichtige Bischöfe in ihrer Familie, so einen Bischof von Konstanz und Meersburg und den Fürstbischof von Bamberg, Marquart Sebastian, der den fränkischen Besitz Greifenstein erwarb.

Die Mutter Claus von Stauffenbergs gehörte nicht nur als Gattin des Oberhofmarschalls zum Hofe, sie stand als Hofdame der Königin auch in engem Vertrauensverhältnis, ja in freundschaftlicher Beziehung zur Königsfamilie von Württemberg. Die Freundschaft dauerte bis ins hohe Alter. Zwar gehörte der württembergische Königshof zu den kleineren Höfen in Europa - er war erst durch einen Erlass Napoleons entstanden -, doch auch an ihm ging es mit allem gehörigen Zeremoniell zu. Dafür hatte Alfred von Stauffenberg zu sorgen; doch Stuttgart war nicht Berlin oder Paris gleichzusetzen, und so verlief alles etwas weniger streng, die Hofetikette war von der schwäbischen Gemütlichkeit geprägt. Man dachte praktisch und liebte ein offenes Wort, einen guten Rat. Dazu kam eine bemerkenswerte Toleranz in Glaubensfragen. Obwohl der Hof evangelisch war, störte es doch niemanden, dass Graf Alfred der katholischen Kirche angehörte.

Während er als früherer Stallmeister gern mit Pferd und Wagen umging, respektierte er doch auch die Neigungen seiner Frau zu den klassischen Dichtern, zu Goethe und Shakespeare und zu ihrem genialen, unglücklichen Landsmann Hölderlin. Als Claus von Stauffenberg aufwuchs, wurde Hölderlin gerade nach langem Vergessen wiederentdeckt. Die Mutter las aber auch die Dichter ihrer Gegenwart, vor allem George und Rilke, die sie beide auch persönlich kannte. Durch ihre musischen Neigungen wirkte sie auf die Jungen ein und war die beste Verbündete ihres Lehrers, des Gymnasialdirektors Dr. Hermann Binder. Er unterrichtete sie in deutscher und englischer Literatur und förderte auch die Leidenschaft für das Theaterspiel. Alle drei Jungen wirkten in einer Aufführung von Shakespeares „Julius Caesar“ mit, und wenn man auch nur den vierten Akt bewältigte, so waren doch alle daran beteiligt. Die Jungen erarbeiteten alles gemeinsam, fragten einander die Rollen ab und führten auch Regie. Gespielt wurde in der großen Wohnung.

Ihre Kinderwelt war gewiss von den realen Vorgängen im Lande abgetrennt. Als Claus sieben Jahre alt war, begann der erste große Krieg. Doch man lebte in dem Bewusstsein, dass die Dinge im Lande wohlgeordnet waren, wozu die Haltung des Königs beitrug. König Wilhelm überließ die Regierung fachlich kompetenten Leuten, die konservativ und königstreu den kleinen Staat verwalteten. Er war ein Förderer der schönen Künste und der Wissenschaften, in deren Blüte er in seltener Selbstbescheidung den Sinn des Staatswesens überhaupt sah.

Das Land war klein, und so kannte jeder jeden, was man heute noch von Schwaben behauptet, obwohl das gewiss nicht mehr zutrifft. Doch man wusste genau, wer etwas zu sagen hatte, wer etwas zur Blüte des Staates beitragen konnte, und pflegte einen ausgeprägten Gemeinsinn.

Diese tolerante Geisteshaltung prägte auch das Elternhaus Claus von Stauffenbergs. Nicht nur die Neigungen der Eltern waren durchaus verschieden, auch ihre Glaubensrichtungen waren unterschiedlich. Der Vater war katholischen, die Mutter evangelischen Glaubens, und doch führte das alles nicht zu Disharmonien, sondern zu einem Familienklima, in dem man den anderen respektierte.

Die sorgenfreie Erziehung in Elternhaus und Schule prägte die Kindheit. Mit langen Locken, kurzen Hosen und weißen Kniestrümpfen, so kannte man sie im Dorf Lautlingen, so tollten sie auf den Wiesen und in den Wäldern der Umgebung, so liefen sie durch die wenigen, kleinen Gassen des Dorfes. In ihm standen fast alle im Dienste der Schlossherren und waren mit ihnen auf alte, patriarchalische Weise verbunden. Die Dinge des Lebens schienen geordnet, der gemeinsame Kirchgang gab Gelegenheit, sich über familiäre Angelegenheiten zu unterhalten. Erfuhr die Gräfin von einer Krankheit, besuchte sie die Erkrankten, saß an ihrem Bett und hatte immer ein kleines Geschenk dabei - eine Sitte, die sie bis ins hohe Alter beibehielt.

In den Ferien befassten sich die Jungen mit der Landwirtschaft. Von Claus wird erzählt, er hätte sich in der schwierigen Kunst des Grasmähens am Hang geübt. Der Vater erwartet einfach, dass die Jungen sich mit handfesten Dingen beschäftigen. Im Schloss und auf dem Gelände ist genug Platz dafür. Zum Schlossgebäude gehören Wohnungen für die Verwalter und Gärtner. Alles ist von einer halbhohen Mauer geschützt, vier Ecktürme bestimmen das Gesicht des Hofes. Nur ein paar Schritte durch die kleine Pforte, und man ist in der Kirche, die von einem Dorffriedhof umgeben ist. Die Familie Stauffenberg lebt zwar mitten im Dorf unter den Landarbeitern und Bauern, ist aber doch trotz allem von ihnen durch eine Mauer getrennt - fast ein Symbol für das allgemeine Verhältnis von Herrschaft und Gesinde.

Die alte Ordnung wird erschüttert

König Wilhelm II. von Württemberg war alt geworden. Er hinterließ keine leiblichen Kinder, und so stellte sich die Frage des Thronwechsels. Als Nachfolger kam Herzog Albrecht infrage, aber er entstammte einer katholischen Nebenlinie der Familie, und das würde Schwierigkeiten heraufbeschwören, wenn er König würde. Entweder er musste zum evangelischen Glauben übertreten, oder alle seine Untertanen müssten, wie der Landesvater, katholisch werden.

Angesichts dieser Sorgen bemerkte man kaum, dass trotz aller Siegeserwartung an den Fronten in Frankreich und Russland die Lage im Krieg immer schwieriger wurde. Im Sommer 1918 war eine Offensive in Frankreich, in der alles auf eine Karte gesetzt werden sollte, im Abwehrfeuer der Franzosen, Engländer und Amerikaner stecken geblieben, und nun griffen die amerikanischen Tanks an. Im Oktober und November löste sich die Front auf, und die deutschen Armeen fluteten an den Rhein zurück.

Gleichzeitig deuteten sich in den Betrieben revolutionäre Aktionen an. In den Großstädten, auch in Stuttgart, begannen die Gewerkschaftsobleute den Generalstreik vorzubereiten. Als die Meldung vom Aufstand der Matrosen in Kiel und in anderen Häfen der Hochseeflotte eintraf, lief eine Revolutionswelle durch das ganze Land auf Berlin zu, wo am 9. November die Kaiserstandarte vom Schloss eingezogen und die rote Fahne gehisst wurde.

Das Kaiserreich war gestürzt, alle Fürstentümer und kleinen Königreiche wurden zu Teilen der unteilbaren, demokratischen Republik Deutschland erklärt. Die Republik wurde an diesem November gleich zweimal ausgerufen: Eine demokratische Republik von dem sozialdemokratischen Politiker Philipp Scheidemann, eine sozialistische Republik von dem kommunistischen Politiker Karl Liebknecht. Um diese Frage, ob Deutschland eine demokratische oder sozialistische Republik sein sollte, entbrannten Kämpfe, die bis zum Jahre 1923 andauerten und zum Teil militärische Formen annahmen.

Die Novemberrevolution 1918 enthob den württembergischen Hof seiner religiösen Sorgen, der König musste abdanken und tat es zum Erstaunen des elfjährigen Claus auch ohne jeden Widerstand. Die Königsfamilie räumte das Schloss und zog um in das kleine Landschloss nach Bebenhausen. Die Aktion wurde von dem besorgten Oberhofmarschall geleitet. Graf Alfred blieb auch weiterhin in den Diensten des Königs als Verwalter des Rentamtes, welches das gesamte Vermögen der Königsfamilie, ihren privaten und anfangs auch den staatlichen Besitz betreute.

Die Lage des Königs war eine völlig andere geworden: Er war nunmehr nur noch der Herzog von Württemberg und sonst ein Privatmann wie alle anderen - eine Situation, an die sich nicht nur Wilhelm, sondern auch sein Finanzverwalter gewöhnen musste. Graf Alfred von Stauffenberg blieb seinem König treu und schlug sich für die Familie mit den republikanischen Behörden bis zur Fürstenabfindung 1928 herum.

Für die Familie Stauffenberg bedeutete der Umschwung, dass sie die nunmehr der Republik gehörenden Räume des Alten Schlosses verlassen und einige Häuser weiterziehen musste. Sie nahm Wohnung in den Zimmern des Rentamtes, was keine einschneidende Umstellung in ihrem Leben bedeutete. Man blieb in Stuttgart, das Einkommen war etwas geringer, aber die Jungen brauchten nicht die Schule zu wechseln. Lautlingen blieb erhalten.

Der ehemalige König Wilhelm verstarb drei Jahre später in Bebenhausen. Seine Witwe hielt noch lange Kontakt zur Gräfin Caroline von Stauffenberg, besuchte sie oft in Lautlingen und erkundigte sich nach den Kindern.

Für die große Familie der Stauffenbergs erwuchs aus der neuen Lage die Vierteilung des Besitzes. Jede Linie erhielt einen Stammsitz, Graf Alfred und seine Familie behielten Lautlingen. Auch hier hatte sich äußerlich nichts geändert. Ebenfalls behielt das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium seine altsprachliche Tradition bei. Nach dem Deutschen standen das Griechische und Latein an wichtiger Stelle, während in den Realgymnasien die Mathematik und die Naturwissenschaften bevorzugt wurden. Innerhalb der Schule gab es keine Privilegien. Wer Aufnahme in die alte Bildungsanstalt fand, gehörte ohnehin zu den tonangebenden Familien; das hatte sich durch die Revolution nicht geändert. In diesen Kreisen trauerte man mehr oder weniger offen den guten, alten Zeiten nach, in denen Deutschland noch etwas in der Welt galt.

Die Siegermächte verlangten Ersatz für die Schäden, die durch den Krieg angerichtet worden waren; außerdem wurden Zahl und Bewaffnung der klein gewordenen deutschen Streitmacht auf die Verteidigungsfähigkeit begrenzt. Nur 100 000 Mann durfte das Heer umfassen. Gegen dieses „Diktat von Versailles“ entwickelte sich eine permanente nationalistische Stimmung, die deutschnationalen Kreise fühlten sich beleidigt und entehrt und griffen diejenigen an, die in Versailles den Friedensvertrag unterzeichneten - als ob die eine andere Wahl gehabt hätten. Der Staatssekretär Matthias Erzberger, der den Waffenstillstand unterzeichnet hatte, wurde von rechtsradikalen Offizieren ermordet. Er blieb nicht das einzige Opfer nationalistischen Denkens. In den Jahren nach der Revolution, in denen Claus von Stauffenberg zum Mann heranwuchs, suchten alle nach dem weiteren Weg des deutschen Volkes, und neben demokratischen, radikalen und sozialistischen Stimmungen kamen, wie in der Romantik, auch verklärende Träume vom alten Reich auf. Man befürchtete sogar, das Abendland mit seinen kulturellen Werten werde untergehen.

In den Kreisen des Adels dachte man durchweg konservativ, war dem Alten zugewandt, den Zeiten, als „man noch etwas galt“, und durch den Abstand der Jahre verklärte sich die Wirklichkeit, man beschwor selbst das Mittelalter als eine glückliche Zeit. Die Träume von einer nicht technisierten Welt, von „reinen“ Haltungen und Taten bestimmten auch manche Debatten der Gymnasiasten. Konnte man nicht eine Welt ohne die Nachteile des gegenwärtigen Lebens bauen? Aus der griechischen und römischen Zeit wurden Parallelen zur Gegenwart gezogen, aber eine Antwort konnten auch diese Denkspiele nicht geben.

Die Stauffenbergsöhne hatten dabei das Glück, eine Tante in ihrer Familie zu wissen, die das Leben von seiner schlimmsten Seite kannte. Tante Alexandrine, eine Schwester der Mutter, war unverheiratet geblieben, weil sie ihr Leben in den Dienst an den Kranken und Verwundeten des Krieges gestellt hatte. An der Seite einer bedeutenden Frau, der Schwedin Elsa Brandström, war sie als Oberin des Deutschen Roten Kreuzes in die Kriegsgefangenenlager bis weit nach Osten, nach Sibirien, gegangen, um die furchtbare körperliche und seelische Not der Soldaten zu lindern. Wenn ihre Chefin „Engel der sibirischen Gefangenen“ genannt wurde, hatte auch sie daran guten Anteil. Da sie in den Ferien oft in Lautlingen weilte, erzählte sie den Jungen von ihren Erlebnissen und öffnete ihnen auf ihre Weise die Augen für die Schattenseiten des Lebens.

Doch es gab auch die andere Seite, die kaum verbrämten Heldengeschichten des Walter Flex und des Gorch Fock, die den Lesestoff der Schüler bildeten. Sie priesen die Kriegstaten, und wenn der Held auch untergehen musste - vorher hatte er viele Feinde vernichtet, und sein Tod zeigte ihn als moralisch überlegen und verehrungswürdig. Die geistige Situation war also verworren, und es bereitete manche Schwierigkeit, sich darin zurechtzufinden. Das Lernen stand jedoch vornean, wer etwas erreichen wollte, musste gute Noten haben, und die waren nicht einfach zu erlangen. Die Schule achtete auch auf die Teilnahme am außerschulischen Leben, wozu der Besuch von Vorträgen gehörte. Im Geschichtsverein und im literarischen Klub traf man sich, und im Salon der Mutter ging es regelmäßig interessant zu. Wenn sie zum Tee lud, durften die Jungen anspruchsvollen Gesprächen lauschen. Selbstverständlich besuchte man das Theater, allerdings immer ohne den Vater. Er betrat das ehemalige Hoftheater nicht mehr, nachdem das königliche Wappen an der Loge entfernt war. Die Jungen störte das nicht, sie besuchten selbst solche Stücke wie Schillers „Braut von Messina“ und diskutierten deren historische Probleme. Antworten für die Gegenwart daraus zu finden, war schwierig; doch das politische Interesse wurde dadurch geweckt - was der Vater gern sah.

Das soll jedoch nicht bedeuten, dass der Vater die literarischen Neigungen seiner Jungen in jeder Beziehung billigte. In der gesamten Jugendbewegung grassierte damals eine Hölderlin-Manie, der auch die Stauffenbergjungen verfallen waren. Darüber spottete er mild und zeigte kaum Verständnis. Als Pragmatiker ließ er sie jedoch gewähren und war klug genug, ihre musischen Interessen nicht zu behindern. Ein altes Foto gibt uns Aufschluss über die drei. Sie waren oft zusammen, aber glücklich waren sie erst, wenn sie Zeit für das gemeinsame Musizieren hatten. In ihrem Trio spielte Alexander das Klavier, Berthold die Geige, und Claus leistete seinen Part auf dem Cello. Das damalige Musikzimmer in Lautlingen, in dem noch der alte Flügel steht, ist heute eine Stauffenberg-Gedenkstätte.

In Deutschland organisierte sich die Jugend seit der Jahrhundertwende zu ihrem bewussten Teil in der Jugendbewegung. Ihren Höhepunkt hatte sie bereits zur Zeit des 1. Weltkrieges überschritten, doch vorher stellte sie durchaus eine politische Kraft dar. Sie war durchweg pazifistisch geprägt und initiierte bedeutende Manifestationen gegen den drohenden Krieg. Ihre Krise begann, als trotz emphatischer Worte die Mehrheit der Jugend begeistert und freiwillig in den Krieg zog. In der Nähe des Gymnasiums sahen die Schüler um Stauffenberg mit eigenen Augen, welche Folgen ein Krieg hatte. Gedenksteine erinnerten an die vielen ehemaligen Mitschüler, die im Felde geblieben waren.

Die Jugendbewegung suchte nun, nachdem ihr Versagen deutlich geworden war, nach neuen Inhalten, die das Leben erfüllen konnten. Bei gemeinsamen Wanderungen, an Lagerfeuern, in literarischen und musikalischen Feierstunden besprach man den Sinn des Lebens. Die Arbeiterjugend hatte ihre eigenen Organisationen, die Sozialistische Arbeiterjugend und den Kommunistischen Jugendverband. Die bürgerliche Jugend vereinte ihre verschiedenen Gruppen in der Bündischen Jugend, und eine, wohl die kleinste von allen, waren die Neupfadfinder, in denen Berthold und Claus von Stauffenberg Mitglieder wurden. In diesem exklusiven Jugendverein trafen sich die Söhne aus den besseren Häusern und pflegten unter Gleichaltrigen ihre unklare Sehnsucht nach mittelalterlicher Romantik. Ihre Gedanken schweiften zurück nach Griechenland, dem Land der Sehnsucht ihres Hölderlin, suchten aber das glückliche Leben auch im alten, bäuerlichen Russland eines Iwan Turgenjew. Sie lasen die Bibel und die europäischen Klassiker, warteten auf den Neuen Menschen und besprachen leidenschaftlich, wie er sein sollte. Ja, sie wollten selbst diese neuen Menschen sein und einer alten Erwartung aus der Zeit des Urchristentums entsprechen: Der Mensch ist gut!

Nicht aus der aufklärerischen Philosophie, sondern aus der Literatur, nicht aus den Begriffen, sondern aus den Sprachbildern holten sie sich die Quellen ihres Fühlens und Handelns. So ist die Jugendbewegung dieser zwanziger Jahre angefüllt mit romantischen Erscheinungen. Man pries die in der spätromantischen Wandervogelzeit wiedererweckten wandernden Scholaren. Wenn sie an den Lagerfeuern saßen und die Lieder aus dem „Zupfgeigenhansl“ sangen, versetzten sie sich in eine bessere Welt, abseits von den unwägbaren Fährnissen der Nachkriegszeit. Das politische Ziel, der ewige Weltfriede, war im Krieg mit Füßen getreten worden. Es musste eine neue Ethik her, ein Wertgefüge, an das man sich im Leben halten konnte. Bei den Neupfadfindern beschäftigte man sich mit dem Idealbild des Ritters, eines anständigen Soldaten also, der mit starker Hand das schwach gewordene Reich und die Schwachen in ihm zu schützen vermochte.

Den jungen Schwarmgeistern war es ernst mit einer neuen Welt, in der neue ethische Grundsätze gelten sollten, da sie an der alten alles beklagten: Die Durchdringung des Lebens mit Technik und die ihr folgende Hast, im Politischen die Republik ohne einen festen Mittelpunkt, wie ihn angeblich die deutschen Kaiser gebildet hatten. Die umständliche und kontroverse Meinungsbildung in der täglichen Praxis der Parlamente und der über dreißig Parteien hielten nicht nur sie für unüberschaubar. Außerdem verachteten sie alles, was „links“ war, ohne die Auffassungen der Arbeiterparteien und der Liberalen genau zu kennen. Sie hielten sich für den eigentlichen Staat, die Elite, die Avantgarde, den Vortrupp. Sie wollten vorangehen, die Welt zu verbessern.

In Goethes, Shakespeares und Hölderlins Werken fanden sich so viele Gedanken und Bilder, mit denen man sich ein neues Reich erschaffen konnte, ohne die umständlichen politischen Prozeduren der Weimarer Republik vornehmen zu müssen. Und so war hier schon bei vielen der Boden bereitet für ein „Tausendjähriges Reich“, das ihnen verheißen worden war von der Bibel, von der Reichsidee des Mittelalters - und von einem damals noch kaum bekannten Mann, der so anders war als alle anderen Politiker, schockierend fanatisch und Massen gewinnend. Er berief sich auf die Vorsehung und stellte sich als eines ihrer Werkzeuge hin, dem aufgetragen worden sei, die Welt im Namen der germanischen Rasse (der er selber allerdings nicht angehörte) zu erretten. Das alles klang für ihre suchenden Gemüter edel und begeisternd.

In den Programmsatzungen der Neupfadfinder war von den Gefahren des Weges, die dieser neue Prophet wies, allerdings noch nichts zu spüren. Seit 1920 standen ihre Mitglieder unter hehren Zielen verbunden: Sie strebten nach der Erneuerung des inneren und äußeren Lebens „im Glauben an eine kommende deutsche Kultur“. Dafür sei ein neuer Mensch die Voraussetzung, das Ziel aber sei das neue Reich. Um es zu gewinnen, bedürfe es einer kraftvollen, herben Lebensart. Nun ja, ähnliche Worte schrieben auch andere Gruppen der bündischen Jugend in ihre Schriften, die weit mehr, als wir heute annehmen, die Haltungen der jungen Menschen bürgerlicher Herkunft prägten. Anders war es bei den Jugendverbänden der Arbeiterbewegung: Sie stellten sich in den Dienst der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für die Verbesserung der realen Lebensbedingungen.

Diese Welt war den Stauffenbergsöhnen völlig fremd, sie hatten nie Berührung mit ihr gehabt. Aus ihrer Sicht war ihr Bund der Ausgangspunkt für eine bessere Welt. Aus ihm sollte das Volk entstehen, wirkend in einem Staat, der von Männern priesterlichen Denkens geleitet wurde. In diesem Sinne bezeichneten auch sie sich als Staat. Sie waren bereits der Staat, der als Quelle aller weiteren Wohlfahrt anzusehen war. Ihr Bund war ein Jugendreich, seine Mitglieder die unbefleckten, weißen Ritter. Ihre Bundeszeitung, geleitet von ihrem Vorsteher, einem Pfarrer aus Berlin, trug programmatisch diesen Namen: „Der weiße Ritter“.

Sicher sind viele Ideen dieser Bündischen Jugend später belächelt und vergessen worden; und dennoch brachte diese Bewegung einige, wenn auch unklare ethische Maximen hervor, die schließlich dazu führten, dass aus „weißen Rittern“ die Mitglieder der „Weißen Rose“ wurden. Die Studenten der Münchner Universität riefen in mehreren Flugblättern zum Sturz Hitlers auf. Wie Claus von Stauffenberg hatten auch sie sich ein eigenes Bild vom Reich ihrer Sehnsucht gemacht, das nun durch den Krieg beschmutzt wurde. Ihr erstes Flugblatt vom Juni 1942 erinnerte die Deutschen daran, dass sie, ein Kulturvolk, sich wie eine seichte, willenlose Herde von Mitläufern, denen das Mark aus dem Innersten gesogen und nun ihres Kernes beraubt worden sei, bereit seien, sich in den Untergang hetzen zu lassen.

Der Antifaschismus der „Weißen Rose“, das beweisen auch ihre weiteren Flugblätter, bezog seinen Grund aus den Ideen der Dichtung und einer idealistischen Auffassung vom Staat. Sie nahmen Friedrich Schiller als Zeugen dafür, dass die Kräfte des Abgrunds wohl den halben Erdkreis „übersiegen“ können, aber sie und alle, die sich an sie gehängt haben, gehen gesetzmäßig zugrunde, weil sie den freien Willen des Menschen missachteten.

Das unklare Verhältnis zum verschwommenen Begriff der „Masse“ teilen sie mit der Arbeiterbewegung. Auch sie treten selbstlos für die „Masse“ ein und meinen damit ihr Vaterland, das sie mit Hölderlin begriffen. Doch trotz allen ehrenwerten Mutes bis zum Selbstopfer liegt hier eine Achillesferse; sie wurden, wenn überhaupt, gehört, doch nicht verstanden. Der Begriff der Masse, besonders da, wo er sie als „passive“ versteht, enthält bereits das unwillkürliche Eingeständnis, wenig oder nichts über die Gesetze, welche die Welt bewegen, zu wissen. Einige, die Eingeweihten, stellen sich über die absolute Mehrheit des Volkes, und obwohl sie sich als die Wissenden bezeichnen, verstehen sie doch von der Kraft des Volkes, auf das sie sich berufen, recht wenig oder gar nichts.

Aber gerade die Unbestimmtheit der Begriffe erschien den elitär denkenden jungen Leuten eine ausreichende Grundlage für die Beurteilung der Welt und ihrer Gebrechen zu sein. Im Leben der Jugendgruppen wollten sie ihrer Veränderung näherkommen. Theodor Pfizer beschreibt, wie sie um das Lagerfeuer oder zu Weihnachten um den Tannenbaum standen, Hand in Hand, gemeinsam mit ihren Lehrern, das Liedgut der Jugendbewegung anstimmten und den Versen Hölderlins und Georges lauschten. Ja, die Dichter erschienen ihnen als die eigentlichen Führer, die Herrscher im Geistigen, dem Eigentlichen und Bestimmenden im Leben. Die Dichter blieben, sie hatten Bestand, sie gaben der deutschen Seele das Bild ihres Vaterlandes, das sie so nötig brauchten in der Zeit vermeintlicher Schande in einem ungeliebten Staat.

In diesen komplizierten Denkkonstruktionen, in denen ein Begriff den anderen bedingt, fanden sie das für jeden Fall lebensnotwendige Gedankengut, ohne sich ganz von den praktischen Dingen des Lebens, die man in ihrer Unerbittlichkeit unterschätzte, ja verachtete, abzuwenden. Ihre eigenen, privaten Umstände zwangen sie nicht dazu, sich für reale Ziele engagieren zu müssen. So suchten sie den reinen Adel des Geistes, der ihnen wichtiger erschien als der Adel der Geburt, der nichts gelte und bedeute. Auf die Gesinnung komme alles an. Neue Kräfte erhoben in der Gesellschaft ihre Ansprüche, wie sollte man sich zu ihnen verhalten? Man konnte sich nur durch höhere Gesinnung in den zu erwartenden Auseinandersetzungen behaupten.

Diese Fragen stellten sich die jungen Leute damals noch nicht konsequent, und auch ihre Lehrer wussten nicht immer, dass sie eines Tages unerbittlich fragen würden. Zu stark war der Glaube an den Wahrheitsanspruch der klassischen antiken und deutschen Dichtung verbreitet. Man bewegte sich frei in der griechischen Gedankenwelt und ihren Systemen, und auch in den Nachahmungen der Kulte übte man sich, die in der Jugendbewegung an die Stelle der als unbrauchbar erwiesenen Religionen trat. An den Feuern fühlte man sich zum „eingeweihten Kreis“ gehörig. In dem 1943 von Berthold und Claus von Stauffenberg für den Widerstand gegen Hitler ausgearbeiteten Eid heißt es in diesem Geiste und in dieser Sprache: „Wir wollen Führer, die, aus allen Schichten des Volkes wachsend, verbunden den göttlichen Mächten durch großen Sinn, Zucht und Opfer, den anderen vorangehen.“ Mit Ausnahme der Aussage, die Führer sollten aus allen Schichten hervorgehen - inzwischen war klar geworden, dass man die Masse nicht wie eine Herde führen könne - wäre dieser Eid auch an einem Lagerfeuer im Jahre 1924 möglich gewesen. Hitler erkannten sie zur Zeit ihres Eides nicht mehr an, da er sie enttäuscht hatte. Er war der „Widerchrist“, wie Stefan George ein Gedicht überschrieb. Hitlers selbst ernanntes Führertum besaß für sie weder Sinn noch Zucht, noch war es den göttlichen Mächten verbunden, obwohl er sie dauernd im Munde führte. Die Opfer ließ er andere bringen. Wofür? Warum? Die bohrende Frage nach dem Warum ist die eigentlich revolutionäre Frage. Sie forscht nach den tiefsten Gründen, die die Welt innerlich zusammenhalten - und auf der Suche nach ihnen finden die Jungen eine Spur, die des Meisters Stefan George.

„Nur kleine Schar ist zu der Sicht berufen ...“ - der Einfluss Stefan Georges

Den bohrenden, unbewusst quälenden Fragen gab der Dichter Stefan George Form und Gewicht. Der heute weitgehend unbekannte Lyriker war damals ein verehrter Sprecher der nationalen Jugend. Er wird heute von vielen Literaturwissenschaftlern abgelehnt, weil sie ihm vorwerfen, er habe mit seiner Dichtung, seit Ende des vorigen Jahrhunderts, also immerhin fünfzig Jahre lang, den Hitlerfaschismus vorbereitet. Außerdem gilt seine Lyrik zwar als sprachgewaltig, doch lediglich als hohle Gedankenlyrik, die sich ziere, gesellschaftliche Funktionen zu übernehmen. Und doch löste sein Werk bereits zu Lebzeiten in einem wichtigen Teil der Jugend nachhaltige Wirkungen aus. George fühlte sich als Sachwalter Hölderlins und war verdienstvoll an dessen Wiederentdeckung beteiligt. Mitten im Krieg erschien die erste größere Gesamtausgabe des Dichters aus Schwaben. George geriet aber zu Lebzeiten bereits ins Zwielicht, weil er sich als ein selbst ernannter König der Dichter fühlte und gab. Er brauche keinerlei Bestätigung durch andere, sondern sei sich selbst genug, Beifall durch andere mache seine verantwortliche Wirkung nur fragwürdig, meinte er. In Wirklichkeit war George immer auf der Suche nach Bestätigung, und er glaubte, sie in begabten jungen Menschen zu finden, die er um sich scharte, in seinen Kreis aufnahm. Von ihnen erhoffte er sich Anregung und schließlich auch Fortsetzung, denn er war schon nicht mehr jung, als er immer noch eine Art Dichterakademie in Anlehnung an Platon betrieb.

Sie war jedoch alles andere als eine Schule, er praktizierte sie auf eigene Weise. Ohne festen Wohnsitz, zog er wie ein mittelalterlicher König von Pfalz zu Pfalz. Er hielt sich immer bei einem seiner Jünger auf, versammelte bei diesem die anderen Anhänger und empfing von ihnen Lobpreisung und Anerkennung. Auf diesen Zusammenkünften waren nur zugelassene Schüler anwesend, sie empfingen die Auszeichnung, seine Werke aus eigenem Munde zu vernehmen. Diese Anerkennung kam nur den Auserwählten, Würdigen zugute.

Wenn seine Anhänger zu ihm eilten, erhofften sie sich zugleich ein treffendes, wegweisendes Wort des Meisters über ihre eigenen Arbeiten. Er sah ihre Gedichte oder Prosaseiten durch, und auch kleine, gedankenreiche Passagen oder kluge Beobachtungen konnten vor seinem Auge bestehen. Sein Urteil galt unbeschränkt an diesem Dichterhof; wer anderer Meinung war, ging in der Regel seine eigenen Wege und trennte sich, oft genug auch im Zorn, von ihm.

Die Jünger fühlten sich als der eigentliche Staat, den man erstreben sollte, dem man angehören wollte. Über die Zulassung traf der Dichter allein die Entscheidung, dann erst war man auserwählt. Irgendwelche demokratischen Spielregeln sucht man vergebens. Obwohl der Dichterkreis sich nach und nach veränderte, blieb sein Kern doch fast konstant.

Georges Dichtungen stellen angesichts der Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts mit allen auch negativen Folgen für das Leben in den Städten eine Kulturkritik dar, wie wir sie auch zu anderen Zeiten beobachten. Die Zeiten werden demnach immer schlechter, die früheren Zustände erscheinen verklärt. George beschreibt mit seiner gewaltigen Sprachkraft die Zukunft als nahezu ausweglos, er malt schaurige Endzeitbilder, in fatalistischer Stimmung treiben die Menschen und die von ihnen erschaffenen Dinge dem Chaos zu. Dabei verwendet er Figuren und Bilder aus der germanischen Mythologie und schließt damit an eine verbreitete „völkische“ Geisteshaltung an, die wir auch bei Wagner finden. Das „Völkische“ wiederum ist ein Begriff, der mit dem deutschnationalen Denken in der Zeit um die Jahrhundertwende durchaus konform geht. Viele Denker beschwören „das Völkische“. Auch im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten taucht das Volk in allen Variationen auf, die Bürger werden als „Volksgenossen“ bezeichnet, Hitler behauptet, „vor dem Volk“ alle Verantwortung zu tragen. So wird das vorhandene vorgeprägte nationalistische Denken ohne Schwierigkeiten in den „nationalen Sozialismus“ Hitlers übernommen. Das ist der Grund, warum der Sänger des Völkischen, Stefan George, in den Ruch eines Vorläufers der Nazibewegung geriet.

Er betrachtete das Volk völlig undifferenziert, es ist für ihn eine allgemeine, abstrakte Kategorie, eine amorphe Masse, die hoffnungslos, weit unter der Elite stehend, im Dumpfen verharrt. Sie hat keine andere Wahl bis zu dem Tag, an dem die Posaunen ertönen und die Toten wiederkehren. Diese allgemeinen Vorhersagen kennt man bereits aus den Religionen und der Literatur, aber George trägt sie erneut besonders eindringlich vor. Der suchenden Jugend erscheint er als der deutscheste aller Dichter, begabt mit einem prophetischen Blick; George ist der Hölderlin ihrer Tage.

Als George die Stauffenbergjungen kennenlernte, begriff er ihre besonderen Begabungen wie vor ihm bereits ein anderer bedeutender Dichter, Rainer Maria Rilke. Mit ihm stand die Mutter Caroline in kurzzeitigem Briefwechsel, und sie hatte ihm mit einer Schilderung ihrer Überlegungen zur Erziehung der Jungen nach dem Krieg auch ein Foto geschickt, das die drei im Jahre 1915 zeigt und noch aus dem Alten Schloss stammt. In einem seiner vier Briefe an Gräfin Caroline antwortet Rilke nach der Betrachtung des Bildes: „... Ich verstehe jetzt die Sorge, die Sie in Ihrem vorletzten Brief als Mutter von drei Söhnen aussprechen, aber ich erkenne in der liebevollen Gruppe doch auch wieder das große überwiegende Glück, das Ihnen mit drei schönen und schon im jetzigen Augenblicke so vielfach künftigen Knaben geschenkt worden ist.“

Das Urteil über das Foto muss etwa in den Revolutionstagen abgegeben worden sein, die voller Unruhe über die weitere Zukunft waren. Rilke beruhigte die Mutter. Wie aber mögen die Studenten Alexander und Berthold und der erst sechzehnjährige Claus auf den alternden George gewirkt haben, als er sie kennenlernte! Zuerst wurde ihm Alexander vorgestellt, vermittelt durch einen Verwandten der Mutter, den Historiker Woldemar Graf von Üxküll. Danach wollte George auch Berthold kennenlernen. Wahrscheinlich hatte Alexander, der sehr gern Gedichte schrieb, auch von seinem Bruder berichtet, der sich gleichfalls als Dichter versuchte. Der Meister nahm beide in seinen Kreis auf, dem sie seit dem Jahre 1923 angehörten. Ein Jahr später folgte auch Claus, eingeführt durch einen guten Bekannten Georges, Professor Albrecht von Blumenthal aus Jena.

Claus bestand wahrscheinlich vor dem prüfenden Blick Georges, weil er bereits zu dieser Zeit ein guter Kenner seines Werkes war. Er sprach dessen schwierige Gedichte auswendig und hat sie sein Leben lang in wichtigen Momenten zitiert. Dazu kam, dass auch er sich in Gedichten versuchte; zweifellos hat er sie dem Meister vorgelegt. Doch mit Gedichten kamen viele, die in den Kreis aufgenommen werden wollten; das reichte nicht für eine enge, freundschaftliche Bindung, dafür musste auch gegenseitige Sympathie vorhanden sein. George war von Claus’ heiterer, offener, jugendlicher Erscheinung beeindruckt. Während andere Mitglieder des „Staats“ hin und wieder auch den Tadel des Meisters spürten oder von ihm zurechtgewiesen wurden, erfreute sich Claus von Stauffenberg seiner kritiklosen Anerkennung, und das wohl wegen seines unschuldigen Charakters.

Als er in den Kreis eintrat, war er bei Weitem der Jüngste. Über den Eindruck, den er auf die anderen machte, besitzen wir ein Zeugnis von Ludwig Thormaehlen: „Eine Trennung, einen Abstand zwischen Denken und Tun, Empfinden und Handeln, gab es bei Claus nicht. Vielleicht besaß er nicht die Weite des Hintergründigen des Berthold, die Vielfalt und Fülle des Alexander, aber er war dafür aus einem Guss, ohne Gehemmtheit, dazu tief, lauter und kräftig.“

Dem Meister Stefan George stand Claus von Stauffenberg in natürlicher Verehrung und Liebe gegenüber. Seine Briefe tragen die Anrede:

„Mein geliebter Meister!“ Alle Zeugnisse aus dem Kreis enthalten die Gewissheit, dass er seine Stellung als Jünger ernst genommen hat. Davon zeugen die häufigen Besuche bei George, auch noch während der Militärdienstzeit, bis hin zum Beistand am Sterbebett. Mancher betrachtete verhohlen George als Tyrannen, doch Claus von Stauffenberg hat ihn sicher nicht so empfunden, denn für ihn besaß der Meister eine natürliche Autorität, und also geschah die Unterordnung unter seinen Willen und sein Urteil freiwillig. Bereits vor dem 1. Weltkrieg hatten seine Schüler ihn den „Kritiker seiner Zeit“ und „Propheten der Zukunft“ genannt, nunmehr kam aber für den Dichter eine neue, selbst gewählte Rolle hinzu. Er wollte Lehrer einer neuen Jugend sein, in ihren Geist den Keim der Erneuerung pflanzen, und damit erklärt sich, dass aus dem Kreis „der Staat“ wurde, in dem sie, die Auserwählten, die (geistige) Regentschaft ausübten.