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Ralf Kramp

Still und starr

Vom Autor bisher erschienene Bücher bei KBV:

»Tief unterm Laub«

»Spinner«

»Rabenschwarz«

»Der neunte Tod«

»Still und starr«

»… denn sterben muss David!«

»Kurz vor Schluss«

»Malerische Morde«

»Hart an der Grenze«

»Ein kaltes Haus«

»Ein Viertelpfund Mord«

»Totentänzer«

»Nacht zusammen«

Ralf Kramp, geboren 1963 in Euskirchen, lebt und arbeitet als Karikaturist, Krimiautor und Veranstalter von Krimi-Erlebniswochenenden in Üdersdorf in der Eifel. Für sein Krimi-Debüt »Tief unterm Laub« erhielt er 1996 den Eifel-Literatur-Förderpreis. Seither erschienen zehn weitere Bücher bei KBV, unter anderem der historische Kriminalroman »… denn sterben muss David!« (2001) und die Reihe um den kauzigen Helden Herbie Feldmann.

Außerdem ist er zusammen mit Manfred Lang Herausgeber der umfangreichen Eifel-Schauergeschichtensammlungen »Abendgrauen« (1999), »Abendgrauen II« (2001) und »Abendgrauen III« (2006).

Mit Manfred Lang zusammen wurde er für den »Rheinischen Literaturpreis Siegburg 2002« nominiert.

Im Jahr 2002 erhielt er den Kulturpreis des Kreises Euskirchen.

Ralf Kramp

Still und starr

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1. Auflage Oktober 2000

2. Auflage November 2001

3. Auflage April 2005

4. Auflage Februar 2008

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Für
Boris, Carsten, Catrin, Haffner, Hansi, Jacqueline, Julia, Lumpi,
Manuela, Maso, Matthias, Mori, Nora, Steffi, Tina und Torben.
Und auch für Reiner.
Habe ich euch eigentlich schon mal gesagt …?

Ich schwöre und rufe Apollon, den Arzt, und Asklepios und Hygeia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und nach meiner Einsicht erfüllen werde.

Ich werde den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleich meinen Eltern achten, ihn an meinem Unterricht teilnehmen lassen, ihm wenn er in Not gerät, von dem Meinigen abgeben, seine Nachkommen gleich meinen Brüdern halten und sie diese Kunst lehren, wenn sie sie zu lernen verlangen, ohne Entgelt und Vertrag.

Und ich werde an Vorschriften, Vorlesungen und aller übrigen Unterweisung meine Söhne und die meines Lehrers und die vertraglich verpflichteten und nach der ärztlichen Sitte vereidigten Schüler teilnehmen lassen, sonst aber niemanden.

Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden.

Auch werde ich niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht wenn ich darum gebeten werde, und ich werde auch niemanden dabei beraten; auch werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel geben.

Rein und fromm werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.

(Auszug aus dem Eid des Hippokrates)

So muß es gewesen sein …

Natürlich war ich nicht dabei, habe es nicht mit eigenen Augen gesehen. Aber ich habe genug Phantasie, und vor meinem inneren Auge läuft das alles wieder und wieder ab.

Niemand hat es beobachtet.

Niemand hat es kommen sehen.

Aber so muß es gewesen sein.

Er nahm den Stuhl, der neben der gemauerten Kaminsäule stand, die aus dem hölzernen Fußboden wuchs und sich hoch oben in der Dunkelheit durch das Dach bohrte.

Der Stuhl hatte immer da gestanden, seit ich denken kann. Ein altes, gedrechseltes Möbel. Wir haben ihn als Kinder benutzt. Vor vielen, vielen Jahren. Wir waren zu klein, um an das oberste Fach des alten Schranks zu kommen, in dem die Hüte lagen. Wir kostümierten uns zu jeder Jahreszeit, die Jungs aus der Nachbarschaft und ich. Der alte Springzylinder von Großvater, das alte Sakko mit dem zerrissenen Futter. Alles roch nach Mottenkugeln. Bitter und blumig zugleich.

Er muß ihn in die Mitte des Dachbodens gestellt und vielleicht ein bißchen hin- und hergeschoben haben, weil der Boden sehr uneben ist.

Wenn wir uns früher heimlich hochgeschlichen haben um zu rauchen, mußten wir höllisch aufpassen, daß die knarrenden Dielen uns nicht verrieten.

Hatte er sich auch heimlich hochgeschlichen? Warum hatte niemand etwas gemerkt?

Der Stuhl war sicher voller Staub. Alles hier oben war staubbedeckt und sah grau und matt aus im spärlichen Licht, das durch das kleine Dachlukenfenster hereinfiel. Sie fanden heraus, daß er es früh morgens getan hatte.

Die Morgensonne hatte vermutlich das Fenster noch nicht erreicht. Er tat es im Halbdunkel. Er hatte Zeit. Genug Zeit, um jeden seiner Handgriffe bedächtig und ohne Hast auszuführen. Man braucht kein Licht dazu.

Woher hatte er den Strick? Jemand erkannte ihn später als alten Kälberstrick. Die gab es im Dorf in Mengen. Die halten was aus. Es war kein Knoten, wie er im Film aussieht. Ungekonnt war er gebunden. Einfach und ohne Finesse. Aber er funktionierte. Er zog sich zu, so wie Vater es geplant hatte.

Der Dachstuhl war solide gezimmert, war verwoben mit den Spinnweben von über hundert Jahren.

Vielleicht hatte er zwei-, dreimal werfen müssen, bis das Ende des Stricks schließlich über dem Balken baumelte. Vater war nicht gut im Werfen. Er war auch kein guter Fänger. Kein Sportler, und doch kräftig und ohne Gebrechen.

Wie fühlt sich das an, eine Schlinge um den Hals? Kratzen die Fasern des groben Materials auf der weichen Haut? Ist es starr und ungnädig? Oder legt es sich locker in den Nacken und auf das Brustbein?

Ein paar schwankende Bewegungen mit dem Unterkörper, ein Verlagern des Gewichts auf die Kante des alten Stuhls.

Schwarze, blankpolierte Schuhe, deren solide Ledersohlen über zerkerbtes Holz schleifen.

Ein instinktives Rudern mit den Armen. Ein Stuhl, der sich langsam zur Seite neigt, schließlich von dem Schwung des herabsackenden Körpers zur Seite gestoßen wird, auf den Holzboden poltert, zurückfedert, noch einen Augenblick auf der Wölbung der Rückenlehne hin- und herschaukelt und reglos liegenbleibt.

Ein großer Körper, der im schwachen Licht der aufgehenden Sonne hin- und herschwingt, mit geneigtem Kopf und in die Stirn gefallenem schütteren Haar. Mit schlaff an den Seiten herabhängenden Armen in blütenweißen Hemdsärmeln.

Es riecht nach Staub und Mottenkugeln, nach Schuhwichse und frisch aufgetragenem Rasierwasser.

So muß es gewesen sein.

Erstes Kapitel

Es war Sommer.

Ich glaube, so richtig begonnen hat alles mit diesem starren Blick aus den kleinen schwarzen Augen. Ich hatte das Gefühl, beobachten zu können, wie der Glanz förmlich aus ihnen entwich, wie der Blick brach. Ja, ich denke, daß hier die ganze Sache ihren Anfang hatte. In dem Moment, in dem der Tod über diese kleine Kreatur kam und sie mitten aus dem strahlenden Sommertag herauspflückte, hatte ich beschlossen, noch eine Weile in der Gegend zu bleiben.

Von all dem, was passieren würde, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, als ich den Wagen auf den gewundenen Straßen über die sanften, sonnendurchfluteten Wölbungen der Landschaft lenkte, das können Sie mir glauben. Ich bin kein Mensch mit Ahnungen, ich stolpere arglos in Peinlichkeiten hinein, tappe blindlings in Situationen, die andere bereits meilenweit gegen den Wind gerochen haben. Unbefangenheit dieser Art kann bisweilen durchaus nützlich sein, zumeist ist sie aber einfach nur fatal.

So wie in diesem Fall.

Jetzt kommen Sie mir nicht mit der Binsenweisheit, daß man die gleichen Fehler immer wieder macht. Das ist nun wirklich ausgemachter Schwachsinn! Ich würde alles anders machen, vom ersten Moment an!

Ich würde vermutlich an der nächstbesten Einmündung des nächstbesten Feldwegs die nächstbeste Gelegenheit ergreifen, in weniger als drei Zügen mein Gefährt zu wenden und würde dahin zurückfahren, wo ich gerade herkomme. So aber schoß ich nichtsahnend, zwischen Löwenzahnwiesen und Kornfeldern hindurch in das nächste Tal der Eifel hinab, und verfluchte zum wiederholten Mal in diesem Sommer den Tag, an dem ich mein Cabriolet verkauft hatte.

Zu diesem Zeitpunkt war ich noch der felsenfesten Überzeugung, daß es eine kluge Idee gewesen war, die Stadt hinter sich zu lassen, die Termine in den Wind zu schießen und sich aufs Land zu verkriechen. Zurück ins Nest, zurück an die Stätte meiner Kindheit, zurück zum kleinen Edeka-Laden mit den bläulich verschossenen Matchbox-Schachteln im Schaufenster, für die ich mir schon vor über dreißig Jahren die Nase plattgedrückt habe.

Wenn ich auch nur einem einzigen meiner beflissenen Freunde oder in der Werbeagentur in Köln von meinem Abstecher erzählt hätte, wäre unweigerlich irgendwann das Wort »Flucht« gefallen. Und das hätte ich, glaube ich, wirklich nicht gut vertragen können. Also ging das mit meiner Abreise ganz unspektakulär und heimlich über die Bühne. Sollten sie sich doch ruhig ein paar Wochen um mich sorgen, sollten sie mir doch den Anrufbeantworter volljammern.

In diesem Moment wurden die Bee Gees abgewürgt und das Radio verklappte Werbung: »Zeus-Brot – die tägliche Scheibe Gesundheit!« Ich konnte gar nicht schnell genug den Knopf betätigen, um diesen Unsinn abzuschalten.

»Ein Brot, wie es die Götter backen! Beim Zeus!« knarzte die Märchenonkelstimme und ein Synthesizer vergewaltigte Beethoven.

Beim Zeus. Ich mußte an Esch denken. Sollte er mir doch einen Fluch nach dem anderen auf meine Handy-Mailbox brüllen. Der kleine Lautsprecher begann immer vibrierend zu knistern, wenn Esch losdonnerte. Vielleicht würden sie eine Suchaktion starten, weil sie auf die blödsinnige Idee kamen, ich könne meine letzte große Reise angetreten haben, ohne ihnen Lebewohl zu sagen. Vielleicht wurde ich ja schon längst via Verkehrsfunk gesucht. Wer weiß?

Aber mal ernsthaft: Warum sollte ich mir etwas antun?

Ganz abgesehen davon, daß einen in der Bruthitze der Großstadt die Depressionen viel härter in die Mangel nehmen als auf dem Land, wo einem an jeder Wegbiegung die Kühe fröhlich mit den Schwänzen zuwinken und einem unter gemütlichem Schmatzen zuzwinkern, als wollten sie einem sagen: »Kopf hoch, Cowboy!« Und mir ging’s wirklich gut. Ein neues Kapitel hatte begonnen, das man getrost überschreiben konnte mit: »Auf zu neuen Ufern!« oder »Hoppla, jetzt komm ich!« oder mit etwas ähnlich Aufgekratztem aus der guten, alten Schwarzweißfilmzeit.

Chloé, so tröstete ich mich in den Stunden, in denen ich dann doch ab und an dem Trübsinn verfiel, hatte es wesentlich schlechter getroffen als ich. Jetzt war sie verliebt, verschossen, vernarrt und klebte an den Lippen ihres florentinischen Kunstmalers, was vermutlich durchaus wörtlich genommen werden kann. Jetzt war ihnen wahrscheinlich noch jeder Tag zu kurz um herauszufinden, was für herrliche Schweinereien man alles mit dem Körper des anderen und mit Ölfarbe anstellen konnte. Jetzt klebte mit Sicherheit noch die Sommersonne ihre Leiber von früh bis spät mit einem lustvollen Film aus Schweiß aneinander, jetzt waren da noch tiefroter Wein, schwarz funkelnde Augen und lichter Ocker. Aber was würde sein, wenn der feurige Liebhaber irgendwann das Gas mal ein paar Grad herunterdrehen würde, wenn erst mal der Alltag mit seinen grauen Pfoten in dem herrlichen Gemälde herumpfuschen würde?

Würde Chloé bereuen, daß sie einem Mann in den besten Jahren den Laufpaß gegeben hatte, nur weil ein schlecht rasierter Pinselquäler ihr durch eine Designerbrille hindurch, für deren knifflige Konstruktion aus bunten Drähten und asymmetrischen Gläsern die Kritzeleien eines Anderthalbjährigen Pate gestanden haben mußten, feurige Blicke zugeworfen hatte? Würde sie einsehen, daß …

Ich betrachtete meine ums Lenkrad verkrampften Hände, sah, wie die Knöchel weiß hervortraten und merkte, wie ich in Gedanken schon wieder laut geworden war. Kennen Sie das? Wenn man seine Gedanken förmlich brüllt?

Nun, ich kann Ihnen versichern, daß ich mir in diesen Tagen allerhand zusammengebrüllt hatte. In Gedanken, wie auch unter Benutzung meiner Stimmbänder. Die schlimmsten Verwünschungen hatte ich ihr fernmündlich in den sonnigen Süden geschickt. Gegen Fausthiebe und Tischkanten sind diese Telekom-Telefone jedoch erstaunlich widerstandsfähig.

Und immer wieder hatte sich da etwas in meine Gedankenwelt gedrängt, mir ganz beiläufig auf die Schulter getippt, sich geräuspert und dann unglaublich schmierig und hinterhältig gefragt: »Und wie sieht’s mit deiner Portion Schuld an dieser ganzen verdammten Scheiße aus?«

Wie bitte? Schuld? Ich? Ein schlechter Scherz!

Zuerst habe ich so getan, als würde ich es gar nicht hören.

Später dann wurden die Vorwürfe massiver:

»Wo warst du denn, als all das passiert ist?« fragte die Stimme mit ätzendem Biß. Und schließlich bekam ich dann irgendwann ungeschminkt die ganze Wahrheit um die Ohren geblasen: »Du hast dich nie um sie gekümmert! Du hast sie behandelt wie deinen Besitz, wie ein erlesenes Schmuckstück, wie etwas, das anspruchslos in deiner Wohnung rumhängt. Du bist wirklich ein verdammtes Arschloch!«

Wer bin ich, daß ich mir so was von meinem Unterbewußtsein sagen lassen muß?

Nun, wenn es denn das Unterbewußtsein allein gewesen wäre. Mit dieser mickrigen Kreatur wäre ich schon noch fertig geworden. Aber nein, dann mußten ja auch noch die das Maul aufreißen, die einem sonst nur Honig um dasselbe schmieren: Freunde, Verwandte, Bekannte… Und als zum erstenmal der durchgekauteste, ausgelutschteste, aber dennoch wahrhaftigste Satz aus der Historie der heterosexuellen Zweierbeziehung fiel, der da lautet: »An so was sind immer beide schuld«, da wurde es mir dann doch irgendwann klar: Ich hatte versagt.

Ich hatte Augen für alles und jeden, nur meine Frau hatte Kopfstände machen müssen, wenn sie das Zimmer betrat, damit ich überhaupt auf sie aufmerksam wurde. Mein Gott, ich glaube fast, diesen Satz habe ich schon mal auf der Bühne gehört.

Wäre das alles so weit gekommen, wenn wir Kinder gehabt hätten? Noch so ein Satz aus dem Zitatenschatz.

So war das also. Chloé saß oder vielmehr lag vermutlich in der Toskana, während ich frischen Kuhdung einatmete. Mir standen harte Wochen bevor, ich brauchte Ablenkung, Zerstreuung, war ganz wild darauf, mir in der Dorfkneipe das erste Pils in den Hals zu schütten, und ohne nennenswerte Unterbrechung die nächsten zehn bis zwanzig hinterherzujagen.

Mein Blick fiel in den Rückspiegel. Es war brütend heiß. Ich war ein wenig aufs Bankett geraten, und mein Wagen zog eine blasse Staubwolke hinter sich her.

Auf dem Rücksitz erspähte ich ein rötliches Glitzern.

Bei meinen Bemühungen, unsere Wohnung erst einmal gründlich zu entchloéisieren war ich auf ein Relikt aus meiner Jugendzeit gestoßen: Die alte Hohner!

Eine Reihe schwarzer und weißer Tasten, die unter dem Griff meiner ungeübten Finger sanft und leise klackend nachgaben, als hätten sie all die Jahre nur auf diesen Augenblick gewartet. Im Inneren des Blasebalgs mußte der konservierte Atem der letzten zwei Jahrzehnte schlummern. Als ich ihn auseinanderzog, schlürfte er mit einem seufzenden Geräusch frische Luft ein. Das erste Zusammenpressen in Verbindung mit einem Akkordgriff, an den ich mich zu erinnern glaubte, schickte einen qualvollen Laut durch meine Wohnung.

In diesem Augenblick hatte ich beschlossen, in das Dorf zurückzukehren. Klimm würde sich freuen. Sein pralles Gesicht mit den buschigen Augenbrauen tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Seine knorrigen Finger sah ich vor mir, wie sie über die Tasten flogen und aus dem alten Akkordeon eine Polka nach der anderen herauszauberten, während sich um ihn herum die Dorfkirmes lärmend, grölend, singend und gläserscheppernd im Kreise drehte.

Ich schob mir mit dem Zeigefinger meinen Sommerhut in den Nacken.

Klimm.

Ich hatte ihn fast vergessen. Wie hatte das nur passieren können?

Nach der nächsten Wegkehre sah ich das Dorf.

Es lag, wie von der Hitze ermattet, friedlich und unscheinbar auf einem Hügel in der Mittagssonne. Ein paar alte Bauernhäuser nur, wenige Neubauten am Ortsrand. Verstreute Würfel auf einer Anhöhe. So hatte es früher ausgesehen, und so sah es auch heute noch aus. Hatte sich hier nichts verändert? Etwas unterschied den Ort von den anderen Dörfern und Weilern, die am Wegesrand lagen, oder durch die ich hindurch gefahren war. Es fehlte die charakteristische Erhebung irgendwo im Zentrum, mitten zwischen den Gebäuden. Es fehlte die direkte Verbindung zu der himmlischen Macht hoch über der Eifel. Kein Sendemast der Frömmigkeit, kein mahnender Zeigefinger, weithin über die Felder sieht- und hörbar. Hier gab es keine Kirche. Ein gottloses Kaff ohne Mitte und Anker.

Es mußte mindestens sieben oder acht Jahre her sein, seit ich das letzte Mal hiergewesen war. Klimms Fünfundsechzigster. Er hatte Akkordeon gespielt.

Es war einer von den Tagen, an denen ich kurz davor war, Chloé vor versammelter Mannschaft eine zu scheuern. Alle bemühten sich nach Kräften um sie, umwarben sie und bauten der schönen Städterin goldene Brücken, aber sie demonstrierte nur mit unnachahmlich ermüdetem Augenaufschlag gepflegte Langeweile. Sie haßte das Dorf. Sie haßte die Eifel. Sie haßte das Landleben.

Was machte sie jetzt wohl in der Toskana? Wasser aus dem Brunnen holen? Ziegen melken?

War das schon wieder Häme?

Die Eifel ist nicht die Toskana und umgekehrt. Dazwischen lagen mehrere Welten, und das war gut so, denn diese Welten trennten jetzt auch Chloé und mich.

Es ging in Serpentinen ins Tal hinunter. Nur noch ein paar Kilometer und ich würde da sein.

Der Wagen tauchte in den kühlenden Schatten des bewaldeten Tals ein, ich ging mit kräftigem Herumreißen des Lenkrads zügig in die engen Kurven.

An der nächsten Wegbiegung mußte ich unvermittelt bremsen. Etwas war auf der Fahrbahn. Ich trat das Bremspedal so fest durch, wie ich konnte. Der Wagen brach nach rechts aus, und ich brachte ihn auf dem Bankett zum stehen.

Mitten auf der Fahrbahn war ein junges Mädchen. Sie kauerte.

Es hatte zunächst so ausgesehen, als liege sie neben ihrem Fahrrad auf dem Boden, aber sie kauerte wahrhaftig. Sie hatte sich über etwas gebeugt, das vor ihr auf dem Asphalt lag, und das ich nicht sehen konnte. Und nachdem ich ausstieg und auf sie zulief, sah ich, was sie veranlaßt hatte, diese gefährliche Position einzunehmen.

»Es ist tot«, flüsterte sie, ohne sich umzuwenden. Der Mittelfinger ihrer rechten Hand strich sachte über den Hals eines Eichhörnchens. Der kleine rostbraune Körper sah völlig unversehrt aus. Das Maul war verzerrt, die kräftigen Schneidezähne leuchteten gelblich. Ich beugte mich hinunter, und mit dem letzten Zittern seiner Schnurrbarthaare hauchte das kleine Wesen sein Leben aus.

»Gerade hat es noch gelebt. Jetzt ist es tot. Ich habe es überfahren. Das ist das erste Mal, daß ich ein Tier überfahren habe.«

Ich legte ihr meine Hand auf die Schulter. »Du mußt von der Straße. Das ist scheißgefährlich.« Ich richtete ihr Fahrrad auf und schob es an den Straßenrand. Jetzt sah ich sie von der Seite. Sie mochte sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein. Ihre Augenbrauen hatte sie betrübt zusammengekräuselt. Ihr Haar war kastanienbraun und reichte bis auf die Schultern.

»Komm da weg!« rief ich.

Langsam löste sie sich aus ihrer Starre. Behutsam griff sie nach dem kleinen, leblosen Körper und hob ihn vom Boden auf. Es gab kein Blut, keine Wunde.

»Wir müssen es zu Anna bringen«, sagte sie und sah mich an, während sie auf mich zukam. »Können Sie mich vielleicht mitnehmen? Bis zu Anna ist es nicht weit, aber ich kann es doch nicht auf dem Gepäckträger…«

»Natürlich nicht. Klar! Steig ein. Dein Fahrrad?«

»Hole ich später. Wie gesagt: Es ist ja nicht weit.«

Ich half ihr in den Wagen. Zu beiden Seiten ihrer Hände hingen Schwanz und Kopf des toten Tieres schlaff herunter.

Wir fuhren los.

»Wer ist Anna?« fragte ich und verrenkte mir den Hals, um zu sehen, ob die Fahrbahn frei blieb. »Ist sie Totengräberin? Oder sammelt sie tote Eichhörnchen?« War das taktlos?

»Anna ist Tierpräparatorin.«

Als wir den Berghang hinauffuhren, brach die gleißende Sommersonne durch das Blätterdach. Das Fell des Tiers auf dem Schoß meiner jungen Beifahrerin flammte rostfarben auf.

Dann erreichten wir das Dorf. Zwei schmucklose Einfamilienhäuser aus den Fünfzigern zur Linken, auf der rechten Straßenseite der Sportplatz, auf dem sich im Spätsommer während der »Sportwoche« die Fußballer tummelten.

Ich war zurückgekommen. Vom Straßenrand aus musterte man mein Kölner Nummernschild mit unverhohlener Neugier.

»Wo wohnt Anna denn?« fragte ich. Mein Blick blieb im Vorbeifahren an den Gesichtern zweier Frauen in Kittelschürze hängen, die am Straßenrand standen. Eine von ihnen glaubte ich von früher zu kennen, und ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich auch die andere schon einmal gesehen hatte. Es wollte mir nicht einfallen.

»Zweite rechts«, sagte das Mädchen auf dem Beifahrersitz und betrachtete gedankenverloren das tote Tier. »Direkt hinter dem Bauernhof geht noch ein kleiner Weg an den Waldrand.«

»Im alten Forsthaus?«

»Genau da. Anna ist die Tochter vom Förster.«

Ein Bild erschien. Schemenhaft und undeutlich. Die Tochter des Försters. Anna. Ich sah braunes Haar. Langes dunkles Haar.

Das Bild verschwand.

Der Weg führte talwärts, geradewegs auf die Einfahrt des Forsthauses zu. Zwischen zwei mächtigen, gemauerten Torsäulen erkannte ich das Gebäude, das im Schatten uralter Kiefern stand, die den Waldrand markierten.

»Sie können mich hier rauslassen.«

»Wie heißt die Anna mit Nachnamen?« fragte ich, als ich den Gang rausnahm. Das Mädchen sah mich an. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Nur so. Ich glaube, ich kenne sie. Von früher.«

»Hontheim. Anna Hontheim. Soll ich ihr Grüße bestellen?«

Kopfschüttelnd winkte ich ab. »Nee, laß mal. Irgendwann werde ich ihr schon noch persönlich begegnen. Ich bleibe eine Zeitlang hier, weißt du?«

»Bei uns im Dorf?« Skeptisch zog sie die Stirn kraus. »Wieso denn das?« Es klang beinahe so, als sei dies das Unglaublichste, das sich ein vernünftiger Mensch vornehmen könne. Und als sie hinterherschob, daß ich einen ulkigen Hut trage, da war mir klar, daß sie mich eindeutig nicht zu der Spezies vernunftbegabter Menschen zählte.

»Ich komme von hier. Ist lange her. Jetzt bin ich erst mal wieder eine Zeit zurück. Ich war in der Stadt. Zu lange, glaube ich.«

Sie lachte und ich sah zum ersten Mal ihre Zahnspange.

»Glaub ich nicht. In der Stadt… Mann, das ist doch geil da.«

Ich hielt ihr die Hand hin. »Marcus«, sagte ich.

»Hab ich schon gesehen. Da.« Sie wies mit dem Kinn auf meine Visitenkarten, die auf der Ablage neben dem Steuerknüppel verstreut lagen. »Dr. Marcus Mathei«, las sie murmelnd. Dann nahm sie für einen Augenblick die Rechte von dem toten Eichhörnchen und hätte fast meine Hand ergriffen, aber dann besann sie sich eines anderen und öffnete die Beifahrertür.

»Ich bin die Sophie.«

Sie stieg aus und drückte mit dem Knie die Autotür zu. »Danke«, sagte sie durchs geöffnete Fenster und ging auf das Forsthaus zu.

An einem Fenster des ersten Stocks sah ich das Gesicht einer Frau, die auf die Auffahrt hinuntersah. Sie winkte dem Mädchen zu und verschwand.

Es gab keinen Platz, das Auto zu wenden. Ich mußte zurücksetzen bis zur Straße. In einiger Entfernung auf den Feldern sah ich Mähdrescher. Es war Erntezeit. Und es war Mittagszeit. Was nicht auf dem Feld war, stand am Herd und kochte.

Vielleicht war Klimm zu Hause. Tante Marga würde sicher da sein.

Es war nicht weit bis zu ihrem Haus. Nichts in diesem Dorf war weit voneinander entfernt.

Ich war zurückgekommen. Ins Dorf meiner Kindheit, ins Dorf meiner Zuflucht.

Ich war zurückgekommen – in das Dorf, in dem sich der Dorfarzt Dr. Wilhelm Mathei, mein Vater, vor elf Jahren das Leben genommen hatte.

Zweites Kapitel

Das kleine schmucklose Häuschen direkt neben dem alten, aus dunklem Ziegel gemauerten Schulgebäude gehörte Klimm. Klemens Broich. Er hatte es in den Fünfzigern auf einem Stück Land errichtet, auf dem seit dem Krieg die Überreste einer abgebrannten alten Scheune vor sich hin moderten. Die Fassade war sandfarben, hatte dunkle Schlieren unter den Fensterbänken und sah alles in allem, nun, sagen wir mal, überarbeitungswürdig aus.

Ich hatte Klimm als ordentlichen Mann in Erinnerung, der das ganze Jahr über im und um das Haus herum alles in Ordnung hielt. Seine Frau Marga verbrachte, glaube ich, mehr Zeit damit, den Bürgersteig zu kehren und die Fenster zu putzen, als ihr eigenes Äußeres zu pflegen. Marga war eine von diesen Frauen in Kittelschürze. Sie schien ihr regelrecht am Leib angewachsen zu sein.

Nur am Sonntag, wenn sie mit Klimm ins Nachbardorf, ins Hochamt fuhr, da legte sie die ab, und es war jedesmal ein bißchen so, als schlüpfe ein Schmetterling aus seiner Puppe, wenn sie ihr graumeliertes Haar bürstete, ihre Lippen schminkte, und einen Fleck Lippenstift auf den Wangen zu gesunder Röte verrieb. Dann tupfte sie sich ein paar Spritzer Tosca hinter die Ohren und auf das Dekolleté, hängte sich ihre Handtasche ans Handgelenk und stieg zu Klimm in den alten Opel.

Klimm verschwand nach der Messe, nachdem er Marga zum Kochen zu Hause abgeliefert hatte, mit den anderen Männern in der Dorfkneipe und kloppte Skat. Wenn wir bei ihnen zu Mittag aßen, durfte ich ihn dort abholen. Mit geröteten Wangen und triumphierendem Blick drosch er die Karten auf die Mitte des Tisches, und augenzwinkernd ließ er mich hin und wieder an seinem Bier probieren. Es schmeckte gräßlich bitter und das war wirklich alles andere als ein Genuß für einen kleinen Jungen, wie ich einer war. Aber es war immerhin etwas, das man am nächsten Tag in der Volksschule mit stolzgeschwellter Brust erzählen konnte.

Meine Mutter war lange Jahre krank. Wir besuchten sie häufig im Krankenhaus in Schleiden, später in Bonn. In dieser Zeit half uns eine Frau Wächter im Haushalt. Sie kochte und putzte und erledigte noch allerlei anderes, das mein Vater nicht schaffte, wenn er in der Praxis im hinteren Teil unseres Hauses beschäftigt war.

Damals gingen wir häufig zu Klimm und seiner Frau Marga hinüber. Klimm war der Vetter meiner Mutter. Ich liebte die beiden, und ich durfte bei ihnen all die Dinge tun, die mir daheim untersagt blieben.

Hinter dem Haus gab es einen großen Garten. Das war Klimms Reich. Er grub und harkte, und seine Dahlien hatten die prächtigsten Blüten im ganzen Dorf. Marga bearbeitete den Gemüsegarten, der zwischen Klimms Rabatten und den angrenzenden Feldern lag. Sie jätete zwischen Breitlauch und Zwiebeln, und Klimm übernahm das kräftezehrende Umgraben des Kartoffelfeldes. So hatte jeder seinen Bereich und seine Zuständigkeit, so war jeder zufrieden und glücklich. Kinder hatten die beiden nie gehabt, also war es kein Wunder, daß sie mich in ihrem Haus aufnahmen wie einen eigenen Sohn. Ich stopfte mich im Sommer mit Johannisbeeren voll, bis mir der Bauch weh tat. In der Zeit, in der mein Vater mit meiner Mutter auf einer Reise in die Schweiz war, wo sie sich von ihrem Krankenhausaufenthalt erholen sollte, schlief ich zwischen ihnen in einem eiskalten Schlafzimmer unter zentnerschweren Plumeaus. Drei Jahre später – ich besuchte unterdessen das Gymnasium in Schleiden – erlitt Mama einen Rückfall. Es erwischte sie härter als je zuvor. Sie starb jämmerlich.

Von da an war ich oftmals bei Klimm und Marga. Vater war ein vielbeschäftigter Mann, er vergrub sich in seiner Arbeit, und manchmal hatte ich das angstvolle Gefühl, daß ich ihn viel zu sehr an meine Mutter erinnerte, als daß er mich ständig in seiner Nähe haben wollte.

Ich parkte das Auto direkt vor dem Haus, halb auf dem Bürgersteig. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß ich früher angekommen war, als ich es mir ausgerechnet hatte. Womöglich saßen die beiden gerade beim Mittagessen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, meinen Überfall telefonisch anzukündigen. Die Reisetasche ließ ich vorerst im Auto liegen. Zuerst wollte ich die Lage peilen. Vielleicht war ich nicht willkommen, schließlich hatte ich mich jahrelang in dieser verfluchten Werbeagentur vergraben und war erst wieder ans Tageslicht gekrochen, als meine Frau mir zu verstehen gegeben hatte, daß ich nun lange genug unter Tage verbracht hätte.

Die Fensterläden des Hauses waren alle zur Hälfte heruntergelassen.

Ich stieg die graumelierten Stufen zum Haupteingang hinauf und drückte den Klingelknopf. Ein halbwegs modernes »Dingdong« ertönte. Früher war es ein schrilles Klingeln gewesen.

Hinter der Milchglasscheibe in der Haustür war es finster. Es dauerte lange, und ich hatte schon ausgeholt, um noch einmal zu klingeln, als hinter der Tür etwas in Bewegung kam.