Die Geliebte aus dem Totenreich

 

 

 

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Band 22

 

Die Geliebte aus dem Totenreich

 

von Catalina Corvo und Logan Dee

nach einer Story von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Dario Vandis

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend versucht sie den Menschen, die in die Fänge der schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt. Auch von anderer Seite droht Asmodi Ungemach. Unzufrieden mit seiner Herrschaft, hat sich ein Geheimbund oppositioneller Dämonen gebildet, dessen Mitglieder maskiert in der Öffentlichkeit auftreten und Asmodi zum Rückzug auffordern. Da der Fürst dies strikt ablehnt, scheint ein offener Krieg unter den Dämonen unausweichlich.

In dieser Situation tötet Cocos Mutter Thekla Zamis unter dem Einfluss Asmodis die Dämonin Traudel Medusa – die nicht nur Michael Zamis' Geliebte war, sondern auch ein hohes Mitglied der Oppositionsdämonen. Die Oppositionellen rufen zum Rachefeldzug ... aber mit Cocos Hilfe gelingt es Michael Zamis, seine Unschuld zu beweisen. Dennoch sind die Oppositionellen nicht länger an seiner Unterstützung interessiert. Stattdessen ist es plötzlich Coco, die von ihnen hofiert wird. Als sie dem maskierten Anführer der Oppositionsdämonen bei einem Treffen in Rumänien klarmacht, dass sie kein Interesse an den politischen Intrigen der Dämonen hat, verpasst er ihr ungefragt ein »Permit« – ein magisches Tattoo in Form eines zweiköpfigen Adlers. Einst, wenn die Oppositionellen die Macht in der Schwarzen Familie übernommen hätten, werde ihr dieses Permit Schutz gewähren ...

Als hätten die Zamis nicht Probleme genug, beginnt sich plötzlich auch Georg merkwürdig zu benehmen. Er scheint in ein Mädchen verliebt, das nicht zur Schwarzen Familie gehört. Vor allem Michael Zamis befürchtet, Georg könnte in Cocos Fußstapfen treten. Georg, zur Rede gestellt, schweigt eisern. Michael Zamis ist sauer, denn eigentlich hat er ganz andere Sorgen: Über Cocos geheimnisvolles Permit wird ihm ein Ultimatum gestellt: Er bekommt eine letzte Chance, sich zu bewähren. Wenn er auch das nicht schaffe, so würde man ihm keine weitere Chance mehr geben. Sowohl Georgs Anwandlungen als auch Michael Zamis' Aufgabe hängen eng mit Georgs Vergangenheit zusammen.

Mit etwa acht Jahren zeigte sich ihm sein wahrer Vater zum ersten Mal: Michael Zamis klärte ihn auf, dass er in Wahrheit ein Dämon ist. Michaels Gegner versuchten jedoch, diesen Sohn zu finden und zu töten. Daher verfiel Michael auf einen Trick. Seine Magie bewirkte, dass Georg äußerlich ein Achtjähriger blieb …

Letztlich erweist sich die Frau, mit der sich Georg trifft, als todbringende Falle der Oppositionsdämonen. Nur mit vereinten Kräften können die Zamis sie vernichten.

Das Ereignis bewirkt, dass sich Georg seiner Vergangenheit stellt. Zusammen mit Coco reist er nach Sylt, wo er jahrelang in einem dämonischen Waisenhaus ausgebildet wurde. Dieses ist inzwischen eine Art Ausbildungsstätte der Oppositionsdämonen. Beim traditionellen Biikebrennen kommt es zu Übergriffen auf die Verbündeten Asmodis. Überall auf der Insel lodern die Feuer und werden die Anhänger Asmodis auf Scheiterhaufen verbrannt. Coco und Georg entkommen nur in letzter Minute – dank des Dämons mit dem doppelten Adlerkopf, den Coco mithilfe des Permits anruft.

Asmodi beordert seine Tochter Thekla Zamis nach Istanbul, wo sie den Oppositionsdämonen ein ganz bestimmtes Angebot unterbreiten soll. Thekla Zamis dringt bis zu dem Anführer der Oppositionsdämonen vor – doch sie muss erkennen, dass der schmerzvolle Weg bis dahin nur der Anfang war …

Gleichzeitig glaubt Michael Zamis zu wissen, wer sich hinter dem »Dämon ohne Gesicht« verbirgt – dem Anführer der gegnerischen Seite. Er schickt Coco zum Brocken, damit diese dort nach einem Relikt der Vergangenheit forscht. Cocos Pech ist, dass dies ausgerechnet zur Walpurgisnacht geschieht. Traditionell versammeln sich in dieser Nacht hier nicht nur die Touristen, sondern auch echte Dämonen zum traditionellen Schwarzen Sabbat. Ehe sich Coco versieht, wird aus einem ganz normalen Ausflug eine Nacht auf Leben und Verderben …

 

 

 

 

Erstes Buch: Die Geliebte aus dem Totenreich

 

 

Die Geliebte aus dem Totenreich

 

von Catalina Corvo

nach einer Story von Uwe Voehl

 

1.

 

London, Gegenwart

Der Mann röchelte.

»Du musst mir helfen!«

»Könntest du bitte im Flur verrecken? Der Flokati verträgt kein Blut. Den habe ich erst letzte Woche von Sotheby's …«

»Lydia!«

»Was denn? Der war teuer.«

»Ich … brauche … Hilf…«

»Zum Teufel ja, bevor du mir die Wohnung gänzlich ruinierst.«

Mit demonstrativ geschürzten Lippen kniete sich Lydia Zamis zu ihrem Spielzeug. Sie korrigierte sich in Gedanken. Ex-Spielzeug. Jetzt war es beschädigt und nicht mehr brauchbar. Ihr schnell gemurmelter Heilzauber konnte zwar die Wunden nicht regenerieren, die der Blutstrahl ihm geschlagen hatte, aber zumindest hielt er die schleichende Verschlimmerung und die rasenden Schmerzen auf, die derartige Verletzungen mit sich brachten. Zumindest für den Augenblick. Wie Alfred die drei Hiebwunden gänzlich wieder loswurde, die jetzt seinen Oberkörper verunstalteten, war nicht Lydias Problem. Es war ja nicht so, dass sie ihn gezwungen hatte im Mollusca in den Ring zu steigen.

Genau genommen doch, aber was konnte sie dafür, dass Alfred alles tat, was sie von ihm verlangte? Dieser Trottel glaubte wirklich, dass eine Zamis ihm loyal war, nur weil sie ihn für kurze Zeit als Gespielen erwählt hatte. Lydia kicherte verächtlich.

Alfred war nur ein Werwolf. Kein besonders beeindruckendes Material, aber wenigstens brachte er es im Bett einigermaßen. Allerdings war Lydia seiner Gesellschaft nach achtundvierzig Stunden überdrüssig. Darum hatte sie auch vor drei Stunden mit ihm Schluss gemacht. Natürlich war er vor ihr auf die Knie gefallen, hatte sie angefleht, ihm noch eine Chance zu geben und ihr geschworen, alles für sie zu tun. Weil er sie ja so sehr liebte. Das Übliche eben.

Spaßeshalber hatte sie verlangt, dass er bei den tödlichen Dämonenkämpfen im Keller des Klubs Mollusca sein Leben aufs Spiel setzte. Zu Lydias Leidwesen hatte Alfred Glück gehabt und tatsächlich drei Minuten gegen den japanischen Oni mit dem Blutschwert durchgehalten. Wie viel Glück konnte jemand eigentlich haben?

Alfreds Überleben hatte ihr die Laune verdorben. Lydia war gegangen. Keine Stunde später hatte er vor ihrer Tür gehockt und eine lautstarke Szene gemacht, bis sie ihn schließlich hereingelassen hatte. Aber mehr als die kleine Gefälligkeit eines Heilzaubers war nicht drin.

»Verschwinde!«, zischte sie. »Ich habe noch Wichtigeres zu tun.«

»Aber meine Herrin, ich habe nur für dich …«

»Und du hast verloren.« Lydia erhob sich, ohne Alfreds zusammengekrümmte Gestalt noch eines Blickes zu würdigen. »Du bist erbärmlich. Verzieh dich endlich und leck deine Wunden, Wolfi. Ich komme auf dich zurück.«

Lydia ließ sich wieder auf der bequemen Chaiselongue aus weißem Leder nieder.

Alfred starrte sie eine Weile fassungslos an, schleppte sich dann aber gehorsam zur Tür. Braves Hundchen. Lydia verfolgte seinen Abgang mit einem herablassenden Lächeln, als das Telefon klingelte.

Lydia hob ab. »Ja?«

Einige Sekunden lang antwortete ihr Stille, dann sagte eine dunkle Männerstimme »Du weißt, wer hier ist.«

Lydias Herz schlug schneller. Wie immer verursachte ihr seine tiefe Stimme eine Gänsehaut. Er rief tatsächlich an. Damit hatte sie nach dem Desaster bei ihrer letzten Verabredung nicht mehr gerechnet.

»Was willst du?«, fragte sie betont gelangweilt, aber es gelang ihr nicht vollständig, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Komm doch heute vorbei.«

Die vier Worte verdoppelten Lydias Pulsschlag noch einmal. »Wegen dieser Sache«, fuhr er fort. »Ich bespreche das nicht am Telefon. Aber du verstehst schon. Es ist ein Platz vakant. Du bist dabei, wenn du deine Sache heute gut machst.«

»Oh.« Lydia fuhr sich durchs Haar. Das war das Angebot, auf das sie so lange gewartet hatte. Die Verbindung, die es ihr ermöglichte, endlich aus dem Schatten ihres Vaters und der allzu schlauen Schwester herauszutreten. »Wann soll ich da sein?«

»Am besten vor einer halben Stunde«, erwiderte das andere Ende der Leitung trocken. »Und bring ein Gastgeschenk mit. Denk daran, gewöhnliches Blut reicht nicht.«

Ein Klicken in der Leitung beendete den Kontakt. Lydia verblieb grübelnd. Ihre edel manikürten Fingernägel gruben sich in das Leder der Armlehne. Ihre Gedanken rasten. Mehr als gewöhnliches Blut. Schwarzes Blut. Das meinte er. Sie brauchte ein Opfer, und zwar in den nächsten Minuten. Es war viel verlangt, aber es gab auch so viel zu gewinnen.

Das Klappen der Haustür riss Lydia aus ihren Gedanken. Hastig sprang sie auf.

»Warte, Wolfi. Ich hab's mir anders überlegt. Wir gehen heute noch aus, du und ich.«

 

Wien, Gegenwart

Immer deutlicher spürte ich die andere Präsenz. Sie durchdrang meinen unruhigen Schlaf und sickerte in meine Träume wie der enervierende Summton einer Mücke in einer drückenden Juninacht. Ich wälzte mich hin und her, taumelnd auf der Grenze zwischen Schlaf und Wirklichkeit.

Schließlich sang das Summen ein Wort.

»Coco.«

»Mutter?«

Ich schlug die Augen auf. Entsetzt starrte ich den Schatten an, der an meinem Bett verharrte wie eine verblasste Fotografie. War ich wirklich von einer kalten Berührung aus dem Schlaf geschreckt worden, oder lag ich noch reglungslos und träumte das alles nur? Der Schatten bewegte sich nicht. Draußen schlug eine Turmuhr zwei klagende Töne. Die Erscheinung war ohne Substanz, ein Schemen bloß, und doch vertraut.

»Mutter?«

»Ja, ich bin es, Kind.« Leer und hohl wehte der Laut zu mir wie ein Echo, das durch einen langen, dunklen Tunnel hallte, dennoch war es unverkennbar Mutters Stimme. »Sorge dich nicht«, flüsterte der Schatten. »Unternimm nichts. Die Zeit spielt für uns. Aber bis wir uns wiedersehen, beschütz deinen Vater und traue nie – er ist hier!«

»Wer?«

Der Schatten bebte, veränderte seine Konturen. Etwas drang daraus hervor. Kam auf mich zu. Ich saß wie gelähmt in meinem Bett. Konnte mich nicht rühren. Nicht einmal schreien. Meine Brust wurde schwer. Ein dunkler Ton summte in meinen Ohren. Wie das Brummen eines riesigen Insekts. Die Schwärze kam näher. Waren es Finger, die gierig nach mir tasteten? Ein kalter Hauch an meinem Hals. Entsetzen packte mich. Noch immer war ich zu keiner Regung fähig, konnte auch meine magischen Sinne nicht einsetzen.

Plötzlich schlug etwas gegen das Fenster. Aus den Augenwinkeln sah ich eine huschende Bewegung. Als ich mich wieder auf den Schatten konzentrierte, war er verschwunden. Mein Zimmer war leer. Ich konnte freier atmen, mich rühren. Sofort sprang ich auf.

Einige Sekunden lang schwebte eine magische Energie in der Luft, verflüchtigte sich aber, während ich noch versuchte, sie zu analysieren. Ich hatte keine Chance, den Zauber zu erkennen, der hier gewirkt hatte. Also folgte ich der zweiten Spur und lief zum Fenster. Draußen erkannte ich nur unseren Garten. Ruhig und schweigend erstreckte er sich vor mir. Keine Spur eines Eindringlings. Auch mit meinen magischen Sinnen konnte ich keine fremde Präsenz dort draußen spüren. Keine unserer Fallen hatte reagiert.

Um ganz sicher zu sein, dass ich nichts übersah, öffnete ich vorsichtig das Fenster und spähte argwöhnisch hinaus. Dann lehnte ich mich vor und sah nach oben. Schließlich wollte ich keinen Angriff im Nacken über mich ergehen lassen. Da alles unverdächtig aussah, ließ ich meinen Blick ausführlicher über die Fassade schweifen. Doch auch dort war nichts Besonderes zu erkennen. Lediglich auf der Veranda erspähte ich einen kleinen, schwarzen Fleck.

Als ich nur Minuten später auf die Veranda trat, begriff ich, dass es sich um eine tote Krähe handelte. Mit aufgerissenem Schnabel starrte sie mich aus leblosen Augen an. Sofort kehrte ich ins Haus zurück. Ich musste Vater von all dem berichten.

 

 

2.

 

Wien, 1939 (Georg)

Ich beobachtete den toten Vogel einige Minuten lang. Mit ausgebreiteten Schwingen hing das graue Ding in den Rosensträuchern. Langsam arbeiteten sich die Dornen durch sein Gefieder. Seit die Taube heute Morgen in dem Busch verendet war, schimmerten die Blüten intensiver. Zarte Knospen, gestern noch fest geschlossen, hatten sich geöffnet.

»Georg«, erklang hinter mir die Stimme meines Vaters. »Folge mir.«

Während ich in Vaters Kielwasser ins Wohnzimmer stiefelte, ging ich alle meine Sünden der letzten Tage durch. Wies er mich jetzt zurecht, weil ich am vergangenen Abend versucht hatte, die magischen Sicherungen an der Kellertür zu überwinden, während Vater und Thekla außer Haus waren? Oder hatte er herausgefunden, dass ich neulich einer Straßenkatze ein drittes Auge angehext hatte?

Das Vieh hatte ohnehin nur wenige Minuten danach das letzte seiner neun Leben ausgehaucht.

Oder war es die Sache mit der Ratte in der Zigarrenkiste?

Vater nahm in seinem Lieblingssessel Platz. Mir erschien er wie ein Richterstuhl.

»Nun bist du zur Ruhe gekommen und konntest über den Tod deiner Freundin noch einmal ausführlich nachdenken.« Vater sprach unbewegt, als diskutiere er das Wetter oder die aktuelle Wirtschaftslage. »Du hast hoffentlich einiges daraus gelernt.«

Ich nickte. Das hatte ich. Ich hatte gelernt, dass es nicht nur von Nachteil war, an gewöhnlichen Sterblichen zu hängen, sondern auch unseresgleichen durfte man keine Sympathie entgegenbringen. Die Enttäuschung schmerzte immer gleich.

»Dann ist dir sicherlich klar, dass dein Alleingang in die Kanalisation unreif und riskant war. Auch wenn es sich letztlich positiv ausgewirkt hat, dass du Lena retten wolltest, gefährdest du durch deine Alleingänge den Erfolg meiner Unternehmungen. Glück allein ist der Grund, dass du unserer Familie nicht geschadet hast. Du musst auch an Thekla denken. Wir drei sind jetzt eine Familie, Georg.«

Vater machte eine erwartungsvolle Pause. Ich nickte noch einmal, da anscheinend Zustimmung gefordert war. Dennoch verstand ich Vaters Schwenk zum Familienglück nicht. Ich kannte Thekla kaum. Sie war ständig außer Haus. Beziehungen pflegen nannte Vaters das. Und wenn meine Stiefmutter anwesend war, dann hielt sie sich zurück. Meine Erziehung überließ sie Vater. In unseren vier Wänden war Vaters Frau sehr zurückhaltend, aber ich vermochte nicht zu sagen, ob das wirklich ihrem Charakter entsprach oder sie Vater die devote Ehefrau nur vorspielte.

»Eine Dämonenfamilie hält stärker zusammen als Pech und Schwefel. Du hast das aber anscheinend noch immer nicht begriffen, Georg, da dir dieses Mädchen wichtiger war als unser Wohl.«

Urplötzlich stand Vater auf. Sein finsterer Blick brannte sich in meine Seele und überzeugte mich, dass er alles wusste. Jeden Unsinn, den ich angestellt hatte, ja vielleicht sogar jeden rebellischen Gedanken, den ich jemals zu denken gewagt hatte.

Vaters Lippen waren fest zusammengepresst, seine Augen verengten sich. Langsam ballte er die Hand zur Faust. Und da sah ich nicht mehr Michael Zamis vor mir, sondern einen anderen grimmigen Plagegeist, an den ich schon lange nicht mehr gedacht hatte. Noch einmal hörte und roch ich den schweren Bieratem, sah das fleckige Hemd, den Bierbauch, die ausgeleierten Hosenträger. Schwielige, fette Hände, die den Gürtel vom Hosenbund entfernten. Wütendes Knurren. Mein Name fiel. Ich war klein und hilflos. Kraftlos. Ausgeliefert. Gleich hoben die Pranken den Gürtel und …

Ich merkte erst, dass ich mich duckte und die Arme vors Gesicht gehoben hatte, als ein geringschätziges Lächeln über Vaters Lippen glitt.

»Nimm die Hände runter. Ich werde dich nicht schlagen.« Das Lächeln verschwand. »Aber wieder einmal hast du gezeigt, dass du nicht die richtigen Prioritäten zu setzen verstehst. Anscheinend war der Aufenthalt auf Sylt nicht ausreichend, um die Wege der Schwarzen Familie zu verinnerlichen. Daher habe ich die notwendigen Schritte eingeleitet, deine Ausbildung weiter zu vertiefen. Ich werde es jedoch nicht selbst tun. Das wäre mir gegenwärtig eine Last.«

Vater hielt inne, als Thekla ins Zimmer kam und ihm die Tageszeitung brachte. Ohne meine neue Mutter eines Blickes zu würdigen, nahm Vater die Tagesnachrichten entgegen.

Dann setzte er sich wieder und schlug die Zeitung auf. Ich erkannte, dass dort verschiedene Artikel mit einem kleinen Kreuz markiert waren.

Vater begann zu lesen. Er runzelte mehrfach die Stirn. Erst als er bereits auf Seite fünf angekommen war, sah er mich über den Rand der Zeitung hinweg an.

»Was stehst du noch unnütz herum? Pack deinen Koffer. Ich schicke dich auf Grand Tour. Morgen geht deine Reise los.«

 

Wien, Gegenwart

Vater nahm meinen Bericht zur Abwechslung sogar ernst. Weder beschwerte er sich darüber, dass ich ihn mitten in der Nacht aus dem Bett warf, noch warf er mir Hysterie vor.

Früh um vier saß er mit mir am Küchentisch und hörte sich alle Einzelheiten meines Traums an. Nur wenige Minuten später stieß Georg zu uns, den sein »unfehlbares Gespür für konspirative Treffen«, wie er sagte, zu uns gelockt hatte. Er machte Kaffee für alle.

Vater starrte auf seine dampfende Tasse, ohne eine Miene zu verziehen. Schließlich hob er den Kopf und fixierte erst Georg, dann mich. »Wenn dies ein Versuch eurer Mutter war, mit uns Kontakt aufzunehmen, dann müssen wir ihr entgegenkommen. Wer immer sie gefangen hält, – jener finstere Schatten – er versucht anscheinend, unsere Kommunikation zu unterbinden. Das bedeutet, wir müssen sie unterstützen.«

»Wie soll das gehen?« Georg leerte seine Tasse in großen Schlucken, ohne Milch und Zucker hinzuzugeben. Dass er sich nicht die Zunge verbrannte, war erstaunlich. »Wir haben doch schon alles versucht. Niemand von uns will noch einen Tag mit der verdammten Kristallkugel zubringen. Wie viele Rituale haben wir in den letzten Nächten durchgeführt, um sie zu orten? Waren es acht oder neun? Ich habe aufgehört, mitzuzählen.« Kaum hatte mein Bruder die Tasse abgesetzt, schüttete er eine weitere Dosis Koffein nach. Erst jetzt fielen mir die dunklen Ringe unter seinen Augen auf.

Vater gönnte uns allen wenig Ruhe. Besonders Georg hatte er für allerlei Zauber und Riten herangezogen. Erst gestern hatte Georg gewitzelt, dass Vater ihn nur deshalb nicht in der Hausbibliothek ankettete, weil irgendjemand, der keine monströse Wächterkreatur war, zur Tür gehen musste, um den Pizzaboten zu empfangen.

»Stell dich nicht dümmer, als du bist«, fuhr Vater ihn an.

»Aber er hat doch recht«, verteidigte ich Georg. »Uns gehen die Ideen aus.«

Vater schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Ich sog erschreckt die Luft ein. Auch Georg zuckte zusammen. Vater musterte uns stirnrunzelnd. »Ich habe euch nicht dazu erzogen, eingleisig zu denken.«

»Mag sein.« Träge rieb sich Georg die Augen. »Vielleicht haben wir in der letzten Woche einfach zu viel ergebnislos herumgegrübelt. Es will mir nicht in den Kopf, wie uns Cocos Traum nutzen soll, wenn wir nicht kontrollieren können, wann und wie Mutter den Kontakt herstellt.«

»Wir müssen die richtige Basis schaffen«, brummte Vater ungeduldig. »Dann können wir mehr erreichen, als Coco allein und unvorbereitet. So können wir sie vielleicht beim nächsten Mal von diesem Schatten abschirmen.«

Vater sah uns erwartungsvoll an. Schweigend wartete ich ab, ob seine Erklärung noch weiter ging. Georg tat es mir gleich.

Vater rollte mit den Augen. »Luzides Träumen. In einer magischen Verbindung. Coco wird schlafen, und wir werden mit ihr verbunden sein. Und wenn eure Mutter tatsächlich auf ihren schlafenden Geist zugreift, werden wir sehen, was sie sieht. War das jetzt wirklich so schwierig?«

»Früh um vier, wenn keiner von uns in den letzten Nächten besonders viel oder erholsam geschlafen hat? Schon.« Georg schüttelte probehalber die Kanne, ob noch etwas Kaffee darin enthalten war. Aber nachdem wir uns alle daraus bedient hatten, war nicht mehr viel Inhalt übrig. »Na großartig.« Er brummte verärgert. »Coco bekommt ihren Schönheitsschlaf und unsereiner noch nicht mal ausreichend Kaffee.«

 

Österreich, 1939 (Georg)

Ich konnte nicht schlafen. Das ewige Rattern des Zuges war auf Dauer zwar ermüdend, aber meine Gedanken hielten mich wach. Sie kreisten um die Frage, wie mein neues Zuhause wohl sein würde. Immerhin, ich sollte bei einer richtigen Gräfin auf ihrem Schloss wohnen. Das war hoffentlich eine Abwechslung zu der Bruchbude auf Sylt. Vater kannte diese Frau Gräfin seit einigen Jahren. Er hatte sie bei irgendeiner Orgie der Schwarzen Familie getroffen und nun sollte sie für die nächsten Schritte meiner Ausbildung verantwortlich sein.

Ich drehte Vaters Brief hin und her. Das weiche, dicke Büttenpapier verströmte einen leichten Zigarrengeruch. Er erinnerte an Vaters Arbeitszimmer.

Gestern Abend hatte Vater mir den zugeklebten Umschlag mit der Auflage gegeben, den darin befindlichen Brief später zu lesen und dann zu vernichten.

Am Morgen, während mich Vater in den Zug gesteckt hatte, war er mit seinen Gedanken bereits woanders gewesen. Als er mir den Koffer zureichte, hatte er mich nicht angesehen. Lieber hatte er eine Einheit von Gestapoleuten beobachtet, die am Zug entlang patrouillierte. Seinem konzentrierten Blick nach hatte er ihre Seelen beeinflusst. So waren sie an ihm vorübergegangen und hatten in eine andere Richtung geblickt. Warum Vater sich vor der Gestapo verbarg, hatte ich nicht mehr fragen können, denn da hatte der Schaffner bereits zur Abfahrt gepfiffen. Die Türen waren zugegangen und die Räder vom Bahnhof gerumpelt.

Neugierig riss ich den Umschlag auf. Ein warmes, zugleich aber auch unangenehmes Kribbeln floss durch meine Finger, als die magische Falle, die Vater im Papier versteckt hatte, meine Aura erkannte und akzeptierte. Das Kribbeln verflog schnell, der Zauber verflüchtigte sich bereits, noch während ich den Brief entfaltete.

Sei gegrüßt Kind,

wie du sicher bemerkt hast, sind die Zeiten nicht ganz einfach. Zwar sind wir mit dem Schwarzen Blut ungleich mächtiger als die gewöhnlichen Sterblichen, doch gibt es Dinge, die so groß und unberechenbar sind, dass sie sogar uns Schwierigkeiten bereiten. Eine Zeit des Zorns ist angebrochen, die zwar unsere Herzen beflügelt, von uns jedoch Weitsicht und kluge Strategien verlangt. Dann können wir die Mächte der Zerstörung beherrschen und zu unserem Vorteil nutzen.

Doch sind wir nicht die Einzigen, die nach Erfolg streben. Der Puls der Zeit schlägt schneller und treibt die Geschöpfe der Dunkelheit aus ihren Höhlen. Bald wird Europas Boden frisches Blut trinken und selbst die niedersten Ratten können es spüren. Gierig auf ein bevorstehendes Festmahl kriechen sie aus ihren Löchern und planen ihren Aufstieg.

In diesen Zeiten sind wir alle Soldaten. Auch du. Und als meinen Soldaten sende ich dich ins Feld fern der Heimat. Nicht in die Schlacht, doch auf eine wichtige Mission. Deine Aufgabe ist es, zu lernen, zu verstehen und Augen und Ohren offenzuhalten.

Derzeit sind zu viele Augen in Wien auf Thekla und mich gerichtet.

Du hingegen wirst zur Gräfin reisen. Lerne von ihr, denn sie kann dich einige nützliche Künste lehren. Beug dich ihrer Ägide, gib Acht, und berichte mir über deine Fortschritte.

Es grüßt dich dein Vater.

Ich blickte aus dem Fenster auf Ginsterbüsche am Bahndamm und einen grauen Himmel.

Ich hatte Vater doch nicht allzu sehr enttäuscht. Er hatte mich unter einem Vorwand fortgeschickt. Vielleicht glaubte er, Wien sei zu gefährlich für mich. Oder er wollte sich nicht angreifbar machen. Vielleicht war ich ihm ein Klotz am Bein und er schlug zwei Fliegen mit einer Klappe, indem er mich als Spion einsetzte. Dass er mir diesen Brief mitgegeben hatte, anstatt mir zu Hause alles zu sagen, bedeutete, dass er entweder Thekla nicht traute oder fürchtete, dass ihn jemand sogar in unserem Haus überwachte.

Wie auch immer die Dinge lagen, ich bewunderte die Klugheit dieses Vorgehens und nahm mir vor, auch so taktisch zu denken, wenn ich groß war. In der Schwarzen Familie herrschte beständig Krieg. Unsere Familie war unsere Einheit und Vater der Hauptmann. Nur so konnten wir überleben.

Ich musste seinen Befehlen folgen, denn er war klüger als ich. Und lernen wollte ich, lernen, von ihm, von der Gräfin, von allen, denen ich begegnete. Alles war Politik. Politik war Krieg. Und ich war noch nicht ausreichend gerüstet. Vater hatte das erkannt und ich nahm mir vor, ihn stolz zu machen.

 

Im letzten Kuhkaff kurz vor der slowenischen Grenze stieg ich aus dem Zug. Der Schaffner starrte mich verwundert an, als ich meinen kleinen Koffer auf den staubigen Bahnsteig hievte. Grau erhob sich vor mir ein kleines Wartehäuschen. Ein schmuddeliges Messingschild schwang in der Brise einer verschlafenen Mittagsstunde an einem einsamen Laternenpfahl. Es benannte die Bahnstation und den Ort. Asmoda.

Obwohl der Name mir einen Schauer über den Rücken jagte, war weder die Dorfstraße besonders furchteinflößend noch die wenigen Häuschen, die sich um den Dorfplatz drängten. Der Ort war tot. Nicht einmal ein Hund lag dösend in der Sonne, nirgendwo scharrte ein Huhn oder spielten Kinder.

Plötzlich sah ich einen Schatten hinter einer Fensterscheibe. Neugierige Augen, die hinter einer grauen Gardine hervorlugten. Ein Kind, ein Knabe, nicht viel größer als ich.

Ich wollte in Richtung des Fensters gehen, da umgab mich plötzlich der Duft von Rosenöl. Eine schlanke Hand mit langen, blutroten Fingernägeln legte sich auf meine Schulter. Eine dunkle, lockende Frauenstimme glitt über mich hinweg. Rauchig, wie schwerer, weicher Samt. Sie sagte meinen Namen mit einem weichen, slawischen Akzent, den ich nicht recht einzuordnen vermochte.

Ich drehte mich um, blickte hoch in ein ebenmäßiges, schmales Gesicht. Die vornehme Blässe der hohen Wangenknochen lenkte den Blick zu bezwingenden, dunklen Augen und vollen Lippen. Der schöne Mund, von der gleichen Farbe wie die Fingernägel, lächelte mich an. Doch die Augen blieben ohne jedes Gefühl. Wie die einer Toten. Oder einer Dämonin.

»Willkommen auf meinem Land, mein Kind. Ich bin Gräfin Anastasia von Lethian.«

Ich verbeugte mich und hob meinen Koffer. »Ich bin bereit, Ihnen zu folgen, Gräfin.«

Die Gräfin ließ mich nicht aus den Augen.

 

Wien, Gegenwart

»Hast du es bequem? Brauchst du noch ein Kissen?«

»Verhätschle sie nicht, Georg. Sie reißt sich eben zusammen.«

Trotz Vaters liebenswürdiger Einschätzung meiner Bereitschaft, bei unserem Ritual mein Bestes zu geben, ließ der Schlafkomfort in unserem Beschwörungskeller doch deutlich zu wünschen übrig. Die Wolldecke, auf der ich lag, machte die kalten Steinfliesen auch nicht gerade rückenfreundlicher. Aber schwerer Weihrauchduft aus den silbernen Rauchschalen legte sich auf meine Sinne. Schläfrigkeit hüllte mich ein, ließ meine Augenlider erschlaffen. Vaters Stimme durchdrang den Nebel, der meine Sinne einlullte. Er befahl meinem Körper, ruhig zu sein, schwer wie ein Felsbrocken. Dann beschwor Vater die Kräfte der Nachtalben, um mich ins Nachtreich, ins Land der dunklen Träume zu bringen. Obwohl ich deutlich die Berührungen von sanften, aber eiskalten Fingern auf meiner Haut spürte, wehrte ich mich nicht. Ich ließ mich treiben, ließ zu, dass unsichtbare Hände mich streichelten und in den Schlaf wiegten. Hoffentlich hatten Vater und Georg alle nötigen Maßnahmen getroffen, um mich zurückzuholen, damit ich mich nicht in der Unendlichkeit des Nachtreichs verlor.

 

Ich schwebte im Nichts, in der Finsternis, getragen von tausend kleinen Händen. Wie lange ich ausharrte an diesem Ort zwischen den Welten, vermochte ich nicht zu sagen. Doch auf einmal war Mutter endlich bei mir. Diesmal sah ich sie nicht mehr nur als Schemen. Ganz deutlich erkannte ich ihr Gesicht. Bleich und erschöpft schimmerte es vor der dunklen Leere in seinem eigenen schwachen Glanz. Auch ihre Stimme war nun klar und vertraut, kein verzerrtes Echo mehr.

»Ihr müsst aufhören mich zu suchen, Coco. Sag deinem Vater, er darf nichts mehr zu meiner Rettung unternehmen.«

»Warum hast du Kontakt aufgenommen? Um mir das zu sagen? Wir sind eine Familie. Wir holen dich raus. Egal, in welchen Schwierigkeiten du steckst.«

Mutter lächelte traurig.

»Habt Geduld. Habt Vertrauen. Die Zeit spielt für uns.«

Diese Aussagen verwirrten mich. Dennoch erinnerte ich mich an die Fragen, die Vater mir eingebläut hatte und auf die er Antworten erwartete. Ich sprach hastig, denn ich fürchtete, Mutters Häscher könnten die Verbindung jederzeit unterbrechen. Auch das Nachtreich war kein sicherer Ort. Es begünstigte lediglich die Kontaktaufnahme zweier schlafender Seelen.

»Wo bist du? Wer hält dich gefangen? Was will er von dir?«

Mutter schwieg. »Er ist ein faszinierender Mann. Nie zuvor bin ich einer so mächtigen Präsenz begegnet.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Er nennt sich die Schwarze Eminenz …«

»Bist du gekommen, um mir von deinem neuen Lover vorzuschwärmen?«, fragte ich ungehalten. Ich begriff nicht, warum sie sich ihrer Rettung verweigerte.

»Nein.« Mutters Worte klangen ungewöhnlich sanft in meinen Ohren. »Ich bin hier, um dich zu warnen.«

Ihr Gesicht entfernte sich und auch ihre Stimme verlor an Kraft. Ich wollte mich rühren, sie festhalten. Aber wie in der letzten Nacht konnte ich es nicht. Ich war gelähmt und hilflos in der Dunkelheit.

»Du musst in Wien bleiben, hörst du?«

Mutter war nur noch ein schwaches Leuchten an einem finsteren Horizont.

»Beschütze deinen Vater. Traue nicht deinen Augen.«

Sie verschmolz mit der Leere. Ein Flüstern wie ein Windhauch war das Einzige, das von ihr blieb. »Folge deinem Herzen.« Einen Augenblick lang schwebten diese Worte im Nichts, dann war ich erneut allein.

Allein mit den Nachtalben, deren Finger mich sanft hinübertrugen in eine andere Welt.

 

Ein Rütteln an der Schulter weckte mich. Ich hustete und merkte, dass ich zu viel magischen Weihrauch eingeatmet hatte. Vater beugte sich über mich. »Bist du ihr begegnet? Was hat sie gesagt?«

Seine Fragen prasselten auf mich ein wie ein Hagelschauer. Nach der Stille des Nachtreichs schmerzte jeder Laut in meinen Ohren. Ich verstand die Bedeutung der Worte nur halb, musste erst wieder zu mir selbst zurückfinden. »Sie will bei ihm bleiben«, murmelte ich schlaftrunken.

»Bei wem?«

»Bei der Schwarzen Eminenz.« Langsam kehrten Ton und Licht und meine Welt zurück. Mein Geist klärte sich. »Sie will, dass wir nichts unternehmen. Wir sollen ausharren. Habt ihr es denn nicht gehört?«

Vater schüttelte unwirsch den Kopf. Seine Augen funkelten, als wünschte er sich, irgendjemanden zu töten. »Nein«, presste er schließlich hervor. »Sonst würde ich nicht fragen.«