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Jean-Philippe Toussaint

FERNSEHEN

Roman

Aus dem Französischen

von Bernd Schwibs

Ich habe aufgehört fernzusehen. Ich habe mit einem Schlag aufgehört, ein für allemal, keine Sendung mehr, nicht mal Sport. Ich habe vor etwas mehr als sechs Monaten aufgehört, Ende Juli, gleich nach der Tour de France. Ich habe mir wie alle Welt die Übertragung der letzten Etappe der Tour de France angeschaut, in meiner Wohnung in Berlin, ungestört, jene Etappe auf den Champs-Élysées, die mit einem Massenspurt endete, den der Usbeke Abdujaparov gewann, dann bin ich aufgestanden und habe den Fernseher ausgeschaltet. Mir steht noch deutlich die Geste von damals vor Augen, eine einfache, geschmeidige Geste, tausendfach wiederholt, mein Arm, der sich vorstreckt und auf den Knopf drückt, das Bild, das implodiert und vom Bildschirm verschwindet. Das war das Ende, ich habe nie mehr ferngesehen.

Der Fernseher steht noch immer im Wohnzimmer, verlassen und ausgeschaltet, ich habe ihn seitdem nie mehr angerührt. Er müßte eigentlich noch betriebsbereit sein, ein Druck auf den Knopf genügte, um es herauszufinden. Es ist ein klassischer Fernseher, schwarz und quadratisch, der auf einem holzlackierten Untersatz aus zwei Elementen ruht, einer Platte und einem Fuß, der die Form eines winzigen, senkrecht geöffneten Buches hat, wie ein stummer Vorwurf. Der Schirm, von unbestimmbarer, tiefer und wenig verlockender Farbe, um nicht zu sagen: grün, ist leicht nach außen gewölbt. Das Gerät, das an der Seite einen Bereich für die diversen Knöpfe aufweist, wird von einer großen Antenne aus zwei Bügeln in V-Form überragt, die den zwei Fühlern einer Languste ziemlich ähnlich sehen und übrigens denselben Typ von Griff für den Fall bieten, daß man den Fernseher packen und in einen Topf mit kochendem Wasser schmeißen möchte, um ihn noch radikaler loszuwerden.

Ich habe dieses Jahr den Sommer allein in Berlin verbracht. Delon, mit der ich zusammenlebe, war die Ferien über in Italien, mit den beiden Kindern, meinem Sohn und dem noch ungeborenen Baby, das wir erwarteten, ein Mädchen, meiner Meinung nach. Tatsächlich ging ich davon aus, daß es ein Mädchen ist, da der Gynäkologe kein männliches Glied beim Ultraschall gesehen hatte (und häufig, wenn kein männliches Glied da ist, ist es ein Mädchen, hatte ich erklärt).

Das Fernsehen nahm keinen großen Platz in meinem Leben ein. Nein. Ich schaute im Durchschnitt ein oder zwei Stunden pro Tag (es könnten sogar weniger sein, aber ich übertreibe lieber, als daß ich mir mit einer untertreibenden Schätzung selbst schmeichle). Außer größeren Sportereignissen, die ich immer mit Vergnügen verfolgte, den Nachrichten und einigen Sendungen an Wahlabenden, die ich dann und wann ansah, habe ich mir nichts Größeres im Fernsehen angeschaut. Zum Beispiel schaute ich mir aus Prinzip und Bequemlichkeit nie Filme im Fernsehen an (so wie ich auch keine Bücher in Blindenschrift lese). In jener Zeit hatte ich sogar den Eindruck, ohne ihn freilich jemals überprüft zu haben, daß ich von heute auf morgen aufhören könnte fernzusehen, ohne daß es mir etwas ausmachen, ohne daß ich das geringste unangenehme Gefühl empfinden würde, mit anderen Worten, daß ich mitnichten davon abhängig war.

Seit einigen Monaten war mir allerdings eine ganz leichte Veränderung in meinem Verhalten aufgefallen. Ich blieb fast alle Nachmittage zu Hause, unrasiert und mit einem superbequemen alten Wollpullover bekleidet, schaute drei oder vier Stunden lang ununterbrochen Fernsehen, halb auf ein Sofa gekuschelt, wie eine Katze in ihrem Korb, was die Vertraulichkeiten angeht, die ich mir herausnahm, Füße nackt und die Hand unterm Geschlechtsteil. Ich eben. Tatsächlich begab es sich in jenem Jahr, daß ich, anders als in den Jahren zuvor, von Anfang bis Ende die Internationalen Tennismeisterschaften von Frankreich im Fernsehen verfolgte. Am Anfang habe ich mir nur hin und wieder ein Spiel angeschaut, dann, während des Viertelfinales, hat mich der Ausgang des Turniers wirklich interessiert, oder so habe ich es zumindest Delon erzählt, um diese langen vor der Glotze verbrachten Nachmittage voller Untätigkeit zu rechtfertigen. Gewöhnlich war ich in jenen Tagen allein zu Hause, aber manchmal gab es da noch die Putzfrau, die neben mir im Wohnzimmer voll stummer Entrüstung meine Hemden bügelte. An den schlimmsten Tagen begannen die Übertragungen mittags und gingen bis Mitternacht. Aus diesen Übertragungen kam ich zerschlagen heraus, am Rande der Übelkeit, mit leerem Kopf, weichen Knien und stierem Blick. Ich nahm eine Dusche, hielt das Gesicht lange unter lauwarmes Wasser. Für den Rest des Abends war ich groggy, und obwohl ich noch einige Skrupel hatte, es mir einzugestehen, konnte ich nicht mehr die Augen vor der klaren Tatsache verschließen: Seitdem ich mich ganz sachte an die Vierzig heranzutasten begann, hielt ich, körperlich, ein Fünf-Satz-Tennismatch einfach nicht mehr durch.

Ansonsten tat ich nichts. Nichts tun, damit meine ich, nichts Unüberlegtes oder Zwanghaftes tun, nichts durch Gewohnheit oder Trägheit Diktiertes tun. Nichts tun, damit meine ich, nur das Wesentliche tun, denken, lesen, Musik hören, sich mit jemandem lieben, spazierengehen, ins Schwimmbad gehen, Pilze sammeln. Nichts tun, das erfordert, anders als man sich’s auf die Schnelle vorstellen könnte, Methode und Disziplin, geistige Offenheit und Konzentration. Ich schwimme jetzt jeden Tag fünfhundert Meter, bei einem Stundenmittel von zwei Kilometern, kein sehr übermäßiges Tempo, geb ich zu, was genau zwanzigmal die Länge des Beckens pro Viertelstunde entspricht, das sind achtzig Bahnen in einer Stunde. Aber ich bin nicht auf Leistung aus. Ich schwimme bedächtig, wie eine alte Dame (allerdings ohne Häubchen), den Geist idealerweise leer, auf meine Gesten und meinen Körper achtend, auf meine Bewegungen und deren Regelmäßigkeit bedacht, den Mund halb geöffnet, der beim Ausatmen eine Garbe plätschernder Blasen vor sich auf die Oberfläche des Wassers zaubert. Behutsam strecke ich in dem bläulich schimmernden Schwimmbad, dessen klares Wasser von allen Seiten meine Glieder umhüllt, die Arme nach vorn, um mit langen Zügen die Wasseroberfläche zu teilen, während die Beine in Höhe der Knie einknicken und simultan dazu sich die Arme langsam aufs neue ausbreiten und gleichzeitig wieder die Beine in der gleichen koordinierten und synchronen Bewegung das Wasser hinter sich stoßen. Der Stellenwert des Schwimmens auf der Leiter der Vergnügen, die das Leben uns verschafft, lag bei mir sehr hoch, nachdem ich es zunächst etwas unterbewertet und ziemlich weit hinter die körperliche Liebe gereiht hatte, die bislang meine Lieblingstätigkeit gewesen war, vom Nachdenken einmal abgesehen, selbstredend. Tatsächlich mache ich sehr gern Liebe (in vielerlei Hinsicht), und ohne daß ich hier meinen diesbezüglichen Stil weiter ausbreiten möchte, der im übrigen eher der sinnlichen Seelenruhe von Langstreckenbrustschwimmen ähnelte als dem aufschneiderisch-virilen und chaotischen Schwung eines 400-m-Schmetterling-Stils, möchte ich doch vor allem festhalten, daß Sich-Lieben mir eine große innere Ausgeglichenheit verschafft und daß ich, ist der Akt einmal vorüber, während ich in der Sanftheit der Decke und auf dem Rücken liegend dahinträume und die schlichte Güte des Augenblicks genieße, eine unwiderstehliche gute Laune verspüre, die sich auf meinem Gesicht in Form eines unverhofften leichten Lächelns niederschlägt und in meinen Augen sich als etwas Glitzerndes zu erkennen gibt, als etwas Maliziöses und Komplizenhaftes. Nun ja, Schwimmen verschafft mir dieselbe Art von Befriedigung, dasselbe Gefühl körperlichen Erfülltseins, das sich langsam, nach und nach, wie eine Welle im Geist ausbreitet und zum Lächeln verleitet.

So ist mir, der ich völlig damit beschäftigt war, nichts zu tun, aufgegangen, daß ich keine Zeit mehr hatte fernzusehen.

Das Fernsehen bietet das Schauspiel nicht der Realität, auch wenn es sich diesen Anschein gibt (in Miniformat, möchte ich mal sagen, ich weiß nicht, ob Sie schon mal ferngesehen haben), sondern ihrer Darstellung. Es stimmt schon, die scheinbar neutrale Darstellung der Realität, die das Fernsehen in Farbe und zweidimensional vorlegt, wirkt auf den ersten Blick vertrauenswürdiger, authentischer und glaubwürdiger als jene raffiniertere und weitaus indirektere, zu der die Künstler greifen, um in ihren Werken ein Abbild der Realität zu vermitteln. Aber wenn die Künstler die Realität in ihren Werken darstellen, so, um die Welt zu umarmen und deren Wesen zu erfassen, wohingegen das Fernsehen, wenn es sie darstellt, dies nur an sich tut, aus Versehen sozusagen, aus einem bloßen technischen Determinismus heraus, aus Inkontinenz. Die bloße Tatsache, daß das Fernsehen ein vertrautes, sofort wiedererkennbares Abbild der Realität vorlegt, rechtfertigt indes nicht, das von ihm vorgelegte Bild und die Realität als gleichwertig anzusehen. Außer man glaubt, daß die Realität, um real zu sein, ihrer Darstellung gleichen muß, gibt es tatsächlich keinen Grund, das von einem Meister der Renaissance gemalte Porträt eines jungen Mannes für ein weniger realitätsgetreues Abbild zu halten als das scheinbar unanfechtbare Video-Bild eines in seinem Land weltweit bekannten Nachrichtensprechers, der gerade auf einem kleinen Bildschirm die Fernsehnachrichten verliest.

Die Illusion der Realität in einem Renaissance-Gemälde, die Illusion, die von Farben und Pigmenten ausgeht, vom Öl und den Pinselstrichen auf der Leinwand, von den leichten Retuschen mit dem Pinsel oder selbst dem Daumen, vom einfachen Reiben mit der Daumenkante in der noch leicht feuchten Paste aus Leinöl, die Illusion, vor sich etwas Lebendiges zu haben, Fleisch oder Haare, Stoff oder einen Faltenwurf, einer vielschichtigen menschlichen Person gegenüberzustehen, mit ihren Fehlern und Schwächen, jemandem mit einer Geschichte, der ihm eigenen Würde, seiner Sensibilität, seinem Blick – wieviel Quadratmillimeter Farbe entsprechen eigentlich der Kraft dieses die Jahrhunderte durchdringenden Blicks? –, diese Illusion ist von ihrem Wesen her eine grundsätzlich andere als die Illusion, die das Fernsehen verschafft, wenn es die Realität darstellt, das bloße mechanische Ergebnis einer unbehausten Technik.

In jenem Jahr hatte ich beschlossen, den Sommer allein in Berlin zu verbringen und mich der Abfassung meiner Studie über Tizian zu widmen. Seit einigen Jahren schon hatte ich den Plan, einen umfangreichen Essay über Kunst und politische Macht zu schreiben. Mein Projekt hatte sich nach und nach auf das sechzehnte Jahrhundert in Italien konzentriert, im besonderen auf Tiziano Vecellio und Karl V., bis ich jene apokryphe Pinsel-Episode, der zufolge Karl V. sich im Atelier Tizians gebückt hatte, um einen Pinsel aufzuheben, der aus der Hand des Malers gefallen war, zum emblematischen Zentrum meiner Studie nahm, die ihr denn auch den Titel gab: Der Pinsel. Anfang des Jahres hatte ich meinen Professorenposten an der Universität aufgegeben und ein Freijahr genommen, um mich der Vorbereitung dieser Studie zu widmen. Gleichzeitig hatte ich mich, als ich von der Existenz einer privaten Stiftung zur Förderung von Forschern meines Kalibers in Berlin hörte, dort um ein Stipendium beworben, unter Einreichung eines Antrags, in dem ich minutiös mein Vorhaben beschrieb, wobei ich insbesondere auf die Notwendigkeit abhob, mich meiner Studien wegen nach Augsburg zu begeben, der Stadt, wo Karl V. zwischen 1530 und ich weiß nicht mehr welchem Datum (ich und die Daten!) residiert und wo Tizian nicht zuletzt einige der berühmtesten Porträts von Karl V. gemalt hatte, z. B. das große Reiterporträt im Prato sowie den sitzenden Karl V. in der Münchner Pinakothek, mit blassem, pathetischem Gesicht und einem Handschuh in der Hand. Es steht außer Frage, daß ein Aufenthalt in Augsburg für mich ungemein wertvoll und produktiv hätte sein können, aber ich war doch auch bereit anzuerkennen, daß dieses Projekt zu Tizian nicht so spezifisch deutsch war, wie ich es in meinem glänzend formulierten Stipendienantrag hatte weismachen wollen, und daß es im Grunde nicht schwieriger war, Augsburg von Paris aus zu erreichen als von Berlin. Am idealsten wäre München gewesen. Nun hatte ich aber schließlich das Stipendium bekommen, und wir drei hatten uns aufgemacht, in Deutschland zu leben. Anfang Juli war Delon wieder abgereist, in die Ferien nach Italien, mit den zwei Kindern, das eine an der Hand, das andere im Bauch (was ungemein praktisch ist für jemand wie sie, die immer eine Unzahl von Koffern und Handgepäck mit sich schleppt), und ich hatte alle drei zum Flughafen begleitet; ich trug die Flugtickets. Ich sehe mich noch deutlich in der Flughafenhalle zur Anzeigetafel mit den Abflugzeiten gehen, hocherhobenen Kopfes, in der Hand die Tickets, und beide einen Moment lang verblüfft vergleichen. Dann war ich zu Delon zurückgegangen, die mich neben ihrem Gepäckwagen erwartete, und hatte gesagt – ich bin mir übrigens unschlüssig, ob alle Worte, die ich während des Aufenthalts in Berlin fallengelassen habe, hier wirklich haargenau wiedergegeben werden müssen –: Flugsteig 28. Bist du sicher? hatte Delon gesagt. Plötzlich stieg leiser Zweifel in mir auf. Flugsteig 28, ja (ich war noch mal hingegangen und hatte es nachgeprüft). Wir hatten uns vor dem Auseinandergehen lange geküßt, ich hatte vor dem Check-in-Schalter des Flugsteigs 28 von ihnen Abschied genommen, hatte sanft die Hand auf den Kopf meines Sohnes gelegt und unter den Pullover von Delon gegriffen, um zärtlich ihren Bauch zu streicheln, und hatte dann zugeschaut, wie sie sich unter den verkürzten Triumphbogen des Metalldetektors begaben. Tschüs, tschüs, machte mein Sohn mit der Hand (und jetzt hatte ich Lust zu weinen: so bin ich nun mal).

Wieder zu Hause, brachte ich zunächst einmal etwas Ordnung in meine Sachen, räumte sorgfältig mein Arbeitszimmer auf, um alles mit Blick auf meine Arbeit vorzubereiten (ich hatte den Plan gefaßt, meine Studie sehr früh am nächsten Morgen in Angriff zu nehmen). Ich begann damit, die wuchtige schwarze Regalwand zu leeren, auf der sich seit meiner Ankunft in Berlin ein Haufen Papiere gestapelt hatten. Da lagen Briefe und Rechnungen, Visitenkarten, diverse, noch nicht abgelegte Dokumente zur Vorbereitung meiner Arbeit, Münzgeld und alte Konzertkarten sowie eine Unzahl von Zeitungsausschnitten auf französisch und deutsch, die ich gewissenhaft aufbewahrte, um sie mir später in einer ruhigen Minute zu Gemüte zu führen. Ich mußte all diese Artikel wohl im Laufe der Zeit sorgfältig ausgeschnitten haben, ich sehe mich noch, wie ich sie, in meinem Arbeitszimmer sitzend, sorgsam ausschneide, wie ich aufstehe und sie dann auf ein Regal lege zu weiteren Zeitungsausschnitten, ebenfalls bestimmt, später weggeworfen zu werden, wenn nicht doch der Tag kommen sollte, an dem sie gelesen werden. Nachdem die Regale völlig geleert waren, begann ich mit dem Aussortieren der Ausschnitte. Ich machte es mir in meinem Arbeitszimmer im Schneidersitz bequem, ich saß da in meinem alten Wollpullover mit den zu langen Ärmeln, die ich bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte, neben mir eine große Mülltüte aus schwarzem Plastik, und nahm nun einen Artikel nach dem anderen von den diversen Stößen, die mich umgaben, überflog ihn ein wenig, so wie’s gerade kam (manchmal trieb ich die Gewissenhaftigkeit des Archivars sogar so weit, daß ich aufstand und von meinem Schreibtisch einen Stift holte, um den einen oder anderen Absatz zu markieren, ganze Sätze zu unterstreichen, einige Ausschnitte mit Datum zu versehen), um ihn dann in die Mülltüte zu werfen, unter Bewahrung weniger, höchst ausgewählter Exemplare, deren Lektüre ich mir mit einem vorweggenommenen Wonnegefühl für später aufhob und die ich nach Beendigung der Aufräumaktion in meinem Arbeitszimmer auf den Nachttisch meines Schlafzimmers legen wollte. Danach kehrte ich kurz das Zimmer aus, öffnete die Balkontür, um mein Büro schön zu durchlüften, schüttelte den Bettvorleger an der frischen Luft aus und räumte mein Bett von dem Köfferchen und dem Malblock frei, die darauf lagen. Nachdem diese diversen Vorbereitungen getan waren, stellte ich den Wecker in meinem Zimmer auf Viertel vor sieben, und nach einem letzten Kontrollgang durch die Wohnung und in der Gewißheit, daß alles in Ordnung, mein Schreibtisch vorbereitet war und ein Stoß jungfräulichen Papiers neben dem Computer lag, meine Bücher und meine Dokumentation in Reih und Glied standen und bereit, geöffnet zu werden, schloß ich sachte die Tür meines Arbeitszimmers und begab mich ins Wohnzimmer, setzte mich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein.

Sehr häufig schaltete ich so in der letzten Zeit wie in einem bösen Rausch abends den Fernseher ein und schaute gedankenlos alles an, was es gab, ich wählte kein besonderes Programm, schaute an, was kam, die große Masse, die Bewegung, das Flimmern, das Verschiedenartige. Ich machte mir damals nicht klar, daß ich mich treiben ließ, doch im nachhinein halte ich diese momentane kleine Überhitzung für ein völlig symptomatisches Vorzeichen des danach folgenden radikalen Entschlusses, als wäre eine derartige Phase des exzessiven Konsums für den Erfolg des späteren Entzugs unbedingt notwendig gewesen. Unterdessen blieb ich alle Abende stundenlang wie reglos vor dem Bildschirm sitzen, die Augen starr auf den diskontinuierlichen Schimmer der wechselnden Einstellungen geheftet, nach und nach überflutet von diesem Strom von Bildern, die mein Gesicht erleuchteten, all diesen Bildern, die blind gleichzeitig auf alle Welt gerichtet waren und sich an niemand besonderen richteten, jeder Sender auf seinem engen Kanal eine Masche in dem riesigen Wellenteppich, der tagtäglich auf die Welt niederging. Unfähig zu reagieren, war mir bewußt, daß ich dabei war, meine Würde zu verlieren, wenn ich so vor der Glotze sitzenblieb, mit der Fernbedienung, die ich nicht loslassen konnte, mechanisch wie im Rausch zappend, auf der Suche nach unmittelbaren und faulen Vergnügen, mitgerissen von diesem vergeblichen Schwung, dieser unersättlichen Spirale, auf der Suche nach noch mehr Erbärmlichkeit, noch mehr Trostlosigkeit.

Überall waren es dieselben unterschiedslosen Bilder, rahmen- und kopflos, ohne Erklärungen, nackt, unverständlich, lärmend und bunt, häßlich, traurig, aggressiv und leutselig, synkopiert und gleichwertig, es waren stereotype amerikanische Serien, es waren Clips, es waren englische Schlager, es waren Quizsendungen, es waren Dokumentarfilme, es waren aus dem Zusammenhang gerissene Filmszenen, Auszüge, es waren Extrakte, es waren Schlagerparaden, es war lebhaft, das Publikum klatschte rhythmisch, es waren Politiker in einer Diskussionsrunde, es war eine Debatte, es war Zirkus, es waren Akrobatenstücke, es war eine Quizsendung, es war das Glück, ungläubiges, verblüfftes Lachen, Umarmungen und Tränen, es war der Live-Gewinn eines Autos, Lippen, die vor Rührung zitterten, es waren Dokumentarfilme, es war der Zweite Weltkrieg, es war ein Leichenzug, es waren Kolonnen deutscher Kriegsgefangener, die langsam am Straßenrand marschierten, es war die Befreiung der Todeslager, es waren Knochenberge auf der Erde, es war in allen Sprachen, es gab mehr als 32 Sender, es war in deutsch, es war vor allem in deutsch, es waren überall Gewalt und Feuerstöße, es waren ausgestreckte Leichen auf den Straßen, es waren Nachrichten, es waren Überschwemmungen, es war Fußball, es waren Quizsendungen, es war ein Fernsehmoderator mit seinen Spickzetteln, es war ein Zähler, der sich drehte und den alle im Studio mit Kopf nach oben anschauten, das Neue, es war das Neue, es war Applaus, es war Werbung, es waren Unterhaltungssendungen, es waren Debatten, es waren Tiere, es war Rudern im Studio, der Athlet ruderte und die Moderatoren sahen ihm um einen Rundtisch sitzend sorgenvoll zu, während ein Chronometer eingeblendet war, es waren Kriegsbilder, Aufnahme und Ton fehlte es an Substanz, alles das schien auf die Schnelle gemacht worden, das Bild wackelte, der Kameramann rannte wohl auch, es waren einige Personen, die in einer Straße rannten und auf die man schoß, es war ein Frau, die fiel, es war eine Frau, die getroffen worden war, eine Frau von etwa fünfzig, die auf dem Bürgersteig lag, in einem etwas altmodischen grauen Mantel, halb geöffnet, mit zerfetztem Strumpf, sie war am Oberschenkel getroffen worden, und sie schrie, sie schrie bloß, stieß einfache Angstschreie aus, weil ihr Oberschenkel aufgerissen war, es waren die Schreie dieser Frau, die Schmerzen hatte, sie schrie nach Hilfe, es war keine Fiktion, zwei oder drei Männer rannten zurück, um ihr zu helfen, und hoben sie auf die Bordsteinkante, der Beschuß ging weiter, es waren Archivaufnahmen, es waren Nachrichten, es war Werbung, es waren neue Autos, die sich bei Sonnenuntergang langsam auf idyllischen Straßen an Berghängen hochschlängelten, es war ein Hardrock-Konzert, es waren Fernsehserien, es war klassische Musik, es waren Kurznachrichten, es war Skispringen, der nach vorn gebeugte Skispringer, der Schwung nahm und sich auf die Schanze warf, langsam glitt er auf der Abflugpiste abwärts, verließ die Erde und erstarrte in den Lüften, er flog, er flog, es war grandios, dieser erstarrte und nach vorn gestreckte Körper, unbewegt und unwandelbar in den Lüften. Es war Schluß. Es war Schluß, ich hatte den Fernseher ausgeschaltet und rührte mich nicht mehr auf dem Sofa.

Ein Hauptmerkmal des Fernsehens, wenn es läuft, besteht darin, daß es uns ständig auf künstliche Weise wachhält. Es sendet tatsächlich ununterbrochen Signale an unseren Geist, kleine Stimulationen visueller wie lautlicher Natur, die unsere Aufmerksamkeit kitzeln und unseren Geist auf dem Quivive halten. Doch kaum hat der Geist, durch diese Signale in Alarmbereitschaft versetzt, seine Kräfte für die Reflexion gesammelt, ist das Fernsehen auch schon zu anderem übergegangen, zum Nachfolgenden, zu neuen Stimulierungen, zu neuen Signalen, die genauso schrill sind wie die vorhergehenden, so daß unser Geist durch diese endlose Abfolge von Signalen, die ihn täuschen, weniger wachgehalten wird als daß er, erfüllt von diesen unseligen Erfahrungen, die er gerade erleiden mußte, und sicherlich bestrebt, sich nicht wieder täuschen zu lassen, nun die wirkliche Beschaffenheit der Signale vorwegnimmt und, statt aufs neue seine Kräfte für die Reflexion zu sammeln, sie vielmehr lockert und sich einem passiven Vagabundieren anheimgibt je nach den auf ihn einströmenden Bildern. Unser Geist – wie betäubt, daß er derart wenig stimuliert und gleichzeitig derart umworben wird – bleibt daher gegenüber dem Fernsehen wesentlich passiv. Immer gleichgültiger gegenüber den Bildern, die ihm angeboten werden, reagiert er schließlich gar nicht mehr auf neue Signale, und sollte er doch wieder einmal reagieren, würde er sich vom Fernsehen erneut täuschen lassen, denn das Fernsehen ist nicht nur fließend, läßt der Reflexion dadurch keine Zeit, sich zu entfalten, daß es in einer ständigen Flucht nach vorne begriffen ist, es ist auch undurchlässig, insofern es jeden fruchtbaren Austausch zwischen unserem Geist und seinem Stoff unterbindet.

Anfang der Woche, als ich gerade Anstalten traf, endlich meine Studie über Tiziano Vecellio und Karl V. in Angriff zu nehmen, klingelten meine Nachbarn von oben, Uwe und Inge Drescher (was auf französisch in etwa als Guy und Luce Perreire zu übersetzen wäre), am Vorabend ihres Urlaubsantritts an meiner Tür und fragten, ob ich wohl so nett sein und mich während ihrer Abwesenheit um ihre Blumen kümmern könnte. Meine Bestürzung kann man sich vorstellen. Sie schlugen mir vor, um alles Notwendige zu regeln und mich mit den entsprechenden Instruktionen zu versorgen, noch am selben Tag bei ihnen einen Kaffee zu trinken. Als ich nach dem Mittagessen zu ihnen hochging, wurde ich recht kühl empfangen, sie hießen mich wortlos am runden Tisch im Speisezimmer Platz nehmen, der noch nicht abgedeckt war und auf dem noch einige schmutzige Teller und eine blau emaillierte Schüssel mit kalten, etwas pappigen und aneinandergeklebten Nudeln standen. Uwe Drescher (Guy), der einen kurzen Augenblick verschwunden war, kam aus der Küche mit einem Topf kochenden Wassers zurück, und nachdem er uns nacheinander löslichen Kaffee, je zwei Löffel, in die Tasse geschüttet und diese dann vorsichtig mit dem kochenden Wasser aufgegossen hatte, begann er mir zu erklären, was er von mir hinsichtlich der Pflege der Pflanzen erwarte, erläuterte mir die gewünschte Menge und Häufigkeit des Blumengießens, die dabei anzuwendende Technik und die Qualität des zu benutzenden Wassers, und damit auch nichts unklar blieb, nahm er aus seiner Hosentasche ein vierfach gefaltetes kleines Blatt Papier heraus, das er für mich vorbereitet hatte und mir nun lässig zuschob und von dem ich zerstreut und mit den Fingern auf den Tisch klopfend Kenntnis nahm. Es war eine Auflistung meiner Aufgaben, Häufigkeit und Modalitäten des Gießens, Pflanze für Pflanze. Ich faltete das Blatt wortlos wieder zusammen, steckte es in meine Tasche. Befriedigt lächelte Uwe mir zu, trank einen Schluck Kaffee und lud mich dann zu einem Rundgang in der Wohnung ein: Pflanzenbesichtigung. Langsam durchmaßen wir ein Zimmer nach dem anderen, Uwe, hochgewachsen und bebrillt, an der Spitze des Zugs, mit seinem feinen befriedigten und rätselhaften Lächeln, eine Hand in der Hosentasche, wo er mit Münzen klimperte (er würde sich vielleicht hinreißen lassen, mir einen kleinen Obolus zuzustekken), Inge in ihrem enganliegenden Kleid an meiner Seite, ganz Dame des Hauses, die bei Gelegenheit vor dieser und jener Pflanze stehenblieb, mich ihr familiär vorstellte, indem sie die Pflanze auf deutsch wissen ließ, daß ich es sei, der sich diesen Sommer um sie kümmern werde (deutschsprechende Pflanzen finde ich immer überraschend). Zurückhaltend, wie ich bin, bekam ich kaum ein »Guten Tag« über die Lippen, ich begnügte mich mit einem schlichten reservierten Augensenken an die Adresse der Pflanzen, meine Kaffeetasse in der Hand. Wir betraten das Arbeitszimmer von Uwe, völlig vergleichbar meinem, an der gleichen Stelle, nur einen Stock tiefer; es hatte die gleiche Balkontür, die auf eine kleine Terrasse führte, auf die zu treten Uwe uns alle drei einlud. Es war etwas kühl draußen, windig, ich hatte mich auf das Balkongeländer gestützt und war mit den Gedanken woanders. Ich hörte nur noch mit einem Ohr den botanischen Erklärungen Uwes zu (gesenkten Kopfs schmiß ich zerstreut Steinchen auf die Passanten), warf lediglich einen freundlichen Blick auf den fetten und tiefdunklen Humus, den er mir mit allen Ehren präsentierte, wobei er mit verzücktem Finger über die Blumenkästen auf dem Balkon fuhr, wo man in der Tat, wenn man ganz genau hinschaute, einen kleinen Kackhaufen von Margeriten erahnen konnte. Neben mir stehend, wies Uwe mit Kennermiene und gerührtem Zeigefinger auf jeden treibenden Schößling, und ich, leicht über den Blumenkasten gebeugt, nickte bedachtsam und trübsinnig. Wir gingen in sein Arbeitszimmer zurück, und während ich meinen Blick über die verschiedenen Akten schweifen ließ, die auf seinem Schreibtisch neben dem Computer und dem Drucker lagen, lenkte Uwe meine Aufmerksamkeit auf einen alten Gummibaum mit schönem dunklen und dichten Blattwerk, der auf dem Kaminsims ruhte, ungerührt und schweigsam wie ein alter Chinese, der übrigens nur mit halbem Ohr dem lauschte, was Uwe mir an Empfehlungen hinsichtlich seiner Pflege angedeihen ließ, nämlich daß er lieber mit einem Wasserzerstäuber behandelt werden wollte als voll mit Wasser übergossen (was von seiten eines alten Chinesen nur allzu verständlich ist). Im selben Zimmer auf dem Boden stand eine zartstielige Begonie, in bezug auf die Inge, nun im Wechsel mit ihrem Mann, herzlich darum bat, ich möge doch bitte in etwa vierzehn Tagen zu einem ganz leichten Vertikutieren der Oberfläche schreiten, das heißt schlicht und einfach, die alte Erde um den Stiel abtragen und durch eine lockere neue Mischung ersetzen, ich fände einen Fünf-Kilo-Sack im Schrank neben der Eingangstür, aber das stehe alles auf dem Zettel, ich möge mir keine Sorgen machen. Sie wäre mir darüber hinaus ungemein verbunden, fügte Inge hinzu, wobei sie vertraulich meine Hand ergriff, um das Zimmer zu verlassen, wenn ich die Güte hätte, während dieser Operation des Vertikutierens mit einem Bambusstab einige Bohrungen im Topf vorzunehmen, um so ein paar Luftschächte in die löchrige Erde zu treiben. Ich sagte ja, natürlich, Luftschächte in die löchrige Erde (sie konnte auf mich zählen), und mit einem schlichten Druck ihrer Hände auf meinen Unterarm, verhalten und doch nicht ohne Feuer, erwies sie mir ihren vorweggenommenen Dank. Während die Dreschers Seite an Seite an ihrer Schlafzimmertür auf mich warteten, stand ich in der Diele am Eingang eine Weile sinnend vor einem kleinen Bild an der Wand, die Kaffeetasse in der Hand, und fragte mich, was es wohl darstelle (eventuell einen Rüsselkäfer), gesellte mich dann wieder zu den Dreschers und betrat als erster das Zimmer, machte einige unentschlossene Schritte in dem Raum, wobei ich mit der Hand zerstreut den schlaffen Zweig einer Bleiwurz zur Seite schob, die an einer Makramee herunterhing, bevor ich einen Augenblick in der Mitte des Zimmers stehenblieb und einen Blick auf das Bett der Dreschers warf, ein breites Doppelbett, auf dem ich Platz nahm. Während ich so auf dem Bett der Dreschers saß, drehte ich meinen Löffel in der Tasse, bedächtig, nahm ihn wieder heraus und leckte ihn trocken. Aufs ruhigste schweifte mein Blick im Zimmer umher, kurz hob ich den Kopf und betrachtete die Bleiwurz. Ich trank einen kleinen Schluck Kaffee und setzte dann die Tasse wieder auf die Untertasse. Das Leben eben. Dreschers, die vor mir standen, etwas verlegen, in ihrem eigenen Zimmer zu sein, setzten sich schließlich auch, Uwe auf die Kante eines Holztischs und eine entspannte Haltung vorspiegelnd, die rechte Hand immer noch in der Hosentasche, die linke, lässig, mit verhaltener Nervosität ein Blatt der Gardenie streichelnd, und Inge neben mich auf das Bett, etwas steif, an den Schößen ihres Kleids zupfend, um ihre Oberschenkel vor meiner vermuteten Jesuitengier zu schützen oder zumindest doch den bigotten Blicken zu entziehen, die ich ihr wohl diskret zuwarf, bis sie schließlich aufstand und mir ihr Kleinod präsentierte, einen Farn, einen prachtvollen Farn, gewiß, in voller Blüte und ordentlich feucht, von dem sie mir beichtete, dabei ihn behutsam mit den Fingerkuppen knetend, daß er fragil und delikat sei und behutsam auf meine Gegenwart vorbereitet werden müsse, damit er sich nicht allzu sehr erschrecke, wenn ich allein kommen würde, ihn zu gießen. Ich erhob mich und unternahm ebenfalls Anstrengungen, einige Blätter des Farns mit meinem Schlüsselmäppchen zu streicheln. Dreschers waren mir, glaube ich, dankbar dafür. Im Flur reichten sie mir, bevor ich ging, die Zweitschlüssel ihrer Wohnung.