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Vorspann

Vierdimensionales Vorspiel

»Mannigfach und seltsam sind die Universen, die wie Blasen im Schaum des Zeitstroms treiben. Einige – es sind nur wenige – bewegen sich entgegen oder gar quer zu dem Strom. Noch wenigere aber liegen jenseits seines Bereichs und wissen nichts von Vergangenheit oder Zukunft.« So hat Arthur C. Clarke seine Kurzgeschichte Der Wall der Finsternis (The Wall of Darkness) begonnen. Das war im Jahr 1949. Diese fantastische Überlegung verdient schon aufgrund dieses faszinierenden Anfangs einen Ehrenplatz im Pantheon der Science Fiction. Doch das ist nicht alles: Was gestern Fiction war, kann heute schon Science sein und morgen vielleicht ein erwiesenes Faktum. Tatsächlich spekuliert der Kosmologe Stephen Hawking gegenwärtig über ein solches Universum »entgegen« des Zeitstroms – das heißt mit einer Zeitrichtung umgekehrt zur unsrigen. Mehr noch: Diese verkehrte Welt könnte unsere eigene hervorgebracht haben. Denn das »Rückwärtszeit«-Universum war vielleicht der Vorläufer unseres Universums – wenn sein Kollaps den Urknall ausgelöst hat.

Dieses Buch handelt aber von noch viel (scheinbar) verrückteren Vorstellungen. Von einer Zeitschleife zum Beispiel, die am Anfang des Kosmos gestanden haben könnte – oder die die ganze Geschichte des Alls zu einem bizarren Kreis schließt, sodass die ferne Zukunft identisch wäre mit der frühen Vergangenheit. Vom Ende der Zeit in Schwarzen Löchern – oder einem Neuanfang. Und von überlichtschnellen Reisen durch alle Zeiten und Räume. Das klingt nach Science Fiction, und deren Ideen werden hier auch thematisiert – nicht selten waren die Gedankenexperimente der harten Physik voraus, aber immer häufiger ist es jetzt umgekehrt. Doch überwiegend berichtet dieses Buch über neue Erkenntnisse und Spekulationen der Naturwissenschaften – auf der Basis von Relativitäts- und Quantentheorie, den besten wissenschaftlichen Theorien in der gesamten Geschichte der Menschheit.

Die Erstauflage dieses Buchs erschien in April 2005, ein Jahr später eine etwas aktualisierte Zweitauflage. Es ist selbstverständlich sehr erfreulich zu erfahren, dass innerhalb von fünf Jahren beide Auflagen komplett ausverkauft waren. Zumal es viele wunderbare Resonanzen gab: Besprechungen in zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen, Kommentare im Internet, Verweise in anderen Büchern, persönliche Zuschriften sowie interessierte Fragen und Überlegungen bei meinen Vorträgen und Seminaren. Dafür danke ich allen Lesern und Zuhörern.

Eine dritte Auflage wurde Anfang 2010 komplett überarbeitet, neu gesetzt und beträchtlich erweitert, eine vierte Auflage im Oktober 2010 noch einmal ergänzt. Gegenüber der Zweitauflage wurden viele Updates vorgenommen sowie neue Themen hinzugefügt (einschließlich Tipps für eine exquisite Unterhaltung mit Party-Girls). So enthält diese Ausgabe zusätzliche Abschnitte und Unterkapitel über physikalische Einsichten und metaphysische Aussichten, über nackte Singularitäten, kosmische Zensur, Extradimensionen und eine zweite Zeit, über kosmische Informationen, Neutrinos, überlichtschnelle Teilchen und Schwarze Minilöcher (vielleicht längst in uns allen oder alsbald im Labor), über Alternativen zu Schwarzen Löchern, über den Warp-Antrieb (eher unerquicklich), große und kleine Wurmlöcher (eher ermutigend), neue Modelle für Zeit»maschinen« sowie über Fortschritte und Irritationen in der Kosmologie.

Die vorliegende, erneut aktualisierte Taschenbuchausgabe enthält außerdem einen 16-seitigen Epilog. Darin wird die erstaunliche Geschichte der Neutrinos beschrieben, die vom Forschungszentrum CERN bei Genf zum OPERA-Detektor im Gran Sasso durch die Erde flitzten – überlichtschnell, wie es im Herbst 2011 schien. Das war ein kurioser Messfehler – und eine spannende Detektiv-Story der Physik.

Es ist eigentlich erstaunlich, dass auf diesen entlegenen Gebieten der Naturwissenschaft gegenwärtig eine so große Dynamik herrscht, zumal viele Aspekte außerordentlich spekulativ und durch physikalische Experimente oder astronomische Beobachtungen noch kaum berührt sind. Andererseits zeigt diese Entwicklung, dass diese Forschungszweige florieren und faszinieren – Wissenschaftler und Laien gleichermaßen –, und dass viele kreative neue Ideen ausprobiert, aber auch kritisch hinterfragt werden. Dennoch werden die Grenzbereiche mitunter beargwöhnt (was ja kein Fehler ist) oder gar ins Reich der Science Fiction gestellt (was kein Makel, aber ein Missverständnis wäre). Um solche eher wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Facetten ebenfalls zu beleuchten, wurde ein neues großes Kapitel aufgenommen (Fantastische Physik), das sich aus einem philosophischen Blickwinkel mit diesen Einwänden auseinandersetzt, jedoch auch andere Seiten der (spekulativen) Physik und Kosmologie betrachtet sowie ihren wissenschaftlichen Wert verdeutlicht und verteidigt.

Darüber hinaus haben diese Forschungen aber noch eine größere und vielleicht sogar wichtigere Bedeutung: Es sind Expeditionen des menschlichen Geistes. Mit diesen vermögen wir unseren kleinkarierten Erdenstaub ein bisschen abzuschütteln, wovon langfristig unsere Zukunft abhängt. Und wir können die Antwortversuche auf die grundlegenden Fragen nach dem Wie, Warum, Woher und Wohin der Welt vorantreiben, wozu nur die Wissenschaften – zusammen mit der modernen Philosophie – in der Lage sind (was nicht heißt, die Künste wären irrelevant – ganz im Gegenteil, wie das Buch mit vielen literarischen Beispielen auch illustriert). Diese Themen dürfen nicht den diversen politischen und religiösen Ideologen, den Blendern und profitgierigen Märchenerzählern überlassen werden, die mit primitiven und völlig falschen Behauptungen die Dummheit unserer Gegenwart vermehren, die menschliche Intelligenz und ihre Errungenschaften beleidigen, Ressourcen verschwenden, nicht zuletzt Zeit, Unheil säen und die offenen Fragen und Möglichkeiten ins Dunkle stellen.

Die Evolution des Menschen, des Lebens, des Weltalls währt erst wenige Millionen beziehungsweise Milliarden Jahre. Und das Abenteuer der Erkenntnis hat erst begonnen. Wir sollten es nicht aufs Spiel setzen. Wie sagte die amerikanische Astronomin Annie Jump Cannon: »Teil eins der Menschheitsgeschichte ist einfach: Wir entstanden aus dem Urschlamm, um nach den Sternen zu schauen. Teil zwei der Geschichte muss noch geschrieben werden.«

 

Terranische Provinz (Koordinaten 48,9 / 9,2),

Murmeltiertag 2010 und Sommersonnenwende 2012

Teil I

Im Schlund
von Raum und Zeit

Rätsel um unersättliche
Schwerkraftfallen im All

Was wäre die Physik ohne die Gravitation?

Albert Einstein, Physiker (1950)

Schwarze Sterne am Leeregrund der Ewigkeit. –
Die Langeweile entsteht aus einer letzten Eintrübung
weltabgelösten Empfindens.

Émile Michel Cioran, Essayist (1940)

Prolog auf der Erde

»Hallo!«

Die Stimme tönte technisch, stereotyp und emotionslos – und das war sie auch, denn ein Sprachcomputer hatte sie erzeugt. Doch der schmächtige Mensch, der hinter dem Monitor verrenkt in seinem motorisierten Rollstuhl kauerte, sprühte trotz seines tragischen Schicksals vor Lebensfreude.

Es war nicht meine erste Begegnung mit Stephen Hawking, der einer Studie des britischen Fernsehsenders BBC zufolge der berühmteste lebende Wissenschaftler ist. Als der 1942 geborene Medienstar mit dem noch immer jugendlichen Gesicht im Oktober 2001 in München eine Pressekonferenz zum Erscheinen seines Buchs Das Universum in der Nußschale gab, saß ich ihm gegenüber und hatte auch Gelegenheit, eine Frage zu stellen. Damals war selbst unter hart gesottenen Journalisten spontaner Beifall ausgebrochen, als Hawking in den Saal einrollte, bevor sie sich wie eine Horde Affen mit Kameras um ihn scharten und ein mehrere Minuten dauerndes Blitzlichtgewitter entfesselten. Aber dann warteten sie beinahe andächtig auf jede seiner Antworten – und das dauert eine Weile. Denn er musste jedes Wort mit einem Finger in seinen Sprachcomputer eingeben. (Seit Sommer 2005 ist Hawkings Hand zu schwach und er bedient den Computer inzwischen mittels einem Sensor, der Wangen- und Augenbewegungen registriert.) Seit einem Luftröhrenschnitt 1985 verleiht der Computer Hawking eine monotone und doch eigenartig ätherische Kunststimme. Dies und die Wartezeit auf eine Antwort haben etwas Orakelhaftes, wenn Hawking dann spricht – vor allem aber, weil sein immenser Aufwand ihn zur äußersten Prägnanz zwingt. Und während der Zuhörer sich auf die Antwort geduldet, kommt in ihm unwillkürlich eine gespannte Erwartung auf.

Hawkings schreckliche Krankheit ist wohl ein wesentlicher Grund für seine Publicity. Denn die wenigsten können seine Theorien über den Urknall, die Schwarzen Löcher und die Natur des Universums wirklich verstehen. Aber der Physiker passt perfekt zum Klischee des an den Leib gefesselten genialen Geistes, der alle Grenzen der Erkenntnis zu sprengen trachtet. Und dass er noch lebt, ist ein medizinisches Wunder. Seit seinem Todesurteil im Jahr 1963, der Diagnose von Amyotropher Lateralsklerose (ALS) kurz nach seinem 21. Geburtstag, stellt Stephen Hawking nämlich Stunde um Stunde einen neuen Rekord auf. Gewöhnlich leben Patienten nach der Diagnose des heimtückischen, unheilbaren Muskelschwunds – bedingt durch ein noch immer ungeklärtes Absterben der Nervenzellen, die die Muskulatur steuern – nur noch wenige Jahre. Doch Hawkings ALS kam zum Stillstand – so als hätten seine geistigen Energien ihr Paroli geboten.

Obwohl er bis auf Teile seiner Gesichtsmuskulatur und der linken Hand total gelähmt ist, erhielt er 1979 den von dem englischen Parlamentarier Henry Lucas 1663 gestifteten Lucasischen Lehrstuhl der britischen University of Cambridge, auf dem vor 300 Jahren Isaac Newton saß. »Allerdings wurde er damals noch nicht elektrisch betrieben«, wie Hawking im Hinblick auf seinen Rollstuhl scherzt, den er liebevoll »Quantum Jazzy« nennt. Im November 2009 wurde Hawking, was bei seinem Antritt wohl niemand gedacht hatte, mit 67 Jahren emeritiert. Als sein Nachfolger wurde Michael Green, bereits Professor in Cambridge, gewählt. Er wird nicht aus Hawkings Schatten – besser: Glanz – heraustreten können und gilt als »Übergangslösung« (es gab Streit und kaum Bewerber), denn 2014 erreicht auch er das Pensionsalter. Seine Verdienste sind aber unumstritten: Er gehört zu den Mitbegründern der Stringtheorie, von der in diesem Buch noch häufig die Rede sein wird.

Von Ruhestand kann bei Hawking noch keine Rede sein. Wenn sein Gesundheitszustand es erlaubt, hält Hawking Vorträge und willigte sogar zu einer Gastprofessur am Perimeter-Institut für Theoretische Physik in Kanada ein. Auch schreibt er an einem Buch über Naturgesetze und wirkt an einem Film über sein Leben mit. Und er forscht mit seinen Kollegen weiter – so erschien 2010 wieder ein umfangreicher Beitrag zur Kosmologie. Außerdem hat Hawking mit Spendengeldern und eigenem Geld das Centre for Theoretical Cosmology (CTC) gegründet, das am Centre for Mathematical Sciences der Cambridge University beheimatet ist. Finanziert von der Stephen Hawking Foundation mit 20 Millionen Pfund für zunächst fünf Jahre, ermöglicht es mehrere Forschungsstellen und Gastprofessuren sowie Workshops und Konferenzen, um führende Theoretiker und talentierte junge Wissenschaftler anzuziehen und zu fördern. Wenn sich das Konzept bewährt, wird das CTC zu einem größeren, permanenten Institut umgestaltet. »Dies ist eine aufregende Zeit in der Kosmologie, denn neue Beobachtungsdaten werden in großen Mengen gewonnen und große Experimente auf der Erde und mit Satelliten sind geplant und laufen an. Ich möchte sicherstellen, dass dieser Fortschritt auch weiterhin auf der theoretischen Seite eine Entsprechung hat«, sagte Hawking bei der Eröffnung des CTC am 19. Dezember 2007 in Cambridge, der auch der Autor beiwohnen durfte.

Hawking erforscht nicht nur die fundamentalsten Geheimnisse der Natur, sondern schreibt auch populärwissenschaftliche Bestseller, die zu den meistverkauften Büchern der Welt zählen. Am erfolgreichsten war seine 1988 erschienene Kurze Geschichte der Zeit, die in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde, und die angeblich fast jeder 500. Mensch erworben hat (aber bestimmt nicht gelesen). Mit seiner Tochter Lucy veröffentlichte er 2007 und 2009 zwei spannende Kinderbücher, die auch astronomische Seiten haben: Der geheime Schlüssel zum Universum und Die unglaubliche Reise ins Universum. »Ich könnte in einer Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten«, heißt es in William Shakespeares Drama Hamlet. Hawking nahm dies als Motto eines weiteren Sachbuch-Bestsellers, der in Deutschland ein halbes Jahr ununterbrochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste stand: Das Universum in der Nußschale. Darin schrieb er: »Obwohl wir Menschen physischen Einschränkungen unterworfen sind, können unsere Gedanken frei und ungebunden das Universum erforschen«, interpretiert dies Hawking, dessen reger Geist – in seinen gelähmten Körper selbst wie in eine Nussschale eingesperrt – doch nicht müde wird, Raum und Zeit zu erkunden. »Ich lebe gern. Es gibt so viel zu tun und zu entdecken.«

Die Entdeckungen Hawkings in der Theoretischen Physik können sich sehen lassen. Seine kosmologischen Beiträge zum Urknall und der Frage nach einem Anfang der Zeit waren wegweisend. Vor der Suche nach einer »Weltformel« und der Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos macht sein Forschergeist ebenso wenig Halt wie vor Zeitreisen und Wurmlöchern – hypothetischen Tunnel durch die Dimensionen, mit denen sich die Barriere der Lichtgeschwindigkeit austricksen ließe. Und immer wieder wendet er sich den Schwarzen Löchern zu. Diese ominösen Schlünde in der Raumzeit, die scheinbar alles verschlucken können, aber nichts wieder von sich zu geben scheinen, zählen zu den bizarrsten Vorstellungen, die sich Menschen gemacht haben – und sind doch keine Hirngespinste, sondern bevölkern wohl zu Myriaden das Weltall. Die größten haben die Masse von zehn Milliarden Sonnen, die kleinsten könnten winziger als ein Atom sein und sogar in unseren Körpern hausen.

Aber seit Stephen Hawking 1974 berechnete, dass Schwarze Löcher aufgrund bizarrer Quantenprozesse eine Temperatur besitzen, sind die Schwerkraftfallen auch nicht mehr das, was sie einmal zu sein schienen – nämlich weder schwarz noch ewige Löcher im Gewebe der Raumzeit. Sie geben vielmehr eine extrem schwache Strahlung ab, die aber irgendwann so stark wird, dass selbst das massereichste Schwarze Loch eines Tages in einer Explosion förmlich zersprengt wird und verschwindet. Für viele Wissenschaftler, Hawking eingeschlossen, war diese Erkenntnis ein Schock; doch es kam noch schlimmer. 1975 folgerte er nämlich, dass mit der Auflösung der Schwarzen Löcher auch die physikalischen Informationen vernichtet wären, die mit der Materie und Energie verbunden sind, die einst ins Gravitationsgefängnis dieser seltsamen Himmelskörper gerieten. Und das hätte so alarmierende Konsequenzen für fast alle grundlegenden Bereiche der Physik, dass das mühsam errichtete Gebäude unseres naturwissenschaftlichen Weltbilds nicht nur erschüttert wäre, sondern unweigerlich zusammenstürzen müsste. Nicht einmal fundamentale Prinzipien wie der Satz von der Erhaltung der Energie hätten noch Bestand. Und womöglich gäbe es gespenstische Stellen im All, aus denen buchstäblich alles hervorsprudeln könnte wie aus einem Zauberbrunnen – nicht nur Elementarteilchen und Energie, sondern beispielsweise auch elektrische Eisenbahnen, Elefanten, Elfen und Einhörner. Inzwischen hat Hawking seine Meinung allerdings revidiert und sogar eine Wette hierzu verloren gegeben: 2004 verkündete er auf einer internationalen Konferenz zu Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie vor einem eigens herbeigeeilten Aufgebot der Weltpresse, dass Schwarze Löcher doch keine irreversiblen Informationsvernichter seien.

Andere hochkarätige Physiker sehen es ähnlich, aber die Argumente sind noch keineswegs hieb- und stichfest. Die entscheidende Rolle dafür spielt nämlich letztlich eine Theorie der Quantengravitation. Sie wird mitunter als »Heiliger Gral« der Theoretischen Physik bezeichnet und bedeutet eine Verknüpfung von Mikro- und Makrokosmos. Die Welt des Allergrößten, das Universum als Ganzes, ist der Zuständigkeitsbereich der Allgemeinen Relativitätstheorie, die auch die Grundlage für die Beschreibung der Schwarzen Löcher liefert. Die Welt des Allerkleinsten, also der Elementarteilchen und Naturkräfte, ist das Regime der Quantentheorie. Diese beiden Theorien sind experimentell exzellent bestätigt, teilweise auf 14 Stellen hinter dem Komma. Es gibt keine präziseren Theorien in der Geschichte der Wissenschaft. Und doch vertragen sich die beiden Säulen, auf denen die moderne Physik ruht, nicht richtig. Denn bei extremen Bedingungen, wie sie beispielsweise in den Schwarzen Löchern vorherrschen, kommt es zu Widersprüchen. Diese werden sich, wenn überhaupt, erst mit einer neuen Theorie ausräumen lassen, die die Quantentheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie miteinander verbindet beziehungsweise als Spezialfälle für bestimmte, eingeschränkte Bedingungen enthält.

Eine solche Theorie der Quantengravitation wäre eine Art »Weltformel« oder auch »Theorie von Allem« (jedenfalls von allem, was fundamental ist), wie manche Physiker in augenzwinkernden Anwandlungen der Unbescheidenheit zuweilen sagen. Sie würde Materie, Energie und alle fundamentalen Wechselwirkungen einheitlich beschreiben. Noch ist eine solche Theorie Zukunftsmusik und Gegenstand enormer intellektueller Anstrengungen. Hätten wir sie und könnten wir mit ihr auch rechnen – was genauso wichtig und keineswegs trivial ist –, dann wären womöglich sogar der Urknall und die Schwarzen Löcher nicht länger rätselhaft; wir würden erfahren, ob es Wurmlöcher und Zeitmaschinen gibt und könnten vielleicht sogar eines Tages die Fesseln von Raum und Zeit abstreifen und mit beliebigen Geschwindigkeiten alle Orte und Epochen der Welt erreichen.

Der bislang aussichtsreichste Kandidat für eine solche »Weltformel« ist die Stringtheorie. Ihr zufolge sind nicht punktförmige Elementarteilchen, sondern winzige eindimensionale Strings die grundlegenden Bausteine der Natur – die bekannten Elementarteilchen wären demnach einfach Schwingungen solcher Strings. Der größte Haken freilich ist die notwendige Annahme bislang unbekannter zusätzlicher Raum-Dimensionen. Ohne sie lässt sich die Stringtheorie nicht widerspruchsfrei formulieren. Diese Extradimensionen wären allerdings extrem winzig, gleichsam aufgerollt an jedem Punkt der Raumzeit und insofern unsichtbar für unseren Alltagsverstand. Neben eindimensionalen Strings werden inzwischen im Rahmen der Stringtheorie auch mehrdimensionale Gebilde beschrieben, so ge­nannte p-Branen. Das p steht dabei für die Anzahl ihrer Dimensionen, und »Bran« kommt von »Membran«, da zweidimensionale 2-Branen an solche flatternde Gebilde erinnern. (Außerdem blitzt der Schalk durch den Begriff, denn p-Bran spricht sich englisch wie »pea brain«, also Erbsengehirn.)

Seit 1995 sind die bisherigen Ansätze der Stringtheorie – es gab fünf verschiedene Versionen – als mathematisch gleichberechtigt und Teil einer höheren elfdimensionalen Theorie erkannt worden. Sie wird M-Theorie genannt. Das »M« steht wahlweise für »Membranen«, »Master«, »Matrix«, »majestätisch«, »Mysterium«, »Magie« oder »Mutter aller Theorien« (oder, zumindest für Kritiker, auch für »missing«, »Murks« oder ein umgedrehtes W als Witten-Selbstlob, weil der Mathematiker Edward Witten die M-Theorie prägte und benannte). Sie ist noch sehr spekulativ und nur rudimentär verstanden, aber von enormer mathematischer Eleganz und verwirrenden Konsequenzen. Hawking hat sich ihr in den letzten Jahren verstärkt zugewandt und auf einer Kosmologie-Konferenz im kalifornischen Davis dazu im März 2003 auch einen Vortrag gehalten – genauer: von seinem zuvor entsprechend präparierten Computer halten lassen. In einem Hörsaal der dortigen Universität war es auch, als er sich mir in einer Kaffeepause zuwandte: »Hallo!«

Was folgte, war ein naturgemäß leider etwas einseitiges Gespräch. Aber ich ergriff die Gelegenheit, um Stephen Hawking eine persönliche Frage zu stellen, mit der ich schon viele Forscher konfrontiert habe (als Wissenschaftsjournalist kann man sich das erlauben, auch wenn mancher Redaktionskollege deswegen schon die Augen verdrehte): Angenommen, eine allwissende Fee würde eine beliebige Frage auf eine hinreichend verständliche Weise beantworten – welche würde Hawking ihr stellen? Er grinste und klickte sich durch die Buchstaben und Wörter seines Sprachprogramms. Ob die M-Theorie vollständig sei, wollte er schließlich wissen: »Is M-Theory complete?«

An den Fronten der Forschung

Leider kann bislang niemand den Gehalt und die Reichweite der M-Theorie auch nur annähernd abschätzen, geschweige denn ihre Konsequenzen für die Beschreibung der Welt verstehen, wenn die Theorie richtig wäre. Trotzdem versuchen Physiker mit Vereinfachungen und Hilfsannahmen bereits, den einen oder anderen Winkel der M-Theorie auszuloten – oder jedenfalls ein wenig zu erhellen – und Schlussfolgerungen für die Natur unseres Universums abzuleiten. Und so war es Überraschung und Triumph gleichermaßen, als es 1996 im Rahmen der M-Theorie gelang, die Entropie Schwarzer Löcher abzuschätzen (zumindest in einem speziellen Fall). Die Entropie ist ein Maß für die Unordnung eines physikalischen Systems. Das Ergebnis war identisch mit dem, was Hawking bereits 1974 in einer bahnbrechenden Arbeit auf einem ganz anderen, konservativeren Weg entdeckt hatte. Die Quantengeometrie, ein alternativer Ansatz für eine Theorie der Quantengravitation, kam inzwischen zum selben Resultat. Das beflügelt die Zuversicht der Physiker, auf der richtigen Spur zu sein.

Weitere Fortschritte – auch im Rahmen der M-Theorie – veranlass­ten Hawking schließlich, einen neuen Blick auf das wohl größte Rätsel der Schwarzen Löcher zu werfen: Was geschieht mit der Materie und Energie sowie den mit ihnen geführten Informationen beim Sturz ins Schwarze Loch? Werden sie vollständig vernichtet, wie Hawking seit 1975 argwöhnte? Oder kommen sie doch irgendwie und irgendwo wieder zum Vorschein, wie viele Kritiker entgegneten? Hawking beharrte auf der Hypothese der Informationsvernichtung – wohl wissend, dass sie die gesamte Physik in eine Krise stürzen könnte. Im Sommer 2004 änderte er aber überraschend seine Ansicht. In den bereits vorhandenen Teilen der M-Theorie glaubt er jetzt zu erkennen, dass Schwarze Löcher doch keine irreversiblen Informationsvernichter sind. Seine Kollegen sind sich noch immer im Unklaren, ob die Argumentation stichhaltig ist.

Währenddessen vollziehen sich in anderen Bereichen der Quantengravitation Schwarzer Löcher noch aufregendere Entwicklungen: Die Schwerkraft-Schlünde können womöglich sogar Teilchen wieder ausspucken oder sie wie perfekte Spiegel einfach reflektieren. Außerdem lassen sich Schwarze Löcher mit Hilfe einer hypothetischen »Geisterstrahlung« in echte Tunnel durch die Raumzeit umwandeln – in Wurmlöcher, die quasi überlichtschnelle Reisen in weit entfernte Regionen des Kosmos ermöglichen würden, vielleicht sogar in andere Universen und in die eigene Vergangenheit.

Das sind abenteuerliche Perspektiven, die mehr nach Science Fiction (SF) klingen als nach Science. Doch die Wissenschaft hat die Fiktion stellenweise schon längst überholt. Andererseits konnte die literarische Fantasie der wissenschaftlichen immer wieder gedanklich den Weg bereiten. Insbesondere beim Thema Zeitreisen gibt es kaum ein Szenario, das heute Physiker in Betracht ziehen und das SF-Autoren zuvor nicht schon durchgespielt hätten.

»Die Verbindung zwischen Science Fiction und Wissenschaft führt in beide Richtungen. Die von der Science Fiction präsentierten Ideen gehen ab und zu in wissenschaftliche Theorien ein. Und manchmal bringt die Wissenschaft Konzepte hervor, die noch seltsamer sind als die exotischste Science Fiction«, beschreibt es Hawking. Er tauchte sogar einmal als Gast in einer Star Trek-Folge auf: Er durfte auf dem Holodeck mit Isaac Newton, Albert Einstein und dem Androiden Data pokern – und gewinnen. »Science Fiction wie Star Trek ist nicht nur Unterhaltung, sondern erfüllt auch einen ›ernsten‹ Zweck: Sie erweitert die menschliche Vorstellungskraft«, sagt Hawking.

Viele andere Physiker stehen der Science Fiction ebenfalls sehr aufgeschlossen gegenüber – und manche hätten ohne sie gar nicht die Wissenschaft zum Studium und Beruf gemacht. »Ich glaube, die Verbindung ist ganz einfach: Wir werden alle von denselben Fragen inspiriert«, sagt Lawrence Krauss, Physik-Professor und Autor des populärwissenschaftlichen Buchs Die Physik von Star Trek. »Während jedoch die beste Science Fiction unser Interesse erregt, indem sie die Dramatik und die Spannung in den Was-wäre-wenn-Fragen einfängt, lässt sie die Antworten für gewöhnlich offen. Die moderne Wissenschaft hat den Schlüssel zum Wissen, was möglich ist und was nicht.«

Doch was ist möglich? Sind es Zeitreisen? Flüge in die fernste Zukunft oder Vergangenheit? Oder wenigstens Nachrichtenübermittlungen? Könnten Zeitarchitekten gar eine neue, bessere Zukunft erstellen? Und verdanken wir vielleicht auch unsere Vergangenheit – oder sogar buchstäblich alles – einer Zeitreise? Müsste es womöglich heißen: Im Anfang war die Zeitschleife? Und wie verhält es sich mit überlichtschnellen Spritztouren durch den Weltraum? Lässt sich die von Albert Einstein aufgestellte »Lichtmauer« durchbrechen? Oder gibt es gar Schlupflöcher – Abkürzungen durch die Dimensionen? Und verbergen sich diese womöglich im Inneren Schwarzer Löcher? Sind sie zugleich die Notausgänge für eines der größten Rätsel der modernen Physik: die Frage, was mit den Informationen geschieht, die in den unersättlichen Schwerkraftfallen verschwinden?

Davon handelt dieses Buch. Es beansprucht keine Vollständigkeit, sondern versteht sich eher als eine Art Frontbesichtigung an den Grenzen der aktuellen Forschung. Viele andere Aspekte des Themas müssen daher fehlen: Albert Einsteins Relativitätstheorie wird im Einzelnen genauso wenig erläutert wie die Stringtheorie oder die Kosmologie mitsamt den Erklärungsversuchen des Urknalls, der eine Art umgekehrtes Schwarzes Loch war. Auch die Natur der Zeit und ihrer selbstverständlichen und doch höchst rätselhaften Gerichtetheit – wir erinnern uns an die Vergangenheit, aber nicht an die Zukunft – ist hier nicht das Thema. Die Vielfalt astronomischer Indizien für die Existenz von Schwarzen Löchern wird hier nur gestreift, ebenso deren Quantenmechanik und Thermodynamik. Schwarze Minilöcher und Gravitationswellen bleiben am Wegesrand. Die fast magisch anmutenden Effekte bei den unheimlichen Gravitationsmonstern können hier nicht beschrieben werden, ebenso wenig die effiziente Energieerzeugung am Ereignishorizont und die Wechselwirkung mit dem übrigen Universum. Doch viele dieser Aspekte sind bereits in anderen Büchern beschrieben worden. Von den Themen Zeit, Quantenkosmologie und Urknall – speziell auch Stephen Hawkings Forschungen dazu – handeln beispielsweise meine Bücher Hawkings neues Universum. Wie es zum Urknall kam (5. Auflage 2010) und Hawkings Kosmos. Darin wird auch über Hawkings neues Weltmodell berichtet, demzufolge der Urknall aus einem früheren Universum mit umgekehrter Zeitrichtung hervorging. Im vorliegenden Buch hingegen werden noch abenteuerlichere Hypothesen vorgestellt, denen zufolge unser Universum aus einem Schwarzen Loch, einem Wurmloch oder gar einer Zeitschleife entsprang. Trotz der Raum und Zeit übergreifenden Thematik ist aber der Platz – wie die Lesezeit – begrenzt. Und wenn ich versucht hätte, alles, was über Schwarze Löcher berichtet werden könnte, in diesem Buch mit seinem vorgegebenen Umfang unterzubringen, dann hätte die Druckerschwärze nicht nur so extrem verdichtet werden müssen, dass es jedem Leser schwarz vor den Augen werden würde, sondern die Masse des Materials hätte womöglich selbst zu einem Gravitationskollaps geführt, und das Buch wäre zu einem kleinen Schwarzen Loch zusammengestürzt.

Der Schwerpunkt liegt daher auf den aktuellen Entwicklungen, wie sie sich in den Denkstuben der Theoretischen Physiker, auf Konferenzen und in Fachzeitschriften abspielen, sowie auf Hypothesen und Ideen, die noch nicht in den einschlägigen Sach- und Lehrbüchern zu finden sind. Was schon Fakt, was gewagte Spekulation oder gar ein kühner Irrtum ist, das lässt sich allerdings nicht immer klar entscheiden. Die morastige Forschungsfront verläuft unübersichtlich, und die Grenze verschwimmt bisweilen. Nebel zieht auf, Abgründe öffnen sich, Schwierigkeiten und Mühsal werden teilweise unerträglich. (Falls dieser Eindruck auch beim Lesen entsteht, dann hilft der Mut zur Lücke – im nächsten oder übernächsten Absatz beziehungsweise Unterkapitel wird sich das Gelände wieder lichten …)

Faktenwissen ist, daran zweifelt niemand, von großem Wert. Aber nicht alles. Und manchmal sogar ein wenig langweilig. Da sieht es an den Plätzen der großen Streitigkeiten schon ganz anders aus. Wie besonders das noch ausführlich zu schildernde Informationsparadoxon der Schwarzen Löcher zeigt, aber auch die Frage nach der Möglichkeit von Zeitreisen, gibt es mitunter abenteuerliche Vielstimmigkeiten. Das ist verwirrend, aber gerade hier gärt die Forschung. Sie ist ein komplizierter Prozess, oft tastend, mitunter sich in Sackgassen verheddernd, manchmal mit brachialen Durchbrüchen erfolgreich. Etwas von den häufig hart, aber auch selbstironisch geführten Kontroversen soll dieses Buch ebenfalls zeigen. Denn Physik ist – wie Philosophie – mehr als nur ein Katalog von Tatsachen und Naturgesetzen. Zumindest zur Grundlagenforschung zählt auch Neugierde, das freie Spiel der Gedanken und eine Art Denken auf Vorrat. Viele bahnbrechende – und übrigens, man nehme nur die Quantenphysik, inzwischen teilweise wirtschaftlich extrem lukrative – Entdeckungen sind quasi am Schreibtisch gemacht worden, im Lehnstuhl oder in unzähligen Cafeteria-Gesprächen mit den berühmten Rechnungen auf Papierservietten oder der Rückseite eines Briefumschlags. So haben Wissenschaftler zum Beispiel Antimaterie und Supraleitung, Radiostrahlung und Gravitationswellen, Neu­tronensterne und Schwarze Löcher, Neutrinos und andere exotische Elementarteilchen sowie die Kosmische Hintergrundstrahlung vom Urknall und die den Weltraum zur beschleunigten Ausdehnung antreibende Dunkle Energie ersonnen, lange bevor man sie nachweisen konnte – oder überhaupt auf die Idee kam, sie einmal nachzuweisen.

»So etwas geschieht oft in der Physik: unser Fehler ist nicht, dass wir unsere Theorien zu ernst nehmen, sondern dass wir sie nicht ernst genug nehmen«, hat der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg einmal geschrieben. »Man kann sich stets nur schwerlich vorstellen, dass die Zahlen und Gleichungen, mit denen wir an unseren Schreibtischen spielen, etwas mit der wirklichen Welt zu tun haben.« Daher sollten auch die gegenwärtigen Spekulationen – oder Voraussagen? – über Schwarze Löcher, Zeitreisen und Überlichtgeschwindigkeit nicht als versponnenes Wunschdenken abgetan werden (was nicht heißt, ihren Hypothesencharakter zu leugnen). Vielleicht wird man in 100 oder 1000 Jahren nicht nur über unsere Irrtümer, sondern auch über unseren Mangel an Mut und Fantasie schmunzeln, weil wir unsere Theorien nicht ernst (genug) genommen haben.

Wie sich zeigen wird, hängen viele Fragen in diesem Buch zusammen – und zielen letztlich auf eine künftige Theorie der Quantengravitation. Auch deshalb wäre es wichtig zu wissen, ob die M-Theorie korrekt und vollständig ist. Es bleibt also spannend. Zumindest wollte Hawking, als ich ihn deswegen anschrieb, seine Frage nicht revidieren; und meines Wissens hat er bis heute auch noch keine Antwort von der Fee erhalten.

1.
Schwarze Löcher

Das Einfachste der Welt

»Das Universum ist voll von magischen Dingen, die geduldig darauf warten, dass wir scharfsinniger werden«, schrieb einst der britische Dichter und Dramatiker Eden Philpotts. Kaum anders als magisch zu nennen ist die einfachste, aber zugleich auch gewichtigste Sache der Welt: Schwarze Löcher.

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Gefräßige Ruine: Stellare Schwarze Löcher sind nur wenige Kilometer groß, haben aber die Masse mehrerer Sonnen. Sie entstehen beim Kollaps eines ausgebrannten Sterns. War dieser Teil eines Doppelsternsystems und bläht sich der Nachbarstern am Ende seines Lebens zu einem Roten Riesen auf, dann können seine äußeren Schichten in den Gravitationsschacht des Schwarzen Lochs hineingestrudelt werden.

Gewichtig sind diese rätselhaften Himmelskörper, weil ihre Schwerkraft so hoch ist, dass nicht einmal Licht ihnen entkommen kann. Und einfach sind sie, weil man nur drei physikalische Kenngrößen braucht, um sie vollständig zu beschreiben: Masse, elektrische Ladung und Drehimpuls. Einfacher geht es nicht mehr. Nichts sonst im Universum lässt sich mit so wenig Informationen charakterisieren.

Wesentlich komplizierter wird es aber, wenn man verstehen will, wie sich diese seltsamen Objekte bilden können und was in ihrem Inneren vor sich geht. Vieles ist so bizarr und brachial, dass es die Anschaulichkeit des Alltagsverständnisses bei weitem übersteigt oder sogar jegliches Vorstellungsvermögen sprengt. Bei der Beschäftigung mit Schwarzen Löchern stellt sich daher leicht ein irritierendes Gefühl der Unwirklichkeit ein. Und es erfordert sogar Mut und gedankliche Flexibilität, sich auf das Thema einzulassen – vor allem dann, wenn man auch die kühnen Theorien und Spekulationen an der Front der aktuellen Forschung verfolgen möchte. Dies lohnt sich aber, selbst wenn man nicht immer jedes Detail nachvollziehen kann (das ergeht den Wissenschaftlern nicht anders), und es ist keine Quelle der Frust­ration, sondern eine Herausforderung. Schwarze Löcher ermöglichen nicht nur einen Blick in die Abgründe der Welt, sondern zugleich auch ein tieferes Verständnis der Wirklichkeit – und von uns selbst. Ohne Schwarze Löcher hätte sich das Universum nämlich ganz anders entwickelt oder wäre vielleicht gar nicht erst mit dem Urknall entstanden – und Menschen gäbe es nicht.

Zwar sind Schwarze Löcher unsichtbar, aber sie machen sich indirekt bemerkbar aufgrund ihrer Gravitation. Denn sie beeinflussen die Bewegung von sichtbaren Objekten in ihrer Nähe. Dass die Sternruinen nicht das Fantasieprodukt findiger »Schreibtischdenker« sind, sondern wirklich im Weltraum vorkommen, zeichnete sich ab den 1960er und 1970er Jahren ab. Inzwischen haben Astronomen mehrere Dutzend Kandidaten für stellare Schwarze Löcher in der Milchstraße und einigen benachbarten Galaxien entdeckt: finstere Gesellen, die nur wenige Kilometer groß sind und doch eine Masse von 3 bis etwa 15 Sonnenmassen haben. (Eine Sonnenmasse sind rund zwei Milliarden Milliarden Milliarden Tonnen oder das 330.000fache der Erdmasse). So fand man Dutzende von stellaren Schwarzen Löchern als eine Komponente in Doppelstern-Systemen. Dort entsteht auch Röntgen- und Gammastrahlung, wenn das Schwarze Loch dem Nachbarstern Materie entreißt und sich diese einverleibt.

Doch stellare Schwarze Löcher sind wahre Leichtgewichte im Vergleich zu den Dickwänsten in den Milchstraßen. Denn die Bahnen von Sternhaufen, Einzelsternen und Gaswolken um Galaxienzentren sowie hochenergetische Teilchenströme (Jets), die von dort entweichen, verraten, dass im Mittelpunkt vieler Galaxien, auch in unserer Milchstraße, so genannte galaktische oder supermassereiche Schwarze Löcher stecken. Sie haben einige Millionen bis zehn Milliarden Sonnenmassen. Diese gefräßigen Schwerkraft-Monster gelten heute als Standarderklärung für die enormen Energien, die in Quasaren – den feurigen Zentren junger Galaxien – und aktiven Galaxien entfesselt werden und sich noch über Milliarden von Lichtjahren messen lassen.

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Kosmischer Staubsauger: Fast jede Galaxie hat ein finsteres Herz, das heißt in ihrem Zentrum steckt ein supermassereiches Schwarzes Loch. Das gilt auch für NGC 4261, eine 100 Millionen Lichtjahre entfernte aktive Elliptische Galaxie im Sternbild Jungfrau (Bild links). Das Schwarze Loch hat die Masse von 500 Millionen Sonnen und wird von einer 800 Lichtjahre großen Scheibe aus Gas und Staub umlaufen – Futter für den unersättlichen Schwerkraft-Schlund (Bild rechts). Dabei werden hochenergetische Teilchenströme (Jets) entlang der Rotationsachse fast lichtschnell davongeschleudert. Sie erstrecken sich jeweils 50.000 Lichtjahre ins All hinaus und regen bereits früher ausgestoßene Gaswolken zur Abgabe von Radiostrahlung an (»keulenförmige« Strukturen über und unter der Galaxie im linken Bild).

Vielleicht existieren auch winzige Schwarze Löcher, viel kleiner als ein Atom: Relikte der kosmischen Urzeit, aus denen ein Teil der ominösen ­Dunklen Materie im All bestehen könnte. Sie macht nachweislich ein Mehrfaches der Gesamtmasse der sichtbaren Materie (Gas, Staub, Planeten, Sterne und so weiter) aus, ist aber noch nicht direkt identifiziert. Inzwischen spekulieren Physiker sogar über Schwarze Minilöcher, die sich beim Aufprall der Kosmischen Strahlung in der Erdatmosphäre bilden, die demnächst mit Teilchenbeschleunigern erzeugt werden könnten, oder als Schwarze Atomkerne vielleicht sogar in unseren Köpfen he­rum­spuken, ohne bloße Hirngespinste zu sein.

Es vergeht kein Monat, in dem in den Medien nicht über neue Entdeckungen im Zusammenhang mit Schwarzen Löchern berichtet wird, und kaum ein Tag, an dem keine Forschungsbeiträge in Fachzeitschriften oder im Internet erscheinen. Schwarze Löcher sind ein Dauerbrenner geworden, und ihre Faszination nimmt noch zu. Dabei war es ein langer, verschlungener und mitunter von Sackgassen gesäumter Weg von den ersten tastenden theoretischen Überlegungen zu den handfesten Beobachtungen heute.

Nomen est Omen

Selbst zu ihrem treffenden Namen kamen die Schwarzen Löcher (englisch: Black Holes) erst spät. Ihn prägte der amerikanische Physiker John Archibald Wheeler: Man könne nicht dauernd »gravitativ vollständig kollabiertes Objekt« sagen, murrte er in einem Vortrag am Goddard Institute for Space Studies der amerikanischen Weltraum­agentur NASA in New York im Herbst 1967. »Wie wäre es mit Schwarzem Loch?« fragte ein Zuhörer. Und Wheeler, der schon seit Monaten nach einer passenden Bezeichnung gesucht hatte, war sofort überzeugt. »Als ich einen weiteren Vortrag in New York einige Wochen später hielt, am 29. Dezember 1967, verwendete ich den Begriff und übernahm ihn auch in der schriftlichen Vortragsfassung, die im Frühjahr 1968 publiziert wurde«, erinnert sich Wheeler in seiner Autobiographie Geons, Black Holes & Quantum Foam (1998). Diese Bezeichnung setzte sich sofort durch – »Nomen est omen«, der Name als Charakter-Kennzeichnung, so könnte man auch hier mit dem römischen Komödiendichter Plautus sagen. Der Begriff hat sich in seiner Bedeutung inzwischen sogar so weit verselbständigt, dass im Alltag immer häufiger von Schwarzen Löchern die Rede ist – allerdings meist im Zusammenhang mit den Haushaltslöchern der Staatsfinanzen oder dem Sumpf der schwarzen Kassen von Parteien und Management. (In der SF-Literatur tauchte »Black hole« übrigens schon früher auf: 1950 in Typewriter from the Future von Peter Worth.)

Physikalisch könnte der Begriff passender kaum sein. Schwarze Löcher sind wirklich kohlrabenschwarz, weil sie – zumindest in der klassischen Theorie – nichts mehr von sich geben oder reflektieren, weder Materie noch Strahlung. Selbst das Licht mit seiner astronomischen Geschwindigkeit von fast 300.000 Kilometern pro Sekunde kann der Gravitation nicht entrinnen. Und Löcher sind die Schwerkraftfallen auch: bodenlose Gruben im Gewebe der Raumzeit, in die zu stürzen unaufhaltsam und tödlich wäre. Wie Tunnel bohren sie sich durch die Dimensionen. Und ob so ein Tunnel gleichsam spitz zuläuft und alles zermalmt (Physiker sprechen von einer Singularität), ob er in ein unendlich tiefes Kellergeschoss führt oder wie ein Maulwurfsloch in andere Regionen, womöglich in andere Universen, oder ob sogar noch etwas Sonderbareres geschieht, das gehört bis heute zu den spannendsten Fragen der Naturwissenschaft.

Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman unterstellte Wheeler später trotzdem augenzwinkernd eine etwas anzügliche Fantasie bei der Namenswahl. Tatsächlich hatte Wheeler aber den seit Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen Begriff der Schwarzen Körper im Hinterkopf. Diese idealisierten Objekte absorbieren jegliche elektromagnetische Strahlung und senden sie in Form der so genannten Schwarzkörper-Strahlung auch wieder aus. Diese Strahlung hängt nur von der Temperatur, nicht aber der materiellen Beschaffenheit des Körpers ab. (Die Sonne ist zum Beispiel näherungsweise ein solcher Strahler, was verwirrend erscheinen mag, da sie ja alles andere als schwarz ist.) Im Experiment kann ein Schwarzer Strahler durch einen innen geschwärzten Hohlraum realisiert werden, der eine kleine Öffnung hat. Schwarze Löcher sind nun ebenfalls perfekte Absorber, nur emittieren sie nichts. (Kuriosität nebenbei: Wenn Hawking Recht hat, geben sie aufgrund von Quantenprozessen allerdings doch Strahlung ab, und diese ist sogar exakt thermisch wie die Schwarzkörper-Strahlung.) Solche physikalischen Assoziationen sind freilich nicht jedermanns Geschmack. Und so besagt eine Anekdote, dass sich »Schwarzes Loch« nicht überall sofort durchgesetzt hat, weil das Wort auch despektierlich gegenüber Frauen verwendet wird – insbesondere im Russischen, »chernaya dyra«, wo es in den 1970ern dennoch die bis dahin gebräuchliche Bezeichnung »gefrorener Stern« ersetzt hat.

Dunkle Sterne

Wenn der Halbmesser einer Kugel mit derselben Dichte wie die Sonne mit ihr im Verhältnis von 500 zu 1 steht, und wenn man annimmt, dass Licht von der Schwerkraft genauso angezogen wird wie jeder andere Körper, »dann würde alles Licht, das von einem solchen Körper ausgesandt wird, aufgrund von dessen Schwerkraft zu ihm zurückkehren«. So lautet die erste Erwähnung dessen, was heute Schwarzes Loch genannt wird. Die Überlegung stammt von dem englischen Pfarrer und Geologen John Michell, der in Thornhill, Yorkshire, lebte. Obwohl heute weitgehend vergessen, war er in seiner Zeit fast so bekannt wie sein Freund, der Physiker Henry Cavendish, und gilt als Begründer der Seismologie. Er vermutete auch, dass sich Erdbeben am Meeresboden ereignen können und versuchte sie mit dem Gasdruck zu erklären, der sich durch ein vulkanisches Aufheizen von Wasser aufbaut. Am 27. November 1783 wurde an der ehrwürdigen Royal Society, der Akademie der Wissenschaften in London, ein von Cavendish kommuniziertes Forschungspapier vorgetragen, in dem Michell detailliert konkrete Vorschläge machte, um die Distanzen, Massen und Größen von Sternen mit Hilfe der Verzögerung zu ermitteln, die das von ihren Oberflächen abgestrahlte Licht erfährt. (Dass die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum konstant ist, hat erst Albert Einstein 1905 erkannt.) Das waren keine luftigen Spekulationen, sondern Argumente, die auf dem Gravitationsgesetz von Isaac Newton und dessen Korpuskeltheorie des Lichts basierten, nach der Licht aus Teilchen besteht und der Schwerkraft unterliegt. Damals waren auch noch keine Sternentfernungen gemessen worden. Eher nebenbei bemerkte Michell in dem dann 1784 erschienenen Artikel: »Wenn es in der Natur wirklich Körper gibt, deren Dichte nicht geringer als die der Sonne ist und deren Durchmesser mehr als das 500fache der Sonne beträgt, können wir keine Informationen von ihnen erblicken, weil ihr Licht uns nicht zu erreichen vermag.« In seinem 1795 erschienenen Buch Exposition du Système du Monde formulierte der französische Mathematiker und Astronom Pierre Simon de Laplace unabhängig davon eine ganz ähnliche Argumentation. Michell wies sogar darauf hin, wie solche Dunkelsterne, obwohl nicht sichtbar, ihre Existenz indirekt verraten könnten: »Wenn um sie herum irgendwelche anderen leuchtenden Körper kreisen, könnten wir vielleicht doch aus den Bewegungen dieser umlaufenden Körper die Existenz der zentralen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erschließen, insofern diese einen Anhaltspunkt für die augenscheinlichen Unregelmäßigkeiten der umlaufenden Körper geben.« Und genau so ist es knapp 200 Jahre später dann gekommen.

Auch die Vorstellung der supermassereichen Schwarzen Löcher, die 1964 aufkam, hat einen Vorläufer. 1801 berechnete der deutsche Astronom Johann Georg von Soldner nämlich die Ablenkung des Lichts bei einem Stern nach Newtons Gesetzen und spekulierte über die Möglichkeit, die er jedoch verwarf, dass die Sterne in der Milchstraße um ein zentrales dunkles Objekt kreisen. (Erst 1921 stellte Sir Oliver Lodge von der University of Birmingham wieder solche Überlegungen an.) Im selben Jahr, 1801, entdeckte der britische Physiker Thomas Young die Interferenz des Lichts, das daraufhin als Wellenphänomen aufgefasst wurde, und beseitigte damit zunächst einmal die Idee, dass es von der Schwerkraft beeinflusst würde. Dies entzog den Dunkelstern-Vermutungen fürs erste die Grundlage.

Der Schwarzschild-Radius

Die theoretische Wiedergeburt der Schwarzen Löcher – zunächst allerdings unbemerkt – erfolgte 1916. Ein Jahr zuvor vollendete Albert Einstein in Berlin seine Allgemeine Relativitätstheorie. Schon 1905 hatte er – damals noch als Technischer Experte III. Klasse am Patentamt in Bern und »ehrwürdiger eidgenössischer Tintenscheisser« (Einstein über sich selbst) – in seiner Speziellen Relativitätstheorie Raum, Zeit, Masse und Energie als absolute und eigenständige Kategorien aufgehoben. Raum und Zeit verschmolzen zur Raumzeit. »Von Stund’ an sollen Raum und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren«, lautete die klassische Interpretation des Göttinger Mathematikers Hermann Minkowski im Jahr 1908. Außerdem erwiesen sich Masse m und Energie E als zwei Seiten derselben Medaille. Die Lichtgeschwindigkeit c, die Einstein im Gegensatz zu allen anderen relativen Bewegungen und Geschwindigkeiten als konstant und unabhängig vom Bezugssystem erkannt hat, ist das fundamentale Bindeglied. (Das c steht für »constant« oder auch »celeritas«, das lateinische Wort für Geschwindigkeit). Über die Lichtgeschwindigkeit sind Masse und Energie gemäß Einsteins berühmter Formel E = mc2 un­mittelbar miteinander verbunden.

Im Gegensatz zur Speziellen beschreibt die Allgemeine Relativitätstheorie auch die Gravitation. In Einsteins zehn Feldgleichungen wird Newtons Vorstellung, sie sei eine Kraft, die sich ohne Zeitverlust ausbreitet, begraben. Stattdessen wird die Gravitation als Eigenschaft der Raumzeit aufgefasst, quasi als Folge ihrer Geometrie. Materie krümmt das Raumzeit-Kontinuum. Selbst die sich scheinbar so geradlinig ausbreitenden Lichtstrahlen müssen den Deformationen der Raumzeit folgen. »Die Raumzeit sagt der Materie, wie sie sich bewegen muss, und die Materie sagt der Raumzeit, wie sie sich krümmen muss«, brachte es John Wheeler später auf den Punkt.

Bei der totalen Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919 gelang es dem britischen Astronomen Arthur Stanley Eddington erstmals, den von der Allgemeinen Relativitätstheorie vorausgesagten Effekt zu messen. Einstein wurde quasi über Nacht zum Medienstar.

Die Lichtablenkung im Schwerefeld lässt sich veranschaulichen, indem man sich die vierdimensionale Raumzeit als zweidimensionale Gummihaut vorstellt. Masse, zum Beispiel die der Sonne, krümmt sie. Dementsprechend wird die Gummihaut eingedrückt. Aufgrund der so modifizierten Geometrie ändert sich auch der Lauf von Lichtstrahlen, die immer den kürzestmöglichen Weg zurücklegen. Sie geraten gleichsam auf die schiefe Bahn und machen krumme Touren. Aus diesem Grund lassen sich Sterne, die sich knapp hinter dem Sonnenrand befinden, noch wahrnehmen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die alles überstrahlende Sonnenscheibe ausgeblendet wird, wie dies der Mond bei einer totalen Sonnenfinsternis ja tut.

S= 2Gm/c