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Gisbert Haefs

Schmusemord

Matzbach exklusiv bei KBV:

Acht Neuauflagen und zwei Neuerscheinungen

Mord am Millionenhügel

Und oben sitzt ein Rabe

Das Doppelgrab in der Provence

Mörder und Marder

Matzbachs Nabel

Kein Freibier für Matzbach

Schmusemord

Feuerwerk für Matzbach

Finaler Rettungskuss

Zwischenfälle

Gisbert Haefs, Jahrgang 1950, lebt und schreibt in Bonn; als Übersetzer/Herausgeber verantwortlich für Borges, Kipling, Brassens, Dylan u. a., als Autor haftbar für Erzählungen, historische Romane (Hannibal, Troja, Raja, Die Rache des Kaisers, Das Labyrinth von Ragusa u. a.) und Krimis (»Matzbach«).

Gisbert Haefs

Schmusemord

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Die Originalausgabe erschien
1998 als Goldmann-Krimi

© 2013 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Aus: Jakob Grunewald, Willkürliche Biogramme, 3 1991*

» ... wurde Baltasar Matzbach als ›Universaldilettant‹ bezeichnet, der sich in die Gefilde der Kriminalistik verirrt habe. Das Etikett ... beklebt einen, der von vielen Dingen zu viel weiß, um sie ernst zu nehmen, zu wenig, um von ihnen ernstgenommen zu werden, und genug, um Experten zu bluffen und Laien zu amüsieren. ... Ein Bekannter mutmaßte auch, B. M. leide (?) an Elephantiasis der Seele. Interessanter sind jedoch andere Aspekte, so z. B. Matzbachs verwegene Verfressenheit; wie zu Zeus Sein Donner und zu Jehovah Sein Zorn gehört zu Baltasar Sein Wanst. Immerhin kann er es sich seit vielen Jahren leisten, Hecht zu essen und zum folgenden Fleischgang einen Grand Cru zu trinken. Er wuchs nach dem Verscheiden seiner Eltern bei Verwandten auf und studierte später Philosophie und Atomphysik. Dabei erfand er etwas für ein Betatron, so kompliziert, daß er es selbst schon längst nicht mehr erklären kann, aber das Patent wird international verwendet und wirft einiges ab; anschließend wandte Matzbach sich der Musik zu und komponierte ein bißchen, darunter einen vollendet schwachsinnigen Schlager, der noch immer läuft und zwei- bis dreimal pro Jahr neu aufgenommen wird, und so schickt die GEMA ihm bisweilen einen freundlichen Scheck. Ein Hauptgewinn im Lotto sorgte 1962 dafür, daß Baltasar aus dem Gröbsten heraus war. Er investierte klug und ergab sich der sinnlosen Bildung, wobei er von den exakten zu den diffusen Gebieten überging; so stammt aus seiner Feder ein in Fachkreisen geschätztes Werk über Monotheistische Strömungen des inselkeltischen Druidentums.* Einige Jahre hielt er sich an der bretonischen Nordküste auf, bevor die touristische Völkerwanderung sie verwüstete, und weilte dort als Mäzen und Manager junger Künstler, Veruntreuer von frühen Touristinnen und Privatdozent gegen Okkultismus. Dabei verfaßte er zwei weitere Standardwerke: Schamanistische Einflüsse in die Analekten des Konfuzius* und Sexualpathologische Aspekte der Psychokinese.* Und tat zahllose weitere unsinnige Dinge, die ausnahmslos zu Gold wurden (er habe, behauptet er, in dieser Beziehung etwas durchaus Eselhaftes an sich). Jahrelang verdiente er sich ein regelmäßiges Zubrot mit seinem Kummerkasten Fragen Sie Frau Griseldis; außerdem droht irgendwann die Veröffentlichung seines geheimen Hauptwerks Der Leichnam in der Weltliteratur. (Die Mutmaßung, seine detektivischen Aktivitäten seien nur ein Vorwand dafür oder umgekehrt, ist nicht von der Hand zu weisen.) ...«

* Alle Titel erschienen im Verlag für Enzyklopädische Geisteswissenschaften (Edinburgh – Simla – Wachtendonk – Córdoba – Beaune).

1. Kapitel

Die unwahrscheinlichen Zufälle sind immer mit mir,
seit der zufälligen Unwahrscheinlichkeit meiner Zeugung.

BALTASAR MATZBACH

Die Spitze des Schnitzmessers glitzerte rötlich, als Hermine Päffgen auf die Mahagonibüste deutete. »Der da?«

Komarek nickte. »Gar kein Zweifel. Der da. Und was für ein Zufall, daß Sie ...«

Matzbach steckte die längst angeschnittene Macanudo endlich in den Mund und ergriff den dreifachen Armleuchter. Als er ihn anhob, um die Zigarre zu befeuern, erlosch die blutige Spiegelung auf Hermines Messer.

»Von Ihren Argumenten reden wir später«, sagte er. »Ausnahmsweise bin ich bereit, etwas zunächst mal blind zu glauben. Weil es so schön absurd ist.«

Hermine spitzte die Lippen, als ob sie küssen oder ausspucken wollte; mit einem kaum hörbaren Seufzer rammte sie das Messer in den brusthohen Klotz, auf dem die unfertige Büste mit Klammern befestigt war.

Komarek lehnte sich an die Kante des schwarzen Refektoriumstischs. Mit saftigem Wiener Akzent sagte er: »Gehn S schaaßn, absurd. Alles zu belegen.«

»Ich sag ja, ich glaub Ihnen blind.«

»Zankt euch nicht.« Hermine zog das Messer aus dem Block und ging zu einem Beistelltisch, auf dessen Korkplatte eine mit Zaches unterschriebene Ansichtskarte aus Samoa lag. Sie bohrte das Messer durch die Karte und ein paar andere Papiere in den Kork. Dann wandte sie sich an Matzbach. »Wie wär’s mit nem kleinen Mundvoll, auf den Schreck?«

»Monsieur?« Baltasar sah den Wiener an.

»Une petite tisane? Aber gern.« Komarek setzte ein extrem charmantes Lächeln auf. Er schien Akzent, Charme und Mimik über einen zentralen Regler mit zig Schaltern zu steuern.

»Ach, laßt mich zuständig sein.« Matzbach nahm die Zigarre aus dem Mund und hielt sie hoch.

Hermine zuckte mit den Schultern. »Von mir aus; solang du nicht irgendeine Teufelei mixt ...«

»Ei, ich doch nicht.« Er schielte zur Standuhr, die am fensterlosen Südende des Ateliers tickende Distanz wahrte. »Es ist gleich fünf. Ein Tröpfchen Malt, Madame? Monsieur?«

Hermine nickte; Komarek verbeugte sich. Baltasar nahm drei geschliffene Gläser aus der Teakvitrine, stellte sie auf den schwarzen Tisch und öffnete den aufgebockten Eichensarg, der zwischen den beiden großen Fenstern zum Hof stand.

»Vortreffliche Bar.« Komarek grinste.

»Man soll immer das Ende bedenken, das jenseits aller Flaschen unser harret. Vor allem bei solch morbider Konversation. Wie Menschen fortgeschrittenen Alters wissen, gibt und nimmt es kein gutes Ende.« Mit einer halbvollen Flasche Laphroaig kam er zurück zum Tisch, goß zweieinhalb Fingerbreiten in jedes Glas und brachte eines zu Hermine, die inzwischen auf dem Sims des mittleren Ostfensters hockte. Komarek holte seines selbst ab.

Als alle getrunken hatten, wies Matzbach mit der Zigarre auf den Österreicher.

»Also, wenn ich mal zusammenfassen darf. Sie versorgen Bregenz und Umgebung mit Fehlinformationen, indem Sie die Spalten einer Zeitung füllen. Eh, wie kommt ein Wiener nach Bregenz? Von Umgebung nicht zu reden?«

»Inneres Exil.« Komarek schnüffelte an seinem Whisky. »Das müssen wir aber jetzt nicht erörtern, oder wollen Sie meine Biographie schreiben?«

»Mitnichten. Wohlan denn. Ein Freund und Kollege aus Wien bastelt an einer Hintergrundgeschichte über großdeutsche Investitionen da unten, und zu diesem Behuf reist er ins subarktische Rheinland. Wo er den Löffel abgibt. Angeblich hat er in einem Lokal in der Kölner Südstadt eine Schlägerei begonnen, die damit endet, daß er zweifellos pittoresk umherliegt, mit gebrochenem Schädel. So weit richtig?«

»Inhaltlich keine Einwände.«

»Die anderen, die den Wortlaut angehen, zählen nicht. Die zuständigen Damen und Herren von der Kripo ermitteln, daß der letzte Schlag von einem Menschen namens Würselen ausgeteilt wurde, der in unüblicher Schnelle vor Gericht gezerrt und wegen von anderen Gästen bezeugter Notwehr entlassen wird mit einer Mahnung, sich fortan besser zu benehmen. Wenn er Steuerhinterziehung, Beamtenbeleidigung oder sonst was Furchtbares verübt hätte, säße er im Knast; was ist schon so ’n bißchen Totschlag? Zufällig ist nun dieser Herr Würselen aber Fahrer, Leibwächter und Männchen für fast alles im Dienst des edlen steuerzahlenden Geschäftsmanns, über den Ihr Kollege etwas herauskriegen wollte. Und zufällig schnitzt Hermine gerade dessen Portrait in Mahagoni, im Auftrag lieber Freunde, die ihm zum Sechzigsten etwas Anspruchsvolles schenken wollen.«

»In groben Zügen – ja.«

»Wer, sagten Sie, hat Ihnen gegenüber leichtfertig meinen Namen erwähnt?«

Komarek stellte das Glas ab und verschränkte die Arme. »Ich habe alte Bekannte angerufen. Die haben mich weitergeleitet. Der fünfte oder sechste in der Stafette war ein Bonner Journalist, Moritz von Morungen, lieber Freund von Ihnen. Sagt er.«

Matzbach schob die Unterlippe vor. »Moritz? Lieber Freund? Die Welt bibbert unter dem Aufprall sinnloser Euphemismen. Na ja. Und was erwarten Sie?«

»Erwarten? Nichts. Erhoffen wäre treffender.« Er blies die Wangen auf. »Schauen Sie, mir kommt das ein wenig seltsam vor. Paßt zu gut zusammen. Ich möchte einfach nur wissen, ob das wirklich alles Zufall ist.«

Hermine hatte ihr Glas geleert und hielt es hoch. »Nachschub, bittebitte. Wollen Sie Baltasar anheuern?«

»Wenn Sie mit anheuern meinen, ob ich ihm Geld aufdrängen will ... Tja, könnte man so sehen.«

»Hat Moritz Ihnen auch gesagt, daß ich lediglich ein bisweilen neugieriger Privatmann bin? Nix Lizenz, Detektiv und derlei?«

»Hat er. Er hat auch behauptet, daß Sie damit viel mehr Geld machen als jeder anständige Privatdetektiv.«

»Von Geld reden wir später; von Anstand überhaupt nie. Hat Moritz vielleicht en passant erwähnt, daß ich nur Sachen mache, die mich irgendwie jucken?«

Komarek runzelte die Stirn. »Wie, jucken?«

Hermine fuchtelte immer noch mit dem leeren Glas. »Nachschub, Mann! Jucken soll in diesem Fall wohl heißen, daß der von schlecht informierten Kreisen Hobbydetektiv genannte Matzbach nur Dinge treibt, die ihn treiben. Ihm libidinös erscheinen. Im weitesten Sinn. Ah, endlich darf ich danke sagen.«

Komarek nahm einen kleinen Schluck, fast vorsichtig. »Muß man sich dran gewöhnen, wie? Schmeckt, als ob der Torf, durch den das Wasser gesickert ist, schon ein bißchen angesengt war.«

»Gewesen wäre. Und das ist Ihnen doch beim ersten Schluck schon aufgefallen«, sagte Matzbach. »Lenken Sie nicht ab. Sie wollten mich jucken, hörte ich. Bisher muß ich mich nicht kratzen.«

»Sie sind doch Jahrgang neununddreißig, wenn ich mich nicht irre. Könnte man ...«

»Woher wissen Sie das?«

»Stand irgendwo auf einem Papier. Könnte man, unter Rückgriff auf die politische Wetterlage bei Ihrer Geburt, nicht an so etwas wie großdeutschen Patriotismus bei Ihnen appellieren, um Sie für einen toten Kakanier zu begeistern?«

»Tote Kakanier begeistern mich jederzeit, aber nicht ausreichend, um an Arbeit zu denken. Außerdem ist Patriotismus die erstbeste Ausrede von Schurken. Abgelehnt.«

»Tja.« Komarek sah sich um, scheinbar suchend; er betrachtete die Stapel der Teak-, Mahagoni- und Kirschbaumblöcke, die Sammlung verglaster Fotos an der Wand, nahm einen weiteren Schluck und deutete mit dem Glas auf Hermine. »Ihre Werke?«

»Ein paar davon.« Sie lächelte. »Irgendwo liegen Ordner herum, da hab ich alles drin. Bilder von Schnitzereien. Da, an der Wand, das sind nur ein paar besonders schöne Fehlleistungen.«

»Das anmutig Mißlungene sollte man sammeln.« Matzbach stieß ungeheure Rauchschwaden aus.

»Aphorismus?«

»Lebensaufgabe. Was sammeln Sie?«

»Juckreize.« Komarek grinste. »Und Sie, abgesehen von mißratener Anmut?«

»Bildungslücken, eigene.«

»Ah. Interessantes Gebiet.«

»Nicht wahr? Unerforschlich, unerschöpflich, unergründlich. Man kommt nie an ein Ende.«

»Wie wahr. Ist das Leben nicht ein Labyrinth?« Komarek sah niemanden an; seine betont beiläufige Redeweise ließ Matzbach stutzen.

»Labyrinth? Wie kommen Sie auf Labyrinth?«

Der Österreicher machte eine ausladende Armbewegung; wäre das Glas nicht schon fast leer gewesen, hätte es zweifellos mittlere Niederschläge gegeben. »Ach, Ihr Sammelhobby. Und dieses Haus hier ...«

»Erlauben Sie, mein Herr!« Hermine tat empört. »Dieses Haus ist die Ordnung selbst – jedenfalls in den Teilen, die Baltasar noch nicht verwüstet hat.«

Nach seiner Ankunft war Komarek in laute wiewohl undeutliche Schreie der Begeisterung ausgebrochen, die das Haus zu betreffen schienen; Hermine hatte ihm eine durch Baltasars Schwatzhaftigkeit eher gestörte denn beförderte Begehung zuteil werden lassen. Das Geviert des ehemaligen Bauernhofs – ein Herrenhaus (beinahe Manoir), zwei rechtwinklige Flügel (ausgebaute Stallungen), am Südende des Rechtecks die noch nicht umgebaute Scheune – lag in Brenig, etwa ein Dutzend Kilometer nordwestlich von Bonn, fast auf dem Vorgebirge, mit prächtiger Sicht auf Rhein, Äcker, Petrochemie, Bonn, Köln, Bergisches Land. Im Untergeschoß des Ostflügels, in dem sie die läßliche Medizin einnahmen, betrieb Hermine Päffgen ihre Schnitzerei. Vor nicht ganz einem Jahr hatte Matzbach nach kurzweiligem Zaudern (eine stürmische Romanze, garniert mit bizarren Morden, einem versenkten Rheinschiff und reicher Beute*) seine Wohnung in der Bonner Nordstadt geräumt und sämtlichen Plunder in den von Hermine ungenutzten und bewilligten Westflügel verschafft, den er seither als »Hermines Konzession« oder, je nachdem, »mein Lehen« bezeichnete. Zunächst waren dort noch Spuren zu beseitigen gewesen, hinterlassen von einem früheren Benutzer, der sich im Verlauf einer miserablen Ehe eher seiner schwellenden Modelleisenbahn als der üppigen Gemahlin gewidmet hatte.

»Vergeben Sie einem dummen Ausländer«, sagte Komarek. »Ich habe natürlich nur die Gemächer drüben gemeint, wo man zwischen Bücherstapeln herumirren muß, um Tageslicht zu ahnen. Was wollen Sie eigentlich mit dem ganzen Kram? Lesen Sie etwa? Freiwillig?«

Matzbach grinste und nahm je einen Schluck aus Glas und Zigarre zu sich; er überließ Hermine die Antwort.

»Was Sie da hat umherirren lassen, ist vor allem eine philosophische Fachbibliothek. Hat einem Professor gehört, dessen Ableben ein bißchen zweifelhaft war. Baltasar hat es erhellt und dafür vom erbenden Neffen die Bibliothek gekriegt.«

»Philosophie?« Komarek klang skeptisch. »So was wie ›Ich bin, also brauch ich nicht auch noch zu denken‹?«

»Ist das Ihre Maxime?« Matzbach hielt die Zigarre zwischen den Zähnen und kratzte sich das graue Kraushaar. »Nicht schlecht; sollte man erwägen.«

»Aber Philosophie bringt doch angeblich Ordnung ins Universum, oder?«

»Das war wohl ein schweizerisches oder, nicht wahr? Entschiedene Verneinung jeder Alternative? Aber da hört man, daß Sie Laie sind. Was Profs betreiben, also akademisches Denken ... Denkerei? Gedenke? Nein, sagen wir: Dunk. Akademischer Dunk dient nicht zur Gliederung des Universums, sondern zu dessen wohlstrukturierter Vernebelung. Insofern habe ich durch das kühne Arrangement der Stapel drüben Form und Inhalt zu einer angemessen konfusen Einheit gebracht.«

Komarek leerte sein Glas. »Prosit«, sagte er nachträglich. »Auf Ihrer beider Wohl. Gibt es einen Plural von Wohl, nebenbei?«

Matzbach nahm die Flasche, goß nach und lehnte sich an die Sargbar. »Wie mache ich mich als Barsarger?«

»Ich schlage als Sammelplural von Wohl Gewöll vor«, sagte Hermine. »Was die Bücher angeht, wollte er sie längst loswerden. Er hat mit einem Freund zusammen ein Antiquariat aufgemacht; aber wie das bei Freunden nun mal so ist – das allerletzte, was die im Antiquariat wollen, ist unverkäufliche Philosophie.«

»Gewöll allerseits.« Komarek hob eine Braue, während er behutsam trank. »Einige der Erben des verblichenen Kollegen sind bereit, sich von einem Teil der Lebensversicherungssumme zu trennen. Sie reden von zwanzigtausend.«

»Schilling oder Mark?«

»Wenn die Debatte noch lange dauert, werden es Euro«, sagte Hermine. »Sollen wir vielleicht rübergehen, wo man etwas bequemer sitzt?«

»Nach dem Feilschen«, knurrte Baltasar. »Weib, immer das Bedürfnis nach Behagen zur Unzeit!«

»Mark.« Komarek schielte in sein Glas. »Wenn Sie mir jetzt freundlicherweise signalisieren würden, ob Sie das reizt ...«

»Was dann? Und, bitteschön, was heißt ›einige der Erben‹? Welche? Wieso nicht alle?«

»Dann ziehe ich noch ein As aus dem Ärmel, um Sie endgültig zu stechen. Bestechen.«

»Aha. Und wenn nicht?«

Komarek lächelte sanft. »Wenn es Sie nicht reizt, behalte ich den schönsten Teil der Geschichte für mich. Den schönsten Teil, was Sie betrifft.«

»Mich? Was hab ich damit zu tun, außer vielleicht demnächst?«

»Der Tote, um den es geht, ist Ihnen flüchtig bekannt.«

»Wie flüchtig? Und hat er einen Namen?«

»Nicht mehr; Tote sind gewissermaßen ex officio anonym.«

Hermine seufzte, schwieg aber.

»Allmählich«, sagte Matzbach, »beginnt mir der Nachmittag zu gefallen. Die Ex-Officio-Anonymität defunkter Hominiden – wäre das nicht ein feiner Buchtitel?«

»Du bastelst doch schon lange an einem Verzeichnis wünschenswerter Bücher; kommt das darin vor?«

»Noch nicht, aber man könnte es aufnehmen.«

Hermine gluckste leise. »Horror vacui ...«

Komarek räusperte sich. »Na?«

»Na ja. Jein.« Baltasar rieb die Hüfte an der Sargkante; die Flaschen klirrten leise. »Sagen wir mal so. Ich bin angetan von Ihrer Konversation, Herr, und billige die Aufdringlichkeit, mit der Sie diesen Termin erschlichen haben.«

Hermine unterbrach. »Aufdringliches Erschleichen? Klingt wie ein spätexpressionistischer Gedichtband. Gibt es nicht bei Lichtenberg ein nebelartiges Schleichen?«

»Und weil das so ist, bin ich bereit, mich mit den zwanzig Riesen anzulegen – vorausgesetzt, Sie erhellen mich hinsichtlich der zahlungswilligen Erben sowie ferner vorausgesetzt, dies als letzte Bedingung, daß ich mich an den Toten, den ich angeblich gekannt haben soll, nicht allzu unangenehm erinnere.«

»Czerny«, sagte Komarek. »Albin Czerny.«

Hermine hob die Schultern. »Baltasars Vorleben ist bestimmt so wüst wie seine Philosophenabteilung. Mir sagt der Name nichts.«

Matzbach hatte die Lider gesenkt. »Czerny ... Albin ... Da war was, aber ...« Er sah Komarek an. »Klingt so wie als ob«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob mehr ob als als.«

»Wir hatten das Stichwort heute schon.« Komarek hob das Glas. »Mehr sollte ich vor dem nächsten Essen nicht davon trinken, sonst verirre ich mich. In einem Whisky-Labyrinth.«

Baltasar leerte das Glas, stellte es auf den obersten Teak-block, klemmte die Zigarre zwischen die Zähne und klatschte in die Hände. Ohne die Macanudo wieder aus dem Mund zu nehmen, sagte er: »Labyrinth, was? Bretagne ... uh, anno achtundsechzig? Neunundsechzig?«

»Achtundsechzig. So jedenfalls steht es in einer Art Tagebuch von Albin.«

»Mit meinem Namen? Ah, da kann aber noch nichts von Bonn dringestanden haben. Wie sind Sie auf mich gekommen?«

»In den hinterlassenen Papieren gab’s noch einen Wisch; stand so was drauf wie ›Matzbach in Bonn? Kann das denn sein?‹ Offenbar hat Czerny irgendwas über Sie gehört.« Komarek zuckte mit den Schultern. »Der Rest war Schichtarbeit am Telefon. Mögen Sie mal ein bißchen erzählen? Von achtundsechzig?«

Hermine glitt von der Fensterbank, nahm ein gewöhnliches Messer und warf es, scheinbar ohne hinzusehen, haarscharf an Matzbach vorbei; zitternd blieb es im Teakblock stecken, wenige Zentimeter unter dem Glas.

»Eine Achtundsechziger-Geschichte?« sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich das ertrage.«

»Haben Sie damit schlechte Erfahrungen gemacht?«

»Kann man so sagen. Anno achtundsechzig war ich neunzehn und mit der Schreinerlehre noch nicht ganz fertig. Richtige Arbeit, wissen Sie, mit Schwielen an den Händen. Später haben mir dann alle möglichen Leute von der Großen Zeit erzählt – klang für mich immer wie ›Papi erzählt jetzt von Stalingrad‹.«

»Waterloo?« murmelte Matzbach. »Lützen? Kommune zwei, bei Solferino?«

Sie zog die Nase kraus. »Mich haben die Storys immer gelangweilt; das war so eine Art abstrakter Ringelpietz, wissen Sie – freischwebendes Spinnen ohne Bezug zur Wirklichkeit; dabei hatte ich trotzdem das Gefühl, ich hätte was verpaßt.«

»Hast du nicht, scharfes Weib.« Matzbach berührte die Klinge des Messers im Block. »Jedenfalls hier nicht. Du hast natürlich meine größte Zeit verpaßt, ahemm, in der Bretagne.«

»Warst du damals auch schon unmöglich?«

»Schlimmer. Nicht unmöglich, sondern neunundzwanzig; furchtbares Alter. Das Alter, in dem man, wenn man zu so etwas neigt, Labyrinthe baut; heute, milde gereift, risse ich Labyrinthe lieber ab. Wenn man mich denn ließe ...«

Hermine schüttelte die aschblonde Mähne aus, wobei etliche Silberstreifen mitflogen. »Du wirst die Bücher schon noch los. Streichhölzer könnten helfen.« Sie deutete auf die Tür an der nördlichen Kopfseite. »Die Labyrinthgeschichte ertrage ich bestimmt nicht im Stehen. Kaffee? Bequeme Sitze?«

Auf der überdachten Holzveranda an der Nordseite des Herrenhauses ließ sich, wie Matzbach bemerkte, sogar der rheinische Stickstoffsommer ertragen. Komarek riskierte einen Blick auf die fernen Türme des Kölner Doms und widmete sich dann abwechselnd seinem Kaffeebecher und dem verstrüppten Garten; Hermine hatte die Hände hinter dem Kopf gefaltet und betrachtete Matzbach, der die Zigarre in einen riesigen roten Aschenbecher aus Glas gelegt hatte, um besser gestikulieren zu können.

Er faßte sich kurz, da sein damaliges Innenleben, wie er sagte, ihm selbst ein Greuel sei und überdies niemanden interessiere. Einige Jahre oder ein wenig mehr habe er sich in der Bretagne aufgehalten, »irgendwo schräg links hinter Roscoff«, in einem für wenig Geld gemieteten alten Gehöft. Dort habe er sich dem Okkultismus genähert (»bis dieser erschrocken zurückwich«), Touristinnen veruntreut, an druidischen Kabalen mitgehäkelt, eine Art Galerie für die Erzeugnisse junger heimischer und durchreisender Künstler betrieben, die ersten Fassungen von der Fachliteratur staunend ignorierter Bücher wie Sexualpathologische Aspekte der Psychokinese entworfen ...

Komarek unterbrach. »Letzteres nach eingehenden Feldforschungen? Unter tätlicher Hilfe der Touristinnen?«

Matzbach schnaubte. »Nu nebbich.« Und ferner, sagte er, habe er dort ein Labyrinth gebaut.

Wieder wurde er unterbrochen, diesmal von Hermine. »Wie sah das aus? Ein richtiges Labyrinth? Aus Steinen? Oder Hecken? Pappmaché? Plastik?«

»Wird nicht verraten.« Er grinste. »Am Ende hältst du mich sonst für einen begabten Maurer oder Pappkleber oder Heckenschneider, und das wollen wir doch vermeiden, nicht wahr? Überschätzung führt zu verehrender Entfremdung, die das Konkubinat schänden könnte.«

»Ah ja. Und wie kommt dieser tote Österreicher ins Spiel?«

»Albin Czerny ... die Einheimischen nannten ihn Saint Aubin, sofern sie ihn überhaupt genannt haben. Er ist im Spätsommer, als die Revolution erledigt war, angekommen, drei Tage geblieben und dann wieder verschwunden.«

»Woher ist er gekommen, wohin ist er verschwunden, was war überhaupt mit ihm? Mann, laß dir doch nicht die Würmer aus der Nase ziehen!«

Matzbach berührte seinen Kolben. »Da sind keine drin, Madame Hermeline, parole d’honneur. Wie auch immer. Willst du das wirklich wissen?«

»Möglicherweise; genau kann ich das erst hinterher sagen.«

»Du wirst es nicht mögen; es ist gewöhnlich.«

»Das wäre bei dir ungewöhnlich genug; sprich, o holder Knabe.«

Komarek schnalzte leise. »Darf ich fragen, wie lange Sie diese Form des Dialogs schon betreiben?«

»Nicht ganz ein Jahr«, sagte Hermine. »Warum?«

»Nur so. Wenn Sie verheiratet wären, stünde ich im Fall der Scheidung beiden als Belastungszeuge zur Verfügung.«

»Sie da, Sie Mensch«, sagte Matzbach. »Wie heißen Sie eigentlich vorn?«

»Das wollen Sie bestimmt nicht wissen; nicht mal hinterher. Meine Eltern hatten einen perversen Geschmack, was Vornamen angeht.«

»Und zwar?«

»Hieronymus.« Komarek seufzte.

»Ups«, sagte Hermine.

»Ach nein, dann doch lieber nicht.«

»Inwiefern?«

»Ich war gerade dabei, Sie wegen Ihrer Konversation ins Herz zu schließen. Und da wir wegen Czerny vermutlich mehr miteinander zu tun haben werden, als allen lieb ist, wollte ich den Verzicht auf Titel wie Professor oder Herr vorschlagen – gleitender Übergang zu Vornamen unter Beibehaltung des Siezens. Aber Hieronymus? Nein.«

»So nennen mich meine Feinde.«

»Haben Sie trotzdem Freunde?« sagte Päffgen; dabei verzog sie keine Miene.

»Nicht eben zahlreich; die nennen mich Koma.« Er grinste. »Muß mit meiner Lebhaftigkeit zu tun haben.«

»Na schön. Koma. Madame, alias Frau Päffgen, heißen wahlweise Hermeline, Heroine, Hermione oder Hermine. Letzteres ist die amtliche Version.«

Komarek warf Hermine einen fragenden Blick zu. »Was wäre Ihnen am liebsten?«

»Im Moment wäre mir am liebsten eine Fortsetzung des Märchens. Baltasar, wie kommt der damals noch nicht tote Österreicher in dein bretonisches Labyrinth?«

Matzbach nahm die erloschene Macanudo in die Hand, zündete sie jedoch nicht an. »Fruchtlose alte Geschichten zu erzählen, das ist wie das Nuckeln an einer erloschenen Zigarre. Aber bitte sehr. Albin Czerny ... komisch, wie viele vergessene Dinge da wieder hochkommen. Er muß irgendwas an großdeutschen Neigungen gehabt haben; jedenfalls hat er Wien verlassen, um in Berlin zu studieren. Da wurde er dann von der Revolutionsromantik befallen; er hatte, als braves Hundchen, auch schon einige dieser häßlichen Fremdwörter apportieren gelernt, die Adornos und Marcuses Unlustknaben für fortschrittlich hielten.« Matzbach runzelte die Stirn, wie in tiefer Konzentration. »Ich weiß nicht mehr, was es war, vielleicht hab ich es nie gewußt, aber etwas muß bei ihm im Sommer achtundsechzig passiert sein. Irgendwas, was ihm die Illusionen ...«

»Hoffnungen?« sagte Komarek.

»Meinetwegen. Jedenfalls hat er was auch immer verloren, seine Bücher verkauft, das Studium abgebrochen und sich in den Zug gesetzt, nach Frankreich. Er war in Paris, bei Verwandten oder Bekannten, dann ist er in die Bretagne gekommen. Fragt mich nicht warum; vielleicht wollte er in pseudokeltischer Einöde der gallisch-germanischen Politmystik entrinnen.«

Er sprach nicht weiter; ein bläulicher Riß im stickigen Sommerhimmel schien ihn zu faszinieren.

»Und dann?« sagte Hermine. »Hast du ihn mit deiner Privatmystik verseucht, oder was?«

»Mitnichten. Er wollte weg, hat irgendein Nimmerland gesucht. Am liebsten wäre er für ein paar Monate aus dem Kosmos gefallen.« Er kicherte plötzlich schrill. »Jetzt kommt eine dieser Symmetrien des Schicksals, wie von einem schlechten Autor ausgeheckt. Gleichzeitig mit ihm tauchte ein Mädchen auf, etwa so alt wie er; ich glaube, sie hieß Melanie, und wie weiter? Ah, vergessen; egal. Die war in einer Art Nimmerland gewesen und hatte gerade beschlossen, sich doch wieder in die Politik einzuklinken.«

»Puh«, sagte Hermine; sie langte nach der Thermoskanne und goß dreimal Kaffee nach. »Wie ich dich und das Schicksal so kenne, haben die beiden dann Adressen und Ziel getauscht, ja? Am Ende sogar in deinem Labyrinth? Wie auch immer das ausgesehen haben mag.«

»Es kam«, sagte Matzbach geziert, »zu einer Art Wesenstausch, allerdings unter Beibehaltung und Nutzung des jeweiligen Geschlechts. Metaphysisches Gerammel, gewissermaßen; danach ist sie in die fortschrittliche Utopie der Berliner Studenten gereist, um sich in der Aktion zu finden, und er hat die Fahrt ins Nimmerland angetreten, um sich in Meditation zu verlieren. Oder so ähnlich.«

»Wo war dieses Nimmerland?«

Matzbach fletschte die Zähne. »Du wirst es nicht glauben. Oder doch? Francos Spanien. Bis auf ein paar Stück Mittelmeerküste war das ja damals von Europa abgekoppelt und lag irgendwo, bloß nicht im zwanzigsten Jahrhundert.«

Nach kurzem Schweigen sagte Hermine: »Doch; kann ich irgendwie verstehen. Und was ist aus ihnen geworden?«

»Keine Ahnung.« Baltasar breitete die Arme aus. »Seit damals habe ich nichts mehr gehört. Bis heute. Albin ist tot; und wenn Melanie nicht gestorben ist, lebt sie vielleicht glücklich und in Freuden. Oder wie das Märchen sonst enden mag.«

Komarek räusperte sich. »Ich wüßte ja doch gern mehr über Ihr Labyrinth ...«

»In diesem Fall war es, uh, ein Psycho-Labyratorium.«

Hermine stöhnte.

»Ihre Wortklauberei beiseite – wie hat es ausgesehen?«

»Kein Kommentar.«

»Auch nicht, wenn ich Ihnen erzähle, was er nach der Rückkehr aus Francos Nimmerland getrieben hat?«

Matzbach spitzte die Lippen. »Mal sehen. Lassen Sie hören.« Er zündete seine Zigarre an und lehnte sich zurück.

»Ah, vorher noch was andreas. Die Erben ...«

»Ja?«

»Er hat seinen diversen Ex-Damen fast alles vermacht, üppige Pflichtteile gewissermaßen. Den Ladys ist es furchtbar egal, wie er umgekommen ist. Ein paar Freunde dagegen, die er mit Kürteilen bedacht hat, sind bereit, davon ein wenig springen zu lassen.«

»Na gut. Dann lassen Sie springen, Koma.«

*Vgl. Kein Freibier für Matzbach

2. Kapitel

Die Trübsal ob seiner frühen Ankunft war allerdings heiter, verglichen mit dem Ungemach ob seines späten Scheidens.

JAKOB JANSEN

Komarek wollte nicht zum Abendessen bleiben; er sagte, er sei »zu diesem Behuf und möglichen Weiterungen« mit einer charmanten Kollegin verabredet. Er drohte für den nächsten Vormittag mit einem Anruf.

Matzbach schlenderte in die Küche, entkorkte eine Flasche Cidre und schmierte Brote. Zwischendurch, wie von einem jähen Einfall getrieben, ging er in den Flur, der zur Haustür am Innenhof führte, blieb vor der getäfelten Wand stehen, an der eine antike Streitaxt hing, fuhr mit der Fingerspitze über eine der beiden Schneiden und sagte leise: »Ach ja, die Schärfe des Daseins.«

Hermine hatte sich ins Atelier verzogen; Baltasar kredenzte ihr einen Humpen Cidre und drei Brote auf einem silbernen Tablett. Sie murmelte etwas, starrte auf das an einer Staffelei hängende Foto und riffelte mit der Messerspitze Späne von dem Mahagoni, das Büste werden sollte.

»Schneidest du alles weg, was nicht Nase sein kann?«

Sie schob die Unterlippe vor. »Irgendwie ist mir ein bißchen die Lust vergangen. Wenn der Typ hier tatsächlich was mit diesem Todesfall zu tun hat ...« Dann lächelte sie schwach. »Aber Job ist Job, nicht wahr?«

»Was haben dir seine Freunde geboten?«

»Fünfzehn. Plus Mehrwertsteuer.«

Matzbach nickte ernsthaft. »Die fünfzehntausend könntest du verschmerzen, aber die Mehrwertsteuer bringt’s.«

»Blöde Socke.«