COVER.jpg

DIE UNGEHEUERLICHE GESCHICHTE DES JUNGEN GENIES FERDINAND MEERTEN, DER MIT SEINEN ZEICHNUNGEN DIE WELT VERÄNDERTE.

Die Niederlande im 18. Jahrhundert: Als das Waisenkind Ferdinand Meerten Pfarrer Hobrecht in die Arme gelegt wird, ahnt dieser nicht, welches Genie in dem Vierjährigen steckt. Doch bald wird deutlich: Ferdinand ist kein gewöhnlicher Junge. Schon wenige Wochen nach seiner Ankunft geschehen merkwürdige Dinge in dem kleinen Dorf, die den Pfarrer verunsichern und ihn Schlimmes ahnen lassen. Als er eines Tages ein Dutzend Blätter mit Kohlezeichnungen des Jungen findet, begreift er: Diese Skizzen überragen nicht nur alles, was er bisher gesehen hat, sondern üben eine magische, geradezu gefährliche Anziehung auf ihn aus. Zu gefährlich für Hobrecht …

David Schönherr erzählt in seinem ersten Roman die ungeheuerliche Geschichte des jungen Genies Ferdinand Meerten, der mit seinen Zeichnungen die Welt veränderte. Denn mit seinem außergewöhnlichen Talent trifft er die Menschen schon als Kind bis ins Innerste, verzaubert sie und stürzt sie ins Unglück: den Maler Bros, dem er ungeahnten Erfolg schenkt; die sagenumwobene Lucia Giannotti aus dem Wald; die schöne Magd Flora und den hartnäckigen Kunsthändler Gerlach, der sich von Ferdinands Bildern nicht weniger als Unsterblichkeit verspricht.

Der Widerschein ist eine phantastische und geheimnisvolle Fabel über Sehnsüchte und Gier, über geheime Wünsche und Schwächen und eine unglaubliche Reise durch die Niederlande nach dem Goldenen Zeitalter.

»EIN PHANTASTISCHER ROMAN ÜBER DIE MACHT DER KUNST IN FINSTERER ZEIT: ALS HÄTTEN SICH DIE GEBRÜDER GRIMM MIT PIETER BRUEGEL ZUSAMMENGETAN.«

Christoph Peters

David Schönherr

Der
Widerschein

Roman

Gott erschuf die Welt;
die Niederländer erschufen die Niederlande.

Niederländisches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Erstes Kapitel

Die Niederlande steckten in einer schweren Krise. Jahrhundertelang hatte jener Landstrich einen Erfolg nach dem anderen errungen, so dass es nur konsequent war, diese legendäre Ära im Nachhinein als Goldenes Zeitalter zu bezeichnen.

Im Anschluss an diese große Zeit bedauerten die Niederländer verständlicherweise das Ende jener Epoche. Denn das achtzehnte Jahrhundert meinte es mit den Bewohnern jenes flachen Landes nicht gerade gut.

Wo früher Entdecker und Erfinder die Menschen mit Substanz und Seele bereichert hatten, machten sich nun Angst und Zweifel breit. Während in der Welt bedeutende Kriege um Geist und Materie entbrannten, legte sich über jenes Land eine bedenkliche Trägheit, dicht gefolgt von Armut und Elend. Kein einziger Niederländer machte sich nach jenen goldenen Tagen einen Namen, der nicht von den Vorbildern berühmter Staatsmänner, hervorragender Wissenschaftler und vor allem glorreicher Künstler um Längen überragt wurde.

Aus den deutschen Landen hörte man seitdem des öfteren die Redensart, die Niederländer würden ihrem Namen nun endlich gerecht werden.

Die Bewohner des flachen Landes taten nun das, was sie in all den Jahren zuvor offenbar nicht getan hatten: Sie blieben daheim, bestellten das baumlose Land und warteten auf bessere Zeiten. Man arbeitete von früh bis spät, um Schulden und Steuern zu begleichen, ließ sich gern vom Schlaf überwältigen und träumte insgeheim bereits am Montagmorgen vom Samstagabend.

Man vergaß leider, was an den goldenen Zeiten früher so gut gewesen war.

Allein der Gedanke, etwas Wichtiges vergessen zu haben, blieb in vielen Köpfen lebendig.

Seitdem bedauerten die Niederländer vor allem sich selbst.

* * *

Bedauern und Sorgen waren das tägliche Brot von Pfarrer Hobrecht – was diesen jedoch in keiner Weise bedrückte, sondern den bedeutsamsten Teil seiner Arbeit ausmachte. Bereitwillig und aufmerksam hörte er sich die Nöte und Ängste seiner Kirchgänger an, sagte ihnen Hilfe und Unterstützung zu und brachte sich bei der Lösung besonders hartnäckiger Probleme regelmäßig um seinen dringend benötigten Schlaf.

Der Pfarrer, so hieß es, sorgte sich vorbildlich darum, dass kein einziges Schäflein seiner Herde jemals verloren ging.

Auf Grund dieser allseits bekannten Hilfsbereitschaft erreichten den Pfarrer fast täglich die unterschiedlichsten Gesuche, Bitten und Anfragen, die seine kirchlichen Pflichten mehr und mehr in den Hintergrund drängten.

Meist ging es bloß um Brot, warme Kleidung für den drohenden Winter oder die Bitte um Almosen; einmal war Hobrecht aber im Laufe eines solchen Gespräches die Leitung der städtischen Schule übertragen worden, und kurz darauf hatte er sich überreden lassen, eine Trauung in einer der umliegenden kleineren Ortschaften zu vollziehen – woraufhin nun auch andere Dörfer und größere Gehöfte von ihm forderten, dass er bei ihnen mindestens aus der Bibel vorlesen sollte.

Überhaupt kam man vor allem dann zu Hobrecht, wenn der Schuh wirklich drückte, wenn die Frauen unter Migräne litten oder man ein tiefes Loch in den Zähnen entdeckt hatte – Hobrecht war dafür bekannt, für alles einen Ausweg zu finden.

* * *

Nach dem Besuch in einer entfernten Gemeinde wurde Hobrecht wie gewohnt von zahllosen Bittstellern umringt. Die Sonne war im Begriff unterzugehen, das Ende des Tages war für den Pfarrer noch lange nicht in Sicht. Man bedrängte ihn von allen Seiten, forderte mit Nachdruck die Herausgabe von Almosen und verlangte nach Brot. Hobrecht drückte allen sein Mitgefühl aus, versprach umgehende Unterstützung und bekam kaum mit – bedingt durch die Fülle der Fragen und das gleichzeitige Nachdenken über mögliche Lösungen –, wie müde und erschöpft er eigentlich war.

Selbst auf dem spät angetretenen Heimweg wurde Hobrecht um ein Gespräch gebeten – unglücklicherweise von einem landläufig bekannten Taugenichts, der meistens mit ausdrucksloser Miene durch die Gegend lief, gelegentlich aber lautstark das Ende der Menschheit verkündete, um danach angeblich tagelang seinen Rausch auszuschlafen.

Überraschend deutlich begann jener Mensch zu sprechen: Er benötige den Beistand des Herrn Pfarrer, sofort, sofort! Der Verrückte machte einige hastige Bewegungen um Hobrecht herum, Schrittchen, Sprünge, Tänzeleien – ein wahnwitziges Schauspiel! Ebenso unerwartet blieb der Mann jedoch plötzlich stehen, so dass er vom letzten Licht des Horizonts beschienen wurde; ein zartes Flimmern umspielte seine nun erstarrten Umrisse.

Erst nach einem Moment bemerkte Hobrecht, dass sein Gesprächspartner ein unförmiges Bündel aus Lumpen und zerschlissenen Decken auf dem Arm hielt, in dem er unscharf das Gesicht eines etwa drei- oder vierjährigen Kindes erblickte, tief und fest schlafend.

In wirren Worten und Sätzen erfuhr Hobrecht nun, dass es sich bei diesem Jungen um einen gewissen Ferdinand Meerten handelte, der mittlerweile leider beide Elternteile verloren hatte: den Vater durch Einrückbefehl, die Mutter starb, vermutlich an der Schwindsucht – der Mann selbst schien ein Onkel von jenem besagten Ferdinand zu sein.

Der Pfarrer nickte, obwohl er vor Müdigkeit kaum noch zuhören konnte. Das Tageslicht war vollständig verschwunden, Hobrecht erkannte in der Dunkelheit nur noch die Umrisse des Mannes. Zum Glück war dem Pfarrer durch seine langjährige Erfahrung schnell klar, worauf dieses Gespräch hinauslief. Bereitwillig und geduldig hörte er zu, nickte aufmunternd in die Nacht hinein und wartete, bis dieser Mensch zum Ende seiner Rede kam: Er, ein einfacher Mann, in seinem Zustand, ohne Rückhalt einer guten Familie, er sei doch völlig unfähig, für das Heranwachsen des Kindes zu sorgen, solch ein liebes Geschöpf, ein guter Junge, ein vorbildliches Kind. Er hoffe da auf das Verständnis des Herrn Pfarrer – und natürlich dessen tatkräftige Unterstützung.

Schnell traf man eine Vereinbarung, die Hobrecht bereits erwartet hatte. Ferdinand solle noch heute durch den Herrn Pfarrer zu einer anderen Familie gegeben werden, die gegen eine entsprechende Bezahlung die Aufzucht von Waisen anbot. Sobald das Kind groß genug sei, dürfe es zudem in die vom Pfarrer geleitete Dorfschule gehen.

Hobrecht steckte das Geld des Onkels ein und nahm den schlafenden Jungen an sich.

Ein Räuspern, das einem Bellen gleichkam, drang aus der Kehle des Onkels.

Allerdings gebe es da noch eine Kleinigkeit, die erwähnt werden müsse.

Hobrecht hielt das Bündel auf dem Arm, fragend sah er in die Richtung, aus der die Stimme des Onkels gekommen war.

Dieses Kind, der Onkel flüsterte nun, es habe zu ihm gesprochen.

Unerwartet trat der Onkel sehr nah an den Pfarrer heran, so dass Hobrecht zum ersten Mal das Gesicht seines Gegenübers erkennen konnte: starrende Augen, ein schiefer Mund ohne Zähne, die Wangen mit Falten wie Narben. Das Flüstern steigerte sich erneut zu einem Bellen.

Gesprochen!

Aber nicht wie sonst, nicht wie sonst!

Sondern, sondern!

In seinem Kopf!

Und nun musste sich Hobrecht trotz quälender Müdigkeit und Dunkelheit die merkwürdige Geschichte des Onkels anhören, in der von Bildern, Visionen und anderen Hirngespinsten die Rede war; der Junge sei eine Art Künstler, äußerst geschickt – aber auch unheimlich. Und die Stimmen in seinem Kopf – der Onkel riss die Augen noch weiter auf, sein Gesicht kam bedrohlich nah an Hobrechts Nasenspitze heran, dann machte er einige ausladende Handbewegungen in der kalten Luft, tänzelte unruhig auf der Stelle herum – aber nun, plötzlich, da schwieg er auf einmal. Vorsorglich erteilte der Pfarrer dem Onkel einen zusätzlichen Segen, verabschiedete sich zügig und lief in die Nacht hinein.

Im Weggehen betrachtete der Pfarrer das Bündel, schüttelte den Kopf. Das Kind sah nicht aus, als ob es mit ihm reden wollte, schon gar nicht in seinem Kopf.

Es schlief unbekümmert weiter.

Ferdinand Meerten schien in der Tat ein vorbildliches Kind zu sein.

* * *

Hobrecht grübelte.

Es komme ihm mittlerweile so vor, als ob man seit einiger Zeit seine Hilfsbereitschaft viel zu selbstverständlich voraussetzen würde. Jene Menschen, diese bedauernswerten Geschöpfe, die ihm von Klagen, Problemen und tief sitzenden Leiden berichteten, für die weder Gott noch er als Mann der Kirche verantwortlich sei – hier gehe es um weltliche Dinge, die mit etwas gutem Willen jeder selbst lösen könne.

Als ob es beispielsweise seine Aufgabe sei, Findelkinder wie diesen Ferdinand Meerten aus der Welt zu schaffen.

Seine beiden Mägde, die neben ihm saßen, nickten verständnisvoll und sahen mit warmen Augen auf das schlafende Kind. Hobrecht blickte von seinem Teller auf, zeigte mit dem Löffel nach oben.

Ein Zeichen des Himmels sei es, dass sich in allen bisherigen Fällen ein Waisenhaus gefunden habe, welches diese gottlosen Wesen aufnehmen konnte – nur eben dieses Mal leider nicht.

Es raschelte, der Pfarrer warf einen nachdenklichen Blick auf die Wolldecke, in die Ferdinand eingewickelt war.

Unscheinbar sei das Kind – aber zu groß, als dass man es einfach übersehen könne.

Die eine der Mägde streckte ihre Hand aus, strich dem Jungen zärtlich über die Wange.

Hobrecht seufzte.

Keines der zahllosen Waisenhäuser, die auf seinem Heimweg gelegen hätten, habe das Kind annehmen wollen.

Dieses niedliche Wesen ins Waisenhaus zu geben, so was! Sie habe gehört, für die Kinder seien solche Orte die reinste Hölle!

Erstaunt hob Hobrecht seinen Blick, sah, dass eine Magd das Kind auf den Schoß genommen hatte und behutsam streichelte, während die andere ihm einen Becher mit Milch an die Lippen setzte.

Dieser goldige Junge – so ein feines Lächeln – ein wahrer Segen.

Beide schauten den Pfarrer bittend an.

* * *

Von da an bekam Hobrecht über Ferdinand einiges zu hören – Ereignisse, die dem Pfarrer oftmals nicht sehr behagten. In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren wurde er allerdings täglich weiter in weltliche Aufgaben und angetragene Schwierigkeiten verwickelt und konnte sich kaum die Hälfte all der Vorfälle merken, die Ferdinand betrafen. Aber schon die wenigen Gerüchte, die er über dessen offensichtliche Torheiten erzählt bekam, ließen ihm die Haare zu Berge stehen – vor allem, wenn er sich dazu die letzten Worte von Ferdinands Onkel ins Gedächtnis rief.

Da half es auch nichts, dass die Mägde den Jungen in ihre Obhut genommen hatten oder dass Ferdinands Onkel ihm erstaunlich viel Geld gegeben hatte, um das Heranwachsen des Jungen zu sichern.

Hobrecht spürte ein leises Unwohlsein in sich anwachsen.

Es gab jedoch eine Eigenschaft an Ferdinand, für die Hobrecht all diese unschönen Angelegenheiten gern in Kauf nahm, ja, sich insgeheim freute, den Jungen bald täglich sehen zu können, wenn dieser dann endlich zu ihm in die Schule gehen würde.

Dieser Junge, Ferdinand Meerten, war tatsächlich ein Künstler, genau wie es der Onkel verkündet hatte.

Kaum dass er einen verrußten Stock in die Hand bekommen konnte, malte und zeichnete er auf Tücher und Stoffe, sogar an Hauswände oder in den Sand des Flussufers. Wo immer er ging und stand, erschuf er so exakte Abbilder von Mensch, Tier und Natur, dass die Mägde ihm von ihrem eigenen geringen Lohn Papier und Kohle besorgten, um seine Werke haltbarer zu machen. Bald wollte jeder, der von dieser wunderbaren Fähigkeit wusste, ein Bild von ihm haben.

Auf dieses einmalige Talent war Hobrecht aus.

In seiner Jugend hatte der Pfarrer aus einer Laune heraus ein Marienbild begonnen, welches bisher Fragment geblieben war, dessen Vollendung Hobrecht aber nach wie vor erhoffte.

* * *

Neue Schüler empfing Hobrecht stets Anfang Mai. Der Größe nach wurden die Kinder vor ihm aufgereiht und hatten dem Pfarrer ihren Namen, ihr Alter und den beruflichen Werdegang der Eltern zu nennen. Kaum allerdings, dass die Schüler ihre Antworten herunterleierten, spielten sich in Hobrechts Kopf umfangreiche Szenen ab: Die bloße Erwähnung von bestimmten Namen führte dem Pfarrer all die Sorgen dieser armen Geschöpfe bildlich vor Augen. Die Gesichter der Kinder, ihre wenigen Worte und die damit verbundenen Probleme der Eltern bildeten in Hobrechts Kopf endlose ineinander verschlungene Gedankenketten, vermengten sich zu einem heillosen Wirrwarr und ließen den Pfarrer völlig aus den Augen verlieren, wo er sich gerade wirklich befand.

Erst als Hobrecht vor Ferdinand trat, blieb er einen Moment lang stehen, erwachte aus seinen Gedanken und lachte überrascht auf. Ferdinand erinnerte ihn an keine tragischen Geschichten, verband sich mit keinen traurigen Gesichtern oder sonstigen leidvollen Ereignissen. Trotzdem löste der Anblick dieses Jungen in Hobrecht eine Erinnerung aus. Nichts, was ihm jemand erzählt oder gezeigt hätte – es war etwas anderes. Hobrecht stand lange vor Ferdinand, dann begriff er auf einmal, was es war: Ferdinand erinnerte ihn an sich selbst.

Durch das nebensächliche Betrachten dieses unscheinbaren Kindes erkannte Hobrecht, dass er eine eigene Geschichte, eigene Gedanken besaß – und damit natürlich auch ganz eigene Sorgen. Nicht viele – aber erst jetzt fiel Hobrecht auf, dass er selbst keineswegs sorgenfrei war: Da war die juckende Narbe an seinem Knöchel, die er manchmal unbewusst aufkratzte; sein enges, feuchtes Bett, in dem sich unsichtbare Wanzen und Krabbeltierchen eingenistet hatten; und zuletzt war da das unvollendete Bild, das er fast schon wieder vergessen hatte. Je länger Hobrecht da stand und nachdachte, desto mehr Unannehmlichkeiten fielen ihm ein, die ganz allein ihn selbst betrafen.

Im Vergleich zu der ihm von anderen angetragenen Masse an Beschwerlichkeiten waren es nur wenige bedeutsame Umstände; genug jedoch, um den Pfarrer urplötzlich zu verwirren und zuletzt zu einem erneuten Lachen zu verleiten.

Angefüllt mit den verdrängten Erinnerungen wandte Hobrecht sich abrupt dem Pult zu, hielt sich daran fest. Dann ergriff er hastig seinen Zeigestock und wies die Schüler an, sich der Reihe nach auf die freien Plätze zu setzen. Nach einem gemeinsamen Gebet begann Hobrecht den Unterricht.

* * *

Wenige Wochen später versammelte sich Hobrechts Gesinde vor seinem Arbeitszimmer.

Man habe etwas entdeckt, es gehe um den Jungen, Ferdinand.

Schon eine ganze Weile habe man vermutet, dass dieser Knabe etwas im Schilde führe. Anscheinend sei es ihm, Hobrecht, bisher noch nicht aufgefallen.

Ferdinand sei mehr als geschickt!

Man bat darum, in das Zimmer eintreten zu dürfen – und dort breitete man auf dem Tisch mehrere Dutzend Blätter und Zettel aus, der Herr Pfarrer möge in Ruhe alles betrachten. Währenddessen kommentierten die Mägde ihren spektakulären Fund.

Versteckt – unter seiner Matratze!

Eindeutig der Junge, kein anderer als dieser Bauernlümmel sei dazu imstande!

Zwar habe der Junge nur mit Kohle gezeichnet, aber dennoch – diese Bilder, unerreicht!

Hobrecht hielt ein Papier ins Licht und geriet über die künstlerische Hochwertigkeit des Bildes tatsächlich ins Schwärmen: eine schlafende Bäuerin auf einem Heuwagen! Neben ihr lag eine halb verdeckte Heugabel, unter und hinter dem Wagen schimmerte ein zur Hälfte abgeerntetes Feld durch, auf dem schemenhaft Männer, Frauen und Kinder im hellen Sonnenlicht arbeiteten.

Das Besondere, begann der Pfarrer langsam zu sprechen, das Besondere des Bildes sei nicht das Dargestellte, diese einfachen Menschen und ihre einfache Arbeit. Ja, Hobrecht lächelte abschätzig, die Motivwahl sei geradezu naiv. Aber, er deutete auf das Papier, wenn er es genau betrachte, dann – lautlos zählte Hobrecht bis zehn – ja, all diese Figuren, diese Dinge und Momente, all dies sei mit gerade einmal zehn endlosen Linien gezeichnet worden.

Zehn einfache Linien!

Fasziniert legte Hobrecht das Werk beiseite, schon hielt er ehrfürchtig ein anderes empor: ein Bild, abgrundtief schwarz, vollständig aus Schatten zusammengesetzt – eine unendliche Menge aneinandergefügter Dunkelheiten!

Ein alter, hagerer Mann in einem abgewetzten Lehnstuhl, die Augen in weite Ferne gerichtet, die Mundwinkel erstarrt, ein einzelner Zahn blitzte zwischen den schmalen Lippen hindurch; im Vordergrund die Fußbank, darauf die verschwitzten Füße des Alten mit löchrigen Socken, darunter zerschlissene Schuhe auf schweren Bodendielen; im Hintergrund ein Fenster, ein dünner Baum darin, ein zweiter als diffuser Schatten, zu weit weg, um ihn klar erkennen zu können.

Überall im Bild gab es trotz der Schwärze eine Vielzahl von Dingen zu entdecken: ein zerbeulter Eimer, unzählige angestaubte Flaschen, fasrige Körbe, ein hölzerner Schemel, zerronnene Kerzenstümpfe, fettige Wachstropfen, tote Fliegen auf der Fensterbank, bröslige Brotreste, schwingende Staubfäden, scharfkantige Sandkörner, einzelne Flecken auf dem engen Hemd des Alten, ein Knopf baumelte an einem letzten Fadenrest, krause Nasenhaare, hauchfeine Sprünge im Fensterglas, der gerissene Fingernagel am Ringfinger der linken Hand, aufgeschürfte Konturen der abgewandten Handinnenfläche, in der Dunkelheit erahnbare Tischbeine.

Hobrecht schlug auf den Tisch, die Mägde zuckten zusammen.

Eigentlich müsse er Ferdinand nun bestrafen – bei der Menge an Bildern scheine das ja schon Monate so zu gehen. Hobrecht sah streng in die Runde. So viele Blätter Papier! Die habe er sicher nicht alle geschenkt bekommen, das sei doch unbezahlbar! Und auch die Kohle habe er bestimmt nicht selbst erstanden. Also habe er mit großer Wahrscheinlichkeit gestohlen.

Vorwurfsvoll schüttelte er seinen Kopf.

Selbst die regelmäßigen Abreibungen mit der Rute hätten den Jungen offenbar nicht vernünftig gemacht! Was sollte man ihm denn noch alles durchgehen lassen? Ungehorsam und Verschwendung verdienten keine Anerkennung! Im Übrigen: Solche nützlichen Eigenschaften dürfe man nicht für sich behalten!

Schweigend sah der Pfarrer in die Runde, eine Magd räusperte sich.

Man müsse Ferdinand zum Bros geben.

Hobrecht zuckte, drehte seinen Kopf der Magd zu, die gesprochen hatte. Dann nickte er und bat nach einem Moment der Stille alle hinaus.

Er werde darüber nachdenken, der Vorschlag sei brauchbar.

Im Gehen wurde sein Gesinde erneut redselig.

Ferdinand benötige einen anderen, einen besseren Lehrer!

Der Bros könne ihm sicher einiges beibringen!

Eine solche Begabung, das müsse man unterstützen!

Erst spät kam man Hobrechts Bitte nach, ihn allein zu lassen.

* * *

Zögerlich setzte der Pfarrer einen Brief an Ferdinands Onkel auf. Er schrieb, dass man den Jungen so bald wie möglich in die Lehre zum Meister Bros geben würde. Er selbst wollte sich persönlich dafür beim Meister einsetzen. Als Begründung berichtete Hobrecht über Ferdinands besonderes Talent, welches unverzüglich zu fördern sei, wenn man es nicht im Keim ersticken wolle.

Die wesentlichen Gründe seiner Entscheidung behielt Hobrecht jedoch für sich. Denn seitdem Ferdinand bei ihm im Klassenzimmer saß, da geriet nicht nur der Unterricht des Pfarrers allmählich aus den Fugen – sein ganzes Leben schien in eine vollkommen falsche Richtung zu rutschen. Dieses Kind, Ferdinand, war nicht nur ein außergewöhnlicher Künstler, er war auch noch ordentlich, höflich und äußerst diszipliniert: Ferdinand Meerten war ein wahrer Musterschüler! Keines der anderen Kinder konnte mit seiner Aufmerksamkeit und Begabung mithalten – im Gegenteil: Dieses Wunderkind ließ durch sein begnadetes Können alle anderen nur durchschnittlich oder sogar schlecht aussehen und brachte letztlich Hobrecht in Verruf, nicht richtig unterrichten zu können – ja, ein einfacher Hochstapler zu sein.

Brillante Fragen stellte der Junge, auf die nicht mal er als Lehrer eine Antwort wusste. Ferdinand fand Zusammenhänge und Erklärungen, die selbst für die Dümmsten der Klasse verständlich waren. Seine Stimme gab das Gelernte so wunderbar wieder, dass alle an seinen Lippen klebten, wenn er erzählte, anstatt Hobrechts Unterricht zu folgen. Um einen ordentlichen Lehrer zu verkörpern, da fehlte diesem Bengel ja nicht nur die nötige Erfahrung oder das passende Alter: Er war von Rechts wegen überhaupt nicht befugt, derart selbständig zu handeln – selbst wenn er offensichtlich die Fähigkeit dazu besaß!

Der Pfarrer beobachtete mit täglich wachsendem Schrecken, wie selbstverständlich dieses Kind als Autorität anerkannt wurde – mehr noch: Hobrecht meinte sogar, dass ihm ehrfürchtige Blicke zugeworfen wurden.

Einem Kind!

Das ging zu weit!

Als ob die Schule dazu da wäre, alles begreifen oder beherrschen zu müssen. In erster Linie hatten die Schüler ihm – dem zuständigen Lehrer – zu gehorchen! Schließlich ging es nicht um den Verstand, der geschult werden musste, sondern in erster Linie um die Vernunft, die in diese kindlichen Gemüter einziehen sollte!

Hier musste umgehend gehandelt werden!

Hinzu kam, dass sich mit der Zeit abermals eigenartige Vorfälle ereignet hatten, bei denen Ferdinand zugegen war – und die Hobrecht während des Schreibens zum Glück wieder ins Gedächtnis kamen: Ein Schüler hatte Tollkirschen gegessen und mehrere Stunden ohnmächtig hinter dem Kirchhof gelegen, eine Kuh hatte totgeboren, das Zugseil der Glocken war mehrmals hintereinander grundlos gerrissen. So etwas sprach sich unter den Schülern, Nachbarn und Kirchgängern natürlich herum – und Ferdinands Name war mehr als einmal gefallen, in eindeutigen Zusammenhängen: Denn von genau diesen Ereignissen kursierten hochwertige Zeichnungen, die fraglos durch Ferdinands Hand entstanden waren. Hobrecht tat ihm somit einen Gefallen, wenn er ihn vor weiterer Kritik in Schutz nahm.

Zu guter Letzt hatten sich die wiederentdeckten Sorgen des Pfarrers in Windeseile vervielfältigt. Die juckende Narbe, harmlos und klein, war nun blutig gekratzt; das verdreckte Bett, eine einzige Zumutung – Hobrecht hatte seit Wochen kaum eine Nacht durchgeschlafen; das unvollendete Bild – nach wie vor unberührt.

Das Elend anderer Menschen – die Menschheit überhaupt – all das ekelte Hobrecht mittlerweile so sehr, dass er persönliche Gespräche vollkommen ablehnte. Das erbärmliche Leben dieser gewöhnlichen Leute überhaupt wahrnehmen zu müssen, der bloße Gedanke daran stieß ihn ab – widerlich! Schon seine eigenen Mägde mochte Hobrecht nur noch ungern um sich haben.

Ferdinand selbst war für den Pfarrer der Inbegriff der Ablehnung. Mittlerweile genügte ein Blick auf ihn, um Hobrechts eigene Hirngespinste ins Unermessliche anwachsen zu lassen – bis sie sich zu einem furchtbaren Verdacht verdichteten: Ferdinand würde Hobrecht ins Unglück stürzen.

Nach all dem, was er für die Menschen und vor allem für Ferdinand getan hatte!

Dieses Unglück manifestierte sich für Hobrecht in dem entsetzlichen Verdacht, seine bisher geleistete Hilfsbereitschaft könnte völlig umsonst gewesen sein. Die Menschen, sie lebten durch seine Unterstützung nicht besser, sie waren auch nicht zu besseren Menschen geworden; ja, es lag die Vermutung nahe, dass niemand Hobrecht seine Taten wirklich dankte: nicht die Hilfesuchenden, nicht die anderen Menschen, nicht einmal Gott.

Plötzlich sah Hobrecht klar: Er fürchtete sich.

Vor der schwindenden Wertschätzung seines Handelns und Mitfühlens.

Vor seiner unverkennbaren Bedeutungslosigkeit.

Vor seinem eigenen Tod.

All diese unangenehmen Gedanken bündelten sich in Ferdinands bloßer Anwesenheit.

Der Junge musste fort, so ging es Hobrecht durch den Kopf. Weg damit, zum Bros, am besten noch heute!

Allerdings hegte Hobrecht gegen sämtliche Mitglieder der Malereizunft eine tiefe Verachtung. Ein Kunsthändler aus der Nachbarstadt hatte nämlich einst einen frühen Entwurf seines Marienbildes als kläglichen Schund bezeichnet, nachdem der Pfarrer vor einigen Jahren diesen Kenner um seine geschulte Meinung gebeten hatte.

Diesem Bros solch ein Geschenk zu machen, davon hielt Hobrecht überhaupt nichts.

Die bloße Anwesenheit des Jungen hatte ihm selbst natürlich weder zusätzliche Zeit noch ausreichend Muße beschieden, um sich an jenes unvollendete Werk heranzuwagen – ganz im Gegenteil: Durch Ferdinand und seine Bilder wurden ja manche Mitglieder der Gemeinde nur noch stärker verunsichert, baten den Pfarrer noch häufiger um Rat – den Hobrecht nun grundsätzlich verweigerte – und belasteten dabei das früher so gerühmte Kunsthandwerk mit zahlreichen kritischen Äußerungen.

Kurzum: Die Aussicht, sich Ferdinands Talent zu bemächtigen, ohne seine Pflichten als Pfarrer, Lehrer und Mensch zu vernachlässigen – und natürlich seinen eigenen Ruf zu gefährden –, diese Aussicht erschien Hobrecht unerfüllbar.

Er überlegte; seine frühere Hilfsbereitschaft rebellierte gegen den gefassten Entschluss. Kurzerhand entschied er, vom Meister für den Jungen eine großzügige Gegenleistung zu erbitten – gewissermaßen als Ausgleich für das nach wie vor unvollendete Marienbild.

 

Der Pfarrer schüttelte sich.

Nicht auszudenken, wenn andere Leute diese Arbeit zu Gesicht bekämen! Was würde man von ihm denken? Man würde über ihn reden, ihn auslachen, ihn zum Gespött der Straße machen. Man würde diese Arbeit mit seinen beruflichen Tätigkeiten vergleichen, man würde ihn genau unter die Lupe nehmen, ihn vielleicht sogar vorübergehend von seinen Ämtern entheben – im Interesse der öffentlichen Ordnung!

Schon spürte Hobrecht die Blicke der Nachbarn auf sich, wandte sich ängstlich um und brauchte einen Moment, um die unsichtbaren Schatten aus seinem Geist zu verscheuchen. Hastig ergriff er das Tuch, um das Bild zu verhüllen und es in die dunkle Ecke zurückzuschieben, in der Absicht, es möglichst bald endgültig zu vernichten.

Weiter kam er nicht.

Sein Blick fiel auf die Innenseite jenes Tuches, das sein Bild jahrelang schützend bedeckt hatte. Von außen hafteten Staub und Spinnweben daran, die Umrisse von Staffelei und Leinwand hatten sichtbare Linien im Gewebe zurückgelassen. Die Innenseite jedoch war nicht mehr – wie sie es eigentlich sein sollte – einfach nur weiß. Deutliche Linien hoben sich vom Grund des Stoffes ab, sichtbare Formen traten hervor.

Der Pfarrer erbleichte nicht nur – er versteinerte, während er den bemalten Stoff mit beiden Händen vor sich hielt.

Trotz seiner Überraschung erkannte er natürlich sofort, was diese versteckte Zeichnung darstellte: seine Maria, als Spiegelbild. Anders als sein eigenes Bild war diese Heilige zwar nur mit Kohle gezeichnet worden, trotzdem drang aus diesem Werk ein Leuchten hervor, wie es der Pfarrer noch nicht gesehen hatte. Ihre anmutige Gestalt, ihre gütigen Augen, ihr sanftes Lächeln – diese versteckte Maria stand in völligem Kontrast zu dem, was er selbst erschaffen hatte.

Hobrecht wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte; seine Mundwinkel zitterten, sein Herz raste.

Die Freude darüber, sein eigenes Werk auf wundersame Weise endlich vollendet zu sehen, mochte sich allerdings nicht so recht einstellen. Der Anblick dieser himmlischen Maria, ihrem göttlichen Antlitz, ihrer barmherzigen Aura – dies alles leitete im Pfarrer stattdessen eine verhängnisvolle Verwandlung ein.

Innerhalb weniger Momente verschwanden durch den Blick der wahrhaftigen Heiligen Maria aus Hobrechts Gedanken sämtliche Sorgen und Probleme, die er über die Jahre angesammelt hatte. Mehr noch: Die verspannten Schultern lockerten sich, die ewige Müdigkeit fiel von ihm ab, selbst Gallensteine und Magenkrämpfe lösten sich in Luft auf.

Der Nachteil dieser Reinigung war jedoch, das Hobrecht nun sorgenfrei und somit leer war.

Wo zuvor quälende Erinnerungen und leidvolle Ahnungen ihren angestammten Platz gehabt und den Pfarrer so zusammengehalten hatten, war nun nichts mehr. Auch keine persönlichen Erinnerungen, kein noch so unbedeutendes freudiges Ereignis, kein liebes Wort, schon gar keine aufmunternde Geste war im Gedächtnis des Pfarrers übrig geblieben. Im Laufe der Zeit hatte Hobrecht sorgsam jede Lebenslage mit einem unlösbaren Problem in Verbindung gebracht, so dass er nun – befreit von all diesen Phantomen und Dämonen – vollständig ausgehöhlt war. Selbst das bloße Luftholen war bei Hobrecht zu einem erbärmlichen Seufzen verkommen.

Ein letzter Schwall Atem rann nun aus den Lungen des Pfarrers – dann fiel er lautlos in sich zusammen.

* * *

Unglücklicherweise hatten die Mägde den Pfarrer mit Ferdinand nur weggehen gesehen, von seiner Rückkehr aber nichts mitbekommen. Aus diesem Grund fand man den Leichnam Hobrechts erst Tage später, als die Mägde aufgrund seiner langen Abwesenheit unruhig wurden. Sein plötzlicher Tod sorgte allerdings kaum für Aufsehen; die gesamte Situation deutete auf natürliches Herzversagen hin – tragisch, aber nur allzu verständlich.

In seinem Inneren, so hieß es, sei der Herr Pfarrer schon immer viel zu nachgiebig gewesen.