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––ä–üDie 1968er-Jahre in der Schweiz  Aufbruch in Politik und Kultur  Damir Skenderovic Christina Spti  2012 hier + jetzt, Verlag fr Kultur und Geschichte, Baden

Inhaltsverzeichnis

«1968» – global und lokal

I. Ruhe und Unruhe vor dem Sturm

Erfindung der Jugend

Vorgeschichte(n)

Beatniks und Provos

Hochkonjunktur in der Schweiz

Babyboom und Massenkonsum

Soziale Stabilität und politischer Konsens

Jugend- und Popkultur

Nonkonformisten

Avantgarde in Kunst und Kultur

Opposition von links

Erste Aktionen von Studierenden

II. Ein transnationales Ereignis

Anhaltende Proteste in den USA

Ausweitung und Radikalisierung in Westeuropa

«1968» als globale Bewegung

Bewegung an Westschweizer Universitäten

Deutschschweizer Universitäten: ein Blick über die Grenzen

Mehr Reform als Revolte

Proteste auf den Strassen von Zürich und Genf

Ausweitung auf andere Städte

Popkultur, Flower Power und Psychedelika

Wandel und Wirkung der Westschweizer Theaterszene

Untergrundpresse: lokal produziert, global vernetzt

Subkultur und Neue Linke: ein gespanntes Verhältnis

Filmszene – zwischen Politik und Experiment

Politik und Avantgarde in Kunst und Literatur

III. Deutungsmuster, Forderungen, Strategien

Antiimperialismus und Antimilitarismus

Antikapitalismus und Antifaschismus

Demokratisierung und Selbstbestimmung

Vielfalt der Aktionsformen

Sit-ins, Go-ins und Teach-ins

Gegeninformation und Provokation

Versuche zur translokalen Vernetzung

Neue Lebensstile und Lebensformen

IV. Zersplitterung, Rückzug, Fortsetzung

Die Jahre nach 1968

Konflikte und Zersplitterung in der Schweiz

Parteipolitische Aufbauarbeit

Die Spontaneisten

Militanz und Gewalt

Kulturelle Nachbeben

Verhärtung des Klimas an Schulen und Universitäten

Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen

V. Wirkungen und Interpretationen

Was war «1968»?

Helvetische Schwierigkeiten und Besonderheiten

Frage nach Folgen und Wirkungen

Kampf um Erinnerungen und Deutungen

Auswahlbibliografie

«1968» – global und lokal

Im Herbst 1969 verteilen fünf Schüler des Lehrerseminars Hitzkirch im Kanton Luzern anlässlich einer Veranstaltung der Sanitätsrekrutenschule Flugblätter mit kritischen Fragen über Inhalt und Sinn des Armeebetriebs. In der Folge werden sie in der lokalen Presse als «Charakterlumpen» bezeichnet. Der Erziehungsrat des Kantons Luzern beschliesst, dass die Schüler von der Schule zu verweisen seien und zwei Jahre lang nicht als Lehrperson wählbar sein sollen. Vertreter der Jungen Linken Luzern und des Autonomen Forums Beromünster solidarisieren sich in einem weiteren Flugblatt mit den fünf Schülern, woraufhin einige von ihnen ebenfalls auf die Rektorate ihrer Schulen zitiert werden.

Diese kleine Episode gehört nicht zu den einschneidenden Ereignissen, die mit «1968» in der Schweiz in Verbindung gebracht werden. Es sind andere Ereignisse, Momentaufnahmen und Akteure, die sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Für die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer ist es der sogenannte Globuskrawall im Juni 1968 in Zürich, der paradigmatisch für die 68er-Bewegung steht. In der französischen Schweiz erinnert man sich im Zusammenhang mit dem Jahr 1968 vor allem an die Aktivitäten und Demonstrationen gegen die Journées genevoises de la Défense nationale im Mai 1968. Und im Kanton Tessin gilt die Besetzung im März 1968 der Aula des Lehrerseminars Locarno durch 200 Schülerinnen und Schüler als Schlüsselereignis von «1968».

Wenn die Episode von Hitzkirch dennoch am Anfang des vorliegenden Buchs steht, dann deshalb, weil sich daran aufzeigen lässt, dass sich «1968» in der Schweiz nicht allein auf einige zwar spektakuläre und weitum bekannte, doch insgesamt wenige Ereignisse beschränkt. «1968» war ein viel breiter gefächertes Phänomen, das oftmals durch kleine, örtlich begrenzte Ereignisse von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, sich aber noch viel mehr in alltagskulturellen Erscheinungen, sozialen Umgangsformen oder gar einzig und allein in neuen Klängen aus dem Transistorradio oder der bunteren Mode manifestierte. Um auch methodisch diesen multiperspektivischen Blick zu ermöglichen, verbinden sich in diesem Buch politik- und sozialgeschichtliche Zugangsweisen mit kultur- und alltagsgeschichtlichen Annäherungen.

Bislang ist die Geschichte von «1968» in der Schweiz vor allem als Lokalgeschichte geschrieben worden. Es liegen Studien zur 68er-Bewegung und ihren Mobilisierungen in Zürich, Bern, Basel, Lausanne und Genf vor. Bisweilen werden auch die französische Schweiz, die Deutschschweiz oder das Tessin als Ganzes erfasst, doch gibt es bis heute keine Darstellung zu «1968» aus gesamtschweizerischer Perspektive. Diese Lücke will das vorliegende Buch schliessen. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Erfassung sämtlicher Ereignisse und Akteure zu erheben, ermöglicht es der hier angewandte translokale und transregionale Blick, trotz Unterschieden und phasenverschobenen Entwicklungen Parallelitäten und Synchronitäten wie auch gegenseitige Beeinflussungen und Kooperationen darzustellen.

Doch «1968» war auch ein transnationales, ja ein globales Ereignis. Von den USA ausgehend breitet sich in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre weltweit eine Proteststimmung aus, die die Leute auf die Strassen treibt, um gegen die herrschenden Verhältnisse, gegen die Obrigkeiten oder den US-amerikanischen Vietnamkrieg zu demonstrieren. Nicht nur in Mexiko City, Berlin, Tokio, Buenos Aires, Berkeley und Belgrad, auch in Genf, Lausanne und Neuenburg demonstrieren Menschen für Solidarität mit der französischen 68er-Bewegung. Die Bewegungen inspirieren und beeinflussen sich gegenseitig, wobei die Medien, insbesondere das Fernsehen, eine wichtige Rolle spielen. Neue Protestformen wie Sit-ins, Go-ins oder Teach-ins werden weltweit erprobt, und die Protestierenden sind überall zum Teil massiven Repressionen von Seiten staatlicher Behörden ausgesetzt. Wie dieses Buch zeigt, lässt sich «1968» demnach auch für die Schweiz nicht allein aus dem lokalen, regionalen oder nationalen Kontext erklären, sondern muss in den grösseren Zusammenhang eines globalen «1968» eingebettet werden. Diese Sichtweise erlaubt es, «1968» in der Schweiz als Teil transnational vermittelter Prozesse zu verstehen und hiesige Ereignisse und Handlungen mit globalgeschichtlichen Interpretationen zu deuten.

Schliesslich nimmt das Buch eine zeitliche Perspektive ein, die sich nicht auf das Jahr 1968 beschränkt, sondern in der Tradition der angelsächsischen «sixties» und der frankofonen «années 68» steht. Aus diesem Blickwinkel stellen das Jahr 1968 und die folgenden zwei, drei Jahre zwar einen Höhepunkt an Mobilisierungen und Aktivitäten dar, allerdings ist diese eruptive Phase im Sinn der «longue durée» Teil von langfristigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der Nachkriegsschweiz wie auch der westlichen Industriegesellschaften insgesamt zu sehen. Es geht sozusagen darum, «1968» mit Hilfe des Blicks auf die langen «1968er-Jahre» zu erklären. Denn auch die Akteurinnen und Akteure selber haben eine Vor- und eine Nachgeschichte und machen einen Wandel durch, der sich nicht nur in ihren Einstellungen und Handlungen, sondern auch in ihren Ideen und Referenzsystemen zeigt.

Wenn heute von den «68ern» gesprochen wird, so umfasst dieser Begriff wenn nicht eine ganze Generation, so doch wesentliche Teile davon. Damals jedoch, Ende der 1960er-Jahre, sind es insgesamt gesehen nur wenige, vorwiegend junge Menschen, die zum Kern der 68er-Bewegung gehören und sich für Demonstrationen mobilisieren lassen, bei einer der diversen neu entstehenden Zeitschriften mitmachen oder sich kulturell engagieren. Und diese Akteurinnen und Akteure sind erst noch von ihrem sozialen Hintergrund, aber auch in ihren Zielen und Aktivitäten sehr heterogen. Während die einen aus bildungsbürgerlichem Hause kommen, an Universitäten studieren, stammen die anderen aus einfachen Verhältnissen oder haben einen Migrationshintergrund. Sind einige von marxistischen Schriften inspiriert und suchen ihr Betätigungsfeld vor allem in der Politik, engagieren sich andere in einer der subkulturellen Szenen oder interessieren sich für die sich allmählich entfaltende Gegenkultur, so etwa im Bereich Film, Musik oder Theater. Wichtig für das Verständnis der hier untersuchten Studierenden, Schülerinnen und Schüler, Kunstschaffenden, Intellektuellen, Lehrlingen, Arbeiterinnen und Arbeiter ist, dass sie an die Möglichkeit grundlegender Veränderungen der gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse glauben. Dabei geht es ihnen um eine Veränderung der Strukturen, nicht innerhalb von Strukturen unter Beibehaltung des Bestehenden. Entsprechend haben sie auch den Anspruch, eine «Revolution» oder zumindest eine Revolte durchzuführen.

Um verstehen zu können, warum es in den späten 1960er-Jahren zu einem globalen Ausbruch von Protesten kommen konnte, ist der Blick auf den damaligen sozioökonomischen und soziokulturellen Kontext und die Langzeitenwicklungen in Gesellschaft und Kultur zu werfen. Kapitel I zeigt zum einen, wie der wirtschaftliche Boom der Nachkriegszeit das Entstehen einer Konsumgesellschaft begünstigt, in der Jugendliche als zahlungskräftige Konsumentengruppe entdeckt werden. Die selbstbewusst gewordene Jugend entwickelt sich zur wichtigsten Trägergruppe einer kulturellen Aufbruchsstimmung, die sich zunächst vor allem in den Bereichen Musik, Literatur und Mode ausdrückt. Rock’n’Roll tritt seinen Siegeszug durch die globale Musikwelt an, und mit den Halbstarken, aber auch den Beatniks und Situationisten entstehen subkulturelle Szenen, die ihren Unmut oder ihre Gegnerschaft zum herrschenden Konformismus öffentlich ausdrücken. Zum anderen wird im Kapitel I ein zeitgeschichtliches Panorama der Schweiz der 1950er- und frühen 1960er-Jahren gezeichnet. Auch sie profitiert vom Wirtschaftsboom, der zum Ausbau der Infrastruktur sowie zum Anstieg des Wohlstands und Massenkonsums führt und von sozialer und politischer Stabilität begleitet ist. Antikommunismus und eine Wiederbelebung des Überfremdungsdiskurses bestimmen die politischen Debatten, wobei sich ab Mitte der 1960er-Jahre auch kritische Stimmen zu regen beginnen. Nicht nur an den Universitäten, sondern auch in der Friedensbewegung, den sogenannten Nonkonformisten und den aufkommenden subkulturellen Szenen lassen sich Vorläuferbewegungen von «1968» erkennen.

In den Jahren 1968, 1969 und 1970 kommt es dann wie in vielen Ländern auch in der Schweiz zu einem Anstieg der Protestereignisse, und es findet an zahlreichen Orten eine breite Palette an Aktivitäten und Mobilisierungen statt. Kapitel II vermittelt einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen in diesen Jahren in den USA und in Europa. Daran anschliessend folgt eine Übersicht über die Ereignisse in der Schweiz. Während es im Jahr 1968 selber in der französischen Schweiz und im Tessin an den Universitäten und Mittelschulen brodelt, ist es in der Deutschschweiz vor allem die Strasse, auf die der Protest getragen wird. Die Behörden sind durch die Ereignisse im Ausland, vorab in Frankreich, aufgeschreckt, was sich in ihren Reaktionen auf die 68er-Bewegung niederschlägt. An den Universitäten begegnen die Universitätsleitungen den Forderungen der Studierenden nach mehr Mitspracherecht mit einem gewissen Verständnis und Gesprächsangeboten. Auf der Strasse hingegen wird hart durchgegriffen. Wiederholt kommt es in diesen Monaten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, wobei der in die Annalen eingegangene Globuskrawall nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Auch in den subkulturellen Szenen vermehren sich die Aktivitäten, und die Zahl der Anhänger und Interessierten nimmt zu, sodass zusehends eine breite, facettenreiche Gegenkultur der Musik, Literatur, Kunst und des Theaters entsteht.

Im Kapitel III liegt der Schwerpunkt auf den Forderungen, Aktionsmitteln und Strategien der 68er-Bewegung. Wie in anderen Ländern auch zielt in der Schweiz eine wichtige Forderung der Bewegung auf die Beendigung des Vietnamkriegs ab. Allgemein spielen für grosse Teile der Bewegung internationale Solidarität und eine scharfe Kritik am sogenannten US-amerikanischen Imperialismus eine wichtige Rolle. Ebenso kritisieren viele der Beteiligten den diskriminierenden Umgang mit den Arbeitsmigrantinnen und -migranten und die wiederbelebten Diskussionen um die «Überfremdung». Andere Forderungen zielen, wie etwa an den Universitäten, auf Demokratisierung und Mitspracherechte ab, während sich im Engagement für Jugendzentren der Wille zu mehr Selbstbestimmung und Autonomie ausdrückt. Mit Demonstrationen, Strassentheatern, Sit-ins, Go-ins und Teach-ins, aber auch mit der Gründung von neuen Zeitschriften und übergreifenden Netzwerken versucht die Bewegung, ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Auch in den neuen Lebensformen und Lebensstilen, im Drogenkonsum, in der Befreiung von sexuellen Zwängen, im ekstatischen Tanzen zu psychedelischen Klängen oder im Zusammenleben in Kommunen zeigt sich der Wunsch nach einem Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Konformismus.

Ihren Höhepunkt erreicht die Bewegung in der Schweiz in den Jahren 1968 und 1969, danach beginnt die breite Koalition von unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteuren zu bröckeln, die sich im Zeichen der Hoffnung auf eine wirkliche Veränderung der Gesellschaft zusammengetan haben. Kapitel IV befasst sich mit diesem Zerfallsprozess, sowohl international wie in der Schweiz. Es zeigt die unterschiedlichen Wege auf, die die «68er» zu Beginn der 1970er-Jahre eingeschlagen, und die Strategien, die sie gewählt haben, um ihre Ziele doch noch erreichen zu können. An den Universitäten radikalisiert sich der Protest Anfang der 1970er-Jahre, und die noch kurz zuvor demonstrativ zur Schau gestellte Diskussionsbereitschaft der Behörden weicht einer zunehmenden Repression. In der französischen Schweiz setzen sich die Proteste auf den Strassen fort, wobei nun vor allem die erstarkte Gegenkultur zum Motor der Mobilisierungen wird. Inzwischen beginnen sich die von der 1968er-Bewegung entworfenen alltagskulturellen Praktiken in der ganzen Schweiz auszubreiten, und aus der Gegenkultur heraus entstehen zahlreiche Projekte wie genossenschaftliche Betriebe, Kultureinrichtungen, antiautoritäre Kindergärten, alternative Presseerzeugnisse und so weiter. Mit dem Engagement in den aufkommenden neuen sozialen Bewegungen wie der Umwelt-, Frauen- oder Friedensbewegung zu Beginn der 1970er-Jahre verabschieden sich viele «68er» vom revolutionären Selbstverständnis und mässigen ihre Forderungen. Mit dem Einsetzen der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre schwindet der reformbereite Elan, der die «68er-Jahre» fast ein Jahrzehnt lang geprägt hat.

Was bleibt von der 68er-Bewegung? Was hat sie bewirkt, wie ist sie zu interpretieren, und wer fühlt sich überhaupt dazugehörig? Diesen Fragen der Wirkungs- und Zurechnungsgeschichte, der Suche nach den Gründen für die Mythen zu «1968» geht das Kapitel V nach. Es zeigt auf, wie uneinig sich auch mehr als 40 Jahre danach Historikerinnen und Historiker, aber auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen darüber sind, was «1968» denn wirklich bedeutet habe. Als Chiffre steht «1968» für vieles und kann vor allem nicht auf die Ereignisse um das Jahr 1968 reduziert werden, deshalb auch die Anführungszeichen. Längst ist «1968» mythologisiert worden, ein jeder interpretiert es nach seinem Gutdünken, und oft sind Deutungen mehr von tagespolitischen Interessen geleitet als von historischen Erkenntnissen. Mit der historischen Rekonstruktion der damaligen Ereignisse sowie anhand geschichtswissenschaftlicher Interpretationen soll das vorliegende Buch einen Beitrag zur Historisierung von «1968» leisten, die in der Schweiz über 40 Jahre danach noch in ihren Anfängen steckt.

Kapitel

I

Ruhe und Unruhe vor dem Sturm

Nach 40 Jahren Wirtschaftskrise und Krieg setzt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Zeitalter des Wirtschaftswachstums und Wohlstands in Westeuropa ein. Es ist der Anfang der goldenen dreissig Jahre oder Trente Glorieuses, wie es im Französischen heisst. Vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs beginnt nicht nur der Wettkampf zweier Ideologien und Gesellschaftsformen, sondern auch der zweier Wirtschaftssysteme. Relativ rasch erholen sich die westeuropäischen Länder dank massiver Wiederaufbauhilfe der USA und deren Marshallplan von den verheerenden Folgen des Kriegs. Immense Investitionen im Infrastrukturbereich und in Industrieanlagen bei gleichzeitiger Ankurbelung des Konsums und Steigerung des Handelsvolumens haben einen noch nie da gewesenen Wirtschaftsboom zur Folge.

Mit der Lancierung des westeuropäischen Integrationsprozesses, insbesondere der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957, wird nicht nur die Einbindung Westdeutschlands in die neue Friedensordnung vorangetrieben, sondern auch der Wirtschaftsliberalismus als Credo des Aussenhandels umgesetzt. In den 1950er-Jahren steigen die Wirtschaftswachstumsraten in den europäischen Staaten auf durchschnittlich 3,5 Prozent (Frankreich) bis 6,5 Prozent (BRD), was im Vergleich zu den vorangehenden Jahrzehnten enorm ist. Auch die Arbeitslosigkeit sinkt im Lauf der 1950er-Jahre in fast allen westeuropäischen Staaten und erreicht in den 1960er-Jahren im Durchschnitt den Tiefstand von 1,5 Prozent. Mit dem Ausbau des Sozialstaats, am ausgeprägtesten in Skandinavien, insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnungswesen, strebt Westeuropa seine eigene Version eines New Deal an. Als Ausgleich zur wirtschaftsliberalen Öffnung soll die Gewährleistung sozialer Sicherheit die gesellschaftliche Integration breiter Bevölkerungsschichten ermöglichen.

In den 1950er-Jahren lässt sich in Westeuropa, ähnlich wie in den USA, die Entwicklung zu einer Massenkonsumgesellschaft beobachten. Während mit dem Anstieg der Reallöhne die Menschen mehr Geld zur Verfügung haben, um Konsumgüter zu kaufen, haben sie mit der allmählichen Reduzierung der Arbeitszeit mehr Freizeit und somit auch mehr Zeit, um zu konsumieren. Gleichzeitig sehen Industrie- und Wirtschaftskreise im Massenkonsum eine entscheidende Triebfeder des Wirtschaftswachstums. Wirtschaftszweige wie die Werbe-, Unterhaltungs-, Nahrungsmittel- und Haushaltsgeräteindustrie wachsen enorm und profitieren stark voneinander. Exemplarisch lässt sich dies an der Ausbreitung der Supermärkte aufzeigen: Zwischen 1961 und 1971 steigt deren Anzahl in Frankreich von 49 auf 1833, in den Niederlanden von 7 auf 520. Damit einher geht auch der Siegeszug der Kühlschränke, denn nun können die Menschen ihre Lebensmittel en gros einkaufen und zu Hause dann kühl lagern. Nachdem in der Bundesrepublik 1957 nur gerade mal 12 Prozent aller Haushalte einen Kühlschrank haben, sind es 1974 bereits 93 Prozent. Auch andere Konsumgüter und Statussymbole wie Waschmaschinen, Fernseher und Transistorradios gehören in den 1960er-Jahren zu den Haushalten der immer grösser werdenden Mittelschicht Westeuropas. Gefördert wird diese um sich greifende Einkaufsmentalität durch die rasant wachsende Werbeindustrie, die sich mehr und mehr an den Wunschbildern der amerikanischen Konsumgesellschaft orientiert.

Erfindung der Jugend

Wie Karl Mannheim in seiner Generationssoziologie schreibt, ist für jede Jugend ein bestimmter Generationszusammenhang als biografische Phase prägend. In dieser Phase macht die gesamte Generation eine gemeinsame Erfahrung von gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Auf der Basis dieser Erfahrungen prägen sich jeweils bestimmte Orientierungsmuster aus, in denen sich die politischen und sozialen Veränderungen ihrer Jugendzeit widerspiegeln. So kann die Jugend zum eigentlichen Kristallisationspunkt gesellschaftlichen Wandels werden und als Vermittlerin gewisser geistiger und kultureller Strömungen agieren, die sie über den Kreis einiger weniger Intellektueller, Künstler und Kulturschaffender hinaus in die Gesellschaft trägt. Auf diese Weise wird die junge Generation zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Kraft, zu einer Trägerin von sozialen Bewegungen, die generationsspezifische Themenschwerpunkte und Artikulationsformen entwickelt, um sich von der vorangehenden Generation abzugrenzen und dabei eine von Opposition und Protesthaltung bestimmte Aufbruchsstimmung zu kreieren.

In der Studenten- und Kulturrevolte von «1968» drücken sich Befindlichkeit und Lebensgefühl einer Generation aus, für die der transnationale Strukturwandel der Jugend von entscheidender Bedeutung ist, ein Wandel, der in den 1950er-Jahren einsetzt und sich in den 1960er-Jahren noch verstärkt. Obwohl sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Verständnis von Jugend als eigenständiger Lebensphase und sozialem Subsystem durchgesetzt hat und erste Jugendbewegungen wie Wandervögel und Lebensreformgruppen in Erscheinung getreten sind, kommen bei der jungen Generation der 1950er- und 1960er-Jahre weitere Dimensionen hinzu, die für das Selbstverständnis der Jugend weitreichende Konsequenzen haben. Die in den 1940er-Jahren geborene Generation wurde während der boomenden Nachkriegszeit sozialisiert und hat die Entbehrungserfahrungen des Zweiten Weltkriegs und seiner unmittelbaren Folgen nicht oder kaum miterlebt. Diese gemeinsame Erfahrung hat eine globale Dimension, die wiederum eine entscheidende Voraussetzung für «1968» bildet.

Wie Tony Judt schreibt, beginnen «junge Leute zum erstenmal in der europäischen Geschichte, selbst Geld auszugeben und einzukaufen». Für viele Jugendliche gehören Shopping, Kino- und Konzertbesuche, Schallplatten kaufen und im Freien Transistorradio hören zu den begehrten Freizeitbeschäftigungen, und sie manifestieren damit ihre Unabhängigkeit und Mobilität. Die Unterhaltungs- und Werbeindustrie ihrerseits entdeckt die Jugend als zunehmend zahlungskräftige Konsumentengruppe und sieht in den «Teenagern» ein sozioökonomisches Modell, das zu kommerziellen Zwecken genutzt werden kann. Der Schwindel erregende Aufstieg der Schallplattenindustrie verdeutlicht das Potenzial dieses neuen Marktsegments. Allein im Bereich der Rockmusik steigen in den USA die Gewinne der Branche zwischen 1955 und 1973 von 277 Millionen auf 2 Milliarden Dollar. 1970 geben Jugendliche bis 19 Jahre fünfmal so viel Geld für Schallplatten aus wie 1955. In der BRD besitzen 1960 nur gerade mal 22 Prozent der 20- bis 25-Jährigen einen Plattenspieler, 1967 sind es bereits 65 Prozent der unter 21-Jährigen.

Mit den demografischen Entwicklungen der westlichen Gesellschaften wächst die Alterskohorte der Jugendlichen enorm und führt zu einer Verjüngung der Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt ein Babyboom, ein Anstieg der Geburtenraten, ein. Zwischen 1950 und 1970 nimmt die Bevölkerung in der BRD um 28 Prozent zu, in Schweden um 29, in Frankreich um 30 und in den Niederlanden um 35 Prozent. In Frankreich ist 1967 jeder dritte Einwohner jünger als 20 Jahre. Auch im Bereich der Bildung kommt es zu grundlegenden Veränderungen. In den 1950er-Jahren verlässt ein Grossteil der Kinder die Schule zwischen dem 12. und dem 14. Lebensjahr und kommt so nur in den Genuss einer Volksschulausbildung, während weitere Ausbildungsjahre ein Privileg der Jugendlichen der Mittel- und Oberschicht sind. Die Universitäten sind noch weitgehend einer kleinen Elite vorbehalten. In Ländern wie Grossbritannien und der BRD gibt es in den 1950er-Jahren gerade mal 100 000 Studierende, was etwa 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Allmählich werden die Bildungssysteme reformiert, zunächst mit einer Erhöhung des Schulabschlussalters und dann mit der Öffnung der Gymnasien und Universitäten. 1968 studieren über 400 000 Jugendliche an deutschen Universitäten, in Italien absolviert einer von sieben Jugendlichen ein Studium, 20 Jahre zuvor war es einer von 20.

Mit dem zunehmend individualisierten Konsumverhalten seit den 1950er-Jahren scheinen die Menschen über unbeschränkte Auswahlmöglichkeiten zu verfügen. Doch in anderen Lebensbereichen wie Familie, Schule und Beruf bleibt der kollektive Zwang traditioneller Werte und Verhaltensmuster weitgehend erhalten. Obwohl Massenmedien und Werbeindustrie den Eindruck grenzenloser Möglichkeiten erwecken, sind im gesellschaftlichen Mikrobereich die sozialen Beziehungen, insbesondere im familiären Leben, noch stark durch kleinbürgerliche und konservative Vorstellungen von Moral, Sexualität und Autorität bestimmt. Von dieser Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen ist die damalige Jugend am stärksten betroffen. Mit der Ausweitung der Freizeit haben Jugendliche das Gefühl, sie besässen ausserhalb von Familie, Arbeit und Ausbildung ein Selbstbestimmungsrecht und könnten in diesen Bereichen auch eine Unabhängigkeit einfordern. Stattdessen sind sie tagtäglich mit dem Druck überlieferter Ordnungsmodelle und konformistischer Haltungen der Mehrheit der Gesellschaft konfrontiert.

Mit dem neuen Selbstbewusstsein, das Jugendliche als soziale Kraft an den Tag legen, wollen sie nicht nur die eigenen Geschicke bestimmen, sondern beginnen sich auch bewusst gegen die als dominant empfundene Erwachsenenkultur abzugrenzen und gesellschaftlichen Konventionen zu widersetzen. Sie stellen ihren Generationszusammenhalt selber her, indem sie Moden, Trends und Lebensstile als verbindende kulturelle Codes und soziale Praktiken nutzen. So wird die Jugend zur wichtigsten Trägergruppe einer kulturellen Aufbruchsstimmung, die sich zunächst vor allem in den Bereichen Musik, Literatur und Mode ausdrückt. Ausgangspunkt der aufkommenden Jugendkultur sind die USA, doch rasch breitet sie sich auch in Europa aus und ist daher – wie Eric Hobsbawm bemerkt – durch einen erstaunlichen Internationalismus geprägt. Blue Jeans und Rockmusik werden im wahrsten Sinn des Wortes zu Markenzeichen der modernen Jugend.

Rock’n’Roll, diese von weissen Musikern gespielte und mit Hillbilly verwässerte schwarze Musik, beginnt ab Mitte der 1950er-Jahre seinen Siegeszug durch die globale Musikwelt. Die junge Generation feiert Bill Haleys «Rock around the Clock» (1955) als musikalischen Befreiungsschlag und Elvis Presley als König des Rock’n’Roll, während die Erwachsenen darin eine Unkultur sehen und diesen «Krach» am liebsten verbieten möchten. In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre kommt es im Fahrwasser des kommerziellen Erfolgs der Liverpooler Band The Beatles zum weltweiten Aufstieg der Beatmusik und regelrechten Begeisterungsstürmen unter den «Teenies». Auch Jazz, in Europa seit den 1930er-Jahren vor allem als Musik der Intellektuellen und Künstler in Cafés und Bars verbreitet, erfährt eine beachtliche Verbreitung. Nun sind Jazzbands auch ausserhalb der urbanen Zentren Westeuropas live zu hören und gehören zum Programm zahlreicher Tanzveranstaltungen.

Unter der Oberfläche des aufkommenden popkulturellen Mainstream entstehen aber auch erste jugendliche Subkulturen, die zwar durchaus am Aufstieg der kommerzialisierten Massenkultur teilhaben, doch in ihrem Auftreten eine neue Art von Rebellion und Provokation ausdrücken. Mit den «Teddy-Boys» in Grossbritannien, den «Blousons noirs» in Frankreich, den «Halbstarken» in der BRD und den «Teppisti» in Italien formiert sich in westeuropäischen Städten die erste transnationale Subkultur der Nachkriegszeit. Mit ihren Anleihen an der amerikanischen Populärkultur zählt sie gewissermassen zu den Pionieren der westeuropäischen Wohlstands- und Massenkonsumgesellschaft. In Filmikonen wie Marlon Brando und James Dean, die in «The Wild One» (1953) beziehungsweise «Rebel Without a Cause» (1955) respektlose Rebellen spielen, sieht diese jugendliche Subkultur ihre Vorbilder und drückt ihre aufmüpfige Haltung gegenüber dem Konformismus der Erwachsenenwelt in Kleidung, Haarschnitt und Musik aus. Bluejeans, Entenschwanzfrisur, Cowboystiefel und Rockmusik sind ihre Erkennungszeichen. Von Medien und Polizei in erster Linie mit Gewalt, Krawallmacherei und Kleinkriminalität in Verbindung gebracht, ist der öffentliche Umgang mit den «Halbstarken» Westeuropas bereits früh vom Diskurs um Jugenddelinquenz geprägt.

Vorgeschichte(n)

«1968» als Protest, Rebellion und Bewegung hat eine Reihe von Vorgeschichten. Verschiedene Vorläufer, deren Auftritte bis in die frühen 1950er-Jahre zurückreichen, ebneten den «68ern» den Weg. Sie bedienen sich politischer, künstlerischer und oft symbolträchtiger Ausdrucksformen, die später von den «68ern» aufgegriffen werden. Diese Vorboten bringen bereits Unmut, Unzufriedenheit und Ablehnung zum Ausdruck, die sich gegen das gesellschaftliche und moralische Klima ihrer Zeit richten und später für die «68er» ebenfalls wichtige Motivationen darstellen. Sie sind gewissermassen die Avantgarde zu «1968». Bei diesen Vorläufern handelt es sich meist um kleine Szenen und Gruppen, die sich um Künstler, Aktivisten und Zeitschriften formieren und sich in Cafés, Bars oder Theatern treffen. Im Gegensatz zur späteren 68er-Bewegung geht ihre Ausstrahlungs- und Anziehungskraft selten über den Kreis ihrer Anhängerschaft hinaus. Die breite Öffentlichkeit nimmt nur punktuell aufgrund spektakulärer Auftritte und provokativer Äusserungen von ihnen Notiz. Sie stehen in jener Tradition von subkulturellen Szenen, die Greil Marcus treffend als kulturelle Gruppen und historische Momente beschreibt, die «lipstick traces» hinterlassen, da sie nur kurz, aber oft grell und schrill ihre Stimmen erheben und anschliessend verloren gehen, um dann wieder entdeckt zu werden. Lange Zeit sind solche subkulturellen Ahnen von «1968» unter rein ästhetisch-künstlerischen Aspekten betrachtet und als Fortführungen oder Wiederbelebungen von Strömungen wie dem Dadaismus und dem Surrealismus in kunstgeschichtliche Zusammenhänge gestellt worden. Erst jüngere Darstellungen sehen sie auch als Vorboten kultureller Rebellion, gesellschaftlicher Dissidenz und politischen Protests und in der Kontinuität nonkonformistischer, antiautoritärer und subversiver Haltungen und Praktiken. Dies hat zur Folge, dass «1968» nicht nur als eruptives Ereignis, sondern als Fortführung einer lange vergrabenen Geschichte zu ergründen ist.

In Frankreich ist ein wichtiger Vorläufermoment der 9. April 1950, als vier Personen, eine davon als Dominikanermönch verkleidet, die ostersonntägliche Hochmesse in der Pariser Kathedrale Notre Dame stürmen und proklamieren: «Gott ist tot!». Es kommt zu einem Tumult, und die vier können nur dank der Polizei vor den aufgebrachten Gottesdienstbesuchern gerettet werden. Es handelt sich um das erste öffentliche Auftreten der 1946 ins Leben gerufenen lettristischen Bewegung. Mit Isidore Isou, einem Emigranten aus Rumänien, verfügen die Lettristen über eine schillernde Künstlerfigur, die mit ihren öffentlichkeitswirksamen Auftritten die Bewegung in die Presse bringt. Mit Filmen wie «Traité de bave et d’éternité», dessen Aufführung die Lettristen 1951 mit Störungen am Filmfestival von Cannes erzwingen, sucht Isou die narrativen und formalen Zwänge des damals dominierenden italienischen Neorealismus und französischen und amerikanischen Film noir aufzubrechen. In seinen filmischen Experimenten läutet er die europäische Kinoavantgarde der Nachkriegszeit ein, die in den 1960er-Jahren jenseits des Autorenfilms des britischen Free Cinema und der französischen Nouvelle vague eine Phase radikaler Erneuerung erlebt. Isou ist es auch, der in seinem 1952 veröffentlichten Text «Traité d’économie nucléaire: le soulèvement de la jeunesse» der Jugend eine ausserordentliche Rolle in der Gesellschaft zuspricht und sie dazu aufruft, als das «neue Proletariat» gegen Unterdrückung zu kämpfen. Bereits vier Jahre zuvor, also 20 Jahre vor 1968, haben er und einige Lettristen das Quartier Latin mit Plakaten beklebt, auf denen zu lesen ist: «12 000 000 werden die Strassen erobern, um die lettristische Revolution zu machen.»

Der Lettrismus ist direkter Vorläufer und Vorbild einer weiteren Bewegung, die sich dem damaligen Konformismus in Kultur und Gesellschaft radikal entgegenstellt: den Situationisten. In der Tradition der Surrealisten und Dadaisten stehend, geht es der situationistischen Bewegung um die radikale Umformung von bestimmten, oft alltäglichen «Situationen», um damit Neuinterpretationen von Realitäten anzubieten und herkömmliche Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen. Wie ihr Begründer und wichtigster Vertreter Guy Debord 1958 in der ersten Ausgabe der «Internationale situationniste» schreibt, werden diejenigen siegen, «die es verstanden haben, die Unordnung zu schaffen, ohne sie zu lieben». Unmittelbaren Einfluss auf die 68er-Bewegung hat Debord mit seinem Schlüsselwerk «La société du spectacle» von 1967, in dem er die zunehmende Entfremdung der Menschen voneinander in einer durch Massenmedien und Warenfetischismus bestimmten Konsumgesellschaft beschreibt. In der Gesellschaft des Spektakels sind die Menschen zu blossen Zuschauern degradiert, wodurch eine echte Kommunikation verunmöglicht wird. Wichtig für die späteren «68er» ist aber nicht nur die situationistische Gesellschaftsanalyse, sondern vor allem auch ihr revolutionäres Selbstverständnis. Dieses wird beispielsweise in der situationistischen Broschüre «De la misère en milieu étudiant» ausgedrückt, die im Herbst 1966 an der Universität Strassburg verteilt wird. Darin kritisieren die Situationisten die Entfremdung der Studenten und rufen sie zur Revolution auf. Mit dieser Aktion, die von Störungen des universitären Betriebs begleitet ist, findet die situationistische Bewegung erstmals grössere Beachtung in der Öffentlichkeit. Ihre Broschüre wird in mehrere Sprachen übersetzt, immer wieder neu aufgelegt und erlangt entgegen den Absichten ihrer Verfasser Kultstatus. Dennoch bleiben die Situationisten, wie vor ihnen die Lettristen, eine marginale Gruppe, die sich bewusst dem kulturellen Mainstream entzieht und nur punktuell für öffentliche Aufmerksamkeit sorgt.

Beatniks und Provos

Eine breitere Rezeption erfährt eine andere, in den 1950er-Jahren in den USA ursprünglich als Künstlerboheme entstandene Subkultur: die Beatniks. Desillusioniert vom konsumbesessenen Nachkriegsamerika und begeistert von der afroamerikanischen Musikkultur, insbesondere vom Bebop, dieser von Miles Davis, Charlie Parker und Dizzy Gillespie geprägten neuen Stilrichtung im Jazz, formiert sich um Jack Kerouac, Allen Ginsberg, William Burroughs und Gary Snyder in New York und San Francisco Mitte der 1950er-Jahre eine Szene von Beat-Poeten. Wie Norman Mailer 1957 in «White Negro» schreibt, haben die Beatniks wie auch die sogenannten Hipster eine Vorliebe für Marihuana und Jazz, verfügen über wenig Geld und glauben, die Gesellschaft sei ein Gefängnis des Nervensystems. Während Ginsberg in seiner oftmals live vorgetragenen Gedichtsammlung «Howl» seine tiefe Abscheu vor der bigotten amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt, singt Jack Kerouac in seinem Reiseroman «On the Road» eine Hohelied auf die individuelle Freiheit der Aussteiger. Die Literatur und Performances der Beat-Poeten finden schon bald in europäischen Künstler- und Literatenkreisen Widerhall, insbesondere in Frankreich, wo in den 1950er-Jahren weite Teile der literarischen Bohemeszene zu einer politischen Literaturszene mutiert, vor allem nachdem sich französische Existentialisten um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir den poststalinistischen Kreisen einer sich neu orientierenden Linken angenähert haben. Die Texte von Ginsberg und Kerouac werden zur Schlüssellektüre einer Generation, die ihr neues Lebensgefühl aus Poesie, Jazz und Drogen speisen und damit einen Gegenentwurf zum Konformismus der damaligen Zeit manifestieren. In einem gewissen Sinn werden die Beatniks mit ihrer Absage an Gesellschaft und Politik zu Vorläufern der Hippies, die als Flower-Power-Bewegung ab Mitte der 1960er-Jahre, wiederum von den USA ausgehend, nicht ein Engagement innerhalb, sondern den Ausstieg aus der Gesellschaft suchen.

Anders sieht es bei den sogenannten Provos aus, die vor allem in Amsterdam auftreten und gezielt kulturelle Subversion und politischen Protest miteinander verbinden. Wie Daniel Cohn-Bendit, der Studentenführer im Pariser «mai 68», rückblickend feststellt, haben die niederländischen Provos einen nachhaltigen Einfluss auf ihn und seine Mitstreiter gehabt. In einer ihrer Aktionen stören sie 1966 eine Hochzeitsfeier des niederländischen Königshauses mit Rauchbomben und erregen damit weltweit Aufsehen. Um ihre politischen Forderungen durchzusetzen, arbeiten die Provos auch mit der aufkommenden Neuen Linken zusammen. Dazu gehören verschiedene politische Gruppen und Zeitschriften, die in den späten 1950er- und vor allem in den 1960er-Jahren entstehen und sich von der Alten Linken abgrenzen. Sie berufen sich auf trotzkistische oder anarchistische Vorbilder oder verehren Mao und die chinesische Kulturrevolution. Um Zeitschriften wie «Socialisme ou Barbarie» in Frankreich und «New Left Review» in Grossbritannien sammeln sich Intellektuelle, die eine grundlegende Erneuerung des Marxismus anstreben und jenseits ökonomistischer Reduktion linke gesellschafts- und kulturkritische Entwürfe anbieten.

Von den Theorien der New Left beeinflusst sind auch die sich in den 1960er-Jahren radikalisierenden studentischen Organisationen wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der sich 1961 von der Sozialdemokratischen Partei getrennt hat. Die Students for a Democratic Society, ihr US-amerikanisches Pendant, verabschieden im Sommer 1962 das «Port Huron Statement», in dem sie den Rassismus gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung, die Gefahren der Atombombe, den Überfluss in der Industriegesellschaft und die Unterernährung in den Entwicklungsländern heftig kritisieren und diese Zustände mit der Apathie der amerikanischen Gesellschaft erklären. Rhizomartig überspannen all diese Ideen, Strömungen und Gruppen die Vorgeschichte zu «1968». Sie sind nicht nur Vorboten, sondern sie dienen den Akteuren von «1968» auch als intellektuelle, künstlerische und subkulturelle Referenzsysteme, die sie aufnehmen, neu interpretieren und auf die eruptive Situation im Jahr 1968 anpassen.

Hochkonjunktur in der Schweiz

Auch für die Schweiz beginnen nach dem Zweiten Weltkrieg die «goldenen dreissig Jahre». Es ist eine Phase des Wirtschaftswachstums und Wohlstands, die bis zur Ölkrise und Rezession Mitte der 1970er-Jahre andauert. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern stellt jedoch das Kriegsende für die Schweiz weder in wirtschaftlicher noch in politischer Hinsicht eine Zäsur dar. Das Land verfügt über einen intakten Produktionsapparat und reichlich vorhandene Kapitalreserven. Bereits Ende der 1940er-Jahre sind die meisten Regulierungen des Kriegswirtschaftssystems abgebaut. Mit geringen Steuerbelastungen und minimalen staatlichen Reglementierungen bestehen äusserst liberale Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft. Gegen aussen löst sich die Schweiz rasch aus der anfää«»ü