image
image
image

Inhalt

Ich erhoffe nichts.
Ich fürchte nichts.
Ich bin frei.

NIKOS KAZANTZAKIS

Taksim

Was ist Heimat?

Vielleicht gab es sie damals in Istanbul, wenn die Sonne aufging und die Fensterläden morgens um sieben in unserer kleinen Straße Hürriyet geöffnet wurden, um die frische Brise vom Bosporus hereinzulassen. Wenn die Teekessel sirrten, die Radios angestellt wurden und auch bei uns aus dem »Koffer-Radio«, einem Apparat so groß wie ein Reisekoffer, leise die Istanbuler Lieder von Dede Efendi erklangen, die mit nur einem einzigen langsamen, schluchzenden Ton beginnen, der sich dann aber – kurz bevor Geige und Trommel einsetzen – aufschwingt, als fliege ein Vogel über die Stadt und das Meer. Ich war sieben oder acht Jahre alt und wartete gern im Nachthemd auf den drei Stufen vor unserem Haus auf Ismet Bey, den Kapitän einer Bosporus-Fähre, der jeden Morgen um die gleiche Zeit das Haus verließ, vor mir seine Mütze zog und mich grüßte: »Guten Morgen, meine Schöne!«

Vielleicht ist Heimat mein Onkel Enischte. Er, der fast so alt war wie die Republik und für mich alles verkörperte, was das Land in all seiner Herzlichkeit, seinem Stolz und seiner Unvernunft ausmacht.

Vielleicht ist Heimat die Familie, das Zusammenkommen zu Geburten, Hochzeiten oder Beerdigungen, das Wissen um die Zugehörigkeit, das Gefühl, da ist jemand, der auf dich wartet.

Vielleicht ist Heimat die Vertrautheit, die aus gemeinsam verbrachten Kindheiten entsteht.

Und doch kann keiner aus meiner Familie einen Ort benennen, an dem er bleiben oder wohin er zurückkehren möchte: weder das kleine Haus meiner Eltern in Zentralanatolien noch Istanbul, Ankara oder Bursa, wo meine Verwandten wohnen; weder Ayvalik, wo sie Ferien machen, noch Niedersachsen, wo meine Geschwister und ich später aufgewachsen sind.

Heimat ist kein Ort.

Mein Onkel Enischte war 13 Jahre alt, als er 1943 aus Zentralanatolien nach Istanbul ging, um dort die Schule zu besuchen. Wie er haben auch meine Eltern und nach ihnen fast alle meine Verwandten Uzun Yayla, das »Weite Tal« bei Kayseri, verlassen. Niemandem ist es schwergefallen wegzugehen, niemand hatte wirklich Wurzeln geschlagen, schon die Eltern oder Großeltern nicht, die aus anderen Gegenden des Landes gekommen und dort angesiedelt worden waren. Zuerst wohnten sie in den verlassenen Dörfern der Armenier. Die Häuser, die sie dann selbst bauten, waren aus Lehm und Stroh, einfach und provisorisch, irgendwann würde man ja doch wieder weggehen.

Wegzugehen, weiterzuziehen scheint für meine Familie wie für die meisten Angehörigen des anatolischen Volkes das Selbstverständlichste der Welt zu sein. Immer wieder verließen sie Höfe, Gärten, Flüsse, Berge. Ganze Dorfgemeinschaften zogen in einen Häuserblock der wuchernden Großstädte, nach Izmir, Istanbul oder Ankara – nicht immer freiwillig; oft wurden sie gezwungen, vom Hunger, vom Militär, vom Mangel. Zurück blieben leere Häuser, Dörfer, die verfielen und verwahrlosten, als sei der Krieg dort durchgezogen.

»Der Türke blickt niemals zurück«, sagte mir Ece Temelkuran, eine türkische Journalistin, bei einem Gespräch in Berlin. Ein Zurück gibt es nicht. »Wen interessiert, woher wir kommen, wohin wir gehen«, sagt der Volksmund. »Das Leben währt drei Tage. Alles ist vergänglich, wir sind hier, um zu sterben. Das Leben ist nichts als eine Prüfung, die Allah uns auferlegt hat.«

Vor vierzig Jahren kam ich als Zehnjährige nach Deutschland. Ich ließ keine Heimat zurück, sondern Kocabasch, Großkopf, meinen Kater. Nicht um Istanbul, um ihn weinte ich. Das Gefühl, mehr noch verloren zu haben, kam erst später. Istanbul war nicht wirklich die Heimat meiner Eltern geworden. Nie waren sie in dieser Stadt heimisch geworden, sie lebten dort wie Besucher aus Anatolien, um zwanzig Jahre später wieder fortzugehen. In Anatolien waren wir Tscherkessen, in Istanbul Anatolier, in Deutschland Türken. Zurück in der Türkei Almancis, Deutschländer. Meine Geschwister und ich sind ratlos, wo wir unsere Mutter beerdigen sollen, wenn sie stirbt. Sie wäre mit keinem Ort, weder hier noch dort, einverstanden. Wenn ich ihr erzähle, dass ich in Pinarbashe war, sagte sie: »Was hast du dort verloren?« Auch Deutschland ist nie ihre Heimat geworden, obwohl sie seit Jahrzehnten hier lebt. Auf sie wartete überall nur die Fremde.

Mein Vater ging nach zehn Jahren wieder zurück nach Anatolien, meine Geschwister – wenn auch aus anderen Gründen – folgten ihm später. Sehnsucht nach Heimat, nach einer Stadt oder nach Freunden war es nicht, was sie zurücktrieb. Entweder mussten sie, wie meine Schwester, die nach Anatolien verheiratet wurde, oder sie wollten es, wie meine Brüder, die sich bessere berufliche Chancen erhofften.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Die ersten Jahre in Deutschland waren viel zu aufregend, boten zu viel Neues, als dass wir Kinder die Türkei oder die »Heimat« vermisst hätten. Wir waren Teil dieser Gesellschaft und nahmen an allem teil, was sie uns bot. Wir gingen ins Kino, ich spielte im Weihnachtsmärchen des Stadttheaters mit, bis meinem Vater diese Freiheit zu weit ging und er seinen drei Frauen verbot, weiter Kontakt mit den Deutschen zu haben. Ich durfte mit den Klassenkameradinnen nicht mehr gemeinsam Schularbeiten machen, ich durfte nicht mehr schwimmen, ich durfte nur noch an dem teilnehmen, was im Familienkreis stattfand. Meine Mutter traf Verwandte, Vater spielte mit seinen türkischen Bekannten Karten, und aus Weihnachten wurde wieder Ramadan. Von diesem Zeitpunkt an lebten wir getrennt von den deutschen Nachbarn. Nur zu Frau Zizske von nebenan ging ich manchmal. Sie brachte mir bei, gedeckten Apfelkuchen zu backen. »Unsere Eltern auf der einen und die meisten Deutschen auf der anderen Seite haben es uns nicht leicht gemacht, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Wir mussten und müssen uns aber unbedingt von beiden Seiten emanzipieren«, beschreibt Seyran Ates treffend die Situation.1› Hinweis

Unsere kleine Welt wurde eine kleine Türkei. Uns türkische Mädchen überwachte »Big Brother«, die Volkspolizei aus Brüdern, Cousins, Onkeln und Vätern. Wie und wo wir uns bewegten, was wir taten – jede noch so kleine Abweichung vom Vorgeschriebenen wurde flugs in der Gerüchteküche registriert und dem »Volksgericht« der türkischen Verwandten und Bekannten signalisiert. Meine Cousine traf die Höchststrafe für unsittliches Verhalten: Nach einem heimlichen Besuch in einer Discothek, bei dem sie von einem Bekannten ihres Vaters beobachtet wurde, schaffte man sie in die Türkei und verheiratete sie dort.

Uns anderen Mädchen blieb das Leben in der Kälte des Nordens, der uns fortan wie der ewige Winter und die endlose Dunkelheit vorkam. Der einzige Lichtblick waren vier Wochen Ferien im Sommer bei den Verwandten. Ich flüchtete mich in meine Fantasiewelt, ins Bett, zu meinen Büchern und zu meinen Erinnerungen an Istanbul, wo mir die Sonne den Rücken gewärmt, wo immer etwas Schönes auf mich gewartet hatte – ein Eis an der Fähre über den Bosporus, eine kalte Limonade in den Pinienwäldern von Camlica. Oder eben Ismet Bey, der freundliche Kapitän.

Vielleicht ist Heimat sila, die Sehnsucht nach dem Verlorenen, wenn man in der Fremde ist.

Bei meinen Besuchen in der Türkei habe ich nach dieser Nähe, nach Vertrautem gesucht. Es waren »sentimentale Reisen«, die auf das hofften, was es nicht mehr gab. Gleich der erste Versuch schlug fehl. Vor zehn Jahren bin ich mit meinen beiden Brüdern und meiner Schwester nach Kadiköy in Istanbul gefahren, in die kleine Hürriyet Caddesi, die Straße der Freiheit. Wir wollten das Haus unserer Kindheit suchen, ein altes Holzhaus im osmanischen Stil, das am Anfang einer Straße lag, die sanft einen Hügel hinaufführte. Das Haus war abgerissen worden, das Grundstück diente als Parkplatz. Nur ein Rest himmelblauer Farbe an der Brandmauer zum Nachbarhaus erinnerte noch an unser Kinderzimmer. Wer geht, hat den Ort, der einmal Heimat war, für immer verloren.

Bevor ich mich wirklich mit dem Land meiner Herkunft auseinandersetzen konnte, musste ich klären, wohin ich gehöre. Bin ich nun Türkin mit einem deutschen Pass oder eine »türkischstämmige« Deutsche? Schreibe ich in diesem Buch als Türkin über die eigenen Landsleute? Oder als Deutsche? Und woher nehme ich das Recht, als eine, die gegangen ist, über die Türkei zu sprechen?

Aus dem Verlust von dem, was einst Heimat war, kann auch Gewinn werden. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich das erkannte. Denn dafür musste ich eine Menge lernen. Ich habe, als ich hierher kam, Menschen angetroffen, die eine andere Vorstellung vom Leben, von Beziehungen, Politik und Freiheit hatten als meine türkischen Eltern und Verwandten. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, was Distanz oder Zurückhaltung meinen deutschen Freunden bedeutete: dass Respekt kein Gehorsam, sondern Achtung vor dem anderen ist, dass Zurückhaltung keine Kälte, sondern Höflichkeit ist. Ich musste mich damit auseinandersetzen, wenn ich nicht »fremd« bleiben wollte. Dadurch lernte ich mich selbst besser kennen und überwand allmählich die Angst vor dem Alleinsein.

»Wie kann ich ein ›Ich‹ sein, ohne meine Eltern, mein Land zu verraten?«, fragte mich ein türkischer Jugendlicher bei einem Interview. Muslimische Gesellschaften begreifen sich als unauflösliche Gemeinschaften – jede und jeder ist Teil dieser Schicksalsgemeinschaft. Die entscheidende Frage, nicht nur für die Integration, sondern auch für die eigene Identität, lautet deshalb, ob der Einzelne es schafft, sich von dem verordneten »Wir« zu befreien, ein »Ich« mit einer eigenen Stimme zu werden und sich selbst zu entscheiden, für die Gemeinschaft, in der er lebt, Verantwortung zu übernehmen.

Der Weg zu einem Platz in dieser Gesellschaft führt nur über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Wer darauf wartet, dass die hiesige Gesellschaft für ihn ein neues Kleid bereithält, in das er nur hineinzuschlüpfen braucht, um zu einer anderen Identität zu kommen, der wird bitter enttäuscht werden. Man muss Distanz entwickeln, zu sich selbst, zu seinem Herkunftsland und zu seiner neuen Heimat. Nur dann wird man ein selbstbestimmtes Leben führen und neue Wurzeln schlagen können. Wer sich hingegen dem Fremden verschließt, vergibt eine große Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln – das gilt für beide Seiten, für die, die kommen, wie auch für die, die hier sind. Auch die aufnehmende Gesellschaft muss für Veränderungen offen sein.

Migranten, die bereit sind, sich auf eine solche Auseinandersetzung einzulassen, verfügen über ein doppeltes Kapital: Wir kennen die Kultur, aus der wir kommen, und lernen eine neue kennen. Aus der Differenz zwischen beiden kann Neues entstehen. Der Blick wird geschärft, man schaut kritischer auf manche gesellschaftlichen Vorkommnisse als diejenigen, die damit wie selbstverständlich aufgewachsen sind. Mir hat das ermöglicht, etwas zu sehen, was die hiesige Gesellschaft nicht sah oder nicht sehen wollte: die elende Situation der »Importbräute«, die ich in meinem Buch »Die fremde Braut« beschrieben habe; oder »Die verlorenen Söhne«, die gewalttätigen muslimischen jungen Männer, die sich – zerrissen zwischen den Imperativen ihrer Herkunftskultur und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft – so schwertun, hier zurechtzukommen.

Mit diesem durch Fremdheit geschärften Blick wende ich mich in diesem Buch meiner »bittersüßen Heimat« zu, aus der die fremden Bräute, die verlorenen Söhne kommen – und auch ich selbst. Das widersprüchliche Attribut »bittersüß« scheint mir passend für die Beschreibung meines Verhältnisses zu dem Land meiner Herkunft: Es gibt so vieles in der Türkei, das mir nach wie vor so unendlich vertraut ist – die Gedichte von Orhan Veli, die Romane von Halide Edit und Orhan Pamuk, die Geselligkeit, die süße Verlockung der Speisen, die sehnsuchtsvollen Lieder Istanbuls, das Glitzern des Bosporus. Und daneben gibt es so vieles, das mich erbittert und zornig macht – dass Mädchen und Frauen in Diyarbakir, Malatya oder Gaziantep, die ihre Rechte nicht kennen und von der Politik alleingelassen werden; dass kleine christliche Gemeinden sich vor der Feindseligkeit ihrer muslimischen Umwelt hinter hohe Mauern zurückziehen müssen; die Bereitschaft, Verbrechen »im Namen der Ehre« zu begehen, gegen die die Frauenorganisation Ka-mer kämpft; die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber allem, was von einer Vergangenheit zeugt, die älter ist als die Herrschaft der Osmanen; die Tabuisierung der Vergangenheit, in der die Türken Armenier und Griechen verfolgt, vertrieben und ermordet haben.

Die türkische Industrie- und Handelskammer warb jüngst in deutschen Zeitungen mit dem Slogan »Es ist Zeit, die Klischees über die Türkei zu überdenken und sich ein realistisches Bild des Landes zu machen«. Ich bin dem gefolgt und habe mich aufgemacht nach Anatolien. Ich habe diese Reisen allein, aber auch zusammen mit meinem Lebenspartner Peter Mathews gemacht, weil es in bestimmten Gebieten der Türkei unmöglich ist, als Frau allein zu reisen.

Die Türkei, das sind nicht die geografischen und intellektuellen drei Prozent Europa des Landes, die sich in Istanbuls Szenen, in den Cafés von Cihangir oder Nisantasi als modern und weltoffen feiern und nicht wahrhaben wollen, dass auch die Stadt am Bosporus mehrheitlich längst von jenen »Leuten vom Dorf« bevölkert wird, die sie als Hirten und Bauern verspotten. Diese Ignoranz kommt teuer zu stehen: »Jetzt sind wir dran«, sagte mir der Bruder einer Abgeordneten, die der Partei Tayyip Erdogans angehört. »Wir«, das sind im Wesentlichen die Millionen Menschen aus Anatolien, die sich an ihre Traditionen klammern und immer schon von den herrschenden Eliten der Osmanen wie der Kemalisten als rückständig verachtet und den archaischen Clans überlassen wurden. Für die kriegerischen Osmanen war Anatolien, das 97 Prozent des Landes ausmacht, nur Durchgangsstation, sie wollten weiter nach Westen, wo es reichere Beute zu holen gab. Für Atatürk und die Republikgründer war es das Rekrutierungsbecken zur Durchsetzung des »Türkentums«, ein Land, aus dem nahezu alle vertrieben wurden, die nichtmuslimisch waren, um das, was den Christen gehört hatte, den »zuverlässigeren« Muslimen zu überlassen und sie so an die Fahne binden zu können.

Die Türkei hat ein Bild von sich, das auf einem Trugschluss basiert. Es heißt »Türkentum« – eine Drohvokabel, die dazu gedienten hat, schon manchen Kritiker, manche Kritikerin wegen angeblicher »Verunglimpfung« hinter Gitter zu bringen. Wer die Geschichte des Osmanischen Reiches studiert, eines Vielvölkerstaats mit vielen verschiedenen Religionsgemeinschaften, wird erkennen, dass das »Türkentum« eine »Erfindung« der Väter der Republik ist, um ihren Herrschaftsanspruch gegen alle »Nichttürken«, die in Anatolien lebten, durchzusetzen. Erklärt uns das, warum die Türken das Türkentum wie einen heiligen Gral verteidigen? Worauf gründet es, woraus besteht es? Wie wurde Anatolien türkisch und wo blieben die anderen Volksgruppen, die das Vielvölkerreich ausmachten? Welche Kultur, welche gesellschaftlichen Strukturen und welche Werte haben die Osmanen nach jahrhundertelanger Herrschaft den »Türken« hinterlassen? Was haben sie ihren muslimischen Untertanen an Bildung, Gemeinwesen, Städtebau gegeben?

Die Geschichte der Republik hat einen Namen, der wie ein überlebensgroßer Schatten auf allem liegt: Atatürk. Wie geht die türkische Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit um?

Wie sieht das Leben der Frauen in Istanbul, Ankara und im Osten Anatoliens aus? Worauf gründen die grausamen Morde im Namen der Ehre, denen sie dort ausgeliefert sind, wo die archaischen Stammesriten herrschen? Hat sich daran seit der Verschärfung der Gesetze etwas geändert?

Welche Bedeutung haben die heftigen Auseinandersetzungen um das Kopftuch, das in den Augen anderer Europäer doch eigentlich nichts anderes als ein Stück Stoff ist? Sind das nicht die Fragen, die wir prüfen müssen, wenn wir über einen EU-Beitritt der Türkei diskutieren?

Bei meinen Reisen in den letzten zwei Jahren habe ich zahlreiche Orte in Anatolien besucht, mit den Menschen dort gesprochen und dabei eine Wirklichkeit kennengelernt, die mit dem von der türkischen Regierung folkloristisch angepriesenen »bunten Vielfalt« nichts gemein hat. Eher ist sie weit von den Standards entfernt, die wir den zivilen Demokratien Europas abverlangen.

Auch meine deutschen Landsleute wissen wenig über die Wirklichkeit Anatoliens, an dessen Geschichte der letzten 150 Jahre immer auch Deutsche beteiligt waren. Wo findet in der breiteren Öffentlichkeit eine historische Aufarbeitung der Beteiligung deutscher Offiziere an dem Völkermord im Ersten Weltkrieg statt, der Kumpanei der Deutschen mit der türkischen Regierung in den Jahren des »Dritten Reichs«? Auch hierzulande setzt man gern die Multikulti-Brille auf, schwärmt von dem »pulsierenden« Istanbul und glaubt immer noch, der EU-Beitritt werde schon richten, was uns zuweilen an Nachrichten über mangelnde Rechtsstaatlichkeit der Türkei erreicht. Im Dienste dieses höheren politischen »Geschäftsinteresses« sind offensichtlich auch hiesige Institutionen zu Konzessionen bereit. Der türkische Staat ist nicht zimperlich bei seinen wiederholten Vorstößen, Informationen über ihm missliebige historisch-politische Geschehnisse auch außerhalb der Türkei zu unterdrücken. Das Kapitel »Haymatloz« in diesem Buch erzählt davon, wies er Zensur übte und damit beim Goethe-Institut, immerhin eine offizielle kulturpolitische Institution des Auswärtigen Amtes, offensichtlich auf Kooperationsbereitschaft stieß.

Vielleicht musste ich erst vierzig Jahre fort sein aus der Türkei, um Kraft aus dem Verlorenen zu schöpfen. Vielleicht musste ich, wie die Schriftstellerin Monika Maron in »Pawels Briefe« schreibt, aufgehört haben, mich von meinen Eltern und allem, was sie verkörperten, zu distanzieren, und bereit sein, das Leben meiner Mutter und meines Vaters einfach nur verstehen zu wollen. Vielleicht musste ich mich lange fernhalten von dem Land, aus dem ich gekommen bin, um auch für diesen Teil meines Lebens und meiner Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen. Jetzt bin ich so weit. Und ich versuche, beide Welten miteinander zu verbinden, die Vergangenheit in die Zukunft hinüberzuretten.

So fuhr ich Anfang 2008 schweren Herzens nach Kilicmehmet, in das Geburtsdorf meiner Mutter. Es liegt auf einem Hügel in der Nähe von Pinarbashe und ist wie viele der Dörfer Anatoliens von seinen Bewohnern verlassen. Nur ein paar alte Menschen und einige Ferien-Heimkehrer kümmern sich um die bescheidenen Häuser. Das Haus der Familie, in dem meine Mutter, ihre Schwestern und Brüder aufgewachsen sind, das sie selbst aufgebaut haben, steht dort, klein und verwahrlost, die Pflanzen des Gartens sind verdorrt, der Brunnen ist ausgetrocknet. Als ich im Winter vor dem Häuschen stand, schien es mir sagen zu wollen, schau mich an, ich bin nicht weggegangen wie ihr alle, ich bin geblieben, ich habe auf euch gewartet.

Es war ein trotziger Entschluss, den ich damals fasste: Ich werde dieses Haus wieder bewohnbar machen. Ich fühle mich verantwortlich für dieses Stück Erde. Und obwohl meine Verwandten mich für diesen Plan, an einem von allen verlassenen Ort ein Stück »Heimat« schaffen zu wollen, für verrückt erklärten, kamen doch auch bei ihnen gleich wieder die Erinnerungen. Die Schwestern erinnerten sich, wie sie auf der Bank gesessen, den spielenden Hunden zugeschaut und gemeinsam genäht hatten. Und mit den Erinnerungen kam der Wunsch, noch einmal dort zu sitzen. Ich werde sie dorthin bringen. Die jungen Frauen der Familie sind dabei. Wir werden meiner Familie ein Stück ihrer Geschichte zurückgeben und uns einen Ort. Oft gewinnen die Dinge erst als vergangene ihre Bedeutung für uns: Heimat ist auch dort, wo die Erinnerung ihren Platz hat. Und der ist fast überall, auch in Kilicmehmet, in Zentralanatolien.

Ich bin inzwischen Deutsche – nicht nur dem Pass nach. Ich identifiziere mich mit der demokratischen Verfassung dieser Gesellschaft, mit den Freiheiten, die sie mir und anderen ermöglicht. Aber ich habe nicht vergessen, woher ich komme. Viele Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten, Künstler und andere, die sich in den letzten Jahren für mehr Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, für die Freiheit des Wortes und für die Gleichberechtigung von Frauen eingesetzt haben, wurden diskreditiert, verfolgt, bekämpft und angeklagt und manchmal auch ermordet. Umso mehr bewundere ich diese Menschen, denn ich habe es leicht: Wenn ich das Land meiner Herkunft oder Deutschland kritisiere, schützt mich der Staat, in dem ich heute lebe; sie aber gehen ein hohes Risiko ein, wenn sie Verantwortung für ihr Land, für ihre Heimat übernehmen. Ihnen und allen, die mit ihnen sind, ist dieses Buch gewidmet:

Hrant Dink, dem armenischstämmigen Journalisten, der unermüdlich für die Versöhnung von Türken und Armeniern eintrat und von einem Jugendlichen ermordet wurde – offensichtlich im Auftrag nationalistischer Verschwörer.

Ece Temelkuran, der mutigen Journalistin, die den Finger auf die Wunde der türkischen Gesellschaft legt: »Müssen wir denn auf ewig in dem Zwiespalt gefangen bleiben, uns entweder einzuschließen in die Zugehörigkeit zu einem ›Wir‹ oder als ›Verräter‹ gebrandmarkt und ausgeschlossen zu werden?«

Bülent Ersoy, der transsexuellen Sängerin, die sich mit der Casting-Show »Popstar Alaturka« ein Millionenpublikum eroberte und die Show nutzte, um gegen den Einmarsch der türkischen Armee in den Nordirak zu protestieren: »Für diesen Krieg der anderen würde ich mein Kind nicht unter die Erde schicken.« Sie wurde für diese Äußerungen wegen »Entfremdung des Volkes vom Militärdienst« angeklagt.2› Hinweis

Sezen Aksu, der wohl beliebtesten Popsängerin der Türkei, die immer auf Seiten der Frauen steht und Bülent Ersoy sofort ihre Unterstützung anbot.

Fazil Say, dem Pianisten und Komponisten, der mit Beethoven und Prokofjew unermüdlich gegen die kulturelle Islamisierung kämpft – auch für seine siebenjährige Tochter, die zum Ballett geht: »Manche Mitglieder der AKP haben schon vor sechs Jahren gesagt, Ballett sei eine unmoralische Kunst … Wenn meine Tochter als Einzige in der Schule kein Kopftuch trägt, werden zwanzig andere Mädchen sie unter Druck setzen.«3› Hinweis

Zülfü Livaneli, dem Komponisten, Filmemacher und Autor, der fast im Alleingang mithilfe seines Freundes Mikis Theodorakis und seiner Musik die Versöhnung der Türken und Griechen auf den Weg brachte und trotz Verfolgung nicht müde wird, die Türken an ihre Verantwortung für die vergangenen Verbrechen zu erinnern und für heute Verantwortung zu übernehmen.

Türkan Saylan, die sich als Erste um die Lage der Menschen in der Psychiatrie in der Türkei kümmerte und immer wieder den Widerstand der Frauen gegen die Islamisierung organisiert.

Duygu Asena, der 2006 verstorbenen Frauenrechtlerin und Autorin, die mit ihren Büchern vielen Frauen Mut machte, sich gegen die Herrschaft der Männer zur Wehr zu setzen.

Berlin, im Juli 2008

1

Tod in Ankara

Wir haben bestimmt, dass der Tod unter euch sein soll.

Koran, Sure 56, Die hereinbrechende Katastrophe, Vers 60

Wie oft habe ich von Deutschland aus meinen Onkel Enischte in Ankara angerufen. Ich liebte ihn sehr, uns verband vieles – nicht nur die Erinnerungen an Pinarbashe, wo er aufgewachsen war und ich einige Zeit meiner Kindheit verbracht hatte. Er hatte mich auf dem Weg, den ich gegangen bin, immer ermutigt, auch wenn er kaum mit allem, was ich dachte, was ich tat, einverstanden gewesen sein konnte.

In der letzten Zeit fürchtete ich, er würde meine Stimme am Telefon vielleicht gar nicht mehr erkennen. Denn in seinen Körper hatte sich der Krebs gefressen, sein Geist allerdings war frisch wie ehedem. Immer freute er sich, wenn ich anrief: »Hallo, mein Enischte, ich bin es, Necla!«, schrie ich dann ins Telefon, als könnte er mich so besser verstehen. »Oh, meine Necla, wie schön, dich zu hören!«, antwortete er jedes Mal. Aber als an einem Aprilnachmittag nicht er, sondern sein Sohn den Hörer abnahm, erfasste mich Panik. »Vater wird von uns gehen«, ließ er mich wissen.

Mein Onkel, wenige Jahre nach Gründung der Türkei geboren, war ein Kind der Republik, ein überzeugter Kemalist. Als Erdogan 2003 Ministerpräsident wurde, fuhr mein Onkel mit einem Strauß Blumen zum Anit Kabir, dem Mausoleum Atatürks, und legte sie am Sarg des Vaters aller Türken nieder, um sich bei ihm für das »dumme Volk« zu entschuldigen. Er misstraute der AKP, der Partei Erdogans, die in seinen Augen die Republik islamisieren wollte, hoffte aber, wie viele seiner Freunde, dass das Militär als treuer Bündnispartner der Kemalisten sie rechtzeitig »in die Schranken weisen« würde. Er mochte nicht wahrhaben, dass das Volk den kemalistischen Vertretern der alten Republik nicht mehr traute.

Wenige Tage vor dem 23. April, dem Gedenktag der Großen Nationalversammlung der Türkei, fuhren wir den Sarg meines Onkels durch Ankara. Überall wehte die rote türkische Fahne, an Häusern und Plätzen waren Bilder Atatürks befestigt – es war, als habe sich die Republik noch einmal für meinen Onkel geschmückt. Aber als wir seinen Sarg im Beisein vieler Verwandter, Nachbarn und Freunde in einem feierlichen Ritual auf einen Steinsockel der Arslanhane-Moschee stellten, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass mit ihm die türkische Republik begraben wurde.

Das letzte Mal vor Ausbruch seiner Krankheit habe ich Enischte gesehen, als wir gemeinsam mit meinen Geschwistern in Istanbul, in »unserem« Stadtteil Kadiköy, an einer üppigen Tafel mit alten osmanischen Gerichten in meinem Lieblingsrestaurant »Haci Ali II« saßen. Ich hatte dazu eingeladen, denn ein gutes Essen in großer Runde gehörte zu den Leidenschaften meines Onkels. Alles, was das Lokal an Köstlichkeiten zu bieten hatte, wurde aufgefahren – meze, die unendlichen Variationen von Vorspeisen, icli köfte, kegelförmige, im Weizenschrotmantel gebackene Hackfleisch-Pistazien-Walnuss-Klöße, dann schisch kebab, ein Grillspieß aus mariniertem Lammfleisch, Tomaten und Paprika, ayva tatlisi, gekochte Quitten mit fester Sahne, und schließlich lokma, eine Süßspeise mit dem bezeichnenden Namen »Frauennabel«. Stolz saß ich zwischen meinen Geschwistern und Verwandten. Ein altes Istanbuler Lied wurde angestimmt: »Gel güzelim camlicaya bu gece, komm, meine Schöne, heute Nacht nach Camlica …«

Enischte erwies sich auch an diesem Abend als Charismatiker, der einen ganzen Saal unterhalten konnte und doch zugleich jedem, der mit ihm zu tun hatte, das Gefühl zu geben vermochte, nur für ihn da zu sein. Wie immer bei solchen Anlässen hielt der geübte Rhetoriker mit blitzenden Augen eine Rede auf die Zukunft des Landes. Schließlich war er ein überzeugter Anhänger der Republik – ihr hatte er auch persönlich alles zu verdanken.

Ein Kind der Republik

Enischte war in Pinarbashe in Zentralanatolien aufgewachsen, wo ich ein Jahr meiner Kindheit bei meiner Großmutter verbracht hatte. In der Uzun yol, der Langen Straße, wo seine Familie wohnte, standen damals noch Konaks, alte Häuser im osmanischen Stil, aus Lehm und Holz erbaut und im ersten Stock mit einem vorspringenden Erker geschmückt. Selbst als alter Mann träumte er sich oft zurück in die großen gepflegten Gärten, die sich hinter den Häusern erstreckten, mit ihren Apfel-, Birn-, Kirsch-, Aprikosenbäumen, den schattenspendenden Laubbäumen und der ganzen Blumenpracht. An dem Garten seines Hauses führte ein reißender Bergbach vorbei, der direkt vom Schirvan dagi, dem Hausberg Pinarbashes, herunterstürzte, dessen Fels sich 800 Meter über dem Ort erhebt. Das Wasser war sauber und konnte von der Familie als Trinkwasser genutzt werden; eine vom Bach gespeiste Rinne diente als Spülung für das Toilettenhäuschen.

Für meinen Onkel war das seine Heimat, oft schwärmte er von diesem Paradies. Diese Erinnerung teilten wir: Auch ich denke gern zurück an die glückliche Zeit, als ich mit meinen Geschwistern bei meiner strengen Großmutter Emmana darauf wartete, von den Eltern nach Deutschland geholt zu werden. Später bin ich oft dorthin zurückgekehrt und habe meine Ferien in ihrem Haus verbracht. Aber als ich Anfang 2008 nach vielen Jahren wiederkam, waren die alten Häuser verschwunden; wo einst Obstbäume blühten, standen jetzt billige Mietshäuser; der reißende Bach war nur noch ein kümmerliches Rinnsal und versickerte auf der Brachfläche neben dem einst so stolzen hamam, dem Badehaus. Und die in der Erinnerung so prächtige Uzun yol war zu einer Aneinanderreihung liebloser Bauten verkommen – niemand hatte hier in den letzten zwanzig Jahren einen Pinsel oder einen Besen in die Hand genommen. Die Stadt wirkte wie tot, trotz der vielen unrasierten Männer, die vor den bescheidenen Geschäften herumstanden.

Mein Onkel hätte sich geschämt, wenn er das gesehen hätte. »Jeden Morgen fegten wir die Straßen, bevor die Männer zur Arbeit gingen«, hatte er mir oft erzählt. »Wenn jeder den Dreck vor seinem Hause fegt, blüht ein ganzes Land«, pflegte er zu sagen. Begeistert sprach er dann von der bürgerlichen Vergangenheit Zentralanatoliens. In Pinarbashe, wie überall in den Städten der 1940er Jahre, wollten die Bürger fortschrittlich und modern sein. Kleider wurden nach dem letzten Pariser Chic geschneidert, Männer und Frauen flanierten gemeinsam durch den Ort und gingen zum Fünf-Uhr-Tee in den cay bahcesi, den Teegarten am Ende der langen Straße. Wer wohlhabend und großzügig war, schenkte der Stadt einen Brunnen, der mit dem Namen des Spenders geschmückt wurde.

Von dieser Vergangenheit und der Sehnsucht nach dem europäischen Leben ist nichts geblieben. Vielleicht war sie auch nur möglich in einer Zeit, als die türkische Republik nach Westen schaute, die bürgerlichen Werte hochhielt und die zugewanderten Türken aus Kars oder Erzurum und die aus dem Kaukasus gekommenen Tscherkessen, zu denen Enischtes und ein Teil meiner Familie gehörten, die Stadt prägten. Sie hatten aus Russland, von wo man sie vertrieben hatte, ihre Neugier auf Literatur und Wissenschaft mitgebracht. Mein Urgroßvater hatte eine ganze Bibliothek mit theologischen und philosophischen Klassikern auf seiner langen Flucht mitgeschleppt, aus denen in der Familie gelegentlich vorgelesen wurde.

Enischte gehörte zu den Ersten, die Nutznießer der Reformen von Atatürks 1923 ausgerufener Republik wurden. In den Koranschulen des Osmanischen Reiches, die Atatürk verbot, hatten Kinder noch die falaka zu spüren bekommen: Bäuchlings und mit zusammengebundenen Füßen wurde man dabei aufs Pult gelegt, die Fersen wurden mit Olivenöl eingeschmiert, und dann sauste der Weidenstock des Hodschas, des Vorbeters, darauf nieder. In Enischtes Grundschule gab es das nicht mehr, seine Lehrerin war eine richtige Dame, die Wert darauf legte, dass die Kinder Hochtürkisch lernten, die Sprache der feinen Gesellschaft Istanbuls. Noch im hohen Alter sprach mein Onkel voller Wärme von ihr, und stolz zeigte er mir ein Foto, auf dem er als einziger Junge mit zwölf Mädchen zu sehen war, die zum Abschluss der Schule 1942 einen halay, einen traditionellen Rundtanz, aufführten. Auch das war neu, dass Jungen und Mädchen gemeinsam in einer Klasse saßen.

Eine weiterführende Schule gab es in und um Pinarbashe nicht. So blieb Enischte und zog gemeinsam mit seinem Vater durch die umliegenden Dörfer, um Kurzwaren zu verkaufen. Als Zwölfjähriger hatte er seinen eigenen kleinen Laden gegenüber vom Geschäft seines Vaters. Aber seine Karriere als Kaufmann fand ein jähes Ende, als einer seiner ehemaligen Schulkameraden, der inzwischen in Istanbul aufs Gymnasium ging, in Pinarbashe auftauchte. Auf dem Kopf eine schwarze Baskenmütze, die zu seiner Schuluniform gehörte. Auf meinen Onkel muss sie eine magische Anziehungskraft ausgeübt haben: Eine solche Mütze wollte er auch tragen – der Wunsch, nach Istanbul aufs Gymnasium zu gehen, ließ ihn fortan nicht mehr los. Sein Vater hielt das für eine fixe Idee, Enischte aber ließ sich nicht davon abbringen. Als der Vater wieder einmal mit seinem Nähzeug über die Dörfer zog, packte Enischte seine Habseligkeiten in einen Grammophonkoffer – etwas anderes gab es nicht – und kletterte auf die Ladefläche eines Lastwagens, der Säcke mit Weizen nach Kayseri schaffte. Dort bestieg er den Zug, der zwei Tage bis nach Haydarpascha brauchte. Der Bahnhof auf der asiatischen Seite von Istanbul war der Ausgangspunkt der Bagdad-Bahn, des ersten großen Kooperationsprojekts der Deutschen mit dem Osmanischen Reich. Die Adresse seines Freundes hatte er sich auf der letzten Seite seines Ausweises notiert.

Direkt am Bahnhof legten damals auch die Fähren nach Eminönü und Karaköy an, der europäischen Seite Istanbuls. Die Fähre war voller fröhlicher Menschen, denn an diesem Tag war bayram, das Zuckerfest, und man besuchte Verwandte oder machte einen Ausflug. Ein gutgekleideter Herr mit Sonnenbrille sprach ihn an und fragte, wohin er denn wolle. Zu seinem Bruder, antwortete mein Onkel und zeigte die Adresse seines Freundes. Da wohne er auch, behauptete der Mann, und bot seine Begleitung an.

»In Eminönü bestiegen wir die Straßenbahn«, erzählte mir Enischte, »und als der Herr behauptete, hier müssten wir aussteigen, folgte ich ihm. Ich wäre ihn gern losgeworden, aber zu einem Älteren muss man höflich sein, und so ging ich gemeinsam mit ihm durch viele Gassen der mir völlig unbekannten Stadt. Als mir mein Koffer schon schwer wurde, hielten wir vor einem osmanischen Haus. Obwohl es nur zwei statt der von meinem Freund beschriebenen drei Stockwerke hatte, ging ich mit hinein.«

Im Haus tuschelte der Mann mit seiner Frau, längst war er Enischte unheimlich geworden. Die Familie, die er suche, sei nicht da, behauptete die Frau, die Frau sei im Hamam und der Mann zur Arbeit. Enischte glaubte das nicht, schließlich war bayram, an diesem Tag arbeitete niemand. Als die Kinder der beiden, neugierig geworden, die Treppe hinuntergelaufen kamen und mit der Mutter in einer fremden Sprache – vielleicht Griechisch, vielleicht Armenisch – sprachen, ahnte Enischte, dass er hier nichts mehr zu suchen hatte. Er schnappte seinen Koffer und stürmte aus dem Haus – so überstürzt, dass er auf der Straße der Länge nach hinfiel, direkt vor einen Pferdewagen, der frisches Brot geladen hatte. »Das riesige Pferd über mir, spürte ich die Hand des feinen Herrn im Nacken. Als ich laut zu schreien begann, ließ er mich erschrocken los, und ich lief zwischen den vielen Menschen, die auf der Straße waren, um mein Leben.«

Seine Intuition rettete meinem Onkel möglicherweise das Leben, zumindest aber die Freiheit. Das erfuhr er allerdings erst später. Im Ersten Weltkrieg waren die Christen, Griechen und Armenier, aus der Stadt vertrieben worden. Viele Kinder waren dabei zu Waisen geworden, manche waren in muslimischen Familien zwangstürkisiert oder zum Schutz aufgenommen, andere für die Feldarbeit verkauft worden. Die Christen, die der Vertreibung entgangen waren, rächten sich nun mit Gegenentführungen, und mein Onkel wäre fast eines ihrer Opfer geworden. Ein dreizehnjähriger Junge war eine Arbeitskraft, die dem »Besitzer« Geld einbrachte. Niemand hätte je wieder etwas von dem kleinen Jungen aus Pinarbashe gehört, wenn er als Straßenverkäufer, Arbeitssklave oder Teejunge verkauft worden wäre.

Stundenlang irrte er durch die Straßen, er wagte gar nicht mehr, nach dem dreistöckigen Holzhaus des Freundes zu fragen, hielt aber bei den Gardinen, die er in den Fenstern oder auf den Balkonen sah, Ausschau nach dem typischen Kreuzstich aus Kayseri – mit Genähtem kannte er sich schließlich aus. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und sprach eine ältere Frau an, um sie nach einer Familie aus Kayseri zu fragen. So fand er endlich zur Familie seines Freundes.

Dessen Eltern meldeten ihn am nächsten Morgen in der Schule an, einem Prachtbau aus Marmor und Stein, der Enischte tief beeindruckte und den er fortan jeden Tag aufsuchte. Er war ein wissbegieriger Junge und ging gern zur Schule. Aber es war Krieg, die deutsche Wehrmacht hatte 1941 Griechenland besetzt und stand nur wenige Kilometer vor Istanbul. Abends mussten die Fenster verdunkelt werden, und niemand durfte mehr auf die Straße. Brot gab es nur auf Lebensmittelkarten, und für einen jungen Mann wie Enischte war es immer zu wenig. »Mein Vater schickte mir Geld«, erzählte er, »sodass ich jeden Mittag in einer lokanta essen konnte. Wenn ich nicht bezahlen konnte, ließ ich anschreiben. Einmal aber war es so weit gekommen, dass ich keinen einzigen kurus mehr in der Tasche hatte. Mein Freund war auch nicht besser dran. Wir fühlten uns hungrig wie nie. Wie leicht wäre das Leben doch, so träumten wir vor uns hin, wenn wir jetzt zu Hause wären, in den Garten gehen und von den süßen Aprikosen essen könnten.

Ich war so in meinen Kummer versunken, dass ich meinen Ohren nicht traute, als ich eines Tages plötzlich meinen Namen hörte. Ich blickte auf: Mein Vater stand vor mir, einen großen Koffer neben sich! Vor Erleichterung fing ich laut an zu schluchzen. Als er später im Hotel den Koffer öffnete, schien sich das Paradies aufzutun – es gab gebratenes Hühnchen, Käserollen, eingelegte Feigen, selbstgemachtes Brot, alles, was ich so lange entbehrt und vermisst hatte.«

Bald darauf zogen Enischtes Eltern nach Istanbul, damit ihr Sohn studieren konnte. Der Vater eröffnete dort ein Lebensmittelgeschäft. Nach dem Studium fand Enischte eine Anstellung in Ankara, die Familie kam mit in die Hauptstadt. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Abteilungsleiter beim Museum für Mineralogie.

Das Leben ist der Tod

Das fröhliche Essen im »Haci Ali II« sollte für mich die letzte gemeinsame Mahlzeit mit meinem Onkel Enischte gewesen sein. In der Nacht wachte er öfter auf. Ich hörte ihn nach Wasser rufen. Er konnte nicht schlafen, er hatte Magenbeschwerden, wie er sie bisher nicht gekannt hatte. Mir wird das für immer ein schlechtes Gewissen bereiten, dass er ausgerechnet nach diesem üppigen Mahl krank wurde.

Drei Jahre quälte ihn die Krankheit, immer wieder von Operationen unterbrochen. Als sein Sohn mir dann am Telefon sagte, dass nichts mehr zu machen sei, lief ich ungläubig und wie ein verlassenes Kind in unserer Berliner Wohnung auf und ab. Mir blieben nur wenige Stunden, um ihn noch einmal zu sehen. Glücklicherweise bekam ich noch am selben Tag ein Flugticket und eilte zum Flughafen.

Da waren sie bereits versammelt – meine türkischen Brüder und Schwestern. Dicht gedrängt, zwischen Plastiktüten und Übergepäck, saßen sie in der Abflughalle, die Frauen bei den dicken Koffern und Taschen, die Männer unterhielten sich und spielten mit ihren Gebetsketten. Männer und Frauen trennten sich, sobald sie den Warteraum betraten. Die Männer suchten ihre Geschlechtsgenossen auf und die Frauen andere Frauen, mit denen sie ein Schwätzchen halten konnten. Alle redeten türkisch.

Es war mitten in der Woche, keine Ferienzeit, Urlauber waren hier nicht zu finden. Es waren Rentner, die zwischen den Ländern hin und her pendeln, alle anderen reisten nicht nur zum Vergnügen, sondern eine Hochzeit, eine Krankheit oder Beerdigung hatte sie auf den Flughafen geführt. Die meisten Frauen trugen islamische Tracht, Kopftücher, lange Mäntel, Röcke über weiten Hosen. Auch den kleinen Mädchen hatten sie geblümten Stoff um den Kopf gewickelt.

Eine ältere dickliche Frau im schwarzen Tschador saß auf einer Bank und wiegte ihren Oberkörper unablässig hin und her. »Teyze, werte Tante, ich habe gehört, ihre gelin, ihre Schwiegertochter, ist gestorben«, sprach eine Verschleierte sie an. »Mein Beileid, werte Tante. Nehmen Sie sie mit in die Heimat?« Die Frau im Tschador nickte stumm. »Das ist gut. Grämen Sie sich nicht, das Leben ist der Tod. Gestern starb bei uns in Kreuzberg ein junges Mädchen. Als die Mutter ihre Tochter vor dem Fernseher liegen sah, fiel auch sie um und starb an einem Herzinfarkt. Beide sind in die Heimat geflogen, sind von diesem Leben in das wahre Leben zu Allah gegangen. Das Leben ist ihnen erspart geblieben.« Sie seufzte und fragte dann: »Wie alt war Ihre denn?« Die Schwiegermutter wusste es nicht. Zwei junge Mädchen riefen hinüber: »Vierzig!«

»Ja, ja«, sinnierte die Dicke, »vor 25 Jahren habe ich sie geholt, nun muss sie zurück in die Heimat. Allah sei Dank, die Kinder sind groß. Aber mein Sohn, was soll er nun machen? Ich werde mich nun wieder kümmern müssen.« Andere erzählten von plötzlich verstorbenen Schwägerinnen, Töchtern, Schwiegermüttern, bis es einem bärtigen Mann zu viel wurde: »Fragt nicht so nach dem Tod«, mahnte er, »wenn er da ist, ist er da, da kann man nichts machen. Die Krankheit ist nur ein Vorwand, wen Gott ruft, bestellt er zu sich. Mischt euch nicht ein in Gottes Entscheidungen!«

Obwohl ich in dieser Situation gern jemandem anvertraut hätte, dass ich fürchtete, meinen Onkel vielleicht nicht mehr lebend anzutreffen, fand ich niemanden, dem ich von meinen Ängsten hätte erzählen wollen, obwohl unser Schicksal uns verband. Aber mir anhören zu müssen, dass Allah auch vorherbestimmt, was mit meinem Onkel geschieht, hätte mich nicht getröstet. So schwieg ich lieber und blieb mit meinen Gedanken allein.

Ankunft und Abschied

Es ist vier Uhr morgens, als ich im Busbahnhof in Ankara ankomme und ein Taxi nehme. Eigentlich habe er mich gar nicht mitnehmen wollen, jammert der Taxifahrer, die Tour sei ja viel zu kurz. Aber er habe Erbarmen, er lasse seine abla, seine große Schwester, aus Deutschland doch nicht mitten in der Nacht stehen. Nur nachts könne er arbeiten, erzählt er mir, wenn der, dem dieses Taxi gehört, schläft; er müsse ihm auch noch die Hälfte seiner Einnahmen abgeben. Er hält sich an mir schadlos und verlangt 15 Lira; später erfahre ich, dass er den üblichen Fahrpreis verdreifacht hat.

Mein Cousin, ein Universitätsprofessor, öffnet die Tür und bricht in Tränen aus, als er mich sieht. Meine Tante liegt im Bett und hält meine Hand. Keiner weiß, wie es dem Kranken im Moment geht. Die Kinder haben ihn ins Krankenhaus gebracht, weil sie hoffen, ihm könne vielleicht doch noch geholfen werden, aber auch, weil sie fürchten, ihre Mutter würde es nicht überleben, wenn der Vater in der Wohnung stürbe. Ich lege mich zu meiner Tante, tröste sie und warte ungeduldig darauf, dass es endlich sieben Uhr wird. Ich muss ins Krankenhaus und Enischte sehen.

Die jüngste Tochter fährt mit mir und ihrem Bruder zügig durch die langsam erwachende Stadt. Es sei ein kalter Frühling in diesem Jahr, erzählt sie. Die Sonne blinzelt verhalten durch den Dunst. Ankara war einmal die Stadt mit der schlechtesten Luft nicht nur in der Türkei. Seit immer mehr Hochhäuser mit Zentralheizungen die gecekondus, die wild gebauten Häuser, ablösen, in deren Bolleröfen alles verfeuert wird, was brennbar ist, kann man wieder atmen. Aber immer noch liegt der Geruch von verbrannter Braunkohle über der Stadt.

Das Krankenhaus, auf einem Hügel gelegen, ist schon von Weitem zu sehen. Auf der Suche nach der Intensivstation steigen wir viele Treppen nach unten, in den Keller. Das Treppenhaus ist feucht und kalt und riecht nach Moder. Wir klopfen an eine Eisentür. Eine weibliche Stimme ruft: »Hier können Sie nicht rein!« Ich fange an zu zittern und bitte die Krankenschwester, als sie endlich die Tür öffnet, meinen Onkel sehen zu dürfen. Sie erkundigt sich nach seinem Namen und sagt, nachdem sie in einer Liste nachgesehen hat: »Ihr Onkel hat um vier Uhr heute Morgen die Augen geschlossen. Unser herzlichstes Beileid.«

Meine Cousine und mein Cousin brechen in Tränen aus. »Ich möchte ihn sehen«, insistiere ich. Nach einer kurzen Beratung mit den Ärzten kommt die Schwester zurück und zeigt mir den Weg zur Leichenhalle neben der Krankenhausmoschee, die offenbar neu ist, denn an ihren Mauern liegt noch überall Bauschutt. Meine Cousine bleibt zurück und ruft mir nach: »Tu es nicht, das macht man nicht!« Ich weiß, dass der Tradition nach Frauen mit Toten nicht in Berührung kommen dürfen, aber ich bin fest entschlossen, mich nicht abweisen zu lassen.

Ein gut gekleideter Herr mittleren Alters, der Hodscha der Moschee, fordert mich höflich auf, ihm zu folgen. Die Leichenhalle ist eiskalt, in ihre Wände sind lauter Schubfächer eingelassen. »Sind Sie bereit?«, fragt er. Ich nicke, und er zieht ein Schubfach heraus. In grünes Leinentuch gewickelt liegt mein Onkel vor mir. Der Hodscha schlägt das Tuch über dem Kopf zurück. Ich kann Enischtes Gesicht sehen. Diskret zieht sich der Hodscha zurück und lässt mich mit dem Toten allein.

Da liegt er nun, mein geliebter Onkel, der mir immer wie ein Vater, wie ein großer Bruder und wie ein treuer Freund begegnete. Als so einen Vater, wie er es für dich war, hätten wir ihn auch gern gehabt, hatten mir seine Töchter und sein Sohn schon häufiger gesagt. Zu mir war er so, wie er vielleicht auch gern zu ihnen gewesen wäre. Ich habe ihn nie zu fragen gewagt, warum ihm das nicht möglich war. Das wäre eine Anmaßung gewesen, er selbst kommentierte oder kritisierte nie meine Lebensweise. Er gab mir alles, was ich mir von meinem eigenen Vater nicht zu wünschen gewagt hätte. »Ach, käme doch der Sommer, und wir könnten wieder unter dem Feigenbaum in Ayvalik sitzen und uns alles erzählen«, wünschte er sich oft und wartete mit leuchtenden Augen auf den Sommer. Der Garten in seinem Sommerhaus, den er selbst pflegte, war mit den vielen Obstbäumen und dem Blumenmeer sein ganzer Stolz.

Ich sehe mir den friedlich schlafenden Toten genau an. In seinen Augen entdecke ich »Augentraum«, seine Nase ist leicht gebogen, seine langen grauen Brauen zeigen störrisch in alle Richtungen. Sein Kinn ist mit einem Tuch hochgebunden worden. Stolz und immer noch bestimmend liegt er vor mir.

»Du erbarmungsloser Flegel, was fällt dir ein, mich in diesen Keller einzuliefern«, hatte er seinen Sohn vor einer Woche noch angeraunzt. Er wolle zu Hause sterben. »Das hätte Mutter nicht überlebt«, erklärt die Jüngste später. So ist er, wie so viele andere in der modernen Gesellschaft, eben doch nicht im Kreis der Familie gestorben.

»Beten Sie ruhig, wenn es Ihnen guttut«, ermuntert mich der Hodscha. Ich beginne stattdessen ein deutsches Geburtstagslied zu summen: »Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, Gesundheit und Frohsinn sei auch mit dabei!« Ich danke meinem Onkel für all das Schöne, mit dem er mich bereichert hat, und für all das Gute, das er hinterlässt. »Mögest du auf Rosen gebettet sein«, flüstere ich. »Dank für deine Liebe, für deine Geduld, für deine Offenheit, für deine Gabe, mir zuzuhören, mich immer wieder zu ermutigen, an mich zu glauben, nicht müde zu werden, das Leben zu lieben. Dank für deine Ermahnung, nicht zu vergessen, woher ich komme, mich zu erinnern an die Heimat in Anatolien, die rote Erde, die Berge, die eiskalten Bäche, die Lieder, die unsere Seelen besingen, die Menschen, die unsere Sprache sprechen. Das alles konnte ich mit dir teilen. Für alles hab Dank.«