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Inhalt

Ich widme dieses Buch
meinem Vater, der meinen Freiheitswillen nicht ertrug,
meinem Abi, der mir die Freiheit ließ,
meinem jüngeren Bruder, der sich die Freiheit nahm.

Die verlorenen Söhne

Nächstes Jahr im Uzun Yayla

Diese blauen Augen. Der türkische Offizier sieht dem gefangenen Beduinen ins Gesicht und fragt: »Sind Sie Tscherkesse?« Der nickt und nimmt, weit in die Ferne blickend, auf der Folterbank klaglos die Bastonade, die Schläge mit der Peitsche, hin, als wolle er den Hass sammeln, um sich später furchtbar an den Osmanen zu rächen. Diese blauen Augen sind die Augen von Peter O’Toole, der im Film »Lawrence von Arabien« den gegen die Türken kämpfenden britischen Colonel Thomas Edward Lawrence spielt.

Die blauen Augen von Haluk erinnern mich daran. Als ich ihn das erste Mal treffe, sitzt der dreiundsechzig Jahre alte Frührentner allein in seinem Zimmer im Dachgeschoss des Hauses seines Sohnes, das im Vorort einer kleinen deutschen Stadt liegt. Ich hatte seine Schwiegertochter interviewt, die als Importbraut aus Anatolien nach Deutschland gekommen war, und wollte mich von ihm, dem Hausherrn, verabschieden. Er hatte gehört, dass meine Familie, Tscherkessen wie er, auch aus uzun yayla, dem »Weiten Tal«, in Anatolien kommt. In der Fremde gehört man damit zur »Familie«.

»Wenn Sie einmal in die Gegend kommen, zeige ich Ihnen mein Dorf«, sagt er. »Ich bin jeden Sommer dort, auch wenn vieles nicht mehr so ist, wie es einmal war.«

»Aber erst erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, scherze ich, nicht ahnend, dass wir uns bereits im Sommer darauf tatsächlich im Schatten des erciyes dagi, des höchsten Berges Zentralanatoliens, wiedersehen würden.

Haluk ist allein in seinem Zimmer unter dem Dach. Seine Frau, sein Sohn, seine Schwiegertochter und seine beiden Enkelkinder sitzen eine Etage tiefer im Wohnzimmer und sehen türkisches Fernsehen. Er bleibt allein, nicht weil er es möchte, sondern weil er Rücksicht auf seine Kinder nimmt. Der »Respekt« würde es verlangen, dass sein erwachsener Sohn in seiner Gegenwart nicht raucht, nicht trinkt, nicht mit seiner Frau scherzt. Haluk ist das Oberhaupt der Familie, ihm haben alle zu dienen, und sie müssten in seiner Gegenwart schweigen. Die Familie würde versuchen, ihm jeden erdenklichen Wunsch von den Augen abzulesen – alle seien ständig auf dem Sprung. Und er selbst kann und darf, so gebietet es die Tradition, nicht auf den »Respekt« verzichten, er kann nicht sagen: »Macht es euch gemütlich, Kinder.« Das würde seine Stellung untergraben, als ältester Mann und Vater ist er der Herr der Familie – ein Herrscher, der auf seinem Thron gefangen ist. Deshalb bleibt er allein und ist halb irritiert, halb freut er sich, dass ich mich mit ihm unterhalten möchte. Zögernd erzählt er mir aus seinem Leben, denn niemand hat ihn bisher danach gefragt, und er weiß nicht, was er davon halten soll, dass sich eine fremde Frau für ihn interessiert.

Mich erinnert seine Geschichte an das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Er würde das nicht so sehen, denn er fühlt sich von Allah mit seinem Leben beschenkt, geht jeden Tag in die Moschee, betet, trinkt dort Tee und spricht mit den anderen Männern über den Lauf der Zeit, wer wen heiratet und was gerade hier in der Fremde und dort in der Heimat passiert.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn

Ein Vater hatte zwei Söhne, der jüngere von beiden ließ sich sein Erbteil auszahlen, zog in ein fernes Land und verprasste alles. Er fing an zu darben und machte sich wieder auf den Weg nach Hause. Sein Vater, der ihn schon von weitem sah, lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals, küsste ihn und ließ ein gemästetes Kalb zur Feier des verloren geglaubten Sohnes schlachten. Dem Älteren gefiel das gar nicht. Zornig warf er dem Vater vor, ihm so viele Jahre schon gedient und nie eins seiner Gebote übertreten zu haben, ohne dass der Vater es ihm je gedankt habe. »Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden.« So erzählt das Lukas-Evangelium das Gleichnis.

In Haluks Geschichte haben die Brüder die Rollen getauscht. Sein älterer Bruder, der Erstgeborene, ist für den Vater der Sohn, auf den er sich besonders gefreut hat, auf den er stolz ist. Aber der Ältere ist ein Bruder Leichtfuß, ein Tunichtgut, der den Jüngeren, der ihm gehorchen, ihm Respekt bezeugen muss, auszunutzen weiß. »Einer muss für den anderen da sein«, sagt Haluk. »Das gehört sich so.« Aber ich könne seine Geschichte nicht wirklich verstehen, meint er, solange ich nicht gesehen habe, wo alles begann, und deshalb verabreden wir uns: nächstes Jahr im Uzun Yayla, im Weiten Tal. – Davon berichte ich gleich.

Der Ethnologe Werner Schiffauer hat das Gleichnis vom verlorenen Sohn seiner 1991 veröffentlichten Untersuchung »Die Migranten aus Subay« vorangestellt, in der er acht Migranten aus diesem ostanatolischen Dorf auf ihrem Weg nach Österreich und Deutschland begleitet, um das Gemeinsame aller Migrantenschicksale aufzudecken – so wie es das von ihm zitierte Gemälde des italienischen Malers Giorgio de Chirico (1888–1978) »Der verlorene Sohn« einzufangen versucht. Zwei Männer stehen in diesem Bild einander gegenüber: der mit den Attributen der Moderne ausgestattete Sohn, der seinen in Grautönen gehaltenen Vater wiedersieht. »Die Welt des Sohnes«, schreibt Schiffauer, »ist die Weite – ein grünes Land jenseits einer weiten grauen und trockenen Ebene; ein Land voller Versprechungen. Wahrscheinlich ist es auch ein Land der enttäuschten Hoffnungen ... In dieses Land ist er hinausgegangen und wieder zurückgekehrt – als ein anderer, der damit seine Geschichte hat«. Anders als in der biblischen Geschichte werden der Vater und sein heimgekehrter Sohn sich fremd bleiben, denn, so Schiffauer: »Das Bild erzählt die Geschichte des Prozesses der Moderne: den Traum von der Beherrschung des eigenen Lebens, die Entfaltung der Individualität in der Geschichte, die Herausbildung einer neuen Form der Subjektivität und das Problematischwerden der Identität ...«

Für Schiffauer ist der Weg in die Moderne unaufhaltsam mit einer Ablösung der Einwanderer von ihrer Herkunftskultur und ihrer Neuorientierung an den Werten der westlichen Gesellschaft verbunden – mit dieser Auffassung hat der Ethnologe die Migrationsforschung für Jahre stark beeinflusst. Aus dem Migranten, der das Land seiner Herkunft und Tradition verlässt, wird ein Einwanderer, der eine eigene, individuelle Geschichte erwirbt, die – wenngleich um den Preis einer prekären Identität – zu seiner Geschichte wird.

Wenn die Wirklichkeit die Hoffnung widerlegt

In der Bundesrepublik sind die politisch Aufgeschlossenen nur allzu gern dieser Theorie gefolgt, schien sie doch das Versprechen zu beinhalten, die Integration der Türken und Muslime erledige sich gleichsam »von selbst«. Nicht ihre Integration schien »das Problem« zu sein, sondern dass sie in diesem Anpassungsprozess an die Moderne ihre Identität verlieren könnten. Man sah sich geradezu aufgefordert, dieser Gefahr gegenzusteuern, das Bewusstsein der Migranten für ihre kulturellen Wurzeln zu stärken. »Muttersprache zuerst« war dementsprechend die Maxime; bevor sie Deutsch lernten, sollten die in Deutschland geborenen Kinder von Migranten der zweiten, dritten und vierten Generation Türkisch oder Kurdisch lernen. »Assimilation« wurde mit Aufgabe der kulturellen Identität der türkischen Muslime gleichgesetzt. Es wurde zum Unwort, wer dafür plädierte, stand fast unter Rassismusverdacht.

Auch die unübersehbaren Defizite gegenüber den Anforderungen einer modernen Gesellschaft wurden nicht als Problem der Migranten gesehen, sondern als Aufgabe der deutschen Gesellschaft. Sie sprachen kein Deutsch, waren meist schlecht oder gar nicht ausgebildet und damit die Ersten, die im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt scheiterten. »Fördern statt fordern« war die Antwort darauf, denn die deutsche Gesellschaft und »die Politik« – nicht die Migranten selbst – wurden und werden für den Mangel an Sprachkenntnis, an Bildung, an Schulabschlüssen, für abgebrochene Lehrstellen, für Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. »Soziale Ausgrenzung«, »Benachteiligung«, wenn nicht gar »Ausländerfeindlichkeit« sind heute noch die Stichwörter dieses wiederholt bemühten Erklärungsmusters, das der Integration nicht dient, sondern ihr geradezu entgegensteht.

Es ist an der Zeit, einen Irrtum einzugestehen: Auch ich bin in meinen Untersuchungen über die Religiosität islamischer Schülerinnen und Schüler türkischer Herkunft Schiffauers These gefolgt und habe die »kulturelle Dimension des Muslim-Seins« ebenso sträflich unterschätzt wie die Macht des islamischen Weltbildes, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, zumal ich glaubte, feststellen zu können, dass sich besonders die Jugendlichen »handlungspraktisch mehr oder minder auf dem Weg in die Moderne« befänden, »wo sie ihre Perspektiven sehen«. So schrieb ich 2002.

Leider hat die Wirklichkeit meine Hoffnungen ebenso wie Schiffauers Theorie erledigt. Die »kulturelle Dimension des Muslim-Seins« und ihre religiöse Fundierung im Islam hat sich in den letzten Jahren weder in der Luft der Moderne aufgelöst noch einer säkularen Gesellschaft angepasst, sondern mit rasender Geschwindigkeit unter den hiesigen Migranten ausgebreitet. Wir haben es nicht mit Auflösungserscheinungen religiöser Identität zu tun, sondern im Gegenteil mit dem Aufblühen einer Gegenkultur. Der Islam, das Muslimsein, wird vermehrt zur kulturellen Identität, und die manifestiert sich vor allem in den Lebensentwürfen und in dem von Männern exekutierten Wertesystem der Familie und der umma, der Gemeinschaft der Gläubigen.

Das Migranten-Mündel

Schiffauers Überzeugung, dass die Migranten sich grundsätzlich und unumkehrbar auf dem Weg in die moderne »westliche« Gesellschaft befänden und die deutsche Gesellschaft ihnen diesen Weg zu ebnen habe, ist eine von vielen falschen Weichenstellungen gewesen, die ihre Integration hat scheitern lassen. Die Argumentation, die Migranten seien grundsätzlich »noch nicht so weit« und man könne ihnen bestimmte Anpassungsleistungen nicht abverlangen, man würde sie damit nur überfordern, hat sie auch zum Mündel einer vormundschaftlichen Politik gemacht. Das »Verstehen« ihrer Besonderheiten, wofür vor allem Kirchen, Stiftungen und Wissenschaftler und jetzt vor allem die Migranten-Organisationen selbst plädieren, führt letztlich dazu, dass die Migranten in ihrer eigenen Rückständigkeit eingemauert werden. In diesem System alimentierter Versorgung gibt es für sie keinen Anreiz, sich aus ihrem Herkunftsmilieu herauszuarbeiten, sich zu entwickeln und wirklich eine »eigene Geschichte« zu erwerben.

Ohne eine eigene unverwechselbare Biographie aber wird sich der Einzelne in den Stürmen der Moderne auf Dauer nicht behaupten können. Eine eigene Geschichte beginnt mit dem »Austritt des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie wir seit Kant wissen – zumindest gilt dies in den modernen europäischen Gesellschaften. An die Stelle der Tradition und der Gebote unserer Väter und Vorväter ist bei uns der »Geist der Gesetze« getreten. Wer die Sprache dieser Kultur nicht beherrscht, wird nicht teilnehmen können an den »gemeinsamen Erfahrungen von Emanzipationsprozessen« – vom Humanismus über die Reformation und die Aufklärung bis hin zur Herausbildung von Rechtsstaat und Demokratie –, die der Historiker Heinrich August Winkler als das historische Kapital der europäischen Kultur und als Fundament für ein »Wir-Gefühl der Europäer« ausmacht.

Stolz auf dieses Land zu sein – das erst in der Auseinandersetzung mit seinen politischen »Sonderwegen« lernen musste, sich selbst aufzuklären, um ein stabiles Mitglied dieser europäischen Demokratie zu werden –, ist den meisten Deutschen fremd, vielen sogar verdächtig. Es fehlt ihnen oft ein wenig von dem Selbstwertgefühl, das andere im Übermaß vor sich hertragen. Und zuweilen hindert sie dieser Mangel, unübersehbare Missstände anzuprangern, besonders wenn es um hier lebende Menschen aus anderen Kulturen geht. Die Deutschen hätten kein Recht dazu, diese Meinung ist unter ihnen selbst weit verbreitet. Die Angst, an andere jene Maßstäbe der aufgeklärten Demokratie anzulegen, die man unter seinesgleichen für selbstverständlich hält, führt dazu, dass Freiheitsbeschränkungen – besonders für Frauen aus anderen Kulturen – toleriert werden, die nicht toleriert werden dürfen. Die Zwangsverheiratungen unter Muslimen sind nur ein Beispiel dafür.

Meine Methode

Dieses Buch ist das Ergebnis einer über fünfzehnjährigen Beschäftigung mit dem Thema Migration. Ich habe, zusammen mit meinen Studentinnen und Studenten von der evangelischen Fachhochschule in Hamburg, Interviews mit muslimischen Gefangenen geführt, sie übertragen und ausgewertet; ich habe über längere Zeitperioden mit muslimischen Jugendlichen einer Gesamtschule in Hamburg gesprochen, mit Hodschas und Gefängnispsychologen; ich habe über Parallelgesellschaften geforscht und etliche Untersuchungen in eigener Verantwortung durchgeführt und finanziert. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch einer empirisch-repräsentativen Bestandsaufnahme; Zahlen sind kaum bekannt, und auch ich nenne nur wenige. Mein Ansatz folgt der qualitativen Sozialforschung – ich versuche, anhand ausgewählter Beispiele die grundlegenden Merkmale der türkisch-muslimischen Männerrolle herauszuarbeiten, so wie Werner Schiffauer anhand von acht Bewohnern eines ostanatolischen Dorfes auf dem Weg in die Moderne das Gemeinsame von Migrantenschicksalen herauszuarbeiten versucht hat.

Wer einem solchen Ansatz folgt, macht sich angreifbar: Männer, die sich aus der von mir beschriebenen türkisch-muslimischen Männerrolle befreit haben, die einem anderen Selbstbild folgen, die wirklich »angekommen« und integriert sind, gibt es in großer Zahl. Und jeder Einzelne von ihnen macht Hoffnung, besonders wenn solche Beispiele anstecken und ermutigen. Ich wäre froh, wenn Hunderte von Türken und Muslimen aufstehen würden und sagen würden: Seht, Brüder, ich mache es anders!

In meinem Buch »Die fremde Braut« habe ich aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland berichtet, über Zwangsheirat, arrangierte Ehen und Frauen geschrieben, denen ihre Familien die elementarsten Rechte verweigern. Das Buch hat eine heftige öffentliche Diskussion ausgelöst, weil es gegen eines der bestgehüteten Tabus der türkischen Gemeinschaft verstieß – es machte das Schicksal der gekauften Bräute öffentlich, die mitten in Deutschland ein modernes Sklavendasein führen.

Einige Kritiker haben mir vorgeworfen, dass ich meine Thesen nicht empirisch unterfüttern könne. Kurios daran ist, dass sie häufig aus der gut ausgestatteten Welt der öffentlich finanzierten Migrationsforschung kommen. Hätten nicht gerade sie in all diesen Jahren Zeit, Mittel und Gelegenheit gehabt, die Fragen von Zwangsheirat, arrangierten Ehen, Segregation zu untersuchen? Sie haben das nicht getan, weil solche Fragen nicht in ihr ideologisches Konzept passten. Damit aber haben sie auch das Tabu akzeptiert und das Leid anderer zugelassen.

Mein Bericht über die Importbräute hat von Frauen erzählt, deren Los keine bedauernswerte Ausnahme ist, sondern sich dem in der türkisch-muslimischen Kultur akzeptierten System der Zwangsheirat, der arrangierten Ehe verdankt. In den Augen der türkisch-muslimischen Gemeinschaft ist das eine »Familienangelegenheit«, die »Fremde« nichts angeht. Im Ergebnis aber steht sie der demokratischen Gleichberechtigung von Männern und Frauen entgegen, und ich hoffe sehr, dass sich die »Fremden« in jedwede Beeinträchtigung der Grundrechte einmischen.

Der muslimische Mann, das unbekannte Wesen

Muslimische Männer haben sich an der bisherigen heftigen Debatte um Zwangsverheiratungen, arrangierte Ehen und Importbräute kaum beteiligt, in ihren Augen scheint das ein »Frauenproblem« zu sein.

Wer von einem »System« spricht, das die Frauen aus der Öffentlichkeit ausschließt und unterdrückt, wird auch fragen müssen, wer davon profitiert. Die Männer? Die Patriarchen? Welchen Vorteil ziehen sie denn für sich, ihre Söhne, ihre Enkelsöhne aus dieser Unterdrückung? Der Augenschein lässt die türkisch-muslimischen Männer zunächst eher als Verlierer erscheinen. Oder warum sind so viele muslimische und türkische Jungen Schulversager? Warum haben viele türkische Jungen ein Gewaltproblem? Warum sitzen überproportional viele Muslime in deutschen Gefängnissen? Sind soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen die Ursachen dafür? Oder der Islam und die archaischen Stammeskulturen einer sich ausbreitenden »Parallelgesellschaft«?

Wer nach Antworten sucht, wird nicht umhinkommen, das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv, Familie und Tradition, Gewalt und Gehorsam, Ehre und Schande, Islam und Integration zu beleuchten und unbequeme Erkenntnisse auszubreiten. Zu lange wurden Fragen danach nicht gestellt. Das hat den Migranten ebenso geschadet wie der hiesigen Gesellschaft.

Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass die für die islamische Community verpflichtenden Gebote wie Respekt, Ehre und Schande von Männern formuliert werden. Es sind Männer, die ihre Einhaltung kontrollieren, und es sind Männer, die fraglos die Strafe exekutieren, wenn ihre Frauen die »Ehre« der Familie verletzen oder aus der ihnen zugewiesenen Rolle auszubrechen versuchen. Und es sind Männer, die deshalb immer wieder in Konflikt mit dieser Gesellschaft geraten, die zu »Tätern« werden.

Ich habe mit Männern gesprochen, die in deutschen Gefängnissen sitzen, weil sie im Namen von »Respekt« und »Ehre« gemordet, Frauen misshandelt oder getötet haben. Sie haben sich mit Männern geschlagen, auf andere geschossen. Dieses Buch erzählt ihre Geschichten, die mich überhaupt erst begreifen ließen, dass sie selbst als Täter oft nur »Opfer« der muslimischpatriarchalischen Verhältnisse sind, »Opfer« der starren Gebote einer archaischen Männerrolle und eines verpflichtenden Selbstbildes, das ihnen keinen Entscheidungsspielraum gelassen hat.

Für die deutsche Gesellschaft ist der muslimische Mann ein »unbekanntes Wesen«. Sozialarbeiter, Lehrer, Polizisten, Richter müssen sich mit ihrem Verhalten oder ihren Taten auseinander setzen, wobei die Motive oft unerklärlich erscheinen. Die türkischen, vor allem die muslimischen Männer scheinen das größere Integrationshindernis zu sein. Das muss sich ändern. Und dazu möchte ich mit diesem Buch einen Beitrag leisten. Es ist ein Buch über die verlorenen Söhne und eine Reise in die Landschaften der muslimischen Männerwelt, eine Reise durch eine karge, harte Bergwelt mit öden Ebenen und lebensgefährlichen Schluchten. Wie eine Reise nach Uzun Yayla.

Allah möge ihn auf Rosen betten

Dies ist die Geschichte von Haluk und seinem Bruder, die – wie meine Familie – aus dem »Weiten Tal« im östlichen Anatolien kommen. Sie erzählt von der Macht der Familie, von Gehorsam und Verrat. Es ist die Geschichte von einem, der in die Fremde aufbrach und doch sein Dorf nie verließ.

Im Sommer, nachdem ich Haluk in seinem Mansardenzimmer besucht hatte, machte ich mich tatsächlich auf den Weg nach Anatolien. Ich bin diesen Weg schon mehrfach gefahren, zum ersten Mal, als meine Mutter von Istanbul aus an das Sterbebett ihres Vaters eilte; das zweite Mal, als meine Eltern meine große Schwester, mich und meinen kleinen Bruder bei meiner Großmutter für ein Jahr abgaben, weil sie nach Deutschland wollten. Das ist jetzt fast vierzig Jahre her. Und doch ist es auch heute noch so: Wenn ich in den Überlandbus steige, beginnt eine Reise in eine andere Zeit.

Auf dem Busbahnhof in Ankara werde ich vom Busfahrer gleich mit selamün aleyküm begrüßt, mein Onkel aus Ankara hat mir eine Platzkarte für einen der vorderen Plätze besorgt, die gern von allein reisenden Frauen in Anspruch genommen werden. Frauen reisen selten yanliz kadin, ohne männliche Begleitung. Und im Bus darf sich auch kein Mann neben eine allein reisende Frau setzen, das würde als Belästigung empfunden. Eher würde der Platz unbesetzt bleiben und der Reisende zurückbleiben, als dass er sich neben eine Frau setzen dürfte. Und wenn die ersten der mitreisenden Frauen ihre Kinder mit gadan alayim ansprechen, einem Spruch in Kayseri-Dialekt, der so viel bedeutet wie »Lass mich dein Opfer sein«, weiß ich: Ich bin auf dem Weg in meine türkische Heimat. Im Bus läuft bereits das Radio, das während der ganzen Fahrt anatolische Volkslieder spielen wird, unendlich traurige, von Sehnsucht und Schmerz kündende Gesänge, die das Herz einen anderen Rhythmus anschlagen lassen. Eine kleine, runde Frau mit leuchtend braunen Augen, schickem Kopftuch und langem Mantel fragt: »Na, meine Tochter, wollen Sie auch in die Heimat?« Als ich antworte, dass ich jemanden besuchen möchte, fragt sie, wo und wen und wie lange ich bleiben werde. Andere Reisende mischen sich ein, Verbindungen zwischen Dörfern und Familien werden hergestellt, und spätestens wenn der Bus losfährt, hat man das Gefühl, mit diesen eben noch wildfremden Menschen »unter sich« zu sein.

Richtung Osten, hundert Kilometer hinter Ankara, beginnt eine unendliche rote Landschaft, Kappadokien, in der sich Hügel und Täler abwechseln und das einzige Lebewesen der am Himmel kreisende Falke zu sein scheint. Und irgendwann ertönt unvermeidlich gesi baglarinda dolaniyorum aus dem Lautsprecher, das Lied der Kayserianer, das vom Verlust der Liebsten singt und meine Mutter immer zu Tränen rührte, wenn sie es in Istanbul oder in Deutschland hörte.

In Kayseri angekommen, werde ich meist von einem meiner unzähligen Cousins abgeholt. Diesmal übernachte ich bei meiner Tante, die mit ihrem Mann in einem Drei-Zimmer-Apartment wohnt. Sie ist erst kürzlich ihren Kindern aus dem Dorf nach Kayseri gefolgt, nachdem auch die jüngste Tochter dorthin verheiratet worden war. Früher hat sie einen großen Hof mit zweihundert Schafen bewirtschaftet, jetzt hütet sie hier im achten Stock ihre sieben Enkelkinder. Tief verschleiert, wie mittlerweile die Mehrheit der Frauen in dieser Stadt, und nichts wichtiger erachtend als ihre religiösen Pflichten, lebt die ehemalige Bäuerin in der Großstadt, die zunehmend vom Islam erobert wird. Die Tante hat icli köfte gemacht, Bulgurklöße mit einer Hackfleisch-Nuss-Füllung, und wir sitzen in dem Hochhaus im Wohnzimmer, das eingerichtet ist wie in ihrem Dorfhaus. An der Wand liegen auf einem Podest Kelimkissen, zum Essen wird das sofra, ein niedriger Tisch, in die Mitte des Raums gerollt, vor dem man auf dem Boden sitzt. Die Tante, ihre drei Gelins, ihre Schwiegertöchter, und die sieben Enkelkinder haben sich zum Essen eingefunden, die Männer sind entweder in der Moschee oder bei der Arbeit. Das war früher im Dorf anders – der Gast war Mittelpunkt der Gemeinschaft von Männern und Frauen.

Haluks Dorf

Am nächsten Tag fahre ich weiter mit dem Bus, immer noch Richtung Osten, bis ich irgendwann in ein Taxi umsteigen muss. Haluks Dorf liegt auf einem kleinen Berg, und als ich den Taxifahrer bitte, mich am Fuße des Berges abzusetzen, damit ich den Rest zu Fuß hinauflaufen kann, ist er irritiert: Es schicke sich nicht für eine Frau, in einem fremden Dorf ohne männliche Begleitung anzukommen. Er bietet an, mich zu begleiten, damit ich im Dorf ehrenvoll begrüßt werde. Aber da bin ich schon losgelaufen. Auf halbem Weg kommen mir die Kinder des Dorfes entgegen, für sie bin ich eine kleine Sensation, jedes Kind möchte meine Hand nehmen und mich zum Haus von Haluk führen. Der hat mich schon aus der Ferne gesichtet und wartet auf mich, auf einem Steinhaufen sitzend. »Das hier war mein Haus«, sagt er. Man ahnt noch den Grundriss, wenngleich viele Steine in der Gegend verstreut herumliegen. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie wegzuräumen. Viele Häuser im Dorf sind verlassen, die Bewohner sind in die Stadt gezogen oder nach Deutschland. Einige nutzen ihre Häuser am Wochenende oder im Sommer, wie auch Haluks Familie, die hier noch ein Gebäude besitzt und an dem von der Zeit vergessenen Ort Urlaub macht. Seine Schwester bringt uns Tee und im Lehmofen gebackenes Brot mit kushabska, einer Paste aus Schafskäse, Ei und fester Sahne.

Haluk ist glücklich, wieder hier sein zu können. Kerzengerade auf den Trümmern seines Hauses sitzend, erzählt er stolz von seinem Dorf. Seine blauen Augen scheinen hier noch leuchtender zu sein, so als seien sie ein Abglanz jenes echten Himmelblaus, dem wir hier näher sind als anderswo. Haluk wirkt um Jahre verjüngt. Seit fünfunddreißig Jahren lebt er in Deutschland, aber in seinem Herzen hat er sein Dorf nie verlassen. Er weiß mehr über seine Bewohner und über die Tiere, die im Stall seiner Schwester stehen, als von irgendwelchen Ereignissen und Vorgängen in dem Land, in dem er elf Monate des Jahres lebt. Es interessiert ihn auch nicht wirklich. Seine Familie ist ihm wichtig, er ist zufrieden, dass er immer ein guter Sohn und Vater gewesen ist und auch in der Fremde für seine Familie gesorgt hat. »Und gib dem Verwandten, was ihm [von Rechts wegen] zusteht«, befiehlt der Koran (Sure 17, Vers 26). Dieses Gebot hat Haluk immer befolgt, davon handelt seine Geschichte.

Ein Haus für die Familie

Zum Spielen hatte Haluk keine Zeit. Er stand morgens bei Sonnenaufgang auf, mähte die Wiesen, fuhr das Heu ein und bestellte die Felder, und abends ging er nach Hause. Haluk war ein Kind, fünf oder sechs Jahre alt, als ein solcher Alltag für ihn begann, und sein Leben verlief so, bis er zum Militär eingezogen wurde. Nie ist Haluk zur Schule gegangen.

Sein Vater, »Allah möge ihn auf Rosen betten«, sei ein guter Mensch gewesen, erzählt er mir, gut zu seinen Kindern, zu den Nachbarn, zu allen im Dorf. Nur arbeiten mochte er nicht. Er kam aus einer Gutsherrenfamilie und war das Arbeiten nicht gewöhnt. Früher hatte man bei ihm zu Hause Sklaven gehalten, aus dem Kaukasus. Als in der neuen Republik Atatürks die Sklaverei verboten wurde, mussten die Effendis, die Herren, selbst anpacken, und das fiel manchen schwer. Sie waren Krieger gewesen, stolz auf ihren Guerillakampf gegen Atatürk – für die Feldarbeit mochten sie keinen Finger rühren, jedenfalls nicht mehr, als nötig war, um Mensch und Tier durch den Winter zu bringen. So saß auch Haluks Vater lieber Karten spielend im Männercafé oder ging in die Moschee.

Haluk wollte ein solches Leben nicht führen. Ihm war das nicht genug, er wollte, dass seine Familie weiterkam, und er sah, dass die Mischung aus Nichtstun und Resignation, die sein Vater verströmte, die ganze Familie zu erfassen drohte. Sein ältester Bruder, sein Abi, war genauso, er zog lieber, fein herausgeputzt, von Dorffest zu Dorffest und machte den Mädchen schöne Augen. Haluk war es, der für die Familie sorgte, für die Mutter, die beiden Schwestern, den Vater und für den Abi. Er musste hart arbeiten, und die anderen nahmen es, ohne es ihm zu danken, an.

Als er fünfzehn war, beschloss Haluk, der Familie ein neues Haus zu bauen. Mit einem Bindfaden zog er den Grundriss, sammelte Steine auf dem Feld und schichtete sie sorgfältig an der Schnur entlang auf, um sie danach mit Lehm und Mist zu Mauern zu verputzen. Ein Jahr lang arbeitete er hart, der Fünfzehnjährige, ab und zu kam sein großer Bruder vorbei, lobte ihn und feuerte ihn an. Aber Haluk hielt auch ohne Hilfe durch, und so entstand ein Haus mit zwei großen Zimmern. Zwischen den Zimmern gab es einen geräumigen Flur, in dem gekocht wurde.

Sommers wie winters wurde Bulgur gegessen, geschroteter, gehackter und getrockneter Weizen, der in einem großen Kessel über dem offenen Feuer köchelte, bis er gar war, auf ein großes Tablett geschüttet und mit Butter übergossen wurde. Dazu gab es ayran, ein Joghurt-Getränk, das Haluks Mutter aus der Milch der eigenen Schafe, mit Wasser und etwas Salz zubereitete, börek, Blätterteigpastete, und selbst gebackenes Brot, an guten Tagen auch Fleisch oder Huhn, im Sommer Obst und Gemüse. Jeder in der Familie hatte eine Zinnschüssel, einen aus Holz geschnitzten Löffel und eine Gabel. Abends wurden die mit Schafswolle gefüllten Bettdecken für die Kinder ausgebreitet und morgens wieder eingerollt und in großen Wandschränken verstaut. Tagsüber dienten selbst gewebte Kelims und große Kissen auf dem Boden als Sitzgelegenheit. In das andere Zimmer hatte Haluk eine lange Bank aus Lehm gemauert, die zugleich als Schrank diente und mit schönen Kissen gepolstert wurde. Für die Eltern zimmerte er ein Bett aus Holz, und seine Mutter legte es mit der gestickten Bettwäsche aus ihrer Aussteuer aus. Dieses Zimmer, Haluks ganzer Stolz, war fortan die gute Stube, in der auch die Gäste empfangen wurden.

Die Entführung

Eines Tages saßen die jungen Männer des Dorfes nach der Arbeit oben auf dem Dach eines Hauses und plauderten, als einer von dem »stattlichen Mädchen« schwärmte, das am heutigen Tag ins Dorf gekommen war, um seine Schwester zu besuchen. Haluk wurde neugierig. Die anderen wussten, wenn Haluk oder sein Abi sich für das Mädchen interessierten, dann waren sie selbst aus dem Rennen, denn die beiden waren großartige Tänzer bei den Dorffesten. Bei den Kaukasus-Tänzen steht der Mann im Mittelpunkt, und der beste Tänzer hat die meisten Chancen bei den Mädchen. Haluk und sein Abi hatten unzählige kesans, Flirts.

Als Haluk die Neue sah, wusste er, die soll es sein. Ihr ging es ebenso, und die beiden gaben sich ein Zeichen – er war bereit, sie zu entführen. Das machte man oft so, um die Kosten für die Hochzeit zu sparen, denn seine Familie war arm und hätte sich eine solche Braut nicht leisten können. Der Brautpreis wäre zu hoch gewesen. Zwei Tage später fand die Entführung statt. Haluk, der damals siebzehn war, und seine Brüder waren dem Mädchen, das mit der Mutter und dem Bruder schon wieder auf der Heimreise war, im Taxi nachgefahren und holten die junge Frau, als der Bruder beim Freitagsgebet war, aus dem Hotelzimmer. Jetzt war die Ehre ihrer Familie verletzt, jetzt mussten die beiden heiraten, wenn es kein Unglück geben sollte. Die Familie seiner Braut hat ihm die Entführung nie richtig verziehen. Ihr Abi verweigerte zehn lange Jahre jeden Kontakt, die Entführung hatte seine eigenen Heiratspläne zerschlagen. Er wollte ein Mädchen heiraten, für das ein hohes Brautgeld verlangt wurde, und hatte dem Bruder seiner Auserkorenen seine Schwester zum Tausch anbieten wollen. Durch die Entführung war das Geschäft hinfällig geworden, er musste sich mit einer ehemaligen Sklavin als Frau begnügen und lebte zusammen mit seiner Frau und seinen sieben Kindern zurückgezogen von der Gemeinschaft, bis er früh starb. Darüber redet man bis heute im Dorf.

Es war eng bei Haluks Familie, keine einzige Stunde waren die Brautleute allein. Aber irgendwann konnten sie in das Haus der Nachbarn ziehen, die in die Stadt gegangen waren. Haluk bestellte ihre Felder, durfte dafür die Hälfte der Erträge behalten und umsonst in ihrem Haus wohnen.

Die Heimkehr des Abi

Monate später wurde er, zusammen mit seinem jüngeren Bruder, zum Militär eingezogen. Da war ihm und seiner Frau gerade eine Tochter geboren worden, sein Vater kurz zuvor gestorben. Haluk musste Frauen und Kinder allein im Dorf zurücklassen. Es dauerte damals Wochen, bis Briefe zugestellt wurden, und so war er fast zwei Jahre ohne Nachricht von seiner Familie. Als er heimkehrte, stand er vor dem Nichts. Sein Abi hatte alles verkauft – das Haus, die Ländereien, das Vieh. Haluks Frau lebte mit der zweijährigen Tochter von Spenden der Verwandtschaft, ihnen war nichts geblieben, sie hungerten. Seine Mutter war mit den zwei kleinen Kindern seines Abi zu dem jüngsten Sohn in die Großstadt gezogen. Auch Haluks Abi hatte inzwischen geheiratet, seine Frau aber bald wieder verstoßen. Da sie in einer Imam-Ehe getraut worden waren, musste er nur in Gegenwart von Zeugen sagen: »Hiermit verstoße ich dich ...«, dann wurde die Frau zu ihren Eltern zurückgeschickt. Doch danach hatten sich die beiden noch einmal versöhnt, ein drittes Kind wurde später geboren, aber da der Abi unbedingt nach Istanbul wollte, verstieß er seine Frau zum zweiten Mal.

Als Haluk eingezogen wurde, hatte sein Abi gesagt: »Wenn du beim Militär bist, dann weiß ich, was zu tun ist.« Haluk hatte das für ein Versprechen des Abi gehalten, sich um die Familie zu kümmern. In Wahrheit aber war es die Ankündigung eines bösartigen Plans gewesen – sobald der Jüngere fort war, alles zu verkaufen, was die Familie besaß, das Geld zu nehmen und in die Stadt am Bosporus zu ziehen. Er wolle endlich schön leben, sagte der Abi. Seine Frau musste, nachdem er sie verstoßen hatte, ihre drei Kinder bei der Familie des Mannes zurücklassen, so gebietet es die islamische Tradition. Das Jüngste war damals gerade vierzig Tage alt, so lange muss das Kind bei der Mutter bleiben, danach kann die Familie des Vaters mit ihm machen, was sie will. Die Frau des Abi nahm sich kurze Zeit später das Leben. Haluks Abi heiratete noch sechsmal auf diese Weise und setzte unzählige Kinder in die Welt. Für keines hat er je die Verantwortung getragen, erzählt mir Haluk. »Aber es steht mir nicht zu, ihn zu kritisieren oder zu verurteilen. Schließlich ist er mein Abi, und er konnte tun, was er für richtig hielt.«

Auch Haluk ging mit seiner Familie nach Istanbul. Seine Frau hatte ein Kalb vor dem Verkauf retten können. Davon bezahlten sie die Busfahrt und mieteten zwei kleine Zimmer in einem gecekondu, einem jener grauen Vororte der Hauptstadt, in denen es billigen Wohnraum in den schnell aus dem Boden gestampften Betonbauten gab. Haluk fand eine Arbeit als Schlosser. Als sein Abi hörte, dass der jüngere Bruder in der Stadt war, kam er und zog in eins der beiden Zimmer ein. Er hatte kein Geld mehr und brauchte Unterstützung. Haluks Frau wusch ihm die Wäsche und bügelte seine Hemden; Nachlässigkeit in seiner Kleidung duldete er nicht. Vor zwei Jahren sei er gestorben, erzählt Haluk, »Allah möge ihn auf Rosen betten«. Er kam bei einem Autounfall ums Leben. Zu seiner Beerdigung reiste die ganze Verwandtschaft aus der Türkei und aus Deutschland an. »Wir haben ihn wochenlang beweint. Der Arme.«

In der Fremde

Nach drei Jahren in Istanbul ging Haluk mit seiner Frau und seiner inzwischen achtjährigen Tochter und dem dreijährigen Sohn nach Deutschland, dorthin, wo seine verheiratete Schwester bereits lebte. Seine Frau und er wollten schnell Geld verdienen und dann in ihr Heimatdorf zurückkehren. Beide gingen arbeiten und wohnten zusammen mit anderen türkischen Familien sehr bescheiden in einem alten Haus. Damals wurde ihnen ein zweiter Sohn geboren. »Deshalb konnten wir unsere Tochter nicht zur Schule schicken, sie passte auf die beiden kleinen Brüder auf, während wir zur Arbeit waren. Als mein ältester Sohn sieben Jahre alt wurde, schickten wir ihn zurück nach Anatolien, damit er dort in die Grundschule ging, das war uns wichtig. Meine Mutter lebte mit den Kindern meines Abi allein in einem Lehmhaus, mein Sohn kam dazu, und ich schickte ihnen Geld. Niemand hätte die Kinder sonst versorgt. Als der zweite Sohn sieben war, schickte ich ihn und seine Schwester ebenfalls in die Türkei, damit der Kleine dort zur Schule kam und meine Tochter meine Mutter versorgen konnte, die nicht mehr alles allein schaffte. Als mein Ältester sechzehn wurde, haben wir ihn wieder nach Deutschland geholt und einige Jahre später mit einer echten Tscherkessin aus unserem Nachbardorf verheiratet. Er hatte zwar seit vielen Jahren eine deutsche Freundin, aber es musste sein. Er hat es eingesehen und ist glücklich.

Heute leben wir mit der Familie meines Sohnes in einem Haus. Mein Sohn versorgt uns, meine Tochter hat in der Türkei geheiratet, und mein jüngster Sohn lebt auch in der Türkei. Leider hat er zwei linke Hände wie sein Onkel, mein Abi. Er lebt gern, mag aber nicht gern arbeiten, er ist eine Frohnatur. Ganz anders mein Großer – der ist wie ich, arbeitet Tag und Nacht, er hat mit seinen zweiunddreißig Jahren fast schon Gicht in den Händen und muss doch auch noch seinen kleinen Bruder und dessen neue Familie mitversorgen, den wir vor zwei Jahren in der Türkei verheiratet haben. Die Kosten der Hochzeit und alle Ausgaben, die für die Familiengründung notwendig waren, hat natürlich mein Ältester übernommen. Das gehört sich so. Einer muss für den anderen da sein.«

Dienen und gehorchen