Wolfgang Büscher

Berlin - Moskau

Eine Reise zu Fuß

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Karte

TEIL 1   BERLIN VERGESSEN

Abschied

Allee der Geister

Am Feuer

Jenseits der Oder

Sterne, die wandern

Polski Zen

Die Liebe einer polnischen Gräfin

Die Tom-Bar ist ein übler Ort

Eine ernsthafte Grenze

TEIL 2   IM WEISSEN LAND

Schmugglerinnen

Herr Kalender schreit in der Nacht

Das komplizierteste Land der Welt

Die Liebe eines russischen Partisanen

Staub der Tage

Minsky

In der Zone

Die Liebe eines deutschen Hauptmanns

Ein sibirischer Yogi

Hotel Belarus

Drink Vodka!

Unheimlich

Fernsehen in Vitebsk

TEIL 3   RUSSISCHE WEITEN

Über die Grenze im Sturm

Das blaue Haus

Totenwaldbeeren

Der Weg nach Wjasma

Wald der Wunder

Der Kampf

Es wird kalt

Moskau!

Danksagung

 

Für Susanne und

Anna Delfine

TEIL 1

BERLIN VERGESSEN

ABSCHIED

Eines Nachts, als der Sommer am tiefsten war, zog ich die Tür hinter mir zu und ging los, so geradeaus wie möglich nach Osten. Berlin war ganz still an diesem frühen Morgen. Alles, was ich hörte, war das Pochen der eigenen Schritte auf den Dielen, dann auf Granit. Eine Süße lag in der Luft, das waren die Linden, und Berlin lag wach, aber es hörte mich nicht. Es lag wach wie immer und wartete wie immer und hing wirren, gewaltigen Träumen nach, die aufblitzten wie das Wetterleuchten dort über dem Häusermassiv. Es hatte geregnet die Nacht, ein Bus fuhr vorüber, seine Rücklichter zogen rote Spuren über den nassen Asphalt. Verkehr kam auf, in den Alleen schrien die Vögel, zitternd sprang die Stadt an, bald würden Angestellte in breiter Formation in ihre Büros fahren. Damit hatte ich nichts mehr zu tun.

Wie schnell war dieser Morgen am Ende näher gekommen, jetzt war er da. Was wirklich nötig ist, über die Schulter werfen und den Rest fort, den ganzen tröstlichen Ballast. Die Tür zu, morgen früh eine andere und wieder eine und noch eine und weiter, weiter. Über die Oder, die Weichsel, die Memel. Über die Beresina, über den Dnjepr. Bis in die Nacht. Bis in den Tag. Bis es gut ist. Etwas wie Scham fiel auf mich angesichts der Ungeheuerlichkeit des Satzes, ich gehe heute nach Moskau. Ich war froh über die Stille von Berlin. Blicke hätte ich nicht ertragen.

Seitlich bewegte sich etwas. Ein Schaufenster, darin ein Mann. Er geht durch den dunklen Spiegel in seiner nagelneuen olivgrünen Militärhose, dem olivgrünen Hemd, in guten Stiefeln. Die sind geschenkt, und sein Gang ist fester als nötig. Spiegel, wenn dieser Sommer zu Ende ist, wo bin ich dann? Das Schaufenster war aus altem, blasigem Glas, es zitterte, als ginge Wind übers Wasser, und das Bild verlor sich in psychedelischen Schlieren. Dann fuhr eine S-Bahn ab, die letzte für lange, ich horchte ihr nach, ihrem Anrucken und Aufheulen, wie es sich beruhigte und im Westen verlor. Etwas war im Auge gewesen zuletzt, ein Kratzen in der Kehle, ein Zögern vor dem honigfarbenen Licht auf den Dielen, jemand blieb zurück.

Dann war da noch der Supermarkt am äußersten östlichen Rand der Stadt, zwei Männer in kurzen Hosen warteten auf einer Bank, dass er aufmachte. Ein dritter kam. Ick trinke allet, rief er, Cola, Bier, Schnaps, allet, und schob sein Wägelchen vor sich her wie die alte Frau Weigel auf dem Theater der Stadt, die ich jetzt verließ. Mach’n Fisch, riefen die zwei von der Bank, und der Allet-Mann machte den Fisch und haute ab in den neuen Tag, der hatte die Farbe von feuchtem Kalk und roch auch so. Das wirklich allerletzte, was ich von Berlin sah, war eine tote Maus. Als alles forthuschte von den Gemetzeln der Nacht, war sie liegen geblieben, und obwohl sie bemerkenswert beleibt war, hatte keine Katze sie gefressen. Sie streckte alle viere von sich, und der trostlose Kasten von einem Kindergarten, der in der Nähe stand, hieß «Tausendfüßler», ein lustiger Riesentausendfüßler war darauf gemalt. Ich überging den Spott und die Maus, zog den Rucksackgurt fester, bog in die erlösende letzte Kurve und war weg.

ALLEE DER GEISTER

Am ersten Tag auf der Straße geschah nichts weiter, als dass ich ging und ging und mir im erstbesten Dorfladen hinter Berlin ein Nähset kaufte, das warf ich weg. Ich behielt nur die Schere, weil sie so leicht war, darauf kam es an. Sie war so winzig, dass sie mir immer wieder von den Fingerkuppen rutschte, aber mit etwas Mühe und Übung gelang es, passende Streifen vom Pflaster zu schneiden, um die Druckstellen am rechten Fuß zu polstern, bevor Blasen daraus wurden. Es war immer der rechte Fuß, nie der linke, dabei blieb es bis Moskau.

Der Tag, der so kalkig begonnen hatte, war heiß geworden und schwül, das Dorf Werder lag eben hinter mir. Mit ostelbischen Dorfnamen ist es wie mit den Berliner Proletarierbetten der zwanziger Jahre, doppelt und dreifach belegt. Malchow. Wustrow. Glienicke. Werder gebärdete sich wie ein Dorf im Dreißigjährigen Krieg, es hielt den Atem an, als ich durchzog, und tat hinter den mannshohen gelben Backsteinmauern seiner geschlossenen Höfe, als sei es nicht da, und seine Feldsteinkirche nahm Deckung unter den alten Kastanien. In ihrem Schatten hatte ich ein paar Minuten gesessen, dann war Werder wieder allein mit seinen kommunistischen Dorfstraßen, die nach Karl Marx und Ernst Thälmann hießen, und seinen zärtlichen Sandwegen und seiner sirrenden, flirrenden Mittsommerstille, die etwas Brütendes, Dämonisches hatte.

Ein Radfahrer holte mich ein und wollte plaudern. Bis Müncheberg und zurück, das sei seine Tour. Ich murmelte etwas von einer längeren Wanderung und ließ ihn stehen. Schon in den Wochen vor dem Abmarsch war der Widerwille, darauf angesprochen zu werden, stark gewesen. Ich würde es tun, aber was hätte ich sagen sollen? Ich ging schnell durch die stillen Dörfer, nahm Feldwege wie diesen, mied Menschen und ihre Blicke.

Der gerade Weg ostwärts war jetzt der lange, schattenlose Sandweg durchs Rote Luch, eine tausend mikroskopische Leben und Tode brütende Senke. Es arbeitete und arbeitete. Rotorenflügel in der Luft, unten im Gras gefräßige braune, schwarze, metallicgrünblaue Panzer, ganze Armeen kleiner Leiber am Werk. Die Senke schwirrte und pochte, und ich blieb stehen, um das reine Mittagsrauschen nicht durch das Nebengeräusch meiner Schritte zu stören. Nach einer Weile hörte ich einen Puls heraus, er hatte die bebende Monotonie moderner Tanzmusik. Aufebben, abebben, wieder hoch pegeln. Das Luch kochte und tanzte. Rinnsale liefen in rascher Folge an mir herab, die Wellen der Luchmusik waren nun deutlich zu hören, ich wunderte mich, dass ich den kosmischen Sound zuvor nie so klar vernommen hatte und näherte mich der Idee, dass das Rote Luch gleichzeitig sendete und empfing, eine riesige Satellitenschüssel, eingestellt auf die Frequenzen dort draußen. Das war nicht so abwegig, wenn man aus Berlin kam, wo auf dem einzigen Berg der Stadt, einem Trümmerberg, noch immer die gewaltigen Kuppeln der Anlage standen, mit der in der Zeit des Kalten Krieges der Osten abgehorcht wurde wie ein lungenkrankes Kind. Und immer wieder waren verrückte Propheten in Berlin aufgetaucht und hatten die Existenz geheimer Sender verkündet, die uns alle steuerten und folterten. Ich dachte an den Sendermann, der vor vielen Jahren mit hohen, schwankenden Antennen auf dem Kopf durch die Stadt gelaufen war. Hier hätte er sich seine Peilposition suchen sollen, hier wäre er gesund geworden, hier im Roten Luch. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, wie vor meinen Füßen ein kleines Heer großer roter Ameisen ein Pfauenauge zerlegte. Die bepuderten Segel bebten, als ob es gleich losfliegen wollte, aber das war nur die Folge der Heftigkeit, mit der die roten Schlachter den Schmetterling tranchierten, er lebte nicht mehr.

Ich stieß auf die alte Reichsstraße 1 bei «Anjas Rasthaus», und die Welt sah wieder aus wie im Fernsehen. Ich bestellte Brot, Schafskäse und viel Wasser und warf den Rucksack auf einen Stuhl, er war mir schwer geworden, zu schwer, ich musste etwas tun, bevor ich über die Oder ging. Ich hatte gemeint, nur das Nötigste gepackt zu haben, nun wusste ich, dass ich mit sehr viel weniger würde auskommen müssen.

Gegen Abend ging ich auf das letzte große Schlachtfeld des Zweiten Weltkrieges zu, die Seelower Höhen. Hinter Münchehof lag wie ein Wegzeichen der Pergamentballon eines sonnengetrockneten toten Frosches, vor Jahnfelde ein Fuchs, sein Kopf war zerfetzt. Von den Rapshügeln vor Diedersdorf trieben Staubwolken heran und färbten mich gelb, eine Formation gewaltiger roter Mähdrescher rückte langsam gegen eine Gewitterfront vor, während der Himmel schwärzer und schwärzer wurde. Ich erreichte Seelow in dem Augenblick, als es losbrach, glücklicherweise war das Hotel eines der ersten Häuser auf meiner Seite der Stadt.

Während das Gewitter tobte, verbrachten drei Männer drei einsame Abende an drei Tischen des Hotelrestaurants. Einer sah wie ein englischer Tierfilmer aus in seiner Cordweste, er bestellte ein Kännchen Tee nach dem andern und korrigierte, als säße er im abendlichen Monsunguss allein in seinem Tierfilmerzelt, sein Skript, von dem er kaum aufblickte. Er war der Stoiker in den Kolonien. Der, welcher überlebt. Der andere war der Lou-Reed-Look-Alike-Man auf der Durchreise. Er hielt die Stille im englischen Tierfilmerzelt nicht aus. Er war der, den die Tropen kirre machen und in Versuchung führen und am Ende fressen. Die Irrlichter hinter seiner rot getönten Brille suchten einen Kumpel gegen die Melancholie des Monsuns, und passte man eine Sekunde nicht auf, schlug er Pontonbrücken von Tisch zu Tisch.

Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ich nahm die Taschenlampe und ging zum Soldatenfriedhof. Ich brauchte sie nicht, die Steine von Seelow lagen gut lesbar im Vollmond, sie lasen sich wie die mürbe gegriffenen Kärtchen in den langen Schubkästen der Bibliothek einer geisteswissenschaftlichen Fakultät, sagen wir in Marburg an der Lahn. Der Mayer. Der Conrad. Valentin. Schiller. Deutsch. Süß. Jung. Sie fehlten alle. Ich versuchte mir vorzustellen, was für ein Land es geworden wäre, bei dem sie alle dabei wären und nicht Namen in Stein. Ein umständehalber nicht nachgelassenes Werk, eine ausgebliebene, was auch immer umwälzende Revolution. Der deutsche Pop war auch da, der ältere, abgebrochene. Der Schmeling. Der Albers. Einer hieß Gutekunst. Normalerweise eine Martinwalsererfindung, Leberecht Gutekunst oder so, aber zum Grübeln über Deutschland war nicht die Zeit. Die Steine summten sich ein und schunkelten schon, der ganze Friedhof pfiff jetzt die bekannte Melodie: Where have all the Mayers gone? The Deutsch. The Süß. The Jungs. Die Jungs von 1945 waren nicht einmal zwanzig gewesen, es war eine Schlacht der Achtzehnjährigen, von der Schulbank weg. Die meisten wurden in Granattrichtern verscharrt, nicht aus nazistischer Boshaftigkeit oder pazifistischer Abschreckung, sondern weil die Schlacht wüst war und schnell und grausam und es anders nicht ging. Am häufigsten fand sich auf den Steinen von Seelow der Name Unbekannt.

Ich war müde, meine Laune war übel. Ich ging und ging und kaute und kaute diese Namen und diese Geschichten und ging im Kreis durch eng beschriebenes Land. Ich dachte an ein Land, in dem man tage- und wochenlang keinen Menschen trifft. Ich holte mir ein Bier und setzte mich auf ein Grab, es war ein Unbekannt. Ich musste lachen. Unbekannt war hier gar nichts. Ich kannte alles, ich wusste immer genau, wo ich ging und stand, und wenn ich es einmal nicht wusste, war ganz sicher jemand in der Nähe, der es gut mit mir meinte und es mir sagte.

Vorhin im Seelower Kriegsmuseum hatte man mir erklärt, dass ich den halben Tag die Allee der Gehenkten gegangen sei und morgen weiter gehen würde. Die ganze lange Chaussee von Müncheberg bis Küstrin an der Oder hieß so im Frühjahr ’45, unter vier Augen, versteht sich, Sie wissen schon, die SS. Ja, ich wusste schon. Seltsame Früchte hatten von den Bäumen gehangen, deren Schatten ich suchte. Die SS war ganz verrückt gewesen nach der Delikatesse. Während links und rechts der Heerstraße Männer fielen wie die Fliegen, weil eine wilde und nicht völlig unberechtigte Angst vor den Russen sie zum Letzten trieb, schienen die SS-Männer, welche die Bäume zwischen der Oder und Müncheberg dekorierten, nicht so sehr Lust zu verspüren, sich an die Front zu werfen als Mordlust am eigenen Volk. Deserteur war man schnell, und gefackelt wurde nicht lange. Rauf auf den Lastwagen, und Halt dort unter der Linde, ja die da, die nehmen wir, und Schlinge um den Hals, und gib Gas. Wieder einer. Die SS ergab sich hier draußen derselben beleidigten Rachsucht wie der gemütskranke Bräutigam in Berlin. Wenn schon alles aus ist, dann wollen wir der Braut doch noch einmal zeigen, wen sie nicht verdient hat. Wessen sich das deutsche Volk am Ende als unwürdig erwies. Was wir, die es erwählten aus dem Morast seines germanischen Mittelmaßes, von seinem Verrat am Führer halten.

Ich hatte das Gefühl, jemand setzte sich neben mich, ich sah nicht hin, ich wusste schon, wer. Wie schnell er mich eingeholt hatte, gleich am ersten Abend, und es würde jetzt immer so sein, sein Weg war meiner, und mein Weg war der Weg Napoleons und der Heeresgruppe Mitte, und der letzte wiederum war seiner gewesen. Ich ging nach Moskau, und der Landser ging mit, um mir ein wenig auf die Nerven zu fallen mit seinen Einflüsterungen von Granattrichtern und Gehenkten. Ich musste ihn nun fragen, wer er denn sei, und ihn bitten, mehr von seinen Geschichten zu erzählen, die historische Höflichkeit erforderte das. Ich kenne dich, murmelte ich, du bist der Gymnasiast aus München, der mit dem «Faust» in der Tasche seiner Uniform. Ich kenne dich aus dem Seelower Museum, sie sammeln dort Fälle wie deinen in grauen, etwas zerbeulten Aktenschränken; seit dem Einbruch kreischen die Blechtüren, wirklich, es hatte dort einen Einbruch gegeben, so weit ging die Liebe zur deutschen Geschichte. Ich weiß alles über dich. Vom Goethe weg in den Aprilschlamm der letzten Ostfront geworfen, sollst du die Höhen von Seelow halten, die letzte Linie vor Berlin, und dann ist es drei Uhr in der Frühe, und neuntausend russische Geschütze und Granatwerfer brüllen los und reißen dich hoch aus deinem bleiernen Schlaf und drücken dich tief in dein Erdloch zurück, und jetzt gehen hundertdreiundvierzig russische Flakscheinwerfer auf einmal an und blenden dich, und es ist der 16. April 1945, ein warmer, sonniger Frühlingstag wird das werden, und der Iwan pflügt das Oderbruch um, und der Fritz feuert von den Höhen herab auf die Anstürmenden, und am Abend sind sehr viele Russen tot und vielleicht auch du, Gymnasiast, der du deine Zuflucht nimmst zu «Faust» I und II und versuchst, es auszuhalten, und du klammerst dich an das, was du eben hast und was dir bleibt, und das ist jetzt der Schulgoethe, und du rezitierst mit schlotternder Kinnlade den Osterspaziergang hier im blutigen Schlamm, und um dich her spritzen Garben, und Granaten schlagen ein und so weiter – ich sah zur Seite, da saß niemand. Aber ich wusste, wer es war. Keiner von den Steinen, keiner aus dem Museum. Ein ganz Verlorener da draußen in den Weiten, der verlorenste von allen. Kein Stein, kein Ort, kein Name, nichts. Wir kennen uns nicht, er ist mein Großvater. Er weiß nicht, dass ich existiere, ich weiß nicht, wie er starb und wo er liegt, niemand weiß das. Sei ruhig, flüsterte ich, ich werde über dich gehen, ohne dass du es merkst. Sei ganz ruhig, ich werde durch dich hindurch gehen wie der Wind.

AM FEUER

Drüben war Polen. Ich saß auf dem Deich und sah zu, wie Rauch aus den beiden Schloten am anderen Ufer der Oder quoll, reich und fett wie in optimistischen alten Wochenschauen, sie stieg und stieg, die schwarze Fahne, dann fuhr der Westwind hinein und schwenkte sie weit nach Osten. Ich drehte mich nach Deutschland um, wo die letzte Sonne die mürben Ziegelsteine des Tagelöhnerhauses unten am Deich noch einmal durchglühte, bevor sie verlosch. Rauch, Wind, das niedrige alte Haus an den Deich geduckt – einen Moment lang konnte ich den Winter riechen, der drüben auf mich wartete, weit, weit drüben an anderen Ufern. Ein afrikanischer Mond ging auf, eine monströse Orange über dem Oderbruch. Wo der Garten des Backsteinhäuschens endete, begannen die Felder. Rehe raschelten in der Frucht. Von hier war der Angriff geführt worden auf die Höhen von Seelow, und so sehr hatte der Krieg die Erde gedüngt, dass immer noch Sammler nach Helmen und Waffen und Orden wühlten.

Auf den Höhen dort lebte ein alter Soldat, heute früh hatte ich ihm gesagt, wohin ich ging, und er hatte mich beschimpft. «Sie jagen einer Phantasie nach, Mann, Sie sind ein Phantast! Ich war Flieger, ich habe Verwundete vom Ladogasee nach Königsberg ausgeflogen. Meine Ju machte 200 Kilometer die Stunde, ich bin fünf, sechs Stunden geflogen. Wald, Wald, nichts als Wald, tausend Kilometer Wald, und nach Moskau ist es doppelt so weit. Was wollen Sie da? Suchen Sie sich eine Arbeit, kommen Sie zu mir aufs Feld, und mit dem Geld fliegen Sie dann nach Moskau, ach Unsinn, nicht nach Moskau, fliegen Sie nach Mallorca.»

Ich hatte ihn aus einer Telefonzelle am Straßenrand angerufen, ich war nicht sicher, was ich eigentlich von ihm wollte. Ich sagte ihm, ich würde weder nach Mallorca fliegen noch auf seinem Feld arbeiten, und er fuhr fort, mich zu beschimpfen. «Warum laufen Sie dem Tod nach, schon durch Polen kommen Sie nicht, die schlagen Sie tot. Und noch weiter – ach, hören Sie auf, bis Sie in Moskau sind, sind Sie dreimal tot. Die Beine kriegen einen Krampf, das schafft kein Mensch, Sie bleiben liegen im Straßengraben, und niemand liest Sie auf. Wenn Sie wenigstens zu zweit wären. Sie sind verrückt!»

Ich fragte mich, was ich von ihm gewollt hatte, und die Antwort war, ich hatte eine Geste gewollt, ein Wort, ein Wortamulett. Etwas, das mich zu schützen vermochte, etwas, woran der Geist meines Großvaters mich erkennen würde, sollte ich ihm begegnen. Ich hatte den Segen des alten Soldaten gewollt. Er gab ihn mir aber nicht, und ich machte seiner Verfluchung ein Ende, legte auf und ging weiter. Vielleicht wäre es mir aufs Gemüt geschlagen, wäre nicht das unverhoffte andere Telefonat gewesen, das mich ebenso sehr beschäftigte, es hatte mich von der Chaussee fortgeführt, über die Festung Gorgast hierher an die Oder.

In dem Tagelöhnerhaus, das jetzt im Dunkel lag, lebte einer, den ich vor über zwanzig Jahren gekannt hatte, er war Ost gewesen, ich West. Wir waren uns in Ostberlin begegnet, in der Brechtbühne, bei einer Vorstellung, an die ich mich nicht erinnere. Dann hatten wir uns aus den Augen verloren. Gestern Abend im Hotel, beim Blättern in einer Broschüre über preußische Spuren im Oderland, hatte ich seinen Namen und seine Nummer gefunden. Die Annonce wies auf seine Ausstellung hin, er war Maler. Damals hatte er am äußersten östlichen Rand von Ostberlin gewohnt, in einem kleinen Haus, es stand in einem Garten voll provisorischer Sitzgelegenheiten und halb fertiger Holzskulpturen und war diesem Haus hier und diesem Garten nicht ganz unähnlich. Nur dass er jetzt am äußersten östlichen Rand von Deutschland wohnte statt an dem von Berlin, östlicher ging es nicht. Dabei war er alles andere als ein Romantiker, eher ein Forscher von naturwissenschaftlichem Temperament. Auf meine erste Frage am Telefon, was hat dich hier hingebracht, sagte er, jeder hat so sein Programm, und wenn die Umstände günstig sind, erfüllt man es.

Wir saßen am Feld, wo die Rehe raschelten, er hatte ein Feuer gemacht, das jetzt langsam in sich zusammenfiel, die Nachtkühle kam und strich um unsere nackten Füße und wärmte sich an den nachglühenden Backsteinwänden, es roch nach Gras und Heu und Bauschutt und anderen erdigen Dingen. Er sprach über die Arbeiten am Haus, die getan sein müssten, bevor der Winter komme, über den Betrieb in Berlin und die heilsame Wirkung des Fernseins von Berlin und erzählte von anderen Neusiedlern hier draußen; einige Adelige waren hergezogen, fünfzig Jahre nach der Vertreibung ihrer Familien, gelegentlich kauften sie seine Bilder. Das alles war seltsam und wunderbar, meinem kleinen, engen Märklinland waren weite Säume gewachsen, es hatte wieder Ränder, halb leere Provinzen, so etwas wie einen Osten. Berlin lag zwei Tagesmärsche zurück, und ich fand mich in einer Ernst-Wiechert-Welt, in der abtrünnige Großstadtmaler und Nachfahren des verschwundenen Landadels einander zum Tee einluden, und ich sah es jetzt klar, Wiechert war ein melancholischer Bruder von Mark Twain, die Huckleberry-Finn-Stimmung mit Katzen und Tanten und Fluss und Silberlicht war doch im Grunde sehr deutsch, wenn man Ostelbien mit bedenkt. Dann hatte das Feuer sich verzehrt, den Rest traten wir aus, und die große Orange stieg höher und wurde ein ganz passabler Julimond. Es war mein letzter deutscher Moment für lange.

Am andern Morgen machte ich Inventur und packte so lange aus, bis mein schöner neuer Rucksack schlaff herabhing. Ich ließ ihn da, borgte mir einen schäbigen alten, halb so großen, und tat hinein: ein Hemd, eine Hose, ein Paar Socken – das andere Hemd, die andere Hose, die anderen Socken zog ich an –, die Regenjacke, sie wog fast nichts, die Fleecejacke gegen die Kälte, mit der ich im russischen Herbst rechnen musste, die üblichen Dinge, Rasierzeug, Notizhefte, Karten, Schlafsack. Das Wichtigste war ohnehin an den Füßen: die Stiefel. Dieser Rucksack saß ganz anders. Mit ihm konnte es gehen. Nun war ich wirklich so weit, erst jetzt, dachte ich, machst du ernst.

Unter einem ausgebleichten Sommerhimmel ging ich zur Grenze. Die Allee der Gehenkten war nun baumlos und hieß Straße der Freundschaft. Sie hielt unmittelbar auf die Oder zu. Die schattenlose Glut und die schnurgerade Allee waren ein Vorgeschmack auf die Endlosigkeit des Ostens, die mich erwartete. Seit einer halben Stunde ging ich am selben Kornfeld entlang, davor war ich zwischen Sonnenblumenfeldern gelaufen. Junge Männer schossen in frisierten Autos an mir vorbei, als seien sie auf der Flucht. Auf dem Kietzer Friedhof lag ich unter Linden und Kastanien und sah einer Schnecke beim Aufstieg auf den Grabstein von Emil und Minna Munk zu, die Frau hatte ihren Mann um zweiundzwanzig Jahre überlebt.

Niemand interessierte sich für mich, als ich die Oder überquerte. Sie trieb schnell und führte Hochwasser und frisches Astwerk, das sie auf ihrem Weg von Schlesien mitgerissen hatte. Gurgelnd, strudelnd drängte sie zwischen der verlassenen, von staubigen Spinnfäden versiegelten Kaserne am deutschen und der unter der Mittagsglut dösenden Grenzanlage am östlichen Ufer hindurch. Ein paar Minuten lang hackten meine Schritte über die Brücke, dann war ich in Polen. Eine wuchtige Festung aus rotem Backstein tauchte auf, ganz oben auf der höchsten Stelle der Mauer saß ein junger Kerl und starrte über den Strom.

Es gibt Küstrin und Küstrin, das wirkliche und das wahre. Das erste war ausgeschildert und ausgepreist, es liegt gleich links, aber ich ignorierte die Aussicht auf kalte Getränke und bog rechts in die Büsche. Wenige Schritte, und ich stand vor einer gewaltigen Stadtmauer von der Art der Anlage, die ich von der Brücke aus gesehen hatte. Preußischer Backstein von aztekischen Ausmaßen. Auf einem Schild war zu lesen: Fledermausparadies. Etwas klatschte auf Wasser. Ein Angler warf den Köder in die algengrüne Soße des Festungsgrabens. In der Mauer war ein Tor, ich ging hindurch und stand vor einer breiten, sandigen Piste. Sie führte geradewegs ins Zentrum, und nur ein Pfad aus großen Granitplatten ließ vermuten, dass sie einmal die Hauptstraße der verschwundenen Stadt gewesen war und dieser holprige Granitweg ihr Trottoir. Ein Fasan flog aus dem hohen Buschwerk auf, das links und rechts der Piste wucherte. Wenn ich mit dem Fuß die Ranken zur Seite schob, kamen die verwitterten Sockel der einstmals besseren Häuser von Küstrin zum Vorschein, ihre eingefallenen Keller, gut gefüllt mit Vorräten an Erde, Unrat, Schutt. Eine Katzenkopfgasse schlich seitlich in die Wildnis und auf den Schriftzug McDonald’s zu, groß und bunt drüben in Neu-Küstrin, hier aber, wo die polnische Fahne hing auf hohem Mast, hatte das Schloss gestanden. Die aztekische Stimmung blieb. Es war windstill. Wie eine welke Agavenblüte hing die Fahne von ihrem lang aufgeschossenen Stängel. Kein preußisches Pompeji, wie man Küstrin genannt hat. Kein römischer Tag, von einer Laune der Götter aus dem vollen Leben gerissen. Eher ein präkolumbianischer Untergang – das grün überwucherte, liegen und stehen gelassene Werk einer Jahrhunderte andauernden Gleichgültigkeit, nicht der vulkanischen Laune eines einzigen Morgens.

Ich betrat den Luftraum des verschwundenen Schlosses, ging durch seine Luftkorridore, stand in seinen Luftsälen, und alles, was davon übrig war, war das in den Boden gebrannte Muster seines verkohlten Eichenparketts. Ich kam vor ein Fenster, jedenfalls hatte hier eine Außenwand gestanden mit einem Fenster darin. Eines zum Schlosshof. Vielleicht das, an dem am frühen Morgen der Kronprinz erscheint, man zwingt ihn, es ist Teil seiner Strafe, mit anzusehen, was gleich dort unten geschieht. Friedrich bittet Katte unter Tränen um Vergebung, der aber beträgt sich sehr tapfer im Angesicht des Todes, wie sein geistlicher Beistand anerkennend nach Berlin berichtet, nicht ohne Abscheu vor dem tyrannischen Vater, der sich die makabre Szene ausgedacht hat als seine Rache und Friedrichs Prinzenerziehung in einem. Katte hatte gehofft, mit dem Leben davonzukommen, bis zuletzt glaubte er, günstige Zeichen zu erkennen; dass es dann anders war, warf sein Weltbild kaum aus der Bahn. Er hatte es gewagt, den zur Thronfolge ausersehenen jungen Mann nicht nur in dessen privaten Eskapismen zu bestärken, er hatte mit ihm zusammen die Flucht nach England geplant. Ein Verbrechen, wie er wusste. Ein todeswürdiges, wie sich nun zeigte, im fahlen Frühlicht des 6. November 1730. «Je meurs pour vous, mon prince, avec mille de plaisirs.» Für Euch, mein Prinz, sterbe ich mit tausend Freuden, ruft der Freund zum Fenster hinauf, bevor das Richtschwert ihn fällt.

Die Huckleberry-Finn-Stimmung vom Garten des Malers hielt noch einen ganzen Tag an und die ganze Nacht. Kastanien rauschten. Flüsse rauschten. Ich lag im Gras. Oder und Warthe flossen genau unter der Bastion zusammen, auf der ich eingedöst war, der Schlaf der Festung hatte mich zu sich gezogen. Ich fuhr hoch, der Kerl, den ich anfangs erblickt hatte, saß immer noch da. Mit seinem sonnenverbrannten Gesicht, dem zerlegenen Strohschopf und den schrundigen Lippen sah er aus wie ein Bootsjunge vom Mississippi, was er zweifellos nicht war, denn er dachte nicht daran, sich um sein Boot zu kümmern, er starrte immer nur über den Fluss nach Westen, als erwarte er etwas. Mir wäre lieb gewesen, er hätte es woanders erwartet, denn die Nacht war warm, der Platz war gut, ich hatte nichts Besseres vor und wollte bleiben. Ich ging hinunter zur «24-h-Bar» an der Grenze, Wasser und Schokolade holen, wartete, bis die Liebespaare aus den Ruinen verschwunden waren, vergaß den falschen Bootsjungen und beschloss, der einzige Mensch in Küstrin zu sein.

Ich erwachte vom Geschrei der Elstern und von der Morgenkühle über den Flüssen, zog die Polenkarte heraus, zog eine gerade, siebenhundert Kilometer lange Linie von Küstrin nach Białystok, zog in Gedanken nördlich an Posen vorbei zum gotischen Thorn, ging über die Weichsel, ging durch Ostpolen auf die weißrussische Grenze zu, ging hinüber nach Grodno, stand auf, dehnte meine steifen Glieder, bemerkte, dass der Streuner fort war, drehte mich noch einmal nach Deutschland um, nahm den Rucksack und warf auch diese Tür hinter mir zu.

JENSEITS DER ODER

Die Luftlinie, die ich auf der Karte gezogen hatte, gab es wirklich – eine erschreckend gerade Landstraße, einfach nur dazu da, Strecke zu machen, tagelang, versüßt allerdings durch die angenehme Erfahrung, dass der Autoverkehr nachgelassen hatte, seitdem die Grenze hinter mir lag. Der polnische Westen, das sind endlose märkische Kiefernwälder, mit russischen Birken versetzt. Eine Mahlzeit zu finden, ein Bett für die Nacht, war keine große Sache. Dann und wann tauchte ein Landstädtchen auf, ein Gasthaus. Am Ende von Slonsk, das früher Sonnenburg hieß und für sein Zuchthaus bekannt war, hatte jemand ein Rasthaus im Burgzinnenstil errichtet und nach dem Polenfürsten Chobry benannt, dem es vor tausend Jahren gelungen war, das Land bis an die Oder zu erobern.

Vom Weg nach Skwierzyna, das einmal Schwerin hieß, und weiter nach Szamotuły sind wenige stille Bilder übrig. Wälder und Felder. Felder und Wälder. Irgendwo im Wald hielt am Ende des dritten Tages auf der Luftlinie ein Auto, und ich leistete keinen Widerstand, als der Fahrer mir anbot, einzusteigen. Er war Vertreter für Melkanlagen, und weil er im Autoradio etwas über ein Pfadfinderlager in der Gegend gehört hatte, hatte er mich für einen Pfadfinderführer gehalten.

Im Wald bei Pniewy übernachtete ich in einem kleinen Ferienparadies am See bei einem ehemaligen Richter, der sein Amt aufgegeben und eine Sommerpension eröffnet hatte. Seine Frau war Deutschlehrerin, eine folgenreiche Begegnung, denn ab jetzt spannte sich, ohne dass ich etwas dafür tat, ein, wie sich zeigen sollte, ziemlich reißfestes Netz aus Telefonleitungen zwischen Warthe und Weichsel und sogar noch weiter: Als ich am andern Morgen aufbrach, steckte ein kleiner, eng beschriebener Zettel mit Deutschlehrerinnennummern in meiner Hemdtasche, und wenn ich tatsächlich einmal davon Gebrauch machte, stellte ich jedes Mal fest, dass ich bereits erwartet wurde. Ich konnte nicht verloren gehen, Polen hatte ein Auge auf mich.

Fort war ich, das schon, aber aus der Welt noch lange nicht, aus der ich kam. Jedes Auto, das an mir vorbeifuhr, jeder Kiosk mit seinen Marsriegeln und Nescafé-Singleportionen war ein ironischer Gruß aus der Heimat. Der Zustand, in dem das aufhörte, in dem auch das ständige Nachrechnen der Tage und Kilometer aufhörte, lag noch fern. Bevor nicht fünf, sechs Karten abgegriffen, zerfaltet, weggesteckt wären, würde der zwischen Berlin und der Landstraße, die ich gerade ging, hin und her flatternde Geist nicht in der abenteuerlichen Monotonie des Gehens zur Ruhe kommen. Diese ersten Wochen der Wanderung waren transitorisch, genau wie Polen, und ich beschloss, sie als eine Art Rutsche zu nehmen, von der ich langsam glitt. So kam es auch. Eine gute Woche lang würde ich Gebrauch von einer der Nummern in meiner Hemdtasche machen, es dann sein lassen und aus dem hilfreichen Netz verschwinden wie ein Blinkpunkt vom Radar.

Strandhelle Waldwege führten nach Ostorog. Es war keine karge märkisch-russische Szene mehr wie in den ersten Tagen nach der Oder, es war kräftiger Mischwald mit Buchen und Eichen. Polnisches Kernland. Ich roch die Pilze, fand sie aber nicht, es war wohl noch zu früh, und die wilden Himbeeren waren noch grün. Einmal, an einem Forsthaus mitten im Wald, sah ich einen Mann. Ich sprach ihn an, geradeaus zeigend:

«Wielonek?»

«Wielonek, tak, tak!»

«Prosze?»

«Prosze, tak, tak!»

«Dzinkuje.»

Das Gespräch hatte meinen ganzen polnischen Wortvorrat aufgebraucht, und mehr oder weniger würde es bei ihm bleiben.

Wielonek war eine Siesta aus menschenleeren Dorfstraßen und einem heiseren Hahnenschrei. Hinter blendend weißen Holzzäunen leuchteten Bauerngärten gelb und rot, dahinter hockten Backsteinhäuschen, wie von der Sonne selbst gebrannt, und der Spitzbogen, aus dem die Jungfrau von Wielonek trat, war mit den Wasserfarben des Ostens bemalt: Hellgelb, Weiß, Hellblau. Mein Hemd war klatschnass, meine Zunge staubig, aber ich bekam nichts zu trinken. Immerhin zeigte man mir den Weg nach Ostorog, wo es einen Rynek gab, einen kleinen Marktplatz, und endlich Wasser und Schokolade. Die jungen Frauen von Ostorog gingen so aufgeputzt um den Rynek herum, als erwarteten sie gerade heute etwas vom Leben, aber die lokale Prinzenschaft trank Bier auf der Parkbank oder bog schwankend auf dem Rad um die Ecke und suchte an den Hauswänden Halt.

Auf der Straße nach Szamotuły las mich die Deutschlehrerin auf, die auf meinem Zettel ganz oben stand. Die Frau des Richters hatte sie angerufen, und sie fuhr die Straße ab, auf der ich kommen musste. Sie war eine hübsche junge Katholikin. An ihrer Hand steckte der Ehering und in der Beifahrertür ihres Autos die Bibel, und weil Freitag war, kam bei ihr zu Hause kein Fleisch auf den Tisch. Es war ein Fichtenholztisch wie aus dem Herbstkatalog von Ikea, dem Ikea der neuen Zeit, und sie lud mich zu Kartoffeln und Blumenkohl ein. Ihr Vater, sagte sie, während sie ihren seufzenden kleinen Kindern half, die Blumenkohlberge abzutragen, sei bei Kriegsende aus Volkovysk vertrieben worden, wie viele Ostpolen, dann legte sie die Gabel hin, als habe sie keinen Hunger mehr. Ob ich Volkovysk kenne, die Stadt liege heute in Weißrussland. Und ob ich bemerkt habe, dass ihr jetziges Haus ein rotes Haus sei.

«Ein rotes Haus?»

«So nennen wir die deutschen Bauten, sie sind alle aus Backstein, man erkennt sie leicht.»

Es war das Posener Land, durch das ich lief, nördlich an der Stadt vorbei, und tatsächlich prägten die roten Häuser der Kaiserzeit das Bild vieler Ortschaften. Ämter, Schulen, Fabriken, Bauernhöfe, Bahnhöfe, dazu Kasernen. Das Reich hatte hier vor dem ersten Krieg den Landaufkauf forciert und sogar deutsche Musterdörfer angelegt. Noch in meiner Jugend, lange nach dem zweiten Krieg, wurden Verwandte, die zu Wilhelms Zeit hierher ausgewandert waren und, als das Gebiet nach Versailles an Polen fiel, in ihre alte Heimat zurückkehren mussten, die Posener genannt.

Dann saßen wir im Garten, und der Mann der Lehrerin kam mit dem kleinen Zweitwagen angefahren. Etwas stimmte mit seiner Laune nicht. Während ich mit seiner Frau unter dem Apfelbaum Tee trank und ihre selbst gebackenen Plätzchen aß, lud er irgendwelche Werbeplakate aus dem Kofferraum und dann das ausklappbare Eiscreme-Reklameschild, auf dem er diese offenbar aushing. Auch ihre Laune war nicht die beste. Sie beobachtete ihn, er hantierte am Auto und kam nicht her. «Politik!», spottete sie, es klang wie etwas, das ärztlicher Behandlung bedurfte. Ihr Mann kandidiere für eine neue konservative Partei. Er sei nach Ostorog gefahren, um dort Wahlkampf zu machen, da komme er gerade her. Sie warf den Kopf zurück und lachte in den Apfelbaum über ihr, was ihr gut stand. Plötzlich musterte sie auch mich missvergnügt, und ich glaubte zu wissen, was in ihr vorging. Sie hatte nichts gegen die politischen Ansichten ihres Mannes, sie teilte sie. Sie hasste den Kommunismus und dankte Gott und dem Papst, dass er weg war, sie war froh, die neue Zeit als junge Frau zu erleben, sie war voller Pläne, das alles hatte sie mir während der kurzen Autofahrt gesagt. Und war extra langsamer gefahren, um mir die ärmlichen Wohnbauten aus der kollektivistischen Zeit zu zeigen und deren Bewohner, die nicht daran dächten, die Freiheit zu nutzen und etwas aus ihrem Leben zu machen, die versorgt sein wollten wie früher, wo alles besser war, und die Partei wählten, die ihnen versprach, sie wieder in den kommunistischen Kindergarten zu sperren. Schön und gut. Aber nun sah sie ihren Mann idiotische Wahlplakate in Ostorog aufstellen, und sie sah mich, der ich in ihren Augen ein noch größerer Nichtsnutz war, und mit einem Mal fiel ein Schatten auf die Freiheit. Schwarze Gedanken gingen ihr durch den Kopf, der Verdacht, das mit der Freiheit sei am Ende bloß so ein Männertrick, um der Domestizierung durch die Frauen doch noch zu entwischen. «Der eine», sagte sie, «sammelt Briefmarken, der andere wandert, der dritte macht Politik. Mein Mann ist Historiker, sehen Sie ihn an. Die können nicht leben ohne ihre Politik.»

Manchmal war ich unterwegs gefragt worden, warum ich tat, was ich tat. Und die Frage richtete sich nicht nur an mich, sie lag in der Luft, sie lag auf der Straße, sie war einfach da. Ich ging durch eine Gegenwart, die ein einziger Baumarkt war. Ein einziger Fliesenmarkt, Möbelmarkt, Automarkt. Ganz Polen möblierte, tapezierte, flieste, motorisierte sich neu. Das Land und ich liefen aneinander vorbei, ich wollte es hinter mich bringen und so rasch wie möglich tiefer nach Osten; Polen kam aus der Gegenrichtung und strebte nach Westen, und der Luftzug, der dabei entstand und mich streifte, war oft unser einziger Kontakt. Was ich tat, passte nicht hierher, ich spürte es. Es gab Abende, an denen die Absurdität meines Tuns mir so zusetzte, dass ich nahe daran war, zum Bahnhof zu gehen und mir eine Fahrkarte nach Berlin zu kaufen. Dass ich es dann doch bleiben ließ, hing mit nichts anderem zusammen, als dass ich vorankam. Je weiter ich nach Osten kam, desto mehr verschwand die Frage. Aber das wusste ich noch nicht, als sich der Wahlkämpfer endlich zu uns gesellte, um sie an mich zu richten, wieder einmal, ich sah sie ihm an. Seine Frau stellte mich vor, er musterte mich halb beunruhigt, halb spöttisch, ohne sich zu uns zu setzen.

«Nach Moskau, so, so.» Er grinste. «Sie haben was gutzumachen, wie?» Er hielt es für einen Bußgang, er war Katholik.

«Wir haben in Deutschland so einen heiligen Mann, der hat gesagt, das Sitzfleisch sei die Sünde wider den Heiligen Geist.»

«Was ist aus ihm geworden?»

«Er ist verrückt geworden.»

Ihr gefiel unsere Konversation nicht, und sie fragte ihren Mann, wie es denn gewesen sei am Parteistand in Ostorog. Er murrte.

«Na sag schon. Wie viele Unterschriften?»

«Keine.»

Sie triumphierte: «Keine einzige! Na, was sage ich. Drei Kinder hast du, hörst du! Was rennst du zu deiner Politik?»

Da wies er auf mich, breit grinsend. «Sag ihm das, er läuft von daheim fort bis nach Moskau.»

«Ach, ihr seid alle gleich, sein Moskau ist deine Politik.»