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ä–ö–––üAgrarische Religiositt  Landbevlkerung und traditionaler Katholizismus in der voralpinen Schweiz 19451960  Peter Hersche  2013 hier + jetzt, Verlag fr Kultur und Geschichte, Baden

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung: Quellen und Methode, räumliche und zeitliche Eingrenzung

1 Allgemeine Strukturelemente in Appenzell und Obwalden

1.1 Geografische Situation

1.2 Siedlung, Bevölkerung, Verkehr

1.3 Wirtschaft

1.4 Politik

1.5 Soziale Schichtung

1.6 Kirchliche Organisation und schulische Verhältnisse

1.7 Allgemeine Bemerkungen zu den übrigen miteinbezogenen Gebieten

Anmerkungen

2 Sozialstruktur und Arbeitsorganisation der landwirtschaftlichen Bevölkerung

2.1 Zur Typologie der voralpinen Landwirtschaft

2.2 Die Familie als Grundlage des landwirtschaftlichen Betriebs

2.3 Soziale Verhältnisse und Ungleichheit innerhalb der Bauernschaft

2.4 Soziale Beziehungen, Konkurrenz und Solidarität

2.5 Die Einteilung des bäuerlichen Arbeitstages

2.6 Saisonalität, Arbeitsspitzen und -flauten

2.7 Nebenerwerb der Männer und Heimarbeit der Frauen

Anmerkungen

3 Traditionelle bäuerliche Mentalität und Vorboten des Wandels

3.1 Hochwertung des Bauernstands und Ablehnung des Industrialismus

3.2 Arbeitsethik zwischen Freiheit und sozialer Kontrolle

3.3 Vom ästhetischen zum Renditedenken

3.4 Zeitbewusstsein und Zeitdisziplin

3.5 Das Verhältnis zum Geld und zum Risiko

3.6 Die Vehikel der Modernisierung: Landwirtschaftliche Schulen und Maschinen

Anmerkungen

4 Repräsentantin der Religion: Die Geistlichkeit

4.1 Herkunft, rechtliche Stellung und sozialer Status des Klerus

4.2 Die Begegnung von Geistlichen und Volk

4.3 Kritik und Konflikte

4.4 Das demokratische Staatskirchentum und die Problemfälle im Klerus

4.5 Das geistliche Hilfspersonal: Pfarrhaushälterin und Mesner

4.6 Der Beitrag der Orden

4.7 Die spezielle Seelsorge der Kapuziner und die «Kapuzinermittel»

Anmerkungen

5 Individuelle Religiosität

5.1 Die täglichen Gebete und religiösen Handlungen

5.2 Frömmigkeit unterwegs

5.3 Zeichen und Namen

5.4 Die Wallfahrt: Motive, Ziele und Ausführende

5.5 Die Durchführung der Wallfahrt

5.6 Geschlechterspezifische Unterschiede der Frömmigkeit

5.7 Die andere Seite: Aberglaube und Magie

Anmerkungen

6 Soziale Religiosität

6.1 Die Organisationen: Von den Bruderschaften zu den Vereinen

6.2 Prozessionen

6.3 Andachten

6.4 Der gemeinsame Rosenkranz

6.5 Heiligenverehrung und Bauernheilige

6.6 Religiöse Handlungen rund um die bäuerliche Tätigkeit

6.7 Die Kirche und die weltlichen Feste

Anmerkungen

7 Der Sonntag

7.1 Die Gottesdienste: Angebot und Nachfrage

7.2 Innere Teilnahme und unandächtiges Verhalten

7.3 Nach der Messe

7.4 Das Problem der Christenlehre

7.5 Sonntagsheiligung und Sonntagsarbeit

7.6 Der profane Sonntag

Anmerkungen

8 Sakralprunk und -verschwendung

8.1 Sakrallandschaft und Kirchenausstattung

8.2 Die Wertung des künstlerischen und liturgischen Sakralprunks

8.3 Die kirchlichen Feste und ihre Feiern

8.4 Die Gestaltung der Übergangsriten und die Bedeutung der Tracht

8.5 Der Totenkult

8.6 Der Ablass

8.7 Die Seelenmessen

Anmerkungen

9 Die Moral: Theorie und Praxis

9.1 Alltägliche und besondere Gelegenheiten zur Vermittlung der Morallehre

9.2 Die Rolle der Schule und der Lehrer

9.3 Die Praxis der Beichte

9.4 Widerständigkeit und Verletzung der Normen

9.5 Das Tanzen als Beispiel der Normendevianz

9.6 Tabuisiert und dennoch diskutiert: Die Sexualität

Anmerkungen

10 Schluss

10.1 Katholiken und Protestanten: Gemeinsamkeiten und Differenzen

10.2 Gleich und verschieden: Appenzell und Obwalden

10.3 Klerikale Zumutungen und laikaler Eigenwille

10.4 Barocke Ströme unter dem Schutt des 19. Jahrhunderts

10.5 Anpassung und Widerstand: Elemente des konziliaren Wandels

10.6 Zwei traditionale Welten im Untergang

Anmerkungen

Anhang

Verzeichnis der Archive und der handschriftlichen Quellen

Gedruckte Quellen und Literatur

Verzeichnis der Abkürzungen

Vorwort

In meinem Buch «Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter» (Herder, Freiburg 2006) habe ich, entgegen den gängigen Modernisierungstheorien, versucht, eine dem frühneuzeitlichen Katholizismus eigene und andersgeartete Mentalität («Positive Rückständigkeit») herauszuarbeiten, welche diese Gesellschaft bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts entscheidend prägte und in einem diametralen Gegensatz zur «Protestantischen Ethik» (Max Weber) stand. Trotz der fundamentalen Kritik der Aufklärung daran und den in mehreren Staaten versuchten Massnahmen, auch den Katholiken auf allen Ebenen zu einem «modernen» Menschen umzuschaffen, lebten diese Einstellungen gleichwohl in etwas veränderter Form im 19. Jahrhundert wieder auf und hielten sich trotz allen gegenteiligen Bestrebungen, etwa durch den Liberalismus, in grossen Teilen bis zur erneuten umfassenden Modernisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg, beziehungsweise kirchlicherseits bis zum Zweiten Vatikanum – jenseits bloss politischer Ereignisse ist die Zeit zwischen etwa 1955 und 1960 deshalb eine Epochenschwelle.

Im vorliegenden Werk versuche ich, im Sinn einer derzeit gerade noch möglichen Spurensicherung, in einem beschränkten räumlichen Rahmen und mit der Methode der «oral history», die letzten Reste dieser nun fast vollumfänglich verschwundenen Einstellungen und ihre Auswirkungen im Alltagsleben ausfindig und dingfest zu machen. Der auch im 20. Jahrhundert erhebliche Mangel an schriftlichen Quellen zu diesen Fragen lässt es als dringend erscheinen, diese «spätestbarocke» Mentalität zu dokumentieren, bevor ihre letzten Träger verschwunden sind: Meine Interviewpartner und -partnerinnen waren Personen, welche die unmittelbare Nachkriegszeit als junge Erwachsene noch bewusst miterlebt haben, heute aber in einem Alter von über 75 Jahren stehen (mehrere sind inzwischen verstorben). Es ging also um eine Bestandesaufnahme in letzter Stunde, denn in ein bis höchstens zwei Jahrzehnten wird diese «world we have lost» (Peter Laslett) nicht mehr oder nur noch fragmentarisch zu rekonstruieren sein. Schon jetzt stiess ich bei einigen Fragen auf Erinnerungslücken.

Bei der Arbeit an dem eingangs erwähnten Buch beschäftigten mich mehrere mentalitätsgeschichtliche Fragen, die sich aufgrund der problematischen Quellenlage nicht mit Sicherheit beantworten liessen. Es waren jedoch Sachverhalte, bei denen man eine gewisse Kontinuität bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein erwarten konnte. Deswegen habe ich schon dort gelegentlich volkskundliche Studien zum 20. Jahrhundert benutzt, als Anregung, auf mögliche Kontinuitäten zu achten, sowie neue Fragen an die Quellen zu stellen und sie im Lichte späterer Entwicklungen stimmiger zu interpretieren. In der vorliegenden Untersuchung richtete ich an meine Interviewpartner neben eher allgemeinen auch bestimmte gezielte Fragen. Damit wollte ich versuchen, Lücken in den schriftlichen Quellen aus dem Barockzeitalter zu schliessen und unter Beachtung späterer Veränderungen einige hypothetische Aussagen des obengenannten Werks zu überprüfen, zu präzisieren, wenn nötig zu korrigieren oder auch fallen zu lassen. Gleichzeitig wollte ich damit die dort nur grob skizzierte These vom (endgültigen) «Untergang des Barock» nach 1945 etwas ausführlicher begründen.

Neben diesen konkreten Anliegen leitete mich eine dritte allgemeinwissenschaftliche Zielsetzung. Gegenüber einer immer noch stark auf Dogmen, Institutionen, Parteien, Personen und das Verhältnis zum Staat bezogenen Kirchengeschichte möchte ich einer mehr die sozialen, ökonomischen und kulturellen Folgeerscheinungen der Religiosität, in diesem Falle einer bestimmten Konfession, betonenden Geschichte, unter Berücksichtigung anderer und neuer methodischer Ansätze, das Wort reden. Ich gehe damit einig mit meinem Freiburger Kollegen Urs Altermatt. In seinem grundlegenden Werk «Katholizismus und Moderne» hat er neben entsprechenden theoretischen Ausführungen bereits Mitte der 1980er-Jahre auch einige Bereiche des katholischen Alltags mit «oral history» und schriftlichen Quellen untersucht (S. 261ff.), diesen Ansatz dann aber sowohl selber wie in den Arbeiten seiner zahlreichen Schüler leider nicht mehr systematisch weiterverfolgt, und er ist auch sonst ohne Nachfolge geblieben.

War somit, von der erwähnten Ausnahme abgesehen, das Interesse der Historiker an diesen Phänomenen gleich null, so hat besonders das Fach Volkskunde dem auf diesem Feld arbeitenden Wissenschaftler nicht Weniges zu bieten und war methodisches Vorbild. Prinzipiell geht es im vorliegenden Projekt allerdings nicht um eine traditionelle Darstellung der sogenannten Volksfrömmigkeit vor den radikalen Veränderungen im Umfeld des Zweiten Vatikanums. Dieses Forschungsgebiet ist für die Schweiz bereits recht gut dokumentiert, namentlich durch die Arbeiten von Walter Heim. Jedoch war und bleibt es mein Wunsch, dem seinerzeit gepflegten, heute aber zur Unbedeutsamkeit herabgesunkenen Fach der «Religiösen Volkskunde» unter veränderten Bedingungen vielleicht eine wissenschaftliche Zukunft zu bahnen. Französische Historiker, besonders solche aus dem Umkreis der sogenannten Ecole des Annales, haben den Untergang der traditionellen Landwirtschaft und der traditionellen Religiosität als die beiden grössten Verlusterfahrungen des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Diesem Urteil kann man wohl für ganz Europa beipflichten. Dass zwischen beidem ein Zusammenhang bestehen könnte, wurde allerdings in der Geschichtswissenschaft wenig beachtet. An die Forschungen zur religiösen Volkskunde anzuknüpfen und davon ausgehend neue Wege der Analyse dieser spezifisch agrarischen Religiosität zu beschreiten, war ein weiteres Motiv dieses Buchs.

Der schon vor dem Konzil sich abzeichnende tiefgreifende Wandel der katholischen Religiosität ist nicht Thema dieses Buchs (auch meine Interviewpartner habe ich, wenn sie unbeabsichtigt darauf zu sprechen kamen, obschon ungern, wieder zur Ordnung rufen müssen). Dennoch stellt er zweifellos ein Forschungsdesiderat ersten Ranges dar, das ebenfalls in Angriff genommen werden müsste, nachdem auch die geistlichen und weltlichen Protagonisten des Konzils im Greisenalter stehen oder bereits verstorben sind. Dass die Frage nach der barock-katholischen Mentalität alles andere als veraltet ist, habe ich in meinem Buch «Gelassenheit und Lebensfreude. Was wir vom Barock lernen können» (Herder, Freiburg 2011) zu zeigen versucht. Auch die vorliegende Untersuchung kann daran anknüpfen – noch leben unter uns Personen, welche eine ganz andere Lebenseinstellung als die heute vorherrschende haben. Um der Gefahr zu entgehen, bloss luftige Thesen in den Raum zu stellen, scheint es mir wichtig, dies zu dokumentieren. Die Resultate dieser Studie können vielleicht dazu beitragen, den um 1950 in der Schweiz und etwas phasenverschoben in ganz Europa einsetzenden gewaltigen Umbruch in allen Lebensbereichen unter veränderten Aspekten zu beleuchten und so besser zu verstehen.

Im Gegensatz zu meinen erwähnten anderen Werken sind diesmal, besonders bedingt durch die gewählte Methode, viele Verdankungen anzubringen. Wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, konzentriert sich die Untersuchung auf die beiden Kantone Appenzell Innerrhoden (unter Ausschluss der Exklave Oberegg) und Obwalden (mit Engelberg). In ersterem, meiner Heimat, hätte ich wohl mit von altersher bestehenden Beziehungsnetzen passende Interviewpartner finden können, allerdings gleichwohl mit einigem Zeitaufwand. Deswegen war es eine grosse Hilfe, dass mir Frau Franziska Raschle eine Liste mit regelmässigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem von ihr initiierten und geleiteten «Erzählcafé» zur Verfügung stellte. Bei Kaffee und Kuchen tauschen hier die Senioren regelmässig zu einem vorgegebenen Thema ihre Erinnerungen aus. Es handelt sich bei ihnen infolgedessen allesamt um an der Vergangenheit interessierte Menschen, was sich auf meine Recherchen sehr positiv auswirkte: Fast alle waren zu einem Interview bereit. Ein stets aufmerksamer und interessierter wissenschaftlicher Gesprächspartner und Helfer in Vielem war der Volkskundler Roland Inauen, Konservator am Museum Appenzell. Ausserdem halfen mir Achilles Weishaupt, Josef Inauen und Johann Manser mit ihrem grossen lokalen Wissen bei einigen Spezialfragen. Pfarrer Stephan Guggenbühl öffnete mir das Pfarrarchiv und unterhielt sich mit mir über das Thema der Stiftmessen. In der Landesbibliothek konnte ich stets auf die Hilfe von Doris Überschlag zählen, im Landesarchiv auf diejenige von Stephan Heuscher. Innerrhoden kann nicht vollständig ohne die Folie der anderen Konfession im benachbarten protestantischen Ausserrhoden betrachtet werden; dazu verdanke ich Hans Hürlemann, Urnäsch, und Albert Tanner, Bern, sachkundige Auskünfte.

Die Forschungen in Obwalden wären nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige Unterstützung von a. Pfarrer Karl Imfeld, Kerns, einem der letzten profilierten Vertreter der religiösen Volkskunde in der Schweiz. Selber forschend tätig und unermüdlich publizierend, stellte er mir sein umfassendes Wissen zu seiner Heimat vorbehaltlos zur Verfügung. Vor allem aber konnte er mir eine grössere Anzahl Personen nennen, die zu einem Interview bereit waren. Die Nennung seines Namens öffnete dann dem Fremden alle Türen. Staatsarchivar Angelo Garovi half mir mit «Literaturgeschenken» und weiteren Hinweisen. Informationen zu einigen landwirtschaftlichen Fragen verdanke ich Petra Omlin und Paul Küchler. In Engelberg, jenem einstigen, jetzt zu Obwalden gehörigen geistlichen Kleinstaat, öffnete mir mein ehemaliger Berner Kollege, Stiftsarchivar Rolf De Kegel, die Pforten. Stiftspfarrer Bernhard Mathis OSB stellte mir daraufhin eine Liste mit möglichen Interviewpartnern zusammen, die sich ebenfalls ausgezeichnet bewährte. Rolf De Kegel und Katharina Odermatt verdanke ich einige zusätzliche Informationen.

Am Rande habe ich noch, um etwas Kontrastfarbe ins Bild zu bringen, auch die protestantische ländliche Religiosität am Beispiel von Bern, insbesondere des Oberlandes, etwas genauer betrachtet; ein systematischer Vergleich der protestantischen mit der katholischen Mentalität musste allerdings unterbleiben. Einblicke in diese mir etwas fremde Welt erhielt ich durch die Pfarrer Simon Kuert, Langenthal, und Ernst von Känel, Spiez.

Wie jeder Kenner weiss, spielen die Kapuziner in der ländlichen katholischen Religiosität eine grosse Rolle. Ich hatte das Glück, noch einige ältere Patres interviewen zu können. Die Namen sollen aber hier aus Vorsichtsgründen nicht erwähnt werden, da es in den Gesprächen auch um die etwas umstrittenen «Kapuzinermittel» zur Heilung von kranken Menschen und besonders um krankes Vieh ging.

Abschliessend sei noch den Leitern der besuchten Archive Dank abgestattet: Stefan Kemmer vom Bistumsarchiv St. Gallen, Albert Fischer von demjenigen in Chur und Christian Schweizer vom Provinzarchiv der Schweizer Kapuziner in Luzern.

Bei der Beschaffung des Bildmaterials waren mir Roland Inauen, Appenzell, und Klara Spichtig, Sarnen, eine grosse Hilfe.

Allen Mitarbeitern des Verlags hier + jetzt danke ich für die stets angenehme und reibungslose Zusammenarbeit bei der Publikation.

Den grössten Dank schulde ich allerdings allen meinen hier anonym bleibenden Interviewpartnern und -partnerinnen. Nach Jahren blossen Bücherstudiums waren die Besuche auf den Bauernhöfen und den übrigen Alterssitzen nicht nur wissenschaftlich ergiebig, sondern auch menschlich eine angenehme Abwechslung. Überall wurde ich wohlwollend empfangen, und die Gespräche verliefen in freundschaftlicher Atmosphäre, ohne den heute allgegenwärtigen Zeitdruck.

Ursellen, Frühjahr 2013

Peter Hersche

Einleitung: Quellen und Methode, räumliche und zeitliche Eingrenzung

Wie bereits erwähnt, beruht die Untersuchung zunächst auf Interviews, die ich zum grössten Teil in den Jahren 2006 und 2007 gehalten habe. Die Gespräche fanden fast alle in den Wohnungen der Interviewpartner statt und dauerten in der Regel etwa zwei Stunden. Sie wurden auf MD (Mikrodisc) aufgezeichnet. In beiden Regionen, Appenzell und Obwalden, waren es jeweils rund 20 Interviews. In Appenzell kamen einige eher zufällig sich ergebende kurze Gespräche mit Bekannten hinzu, die nicht auf Tonträger aufgezeichnet wurden und bei denen ich bloss im Verlauf oder nachträglich einige stenografische Notizen machte. Die genannte Zahl ist nicht sehr gross, doch ergaben sich nach etwa 12–15 Befragungen immer häufiger Wiederholungen von bereits Gesagtem, und es war ein Sättigungspunkt erreicht, der ohne grosse Bedenken eine Beendigung der Interviewtätigkeit in der betreffenden Region erlaubte. Andererseits ist das Verfahren der «oral history» natürlich immer offen. Etwas frustrierend, aber wohl unvermeidlich ist nämlich der Sachverhalt, dass nach einem Dutzend oder mehr Gesprächen ein Befragter eine interessante Feststellung zu einem Gegenstand machen kann, an den man selber zunächst nicht gedacht und den man deshalb auch nicht in den Fragenkatalog aufgenommen hat. Man hätte also nochmals von vorne anfangen können und die früheren Interviewpartner nochmals aufsuchen müssen. In diesen Fällen habe ich höchstens die im Vorwort erwähnten Kontaktleute nochmals befragt.

Fast alle Befragten waren zum Zeitpunkt der Interviews über 75 Jahre alt. Ich habe auf eine ausgeglichene Geschlechterverteilung geachtet, die Männer überwiegen jedoch leicht. Die allermeisten Interviewpartner waren Bauern oder wenigstens dem bäuerlichen Milieu noch verbunden, nicht wenige habe ich auf ihren Höfen aufgesucht. Dies war Absicht, denn mich interessierten ja besonders die engen Zusammenhänge der Religiosität mit der bäuerlichen Arbeit. Die dörflichen Eliten habe ich prinzipiell nicht berücksichtigt, auch Handwerker kommen nur am Rande vor. An Mesner und Polizisten habe ich mich mit spezifischeren Fragen gewandt. Erstere können etwas aussagen über allerlei konkrete kirchliche Probleme, Letztere etwas zur Frage der Normdurchsetzung in einer Gesellschaft. Angefragt habe ich zunächst stets nur Einzelpersonen. Wenn dann aber in einigen Fällen im Verlauf des Gesprächs der Ehepartner hinzutrat und sich schliesslich auch daran beteiligte, habe ich auch ihn oder sie ins Gespräch miteinbezogen. Zwar komplizierte dies die Interviewsituation ein wenig, doch konnte ich gelegentlich aus dem Paarverhalten auch einige interessante zusätzliche Schlüsse ziehen. Anders als bei ähnlich gelagerten früheren Untersuchungen aus dem Appenzellischen1 habe ich meinen Interviewpartnern Anonymität zugesichert. Wichtige Aussagen von ihnen und die eher seltenen wörtlichen, meist ins Schriftdeutsche übertragenen Zitate im Text sind daher bloss mit Kantonskürzel (AI, OW) und den Initialen der Interviewten nachgewiesen. Ausnahmsweise, bei besonders heiklen Fragen oder wenn man aus dem Kontext auf den Urheber schliessen könnte, habe ich sie auch ganz weggelassen.

Bei meiner wissenschaftlichen Tätigkeit war es mir stets wichtig, gegenüber den von der Historiografie immer bevorzugten Eliten die Perspektive «von unten», vom «gewöhnlichen Volk» aus, miteinzubeziehen, ja, dieses im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit sogar eher in den Vordergrund zu rücken.2 Dennoch wollte ich bei der vorliegenden Untersuchung unbedingt auch die Sicht «von oben» einbringen, also die Meinung der die Normen festlegenden, verkündenden und im Rahmen des Möglichen auch durchsetzenden Instanzen kennenlernen. Konkret waren dies bei der gewählten Fragestellung in allererster Linie die Geistlichen, die geweihten und beamteten Diener der Religion. Deren Stellung im Volk war ein wichtiger Fragepunkt. Dieses Vorhaben auszuführen, war jedoch nicht ganz leicht – zwar fand ich in Obwaldner Altersheimen und -siedlungen drei ehemalige Pfarrer, welche den von mir ins Auge gefassten Zeitraum wenigstens als junge Kapläne noch miterlebt hatten und mir dazu Rede und Antwort standen. In Appenzell aber war kein einziger der damals wirkenden Geistlichen mehr am Leben, beziehungsweise noch für ein Interview ansprechbar. Ich konnte immerhin drei ältere aus Appenzell gebürtige, aber später auswärts wirkende Priester interviewen. Diese Gespräche waren insgesamt durchaus lebendig, für meine ganz spezifischen Fragen allerdings eher wenig ergiebig. Zwar waren alle Befragten mit der Heimat noch irgendwie verbunden, doch wurden die Erinnerungen an die traditionelle Religiosität in der Zeit nach dem Krieg von den späteren Erfahrungen auswärts (teils in städtischer Umgebung) weitgehend überlagert, sodass Laien nicht selten zu bestimmten Problemkomplexen besser informiert waren. Hinzu kommt natürlich, dass genau diese Priestergeneration den Auftrag hatte, die Reformen des Zweiten Vatikanums in ihrem Wirkungskreis durchzusetzen. Diese wohl nicht immer einfache und leichte Arbeit «im Weinberg des Herrn» hat vielleicht Erinnerungen an die «Zeit davor» verblassen und verdunkeln lassen, zumal, wenn diese Priester, wie der das Konzil einberufende Papst Johannes XXIII., der Auffassung waren, so wie bisher könne es mit der katholischen Kirche nicht weitergehen, ein «aggiornamento» sei überfällig.3 Dann ist Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Ablehnung gegenüber der traditionellen Religiosität verständlich und vielleicht auch verzeihlich. Nur ein historisches Interesse vermag dann diesen Graben noch zu überspringen. Ein Problem ist ferner, dass Geistliche vermutlich von ihrer Ausbildung und Stellung her etwas dazu neigen, in erster Linie auf kirchliche Normen zu rekurrieren und über davon abweichende Praxen zu schweigen, nicht nur aus einer gewissen Scheu bei bestimmten Fragen (Sexualität!), sondern auch, weil man sie sonst beschuldigen könnte, zu wenig eifrige Hirten ihrer Herde gewesen zu sein. An und für sich wären Priester natürlich die besten Quellen, um die für den Historiker hochbrisante Frage der Diskrepanz von moralischen Normen und der Praxis zu prüfen: nämlich durch die in unserem Zeitraum noch üblichen und einzig statthaften Einzelbeichten, die damals noch ziemlich regelmässig abgelegt wurden. Ich könnte in einer anonymisierten und vorwiegend quantitativen Auswertung dieser Bekenntnisse keine Verletzung des Beichtgeheimnisses sehen, da dieses ja einzig dem Schutz der Person dient. Aber die angefragten bischöflichen Ordinariate sehen das anders (obschon es erstaunlicherweise offenbar keine definitive römische Regelung dieser Frage gibt), und so blieb mir dieser Erkenntnisweg versperrt. Hier läge, allerdings nur noch für kurze Zeit, ein Quellenschatz vergraben, über den wir heute, da die Einzelbeichte zur Ausnahme geworden ist, in Zukunft nicht mehr verfügen werden.4

Die mündlichen Quellen wurden mittels themen-, beziehungsweise problemzentrierten semi-strukturierten Interviews erschlossen.5 Für mein Forschungsvorhaben wählte ich also eine eher «weiche» Methode und errichtete nicht ein starres Theoriegerüst als Grundlage für einen detaillierten Fragebogen, den ich dann Punkt für Punkt abhakte, um die Resultate womöglich quantitativ auszuwerten. Stattdessen begnügte ich mich mit einem Leitfaden, bestehend aus etwa 20 offenen Fragenkomplexen, die ich einigermassen der Reihe nach, im Einzelnen aber flexibel (bisweilen auch in einer anderen Reihenfolge) durchging. Erwies sich eine Fragestellung als unergiebig, so schritt ich gleich zur nächsten; intensives «Nachbohren» erwies sich, wie ich bald erkannte, als sinnlos. Die im konkreten Gespräch gesetzten Schwerpunkte und die Spannbreite der Aussagen waren also sehr verschieden und hingen stark von der befragten Person ab. Nach den ersten paar Interviews habe ich den Leitfaden leicht modifiziert. Gleich zu Beginn machte ich die Geprächspartner darauf aufmerksam, dass es mir nicht in erster Linie um persönliche Erfahrungen ginge, sondern um allgemeine Feststellungen: Nicht was das Individuum, sondern was «man» dachte, sagte und machte, wollte ich wissen. Am Schluss meiner Arbeit sollten ja einigermassen generalisierbare Feststellungen und zwar zu von mir gesetzten Problemkreisen stehen. Rein narrative Interviews hätten mir für mein Projekt wenig gebracht; wenn das Gespräch in diese Richtung abzugleiten drohte, erlaubte ich mir, den Redefluss zu unterbrechen. Dies geschah auch, wenn die Interviewpartner, sicher ohne Absicht, mehrfach die gesetzte chronologische Grenze überschritten. Brachten die Sprecher ein Thema aufs Tapet, das ich interessant fand, wiewohl es nicht in meinem Leitfaden figurierte, so liess ich sie zunächst einmal reden, um dann bei passender Gelegenheit wieder zu meinen Vorgaben zurückzukehren. Dasselbe machte ich bei Themenkomplexen, die mich zwar interessiert hätten, die ich aber den älteren Leuten nicht direkt zumuten wollte, also insbesondere Probleme der Sexualität oder, in der damaligen kirchlichen Umschreibung, die Vorschriften des sechsten Gebots. Mit dem gewählten Verfahren vermied ich die meisten der mit narrativen Interviews verbundenen Schwierigkeiten, vor allem den in der Forschung wohlbekannten Sachverhalt, dass Erinnerungen immer konstruiert sind und die Vergangenheit stets eine subjektiv interpretierte ist. Die Festlegung auf bestimmte Fragenkomplexe lässt dazu weniger Raum. In der Auswertung der Interviews kamen auch wieder «weiche» quantitative Elemente zum Zug: Eine Feststellung, welche die allermeisten Befragten spontan machen, zeichnet die Realität wohl ziemlich genau nach. Davon abweichende und widersprüchliche Aussagen müssen soweit wie möglich geklärt werden und in der Darstellung aufscheinen und diskutiert werden. Ort, Zeit und Umstände der Interviews hielt ich schriftlich in einem Begleitprotokoll fest. Fast immer fielen einige Themenkomplexe des Leitfadens aus Zeitgründen unter den Tisch: Nach zwei Stunden Reden zeigten sich sowohl bei den Befragten wie bei mir selber manchmal leichte Ermüdungserscheinungen. Ein zweites Interview schien mir gleichwohl nicht notwendig. In ganz wenigen Fällen habe ich bei bestimmten Fragen später nochmals Kontakt aufgenommen. Eine Anzahl offener Fragen konnte ich am Schluss in Gesprächen mit Roland Inauen und Karl Imfeld klären. Eine Transkription der Interviews habe ich nicht vorgenommen, diese wäre zu aufwendig gewesen und hätte auch zu viel «Abfall» (ich verwende diesen Begriff zwar ungern, aber bezogen auf meine ziemlich spezifische Fragestellung ist er doch nicht ganz unangemessen) mit sich gebracht. Die Aussagen wurden in relativ traditioneller Manier auf Karteikarten thematisch verzettelt, allerdings mit einem ziemlich feinen Raster von etwa 135 einzelnen Punkten. Dieses strukturiert auch den inhaltlichen Aufbau der Arbeit.

Schriftliche Quellen habe ich nur ergänzend benutzt. In erster Linie waren dies einige gedruckte autobiografische Berichte und Erinnerungen, sowie zumeist auf Interviews beruhende entsprechende Darstellungen von Dritten.6 Hinzu kamen periodische offizielle und quasi-offizielle Publikationsorgane.7 Unter den archivalischen Quellen waren die Pfarrberichte aus dem Dekanat Appenzell besonders wichtig, denn sie verringerten die erwähnte Lücke bei den geistlichen Interviewpartnern. Diese schriftlichen Berichte über den Stand der Pfarreien waren gemäss den Synodalstatuten von 1932 alle vier Jahre von sämtlichen Ortsgeistlichen aufgrund eines vorgegebenen Schemas von 36 Punkten abzufassen und dem bischöflichen Ordinariat einzusenden.8 Sie umfassten jeweils etwa 5–10 Seiten und dienten als Grundlage der eigentlichen kanonischen Visitation, die aber nicht vom Bischof selber, sondern von einem seiner Beamten vorgenommen wurde (Generalvikar, Offizial, Seminarregens usw.).9 Im Gespräch mit den Ortsgeistlichen ging es dann eigentlich nur noch um einige offene Fragen der bereits eingesandten Berichte. Darüber wurde ein Visitationsprotokoll erstellt, wobei der Visitator auch andere ihm zugekommene Informationen verwertete. In Obwalden wurde die Visitation noch nach dem klassischen tridentinischen Muster, zusammen mit der Firmung, vom Bischof selbst durchgeführt. Hier habe ich ein Protokoll und dazugehörige Akten aus dem Jahre 1956 benutzen können. Die Quellen aus dem Provinzarchiv der Kapuziner dienten vor allem der Klärung spezifischer mit dem Orden zusammenhängender Fragestellungen (Beichten, Segnungen, Volksmission usw.).

Eine auch zu einigen meiner Fragestellungen aufschlussreiche, in der Forschung bisher allerdings kaum benutzte Quelle sind die Antworten auf die von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 1931 gestellten 1585 Fragen zu allen wichtigen Bereichen der Volkskultur, die gesamtschweizerisch erhoben werden sollten, die sogenannte Enquete I.10 Die Antworten sind für Appenzell in einer Kopie mit ergänzenden Anmerkungen und Quellenhinweisen des redigierenden Verfassers Albert Koller erhalten. Sie betreffen zwar einen etwas früheren Zeitraum als den von mir gewählten. Gleichwohl half dieses Material, einige Fragen befriedigender zu klären und die Kontinuität rückwärts zu verlängern.

Literaturhinweise habe ich sparsam angebracht, sie beschränken sich zumeist auf spezielle Werke zum Untersuchungsraum. Die bis etwa 2004 erschienene, eher allgemeine Literatur zu vielen hier behandelten Themen wird ausführlich in den kommentierten Bibliografien meiner früheren Untersuchung «Musse und Verschwendung» erwähnt. Deshalb sind nur noch nach diesem Zeitpunkt erschienene wichtige Werke aufgeführt.

Der geografische Raum der Untersuchung wurde bereits mehrmals kurz umschrieben. Leitende Überlegung bei der Wahl der beiden Regionen Appenzell Innerrhoden und Obwalden war neben den praktischen Erwägungen zunächst die, dass in der Schweiz die Moderne in allen ihren Ausprägungen das Voralpengebiet (neben Teilen der Alpen) zweifellos am spätesten erreichte, dass dort politische, wirtschaftliche und kulturell-religiöse Traditionen noch am ehesten bewahrt blieben und die Resistenz gegenüber neuen Entwicklungen am ausgeprägtesten war. Der Entscheid für Appenzell war, wie bereits erwähnt, persönlich begründet; sachlich kam hinzu, dass – wie bereits die Reiseschriftsteller des 18. Jahrhunderts erkannten11 – hier geradezu das Muster einer konfessionell bestimmten verschiedenartigen Entwicklung in Wirtschaft und Kultur vorlag, eine Fragestellung, die mich schon länger interessierte.12 Deswegen habe ich hie und da einen Seitenblick auch auf Ausserrhoden geworfen.13 Dass daneben die Innerschweiz zu berücksichtigen war, schien mir selbstverständlich. Der Entscheid für Obwalden hat drei Gründe. Aus jeweils verschiedenen Ursachen gab es in den anderen Innerschweizer Kantonen zum Teil schon früh gewisse dynamische «fortschrittliche» Elemente (in Uri etwa die Gotthardbahn,14 in anderen die Nähe zum Grossraum Zürich), Obwalden erschien mir demgegenüber eher als ein in sich ruhender Pol. Entscheidend war allerdings, dass ich mich hier, wie bereits erwähnt, auf kundige Vertrauensleute stützen konnte.15 Schliesslich lag mir aber dieser Kanton auch persönlich nicht ganz fern, konnte ich doch in meiner Kindheit zweimal im Bruderklausendorf Flüeli-Ranft Ferien verbringen. Wenn im Text die Ausführungen zu Innerrhoden vergleichsweise etwas mehr Platz einnehmen, so liegt das nicht in erster Linie an der Herkunft des Autors, sondern einerseits an der besseren schriftlichen Quellenlage, andererseits daran, dass Obwalden durch die profunden Werke von Karl Imfeld für verschiedene Fragestellungen bereits gut erschlossen ist.

Die Absicht, auch das katholische Schweizer Mittelland zu berücksichtigen, gab ich bald auf. Nicht nur die politische (katholischer Liberalismus), sondern auch die wirtschaftliche Situation (vorwiegend Ackerbau, neben der ausgedehnten Industrie) war ganz anders als in den Voralpen, der Druck zur Modernisierung stärker und die mächtigen protestantischen Städte näher gelegen. Auch war es schwierig, Vermittler zu möglichen Interviewpartnern zu finden. Ergänzend habe ich jedoch anhand der reichhaltigen Materialsammlungen von Josef Zihlmann das luzernische Hinterland, geografisch zwischen dem Mittelland und den Voralpen liegend, mitberücksichtigt.16 Das Alpengebiet könnte man bei oberflächlicher Betrachtung zwar als ausgesprochenes Refugium der Tradition sehen. Das ist es sicherlich auch auf einigen Gebieten, aber gleichzeitig ist es durch Passverkehr und Tourismus äusseren Einflüssen stärker ausgesetzt als das mehr im Windschatten des Verkehrs liegende Voralpengebiet.17 Das schweizerische Alpengebiet ist etwa zur Hälfte protestantisch und fällt damit zu einem grossen Teil zum vorneherein aus. In Graubünden sind nur wenige Talschaften katholisch.18 Als grösstes zusammenhängendes katholisches Gebiet zeichnet sich das Wallis aus. Es ist eine Lieblingslandschaft der Volkskundler, und das Lötschental etwa geniesst eine gewisse Berühmtheit als Forschungsfeld für traditionelle Kulturen. Gerade auch deswegen habe ich das Wallis als mögliches Untersuchungsgebiet weggelassen, allerdings die verhältnismässig reiche volkskundlich-historische Literatur, soweit sie etwas zu meinen Fragestellungen beitragen konnte, berücksichtigt.19 Im Übrigen sei daran erinnert, dass gerade im Oberwallis der Passverkehr (Grimsel, Simplon, Gries) eine grosse Rolle spielt und schon früh auch eine spezifisch auf die Elektrizität aus Wasserkraft basierende Industrie entstand (Lonza, Aluminiumwerke Chippis). Die Landwirtschaft hat ebenfalls einen ganz anderen Charakter als am Nordabhang der Alpen. Schliesslich kommt man im Wallis auch an die Sprachgrenze, die eine direkte Vergleichbarkeit weiter reduziert. Dies war übrigens der Hauptgrund, den ganz klar dem italienischen (genauer lombardischen) Kulturkreis zugehörigen Tessin wegzulassen. Der am Rande erfolgte Einbezug des protestantischen Berner Oberlandes hat mehr persönliche als sachliche Gründe. Es diente mir, wie Ausserrhoden, als Folie, um zusätzlich einen Blick von «auswärts» zu bekommen.20

Der zeitliche Rahmen der Untersuchung ergab sich eigentlich von selbst. Das Problem war eher, die Interviewpartner darauf festzulegen und ausserdem da und dort eine offensichtlich falsche Chronologie zu korrigieren. Etwas ungenaue Datierungen blieben fast unvermeidlich, wie man auch aus eigener Erfahrung weiss. Das Jahr 1945 als Ausgangspunkt zu nehmen war selbstverständlich, weil der vorangehende Zweite Weltkrieg auch für die Schweiz eine Ausnahmesituation darstellte, die mich bei meinem Interesse für den «gewöhnlichen» Alltag nur gestört hätte. Auch war so die Gefahr gebannt, dass die älteren Männer ihnen liebgewordene Erinnerungen aus ihrem Aktivdienst auftischten. Nur ganz selten liess ich zeitlich vorangehende Entwicklungen, welche langzeitige Folgen hatten, in die Gespräche miteinfliessen. Den Zeitraum von 1955–1960 als Schlusspunkt zu wählen, fiel ebenfalls leicht. Nicht nur meine eigenen Erinnerungen (Jahrgang 1941), deren erste noch in die Kriegszeit hineinreichen, lassen mir die Dekade nach dem Waffenstillstand als eine verhältnismässig ruhige Zeit erscheinen, in der man zunächst noch mit den Folgen der vorangegangenen Auseinandersetzung fertig werden musste, ohne an viel Neues zu denken, das Leben somit ohne grössere Veränderungen wie bis anhin weiterging. Dieselbe Schlussfolgerung kann man chronikalischen Darstellungen, wie sie es für beide Untersuchungsgebiete gibt, entnehmen.21 Erst seit der Mitte der 1950er- Jahre zeigen sich dann die typischen Erscheinungen der Moderne gehäufter auch in den bis dahin relativ zurückgebliebenen Voralpenkantonen. Hier habe ich selber noch lebhafte Erinnerungen etwa an den ersten Einsatz eines Baggers für Aushubarbeiten (bezeichnenderweise für eine Fabrik), an die ersten Waschmaschinen (Marke Hoover) vor einem Elektroladen, an neue Produkte der aufkommenden Lebensmittelindustrie, an den zunehmenden Autoverkehr mit allen seinen Folgen, schliesslich an die ersten, in zwei Wirtshäusern als Sensation und Publikumsmagnet aufgestellten Fernsehgeräte. Speziell für die Religiosität bedeuten der Beginn des Pontifikats von Johannes XXIII. (1958) und das bald von ihm einberufene Zweite Vatikanische Konzil einen Einschnitt, auch wenn sich die Folgen erst in den 1960er-Jahren massiv bemerkbar machten. Allerdings gab es, wenn man genauer hinschaut, bereits zur Zeit Pius XII. unterschwellig einige kirchliche Neuerungen.22 Diese vorläufigen Feststellungen zum zeitlichen Rahmen werden im Folgenden noch an einigen Beispielen zu präzisieren sein.

 

 

 

Anmerkungen

1 Z. B. Fuchs; Vogler.

2 Dies ist die spezifisch volkskundliche Perspektive. Für meine Fragestellung sei in dieser Hinsicht exemplarisch auf das Werk von Hartinger verwiesen, das die Verschränkung von Religion und Brauch thematisiert.

3 Zu diesem Problem noch Bärsch; Forstner.

4 Teilweise sind die entsprechenden Erfahrungen der Geistlichen wohl in ihre Predigten, Schriften und Rechenschaftsberichte eingeflossen.

5 Zur Theorie und Methode der qualitativen Sozialforschung und der «oral history»: Forstner (für Geistliche); Girtler, Methoden; Göttsch; Lamnek; traverse; Vorländer; Wierling.

6 Für Appenzell: Bräuninger; Dörig; Inauen R., Charesalb; Lüthold; Neff A.; Weigum; Wyss, Potztusig; Zilligen. Für Obwalden nur Furrer und Ming H.; allerdings basieren die Werke von Imfeld auch auf einem reichen persönlichen Erinnerungsschatz. Für andere Gebiete (in Auswahl): Britsch (Wallis); Galli (Tessin); Jaggi (Berner Oberland); Witzig (Deutschfreiburg, Wallis, Tessin).

7 Appenzeller Volksfreund (zugleich amtliches Publikationsorgan). Systematisch durchgesehen wurden die beiden Eckjahrgänge 1946 und 1960. Die pfarrlichen Ankündigungen umfassen für das erste Jahr nur das Dorf Appenzell und Haslen, sowie teilweise Gonten. Die übrigen Pfarreien informierten damals noch durch Anschlag oder mündliche Mitteilung. Die Obwaldner Presse wurde ausgiebig von Imfeld benutzt, sodass ich hier auf weitere Recherchen verzichten konnte. Die in Frage kommenden diözesanen Amtsblätter sind: Diözesanblatt für das Bistum St. Gallen; Folia officiosa ab ordinariatu episcopali diocesis curiensis edita.

8 Vgl. Diözesanblatt 2. Folge, 151–153 (7. 4. 1941), dort auch die Liste der Fragepunkte. Ferner Bischof, 123.

9 In den appenzellischen Landpfarreien war dies häufig ein Einheimischer, nämlich Dr. Edmund Locher, bis 1943 Pfarrer in Appenzell, dann Domkustos und Professor in St. Gallen. Vgl. zur Person Stark, 113f.; IGfr 30 (1986/87), 177.

10 Die Frageliste publiziert in: SAVk 31 (1931) 101–142. Vgl. dazu auch Inauen R., Hitz, 48. Der Rücklauf der Fragebogen war offenbar enttäuschend gering und generell blieb wenig davon erhalten (so fehlt etwa OW). Zur Erarbeitung des Grundlagenmaterials für den in Aussicht genommenen Atlas der schweizerischen Volkskunde wurde deshalb ein stark reduzierter zweiter Fragebogen (Enquete II) erstellt. Einschränkend ist zu bemerken, dass der Fragenkatalog selbstverständlich die damaligen Forschungsinteressen der Volkskunde widerspiegelt und damit der christlichen Religiosität wenig Platz einräumt. Die spezifisch «Religiöse Volkskunde» steckte damals noch in ihren Anfängen.

11 Vgl. etwa Ebel; Deutsch (Zinzendorf); Hartmann.

12 Hersche, bes. 446ff., 474ff., 722f., 893f.

13 Allg. zu Ausserrhoden Schläpfer, für die Gemeinde Urnäsch Hürlemann.

14 Vgl. für das «traditionelle» Uri aber noch das 1946 erschienene Werk von L. von Matt.

15 Eine Hilfe war auch das von Imfeld verfasste Mundartwörterbuch. Für Appenzell gibt es das entsprechende Werk von Joe Manser. Dialektbegriffe habe ich in diesem Buch jedoch nur ausnahmsweise verwendet, nämlich dort, wo sie besonders aussagekräftig oder kaum mit einem einzigen anderen Wort übersetzbar waren.

16 Vgl. die in der Bibliografie aufgeführten Werke. Für das Entlebuch bietet das Werk von Kaufmann über die Mischehen auch viele allgemeine Informationen zu dieser Landschaft.

17 Dazu grundlegend Mathieu.

18 Vgl. etwa Schmid zum Lugnez. Naheliegend wäre es (gerade von Graubünden und dem am Ostrand der Schweiz gelegenen Untersuchungsgebiet Appenzell aus) einen Blick über die Grenze, ins Vorarlberg und Tirol, zu werfen. Das musste hier unterbleiben, abgesehen von der summarischen Benutzung eines «Klassikers», an dem niemand vorbeikommt, der sich mit den hier behandelten Fragestellungen abgibt: Das dreibändige «Bergbauernbuch» von H. Wopfner zum Tirol. Ergänzend zu dieser Region noch Hubatschek; Jäger. Vergleichend kann ferner die einzige grössere Untersuchung aus Deutschland zur Lebenswelt ländlicher Katholiken um 1950 herangezogen werden, nämlich diejenige von Fellner zu Bayern. Vgl. darin besonders die Abschnitte zu Ebersberg, 101ff., und Berchtesgaden, 176ff. Ebersberg ist von der Zahl der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung mit AI und OW vergleichbar, ebenso Berchtesgaden, wo allerdings der Tourismus eine ganz grosse Rolle spielt. Der Autor konstatiert einleitend zu recht ein enormes Forschungsdefizit zum gewählten Thema. Ein nahe der Schweiz gelegenes Gebiet (Oberschwaben) behandelt Kuhn.

19 Antonietti; Antonietti/Kalbermatten; Bellwald; Bellwald/Guzzi; Imhasly; Kuonen; Niederer; Pfaffen; Siegen Joh.; Siegen Jos.

20 Zum schweizerischen und bernischen Protestantismus allg. Guggisberg; Vischer; Weiss. Der «Atlas der schweizerischen Volkskunde» (ASV) behandelt die hier im Vordergrund stehenden, mit der Konfession zusammenhängenden Probleme eher am Rande. Auch das von P. Hugger hg. dreibändige «Handbuch der schweizerischen Volkskultur», gewissermassen das Nachfolgewerk der Synthese von Weiss, gibt zwar insgesamt einen umfassenden Überblick zum Thema, ist aber stärker gegenwartsbezogen und widmet der religiösen Kultur bloss verhältnismässig wenig Platz (explizit nur in den beiden Beiträgen von Heim, 1487–1500, und Campiche, 1443–1470). Eine nützliche neuere Datensammlung zum Vergleich katholischer und protestantischer Mentalität, aber auch zu anderen hier behandelten Fragekreisen, ist hingegen der von B. Fritzsche hg. «Historische Strukturatlas der Schweiz».

21 Für AI Steuble (die in der folgenden Darstellung gegebenen Daten sind in der Regel hier entnommen); für OW gibt Dillier nach Themenkreisen geordnet viele chronikalische Hinweise. Vgl. im Übrigen 10.5 und 10.6.

22 Zu diesen Entwicklungen und der schweizerischen Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert vgl. in erster Linie die im Literaturverzeichnis angeführten Arbeiten vom Altermatt. Ferner Conzemius; Vischer.

1 Allgemeine Strukturelemente in Appenzell und Obwalden

1.1 Geografische Situation

Grundsätzlich sind die naturräumlichen, wirtschaftlichen, politischen und anderen Rahmenbedingungen beider Untersuchungsgebiete einander weitgehend ähnlich, bloss im Detail zeigen sich einige Unterschiede.1 Geografisch sind sie beide im schweizerischen Voralpengebiet gelegen, im Übergang vom hügeligen zum eigentlichen Berggebiet. Das wirkt sich besonders in Appenzell, an der Nordabdachung der Alpen gelegen, in häufigen Niederschlägen aus, wohingegen das fast rundum von Gebirgen umgebene Obwalden trockener ist. Das Appenzellerland liegt etwas erhöht südlich des Bodensees, am Fuss des Alpsteins, einer weit nach Norden vorgeschobenen Gruppe des Alpengebirges. Es ist rundum vom Kanton St. Gallen umgeben und von einem einzigen grösseren Fluss, der Sitter, durchflossen. Obwalden ist als einer der drei Urkantone Teil der Zentralschweiz. Es hat Anteil am Vierwaldstättersee, in den die Sarner Aa mündet, die das auf rund 435 bis 470 Meter über Meer gelegene Haupttal mit dem gleichnamigen See und dem Hauptort Sarnen durchfliesst. Wesentlich höher gelegen sind nur die Gemeinde Lungern sowie das abgeschiedene, seitlich gelegene Melchtal. Noch höher, auf rund 1000 Meter über Meer liegt die Exklave Engelberg. Dieser ehemalige Klosterstaat gehört geografisch eigentlich zu Nidwalden,2 schloss sich aber nach dem Ende der weltlichen Herrschaft der Äbte 1815 aus politischen Gründen Obwalden an. Appenzell Innerrhoden ist durchschnittlich höher gelegen, von 740 Meter über Meer an aufwärts. Eine Ausnahme bildet einzig der «Äussere Landesteil», die Exklave Oberegg, der im Ausserrhoder Vorderland gelegene, katholisch gebliebene Teil des alten ungeteilten Landes. Dieser ist stärker nach St. Gallen und dem Rheintal hin orientiert und auch wirtschaftlich etwas anders strukturiert; er wird daher in dieser Untersuchung im Allgemeinen nicht berücksichtigt. Der Hauptort Appenzell liegt auf 785 Meter über Meer, die kleinen übrigen Ortschaften meist auf etwa 900 Meter über Meer.

1.2 Siedlung, Bevölkerung, Verkehr

Nur die beiden traditionellerweise «Flecken»3 genannten Hauptorte Sarnen und Appenzell weisen eine einigermassen entwickelte Infrastruktur mit vielen Läden und Handwerkern auf und erfüllen in beiden Kantonen die zentralörtlichen Funktionen. Im Umland, in Appenzell noch stärker als in Obwalden und geradezu exemplarisch, herrscht bäuerliche Streusiedlung mit arrondiertem Landbesitz («Heimat») vor.4 In beiden Kantonen wurden die Höfe im geschlossenen Erbrecht an einen Sohn weitergegeben.5 In Appenzell bilden Wohnund Ökonomiegebäude eine Einheit (Kreuzfirstbau). In Obwalden sind sie, mit im Einzelnen deutlich anderer Bauweise, getrennt. Während beide Hauptorte eine minimale Grösse von einigen tausend Einwohnern haben, sind die übrigen paar Dörfer in Obwalden kleiner, weisen dennoch alle wichtigen Geschäfte auf (Läden, Handwerker, sogar mehrfach). Die Appenzeller Ortschaften ausserhalb des Hauptorts hingegen würde man besser Weiler nennen: Sie bestanden noch um 1960, bis der Bauboom auch dort einsetzte, nur aus Kirche, Pfarrhaus, Schule, eventuell einer Post, einer oder zwei Wirtschaften, sowie einer Bäckerei und allenfalls einem Gemischtwarenladen. Die Bevölkerung Obwaldens betrug 1950 22 125, diejenige Innerrhodens (ohne Oberegg) 11 230 Einwohner. Diese Zahlenverhältnisse gelten mit geringen Schwankungen auch für die Jahrzehnte unmittelbar vorund nachher. Auswanderung fand immer statt, denn in beiden Kantonen existierten in unserem Untersuchungszeitraum bei beschränkten Ressourcen noch sehr kinderreiche Familien.6 Einwanderer aus anderen Kantonen gab es vor 1960 verhältnismässig wenige, am ehesten bei ganz spezialisierten Berufen ohne lokale Tradition. Die Anbindung an den Verkehr war sowohl in Obwalden wie in Innerrhoden relativ schlecht, was sich unter anderem darin zeigt, dass sie nur mit Schmalspurbahnen erschlossen wurden, wobei allerdings der Brünigbahn in Obwalden überregionale Bedeutung zukam. Der Strassenverkehr war nach dem Krieg noch ziemlich unbedeutend, und bei den Einheimischen konnten sich damals nur die dörfliche Oberschicht oder bestimmte darauf angewiesene Berufstätige ein Auto leisten.7 Allerdings reisten die Touristen vermehrt damit an, was die beiden Kantone veranlasste, in den späten 1950er–Jahren eine vorher nicht existierende Verkehrspolizei ins Leben zu rufen.8 Gleichzeitig wurden umfangreiche Strassenausbauprogramme (Asphaltierungen, Verbreiterungen usw.) in Angriff genommen und wenig später wurde auch begonnen, die landwirtschaftlichen Siedlungen mit Flurstrassen für den motorisierten Verkehr zu erschliessen.

1.3 Wirtschaft

Die naturräumlichen Gegebenheiten bestimmten massgeblich die wirtschaftliche Tätigkeit, insbesondere im ersten Sektor, der zwischen 1945 und 1955 noch eindeutig dominierte.9 In Innerrhoden waren gemäss der Volkszählung von 1950 noch 51 Prozent der männlichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig,10 in Obwalden waren es 42 Prozent,11 also mehr als das Doppelte, beziehungsweise Dreifache des gesamtschweizerischen Durchschnitts.12 Diese Zahlen sind jedoch aus methodischen Gründen als blosse Richtwerte zu betrachten.13 Für den Getreidebau sind beide Gegenden nicht geeignet, nur in Obwalden gab es in der Ebene der Sarner Aa ein wenig Ackerbau. Auf staatlichen Befehl wurde zwar beiderorts im Rahmen des «Plans Wahlen» in der Notzeit des Zweiten Weltkriegs auf mehreren hundert Hektaren Getreidebau betrieben, aber gleich danach wieder aufgegeben. Einzig der im Krieg ebenfalls forcierte Anbau von Kartoffeln wurde vor allem in Obwalden für den Eigenbedarf noch eine Zeit lang weiter gepflegt. Grasbau und Milchwirtschaft herrschen bis heute vor und bilden neben der Kälbermast und der Aufzucht von Jungvieh das Haupteinkommen der Bauern in beiden Gegenden. Die Alpwirtschaft war beiderorts eine notwendige und wichtige, mit Liebe besorgte Ergänzung der Talbetriebe. Die Milch wurde zum kleineren Teil als Konsummilch weiterverkauft, vor allem aber wurden Käse und Butter daraus hergestellt. Das zweitwichtigste Nutztier, welches fast alle Bauern hielten, war das Schwein. Demgegenüüüäüüöüü«»ä14üöäööüüüäöäöüäö15ü16äüüüääö