Cover

Martin Niklas

Einmal Zwillinge, bitte

Roman

Edel:eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks,
einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2012 by Martin Niklas

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München

Eine frühere Ausgabe erschien bereits unter dem Titel “Bei Sturm bekommt die Liebe Flügel”.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-202-3

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»Leben ist das, was wir daraus machen.«

Henry Miller

1

Chaos schon beim Frühstück.

Es klingelte ausgerechnet in dem Moment, als ich meinen Schlips in der Kühlschranktür eingeklemmt hatte und in den Händen eine Tasse Kakao und ein offenes Honigglas balancieren mußte. Gleichzeitig pfiff auf dem Herd der Kessel mit dem Teewasser, und der Fläschchenwärmer hatte seine Höchsttemperatur erreicht. Warum war ich nicht Junggeselle geblieben? Irgendwie kam ich vom Kühlschrank los und öffnete mit rotem Gesicht die Haustür.

Entsetzt prallte die junge Briefträgerin zurück, als sie mich sah. Vielleicht erschrak sie auch nur, weil im Wohnzimmer Flecki bellte und Christina oben im Kinderzimmer versuchte, unsere brüllenden Zwillinge zu beruhigen.

»Sekunde...«, murmelte ich und stellte den Kakao auf die Garderobenablage.

»Nur ein Einschreiben«, sagte die Briefträgerin. »Wenn Sie bitte quittieren würden, Herr Roggenkämp.«

Natürlich war mein Kugelschreiber an diesem Morgen nicht funktionsfähig. Wahrscheinlich ahnte er, was er da unterschreiben sollte. Die junge Dame lieh mir ihren Stift.

»Vielen Dank«, meinte ich, »heute morgen geht hier wohl einiges schief...«

»Das sieht man an Ihrer Krawatte«, bemerkte sie grinsend. »Ist das Sahne oder Eierschaum?«

Ich blickte an mir herunter. Tatsächlich war die untere Hälfte des Schlipses weiß bekleckert und völlig zerknittert.

»Ich fürchte, Sahne«, antwortete ich verschämt. Hoffentlich wußte sie nicht, daß manche Psychologen die Krawatte, den Stolz des Mannes, als ein Phallussymbol betrachteten.

Nachdem ich wieder allein mit meinem Chaos war, band ich rasch den Schlips ab, zog mich mit dem Brief in die Küche zurück und öffnete ihn hastig. Er war von unserem Vermieter.

Der Brief war voller Komplimente an Christina und mich. Wir seien die reizendsten Mieter, die man sich vorstellen könne, so kultiviert, zuvorkommend und verständnisvoll – alles Attribute, die ich uns, ehrlich gesagt, auch erteilt hätte. Wenn man selbst sich nicht nett findet –wer sonst?

Der Brief hatte nur einen Schönheitsfehler. Er endete mit den Worten: » ... müssen wir Ihnen leider die Kündigung wegen Eigenbedarfs aussprechen.«

Es war nicht zu fassen – das Ganze ging also schon wieder von vorne los. Gerade erst hatten wir doch dieses wunderschöne Haus gefunden. Wie brachte ich das nur Christina bei?

Genau in diesem Augenblick kam sie die Treppe herunter, Stefanie und Katharina im Arm, beide frisch gewickelt und mit strahlendem Karottenteint.

»Post?« fragte Christina. Sie stellte den glühenden Fläschchenwärmer ab. Ich zögerte, ihr so früh am Morgen schon die Wahrheit zu sagen, zumal sie heute wieder derart hinreißend aussah, daß es schade gewesen wäre, jetzt ihr ausgeruhtes, schönes Gesicht mit Sorgen zu umwölken. Ich wich ihrer Frage aus.

»Nur ein sehr kleiner Brief ... laß uns doch erst frühstücken...«

»Apropos Brief«, sagte sie. »Ich habe auch noch einen Brief. Wegen Stefanies Bauchweh gestern abend hatte ich ihn völlig vergessen!« Sie legte die Zwillinge in den Laufstall, der im Wohnzimmer stand, und kam mit einem großen braunen Kuvert zurück. Ich sah, daß es bereits geöffnet war. Nur sehr wenige Menschen sind in der Lage, einen an sie adressierten Brief länger als zehn Minuten ungeöffnet liegenzulassen. Christina gehörte nicht dazu.

»Und was steht da drin?« fragte ich.

Sie blickte mich mit frech lockendem Blick an.

»Erst will ich deinen Brief sehen.«

»Schlechte Nachrichten«, brummte ich mißmutig und legte den Brief auf den Tisch.

Sie plazierte ihr großes Kuvert direkt daneben und lächelte geheimnisvoll.

»Mein Brief ist, Gott sei Dank, sehr erfreulich. Du wirst staunen«, sagte sie.

»Wie erfreulich?« fragte ich.

»Du wirst dich vor Überraschung platt auf den Boden legen und mit den Füßen strampeln«, antwortete sie voller Vorfreude.

»Du auch«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

Und dann griff jeder nach dem Kuvert des anderen...

Christinas Umschlag enthielt einen farbigen Prospekt und ein Anschreiben. Absender war ein Hersteller von Kindernahrung, dessen püriertes Gemüse in Gläschen auch bei uns stand. Er gratulierte uns zu einem wundervollen Preisausschreiben-Gewinn: Sechs kostenlose wundervolle Urlaubstage in einer wundervollen Pension in Mittenwald/Oberbayern – natürlich waren auch unsere Kleinen mit eingeladen!

»Das gibt’s doch nicht! Ein Preisausschreiben? Hast du etwa mitgemacht?« fragte ich ungläubig.

Doch Christina hatte im selben Moment den Brief unseres Vermieters gelesen und nickte nur abwesend. Ich ließ sie in Ruhe zu Ende lesen. Wie befürchtet, war ihre überschwengliche Freude im Nu verflogen.

»Was machen wir jetzt?« fragte sie sorgenvoll.

Ich hatte das Gefühl, mich in dieser Situation entscheidungsstark geben zu müssen. Außerdem hatte ich mich ja schon ein paar Minuten länger mit dem Gedanken an eine erneute Wohnungssuche vertraut machen können. Ich nahm ihr den Brief aus der Hand und legte ihn aufs Regal. »Wir fahren erstmal sechs Tage in Urlaub. Wenn wir ihn schon umsonst kriegen.«

Christina protestierte sofort.

»Glaubst du, dazu habe ich jetzt noch Lust? Dabei hatte ich mich so gefreut, dich zu überraschen!«

»Wieso hast du bei diesem Preisausschreiben überhaupt mitgemacht?« fragte ich. »Ich denke, du findest so was albern. Sagst du jedenfalls immer.«

Christina verzog den Mund.

»Wenn du mit zwei Babys zwei Stunden in einem überfüllten Wartezimmer beim Kinderarzt sitzen müßtest, wüßtest du, warum.«

Sie wußte, daß ich damit schachmatt war. Nie hatte sie mich hilfloser gesehen als während unseres ersten gemeinsamen Besuchs beim Kinderarzt. Ich wurde nicht gern daran erinnert. Erst hatte der Arzt unseren Zwillingen ein paar notwendige Impfungen verpaßt und anschließend mir ein Kreislaufmittel, weil ich bleich auf einen Kinderstuhl gesunken war.

»Andererseits...« begann Christina, »würde uns ein bißchen Urlaub jetzt wirklich guttun...«

Wir setzten uns nach draußen auf die Terrasse, um noch einmal in Ruhe den Prospekt und den Begleitbrief zu studieren. Der frühe Junimorgen war mild und sonnig, und ich verspürte heute eigentlich gar keine Lust, bis zum späten Abend in meiner Redaktion Dienst zu tun. Während der schönen Jahreszeit könnten Zeitungen ebensogut im Park des Verlagshauses entstehen...

Schon eine Stunde später hatte ich nach zwei Telefonaten – das eine mit der Pressestelle des Babynahrungsherstellers, das andere mit Pension TANNENBLICK in Mittenwald – die Termine für unsere Gewinnreise klargemacht. Alle scheinen nur auf uns zu warten. Pension TANNENBLICK wollte uns seine größte Familiensuite reservieren. Anreise: Montag nächster Woche.

Zufrieden blickte ich Christina an, nachdem ich den Telefonhörer aufgelegt hatte.

»Na? Was sagst du dazu? Klappt doch wie am Schnürchen. So ein erster Preis ist gar keine schlechte Sache. Vielleicht solltest du das mal im großen Stil betreiben... Woanders gibt’s sogar Häuser zu gewinnen. Dann wüßten wir wenigstens, wo wir demnächst wohnen.«

»Erinnere mich bloß nicht daran!« sagte Christina. »Ich darf gar nicht daran denken.«

»Erst mal denken wir nur an Urlaub«, sagte ich. »Pack die notwendigsten Sachen ein, und der Countdown beginnt.«

Urlaubsvorbereitungen waren für mich immer eine einfache Sache gewesen. Man packte Rasierapparat und Zahnbürste sowie zwei Hemden, eine Ersatzjeans und zwei frische Unterhosen zusammen, verstaute sie in einer kleinen Tasche und war, wenn es sein mußte, wochenlang ein freier Urlaubsmensch. Nachdem ich mit Christina zusammengezogen war, hatte ich mir das kleine Gepäck schnell abgewöhnen müssen. Was aber waren ihre zusätzlichen zwei Koffer gegen die Berge von Reisegepäck, die wir jetzt verstauen mußten! Warum, so fragte ich mich, während ich schwitzend die prallen Reisetaschen und Windelkartons zum Auto schleppte, brauchten die drei Monate alten Zwillinge eigentlich mehr Gepäck als wir selbst? Wahrscheinlich weil sie angehende junge Damen waren.

Es war die erste größere Reise, die wir nach der Geburt von Stefanie und Katharina zusammen unternahmen. Eine Abenteuerreise konnte nicht aufregender sein.

Während Christina die Zwillinge ein letztes Mal vor der Abreise fütterte, verstaute ich das Oberteil des Zwillingswagens auf dem Rücksitz. Das Untergestell mit den Rädern kam aufs Dach. Dabei klemmte ich mir den Finger ein, ließ aus Versehen das dicke Befestigungsband aus Gummi los, so daß es mir schmerzhaft ins Gesicht sprang, und wollte fluchend ins Haus laufen, um mir die Verletzung im Spiegel anzuschauen.

Gerade in diesem Augenblick kam Frau Grünler, unsere Nachbarin, aus der Haustür.

»Ich hörte, daß Sie nach Mittenwald fahren, Herr Roggenkämp«, sagte sie. »Ich hätte da eine kleine Bitte.«

Mit dem Taschentuch drückte ich demonstrativ auf meine Schramme an der rechten Wange, aber Frau Grünler nahm meinen Zustand gar nicht wahr.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Grünler.«

»Eine Cousine von mir wohnt doch in Mittenwald; da sind wir schon drei Jahre nicht mehr gewesen, und bei unserem letzten Besuch hatte ich ihr etwas versprochen...«

»Das ist nett von Ihnen«, sagte ich geistesabwesend.

»Sie ist eine begeisterte Blumenzüchterin, und ich würde Ihnen gerne eine Pflanze für meine Cousine mitgeben, Herr Roggenkämp. Selbstgezogen. Könnten Sie so einen Blumentopf noch in ihrem Auto verstauen?«

»Kein Problem«, sagte ich. »Sie sehen ja, was sonst noch alles in den Wagen muß, da kommt es auf ein Pflänzchen auch nicht mehr an. Stellen Sie den Topf einfach neben das Auto.«

Frau Grünler lächelte mich dankbar an.

»Ach, Herr Roggenkämp, das schätze ich so an Ihnen und Ihrer Frau – Sie sind immer da, wenn man Sie braucht. Dann also – schönen Urlaub. Die Adresse meiner. Cousine hänge ich an den Blumentopf.«

Christina hatte inzwischen die restlichen beiden Taschen mit Babywäsche in den Flur gestellt. Daneben saß Flecki, unser schnauzbärtiger Hund, der viele Rassen in sich vereinigte und uns immer wieder mit seiner hohen Intelligenz ängstigte. Für ihn war ein Reiseplatz zu Füßen der Beifahrerin reserviert.

»Was wollte denn Frau Grünler von dir?« fragte Christina.

Ich erzählte es ihr.

»Das ist das mindeste, was wir für sie tun müssen«, befand sie anschließend. »Schließlich schaut sie hier auch nach dem Rechten, während wir weg sind.«

»Also dann – einsteigen. Ich möchte bis neun auf der Autobahn sein.«

Christina nahm die erwartungsvoll strahlenden Babys auf den Arm, ich griff nach dem restlichen Gepäck, und Flecki trug brav seine Hundeleine im Maul. Er wußte, was sich gehörte.

Als wir zum Auto kamen, stockte uns der Atem.

Mitten auf dem Bürgersteig stand ein riesiger Kaktus. Er war mindestens einen Meter hoch.

»Das kann doch nicht wahr sein!« rief Christina erschrocken aus. »Wie sollen wir denn den ins Auto kriegen?«

»Ich könnte ihn höchstens auf dem Dach festbinden«, schlug ich sarkastisch vor. »Aber dann passen wir durch keinen Tunnel.«

»Laß deine blöden Witze«, meinte Christina verärgert. »Such lieber nach einer Lösung. – Jetzt sag doch mal was!«

»Flecki, laß das!« sagte ich. Nur widerwillig verzichtete der kluge Hund darauf, an dem Kaktus sein Beinchen zu heben.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich im Auto erneut umgeräumt hatte und ein sicherer Platz für das gefährliche Pflanzenungetüm gefunden war – hinter der Rückbank und in sicherer Entfernung von den Babys. Ich konnte allerdings nicht verhindern, daß der dunkelgrüne Stamm, der wie ein drohender Phallus aussah, damit auch einen Fensterplatz erhielt, den er gar nicht verdient hatte.

Dann endlich konnten wir in den Urlaub starten. Spätestens jetzt hatten wir ihn auch nötig. Wegen des vielen Gepäcks hatte ich kaum Platz zum Schalten. Als wir an einer Ampel hielten, meinte Christina: »Ich glaube, wir fallen richtig auf. Guck mal, wie uns die Leute nachstarren. Als ob die nie gesehen haben, wie eine Familie Auto fährt.«

»Ich fürchte, mein Liebling«, sagte ich, »die Leute starren wegen etwas ganz anderem.«

»Und weswegen?«

»Sie sehen zum erstenmal, daß ein Kaktus in Urlaub fährt...«

2

Das Alpenpanorama mit blühenden Bergwiesen und steilen Felshängen begleitete uns, seit wir Garmisch-Partenkirchen hinter uns gelassen hatten und über eine breite Umgehungsstraße direkt auf die Karwendelspitze zufuhren. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter, um den kühlen, würzigen Landduft hereinzulassen, der aus dem breiten Isartal links der Straße aufstieg.

Die Fahrt war anstrengend gewesen, noch anstrengender, als wir sie uns vorgestellt hatten. Vermutlich war es richtig gewesen, daß unsere Mütter uns entsetzt davor gewarnt hatten, mit drei Monate alten Babys in Urlaub zu fahren. Wir hatten unsere Strapazierfähigkeit einfach überschätzt – und die der kleinen Zwillinge auch. Erst jetzt, kurz vor dem Ziel, waren sie eingeschlafen.

Die Pension Tannenblick fanden wir über dem alten Obermarkt am Hang, direkt gegenüber der Karwendelspitze, die sich majestätisch über der Geigenbauergemeinde erhob. Die Fahrt durch die Gassen Mittenwalds hatte uns Dutzende von Häusern mit bunter Lüftlmalerei und einen hübschen Ortskern gezeigt.

Christina stellte befriedigt fest, daß die Straßen breit genug für ihren Zwillingskinderwagen waren.

Das Schild ›Pension Tannenblick‹ über dem Eingang war relativ unscheinbar und hatte bereits ein wenig Rost angesetzt. Das ganze Gebäude schien schon sehr alt zu sein. Das Holz der drei übereinanderliegenden Balkone machte einen ungepflegten, vernachlässigten Eindruck. Während vor den Fenstern der Nachbarhäuser üppig blühende rote Geranien leuchteten und fast alle Gebäude vom Boden bis zum Dachfirst deftige, alpenländische Ursprünglichkeit ausstrahlten, wirkte unsere Pension geradezu lieblos.

Der Eindruck verstärkte sich noch, als ich in der sogenannten Empfangshalle stand und mich umschaute, bis Frau Kirchbichl kam. Alles sah aus wie in den fünfziger Jahren.

Auch Frau Kirchbichl sah so aus. Sie war mittelgroß, hager, mit einer Art Dutt versehen und einem knochigen Gesicht samt Pferdegebiß, das die gleiche Farbe hatte wie ihr gelbblond gefärbtes Haar. Das einzig Bajuwarische an ihr war ihre weißblau karierte Schürze. Später sollte ich erfahren, daß sie ihren bayerischen Namen durch eine unglückliche Heirat erworben hatte und als Preußin in der Nachbarschaft höchst unbeliebt war.

»Sie kommen zwar ein bißchen zu früh, weil Anreise normalerweise erst nach siebzehn Uhr ist, aber dennoch willkommen in unserem schönen Werdenfelser Land!«

Sie hielt mir eine sehr kräftige Hand hin, die nach Zwiebeln roch. Ihr fester Händedruck ließ vermuten, daß sie im Leben nicht zimperlich war.

»Wir würden gerne gleich unser Zimmer sehen«, sagte ich, »damit meine Frau die Kinder ins Bett legen kann. Sie sagten am Telefon, Sie hätten ein Gitterbett...«

Frau Kirchbichl nickte, während sie sich zur Treppe umwandte.

»Wir haben es heute morgen extra für Sie aufgestellt. Es ist ein sehr traditionsreiches Bett. Darin hat schon mein Schwiegervater gelegen als kleines Kind.«

Es war ein folgenschwerer Fehler, daß ich bei diesem Hinweis nicht sofort stutzig wurde.

Ich nahm Katharina auf den Arm, und Christina trug die immer noch schlafende Stefanie. So folgten wir Frau Kirchbichl die schmale dunkle Treppe zum ersten Stock hinauf, wo ein abgetretener und fadenscheiniger Teppich für eine wenig einladende Atmosphäre sorgte.

Die Familiensuite, von der am Telefon die Rede war, entpuppte sich als ein schätzungsweise fünfzehn Quadratmeter großer Raum mit angrenzender halber Kammer, wie sie in den meisten Hotels als Wäscheraum benutzt wird: nur ein winziges Dachfenster sorgte darin für etwas Licht.

Das einzig Freundliche an dem größeren Zimmer war das breite Fenster mit Ausblick auf Mittenwald. Nicht weit von uns entdeckten wir die grüne Turmspitze der alten Kirche.

Das war aber auch schon die einzige Attraktion in diesem Zimmer. Christina und ich blickten uns sprachlos an. Das konnte nicht wahr sein!

Alles war so unsagbar lieblos in diesem Raum, die durchgelegenen Ehebetten mit Metallrahmen ebenso wie der klapprige Schrank, die zwei kitschigen Bilder mit Gebirgsbächen und die sogenannte Sitzecke, die Frau Kirchbichl offensichtlich mit Hilfe ausrangierter Möbel zusammengestellt hatte.

Das Beste hatte sich unsere Wirtin aber bis zuletzt aufgespart. Mit selbstzufriedener Miene zog sie aus einer Ecke das Kindergitterbett hervor.

»Das ist das gute Stück«, sagte sie stolz. »Über siebzig Jahre alt. Also eine richtige Antiquität.«

Die Antiquität bestand aus einem fast quadratischen Zwergenbett samt alter Matratze und einem Dutzend wackliger, fast armdicker roher Holzstäbe, deren Patina verdächtig nach Schmutz aussah. Wahrscheinlich hatte das Kinderbett auf dem Speicher gestanden, seit der Herr Schwiegervater als Kind seine ersten Schritte unternommen hatte. Ich bemerkte, wie Christina sich innerlich schüttelte bei dem Gedanken, unsere kleinen Lieblinge dort hineinlegen zu müssen.

»Dann lasse ich Sie jetzt am besten allein«, sagte Frau Kirchbichl, »damit Sie es sich etwas bequem machen können. Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit ihrem Zimmer.«

»Wir hatten eigentlich...« begann ich, in der festen Absicht, aus unserer Enttäuschung keinen Hehl zu machen.

»Sakra!« rief Frau Kirchbichl plötzlich aus. »Ich hab’ ja den Herrn Pfarrer vergessen! Der wartet schon seit einer halben Stunde in der Küche auf mich! Wegen unserer Wallfahrt nach Altötting. Also machen Sie sich’s bequem bei uns, und wir sehen uns dann spätestens morgen früh. Ach... wo ist eigentlich der Hund, von dem Sie sprachen?«

»Noch im Auto. Ich hole ihn erst, wenn wir die Koffer ausgepackt haben... Aber Frau Kirchbichl, was unser Zimmer betrifft...«

»Ich muß jetzt leider! Und wenn Sie Fragen haben – jederzeit, gell?«

Damit war sie verschwunden. Ich erstickte fast an meinen Flüchen. Christina legte die Babys vorsichtig auf unser Ehebett, aus dessen beiden tiefen Kuhlen sie unmöglich herausfallen konnten.

»Ich hab’ mir eben überlegt, daß es Quatsch wäre, wenn wir uns nur wegen des Zimmers den Urlaub verderben ließen«, meinte sie mit müdem Gesicht. »Wir wären ja nicht die ersten, die auf die großen Versprechungen eines Preisausschreibens hereingefallen sind.«

»Du willst doch deine Kinder wohl nicht in diesem... Käfig schlafen lassen?« fragte ich entsetzt.

»Natürlich nicht. Wir kaufen morgen einfach ein zusammenklappbares Reisebett... So was brauchen wir früher oder später sowieso.«

»Wir werden uns rächen«, sagte ich grimmig. »Ich werde die Zwillinge bitten, jede Nacht zu brüllen. Bis Frau Kirchbichl die letzten Gäste weglaufen. Oder ich rufe bei diesem Babynahrungshersteller an und mache einen Skandal. Wozu bin ich eigentlich Journalist?«

»Spar dir dein Adrenalin.«

Ich öffnete das Fenster und ließ beste Mittenwalder Luft herein. »Wenn das Wetter so herrlich bleibt, sind wir sowieso mehr draußen als drinnen.«

Auch in diesem Punkt irrte ich gewaltig.

Bereits am Abend setzte ein heftiger Regen ein, der uns ans Zimmer fesselte. Da wir keine Lust hatten, unten im Aufenthaltsraum die Gesellschaft von Frau Kirchbichl zu suchen, schmuggelte ich aus einer benachbarten Gastwirtschaft eine Flasche Rotwein in unsere Pension, so daß wir uns mit dem Rest unseres Reiseproviants und mit zwei nagelneuen Krimis einen gemütlichen Abend machen konnten. Wenigstens die Leselampen waren funktionstüchtig. Zu unseren Füßen ruhte Flecki, den Kopf auf seinen Pfoten, und träumte von seinem herrlichen Revier in unserem Garten. Mir persönlich wäre es allerdings lieber gewesen, er hätte sich intensiv damit beschäftigt, wie er als Hund Rache an Frau Kirchbichl nehmen konnte.

Das Frühstück am nächsten Morgen entsprach voll und ganz unseren Erwartungen – es war mager und knapp bemessen. Als ich das zweite Mal um Konfitüre bat, runzelte Frau Kirchbichl sorgenvoll die Stirn. »Wenn Sie unbedingt wünschen...«

Vom Nachbartisch beugte sich eine alte Dame zu uns herüber.

»Machen Sie sich nichts draus«, sagte sie lächelnd, »ich bin jetzt eine Woche hier und habe mich fast schon daran gewöhnt.«

Sie sah sehr sympathisch aus, wie eine richtige Märchenbuch-Großmutter. Ihr rundes rosiges Gesicht strahlte Zufriedenheit und mindestens siebzig Jahre Lebensweisheit aus.

Wir kamen ins Gespräch.

Sie reiste allein und war pensionierte Kinderschwester. In Mittenwald schien sie inzwischen bereits jeden Spazierweg, jeden Pfad zu kennen.

»Beginnen Sie doch mal mit einer kleinen Wanderung zum Lautersee«, riet sie uns. »Da kommen Sie auch mit Kinderwagen problemlos hin. Übrigens – darf ich mich vorstellen: Irene Hollenbach.«

»Roggenkämp«, sagte ich.

Sie blickte mich interessiert an.

»Roggenkämp? Ich kannte mal einen Arthur Roggenkämp aus Frankfurt.«

»Mein Vater heißt Arthur. Und er lebt in Frankfurt.«

»Ja so was!« rief Frau Hollenbach entzückt aus. »Wir haben im selben Stadtteil gewohnt, in Sachsenhausen. Und wir sind ein paar Jahre zusammen zur Schule gegangen, bis ich nach Stuttgart gezogen bin...« Es war ein unglaublicher Zufall, aber nach allem, was die alte Dame erzählte, mußte sie meinen Vater früher sogar sehr gut gekannt haben. Sie schien uns zu mögen, denn als wir vom Frühstückstisch aufstanden, meinte sie, einem plötzlichen Einfall folgend:

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wissen Sie, mir fällt das gar nicht so leicht, hier alleine herumzuspazieren. Ich weiß auch, was es für junge Eltern bedeutet, mit zwei so kleinen Kindern unterwegs zu sein. Wenn Sie mögen, springe ich hin und wieder als Babysitter bei Ihnen ein, damit Sie mal unbeschwert etwas unternehmen können. Und ich liebe Kinder!«

»Aber das können wir Ihnen doch nicht zumuten«, sagte Christina.

Ich merkte, daß sie insgeheim gerne von dem Angebot Gebrauch machen würde. Nach der Geburt der Kinder hatte sie sich eigentlich noch immer nicht richtig erholen können.

Frau Hollenbach schüttelte energisch den Kopf.

»Von Zumutung kann wahrhaftig keine Rede sein. Im Gegenteil – die Enkelkinder von Arthur Roggenkämp sind etwas ganz Besonderes für mich.«

»Ich werde mich mit Vaters Telefonnummer bei Ihnen revanchieren«, versprach ich. »Und dann kommen wir vielleicht irgendwann auf Ihr Angebot zurück...«

»Haben Sie keine Scheu. Einfach nur Bescheid sagen, wenn wir uns beim Frühstück sehen.«