EINS

Das Dorf, das keine Kirche hat, liegt östlich vom See.

Wer es mit dem Auto erreichen will, fährt westwärts aus der Hauptstadt über eine spärlich befahrene Autobahn, verlässt sie dreizehn Minuten später, bei der dritten Ausfahrt nach dem Tunnel, umfährt das historische Städtchen am See, von dem es heißt, man könne getrost sterben, nachdem man es gesehen hat. Oder er fährt mitten durch das Städtchen, wenn er es nicht zu eilig hat, holpert über das Kopfsteinpflaster der Hauptgasse, setzt dann, falls er sich trotz allem für die Fortsetzung seines elenden Lebens entschieden hat, seine Fahrt auf der alten Welschlandroute fort, auf der einst Napoleon fuhr, bis zu dem kleinen Weiler, dessen Name auf das Korn zurückgeht, das hier im Mittelalter gemahlen wurde, biegt beim Schloss nach links, auf eine kleine, geteerte Nebenstraße, lässt die alte Mühle mit ihren Gehöften hinter sich, überquert eine Brücke, die über die Autobahn führt, erblickt unweit von dieser Stelle einen anmutigen Friedhof, fährt an diesem vorbei und befindet sich kurz danach mitten im Dorf, das keine Kirche hat.

Es wird auch nie eine haben. Keine Kirche.

Tanner fährt seinen alten Ford zu einem Bauernhof, der auch schon bessere Tage gesehen hat. Das wäre dann der erste gemeinsame Punkt.

Es ist sehr still.

Nachdem es wochenlang geregnet hat, erscheinen die Felder, die sonst Getreide, Mais, Kartoffeln und Zuckerrüben tragen, wie leer gewaschen. Nur der Raps lässt stellenweise sein scharfes Gelb erahnen.

Die Bäume strecken ihre Äste zum Himmel und ihre honigglänzenden Knospen sehen aus wie klebrige, zusammengeballte Kinderhände, die sich in stummer Klage gegen die noch unsichere Bläue des Himmels recken. Ein Himmel, der sich, ohne die dicken Wolken, die ihn die letzten Wochen und Monate verhüllt haben, noch seiner ungewohnten Nacktheit schämt.

Oder seiner Schuld.

Tanner bleibt sitzen und raucht einmal mehr seine letzte Zigarette. In dem Zimmer, das er in dem Bauernhof gemietet hat, sollte er wohl besser nicht rauchen. Kein Fernseher und kein Nikotin.

Mal sehen, was mir schwerer fällt, sagt er zu der kleinen Katze, die sich auf der warmen Motorhaube seines roten Ford niedergelassen hat. Ohne das geringste Geräusch ist sie auf das Auto gesprungen und liegt mit halb geschlossenen Augen da, als sei sie mit dem Metall verschmolzen.

Ist denn niemand da?, fragt er die Katze.

Jetzt blickt sie ihm in die Augen. Oder durch ihn hindurch? Möglicherweise sieht sie ihn wegen der Spiegelung der Frontscheibe gar nicht. Jedenfalls wartet er vergebens auf eine Antwort.

Das Fell der Katze ist rot mit weißen Flecken. Auch das Gesicht ist zweifarbig.

Die Grenzlinie verläuft schräg, quer über den Nasenrücken.

Genau diese Katze würde sie sich wünschen. Für einen Augenblick gestattet er sich, das schöne Gesicht von ihr zu sehen. Ein ebenmäßiges Gesicht.

Hör auf, Idiot.

Jetzt reagiert die Katze, obwohl sie ihn kaum hat hören können. Sie streckt sich und springt vom Auto hinunter. Elegant tänzelt sie um die vielen Regenpfützen und erreicht mit trockenen Pfötchen die verschlossene Haustür. Er öffnet die Autotür, nimmt einen letzten Zug von seiner Philip Morris und schnippt sie gezielt in die nächste Pfütze. Mit leisem Zisch erlischt die Glut. Die Katze schaut vorwurfsvoll.

Er bleibt sitzen und atmet die kühle Frühlingsluft.

Die Natur befindet sich in einer Art Stillstand. Alles scheint bereit zur Verwandlung. Noch ist es nicht so weit. Wer gibt das Zeichen? Wann?

Wird es für ihn, Tanner, auch ein Zeichen geben? Und welche Art von Verwandlung wird es sein? Stillstand ist Tod.

Einmal mehr befindet er sich auf der Flucht. Wovor? Wenn er das wüsste!

Das Dröhnen eines Traktors zerreißt die Stille. Ein grünes Ungetüm mit gläserner Fahrerkabine fährt vorüber. Er grüßt mit erhobenem Zeigefinger, obwohl er hinter dem Glas der Fahrerkabine nichts sehen kann. Die mächtigen Räder des Traktors durchpflügen das Wasser auf der Straße. Einige Spritzer landen auf dem Seitenfenster seines Autos. Die Katze bringt sich ängstlich hinter dem Geländer einer hölzernen Treppe in Deckung. Die Treppe führt in den ersten Stock.

Je größer der Traktor, desto dümmer …!

Er erinnert sich an die Reise mit seinem Kind nach Chioggia, wo die Fischer sich mit der Größe der Schiffsmotoren zu übertrumpfen suchen. Wie die weißen Fischerkähne stolz in die Lagune stechen, hohe Bugwellen vor sich aufwühlend, und die schweren Schiffsmotoren brünstig röhren.

Hochzeitstänze von schneeweißen Täuberichen.

Das muss ein reicher Bauer sein.

Sie leckt ungerührt die linke Pfote mit ihrer rosa Zunge.

Wenn du noch keinen Namen hast, werde ich dich Rosalind nennen. Und zwar nach der Shakespeare’schen Rosalind, mein Schätzchen.

Das Dröhnen des starken Motors verliert sich in den schattigen Eingeweiden des Dorfes. Er steigt aus seinem Auto aus. In der neuen Stille hört man Geräusche aus dem Stall. Eine Kuh erhebt sich schwer von ihrem Strohlager. Eine Kette rasselt. Kurz darauf ein Kratzen hinter der Haustür.

Erst jetzt bemerkt Tanner den gefalteten Zettel an der Haustür.

Beschrieben mit einem grünen Filzstift. Eindeutig eine Frauenschrift.

Lieber Herr Tanner, wir wussten die genaue Uhrzeit nicht, wann Sie ankommen würden. Wir sind bald zurück. Ihr Zimmer im ersten Stock ist parat. Den Schlüssel finden Sie oberhalb der Treppe, unter dem kleinen Teppich. Wir hoffen, Sie finden sich zurecht.

Unterschrieben mit Vorname und dem ersten Buchstaben des Familiennamens.

Den Vornamen wusste er nicht. Den Familiennamen kennt er natürlich von seinem Freund, der ihm das Zimmer vermittelt hat. Mit Familienanschluss. Wie er am Telefon verschmitzt kicherte.

Die Katze schlängelt sich unterdessen in Form einer lebenden Brezel zwischen seinen Beinen durch. Sie schmiegt sich katzbuckelnd an sein linkes Bein, den Schwanz hoch in die Luft, und schaut ihm durchdringend in die Augen.

Mach endlich die Tür auf!

Ja, ja, mein ungestümes Mädchen, lass mich doch erst mal sehen, wo ich da gelandet bin.

Nach der langen Fahrt ist er froh, an der frischen Luft zu sein und nicht mehr auf das endlos sich abspulende Band der Autobahn starren zu müssen.

Das Bauernhaus ist ein lang gestrecktes Haus, bestehend aus Wohnhaus mit zwei Stockwerken, zwei Ställen, die eine Scheune mit großen Toren flankieren. Darüber wölbt sich ein gewaltiges Dach. In das zweite Stockwerk des Wohnteiles führt eine hölzerne Außentreppe, deren Stufen von vielen Generationen ausgetreten sind.

An das eigentliche Bauernhaus, das eine architektonische Einheit bildet, schließt sich ein großes Eternitdach an, getragen von schlanken Holzbalken auf Betonsockeln. Dieser Anbau dient dem Unterstellen von Wagen, einem Jauchedruckfass und einem alten Traktor. An die alte Hauswand schmiegt sich ein großer Stapel Holz. Links von der neuen Halle sind zwei Garagen. Die eine ist fürs Auto. Sie ist leer. Die zwei Türen stehen offen. Der Boden der Garage ist voller Ölflecken, die in der tief stehenden Aprilsonne dunkel leuchten. In der anderen Garage steht ein großer Traktor mit Hebegabel. Die Garage ist zu klein. Das Hinterteil der Maschine steht im Freien.

Tanner durchquert die Einstellhalle und gelangt hinter das Haus. Weite Wiesen, eingezäunte Weiden, dann Wald. Sanft ansteigend in die anschließenden Hügel, scheinbar endlos. Hinter dem Haus liegt kreisrund ein Jauchetank aus Beton, etwa in der Größe von Artus’ Tafelrunde. Daran lagern aber keine Ritter, sondern einige Stapel Bauholz, bedeckt mit altem Wellblech.

Daneben duckt sich verschämt ein lang gestreckter Schweinestall, mit zwei kleinen Futtersilos an seiner Stirnseite.

Eine träge Stille liegt über diesem Ort. Als ob jemand vergessen hätte, das abgelaufene Uhrwerk wieder aufzuziehen. Schlafen die Schweine oder sind die Ställe leer? Er wagt nicht, die Tür zu öffnen. Nach dem Geruch zu schließen, sind sie da, oder erst seit kurzem weg. Wenn sie heute Morgen in den Schlachthof kamen, sind sie bereits in essbare und nicht essbare Einzelteile zerlegt. Die essbaren Teile werden abgepackt. Der Rest ausgekocht, gemahlen oder weggeworfen.

Ich esse kein Fleisch mehr, sonst würde ich mich auf der Stelle schuldig fühlen, bemerkt er zur Katze, die ihm gefolgt ist. Es interessiert sie nicht.

Gemeinsam biegen sie um die Ecke des Wohnhauses und stoßen auf einen Gemüsegarten, noch ganz in winterlicher Kargheit. Die meisten Beete sind leer. Nur eines ist mit großblättrigem Gemüse bewachsen.

Ist das Kohl?, fragt er die Katze.

Sie springt mit einem Satz über den kleinen Zaun aus Maschendraht und riecht an den Blättern. Sie niest und schüttelt ihren Kopf so heftig, dass ihr kleiner Körper ebenfalls mitgeschüttelt wird und sie hinfällt. Verwirrt springt sie hoch. Ein richtiger Raubtiersatz wird das und sie guckt sich misstrauisch um, wer sie denn wohl umgestoßen habe.

Ja, zum Straucheln braucht's doch nichts als Füße, zitiert Tanner leise Dorfrichter Adam und ruft die Katze zu sich.

Dann halt nicht, meine Rosalind.

Er geht zum Auto, öffnet den Kofferraum und betrachtet seine Taschen, Kisten und Schachteln. Er hat sich geschworen, nur das mitzunehmen, was im Auto Platz hat. Keine weiteren Transporte. Der ganze Rest seiner Bücher, Möbel, Geschirr und so weiter lagert, schön verpackt, in einem Möbellager. Was braucht der Mensch?

Vor allem: Was braucht Simon Tanner?

Er verscheucht jegliche Anwandlung philosophischer Art und verbietet sich strikt jede Melancholie. Kurz bevor das selbst verordnete Denkverbot offiziell in Kraft tritt, entwischt ein einzelner, stoßgebetartiger Gedanke der inneren Inquisition.

Ach, ich wüsste auf jeden Fall, wen ich zum Leben brauche!

Die Katze guckt.

Habe ich etwas gesagt?

Er fragt mit scheinheiliger Miene seine neue Freundin.

Hey, Rosalind, habe ich was gesagt? Hast du irgendetwas gehört? Sie schaut ihn gelangweilt an.

Na also, wozu dann die Aufregung?

Er schließt den Kofferraum. Zuerst will er sich das Zimmer anschauen, in dem er die nächsten Monate leben wird.

Das Zimmer ist klein. Vier mal vier Meter. Ein schmales Bett mit weißer Bettwäsche. Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Schrank mit Schiebetüren. Die Wände sind weiß. Ebenso die gestrichene Holzdecke. Das einzige Fenster blickt auf den Gemüsegarten, auf die dahinter liegenden Obstbäume und auf einen benachbarten Bauernhof. Es riecht gut in dem Zimmer. Eine blaue Vase mit einem kleinen Bund Osterglocken steht auf dem Tisch.

Ruth M. lässt grüßen.

Über dem Kopfende des Bettes befindet sich das einzige Bild im Zimmer. Eine vergilbte Farbfotografie. Aus einer Illustrierten ausgeschnitten. Das Foto zeigt eine kleine Baumgruppe um ein winziges, merkwürdig spitzes Rundhäuschen mit einer Holztür, aber ohne Fenster. Das Bild hat einen schlichten Holzrahmen aus Birnholz. Seine Großmutter besaß mehrere solche Rahmen, die nach ihrem Tod alle verschwunden waren. Neben dem Bild klebt eine zerdrückte Mücke. Allerdings ohne Rahmen.

Er hört ein leises Kratzen an der Tür. Er ignoriert es und legt sich probeweise aufs Bett. Es ist etwas kurz für seine Länge, aber schön hart.

Beim Aufstehen spürt er wieder diesen Druck im Bauch. Es ist kein Schmerz. Die Vorahnung von einem Schmerz. Es fühlt sich an wie ein noch rundes Ding, das da nicht hingehört und das seine scharfen Krallen nicht ausgestreckt hat. Noch nicht.

Tanner, geh endlich mal zum Arzt.

Er öffnet das Fenster und atmet die frische Landluft ein. Gott sei Dank! Kein Geruch vom Schweinestall.

Aus der Ferne schwillt das Geräusch eines Autos an. Auf der Basslinie der Motorengeräusche hört man dumpfe Technoschläge. Mit überhöhter Geschwindigkeit braust ein schwarzer Golf GTI über die regennasse Straße. Bauernsöhne auf dem Weg in die Disco. Schließlich ist es Freitagabend.

Er schließt das Fenster und überlegt sich, wie er die Möbel des Zimmers umräumen soll. Es ist wie ein Zwang. Um sich eine fremde Umgebung schneller anzueignen. Leider stellt er fest, dass alles perfekt an seinem Ort ist, und er verzichtet vorläufig aufs Möbelrücken. Er holt seine Sachen aus dem Auto. Die Katze wartet schon auf ihn. Allerdings ist sie keine große Hilfe. Sie inspiziert lieber schnuppernd seine Schachteln und Taschen.

Er packt einige notwendige Dinge aus. Die Kleider kommen achtlos in den Schrank. Einige seiner Lieblingsbücher legt er auf den Tisch.

Einmal Shakespeare. Zweimal Shakespeare. Dreimal Shakespeare.

Dann seine geliebte Doppelausgabe der Odyssee/Ilias und ein schmales Bändchen von Pascal, das sie ihm geschenkt hat und von dem sie schwärmt. Seine gähnend leeren Notizbücher und seine beiden Nikons.

Er holt die kleine, geschnitzte Kuh aus der Schachtel. Er nimmt sie überallhin mit. Ein Geschenk von einem Freund, der unbegreiflicherweise tot ist. Zwischen seinen Hemden liegt, in Seidenpapier eingewickelt, sein einziges Originalbild. Das Mädchen von Leonor Fini. Seit dreißig Jahren begleitet ihn dieses Bild. Genauso lange sucht er das lebendige Ebenbild. Eigentlich hat er es schon gefunden. Ein sehr selbständiges Ebenbild.

Dabei kommt ihm in den Sinn, dass er ihr versprochen hat anzurufen, wenn er wohlbehalten angekommen ist.

Er greift nach seinem Handy.

Als sich der Anrufbeantworter einschaltet, trennt er sofort die Verbindung.

Nur jetzt nicht ihre Stimme hören. Tanner beschließt, einen Abendspaziergang zu machen.

Abendspaziergang? Das passt perfekt zu seinem neuen Leben als Zimmerherr.

Lesen, spazieren, lange Briefe schreiben. Kein Fernseher! Kein Nikotin! Das kann ja heiter werden.

Er schließt die Tür hinter sich und steigt die Holztreppe hinunter.

Rosalind begleitet ihn auf Schritt und Tritt.

Aus seinem Auto holt er sich ein letztes Käsebrot aus seinem Reiseproviant.

Er weiß nicht, ob er sich das Dorf anschauen oder lieber in Richtung des kleinen Friedhofs gehen soll, an dem er vorbeigekommen ist. Morgen das Dorf und jetzt den Friedhof. Eine Kirche, die er besichtigen könnte, gibt es ja nicht.

Unterdessen hat der Wind deutlich aufgefrischt, und Tanner schlägt den Kragen seiner Jacke hoch und vergräbt seine Hände tief in den Hosentaschen.

Nach ungefähr fünfhundert Metern steht er an dem Tor zu dem wohl kleinsten Friedhof, den er je gesehen hat. Der Friedhof ist nahezu quadratisch. Neun auf zehn Meter. Er ist von einer brusthohen Mauer umgeben. Dicht an der Mauer, das Tor flankierend, stehen zwei mächtige Bäume und einige Sträucher mit zartem Grün.

Ein Feldweg führt am Friedhof vorbei, windet sich weit in die brachen Felder und Wiesen, die oberhalb des Dorfes liegen. Die Felder werden in Richtung See von der Autobahn begrenzt, welche die Landschaft kategorisch durchschneidet. Jenseits dieser dick gezogenen Linie kann man die Häuser vom nächsten Dorf sehen und weit in der Ferne ahnt man den See.

Das Tor des Friedhofes ist verrostet und lässt sich nur mit einiger Anstrengung öffnen. Das laute Quietschen des Tores erschreckt ihn und schuldbewusst blickt er sich um. Er kann aber niemanden sehen. Gleichmäßig sind die Grabstätten verteilt. Alles ist sorgfältig gepflegt.

In der linken Ecke gibt es zwei Kindergräber. Beide Gräber sind noch nicht alt. Genau wie er es erwartet hatte. Die Erde scheint, vor allem bei dem einen Grab, wie vor wenigen Wochen frisch aufgeworfen. Die Blumen sind verwelkt. Bei dem anderen Grab liegt das Begräbnis schon etwas länger zurück, aber auch da fehlt noch der endgültige Grabstein.

Der Anblick von Kindergräbern macht ihn beklommen. Wie immer.

Ein Eindringling, der nicht das Recht hat, an diesen Gräbern zu stehen.

Bevor Tanner auf den provisorischen Holzkreuzen die Namen lesen kann, hört er ein Geräusch hinter den hohen Bäumen und Sträuchern, die außerhalb der Friedhofsmauern stehen. Aufgeschreckt stolpert er in Richtung Tor, fällt auf seine Knie, flucht leise vor sich hin und hört ein wildes Schnauben. Als er sich wieder aufrichtet, steht vor ihm ein mächtiges, rabenschwarzes Pferd.

Es steht unbeweglich da. Als ob es schon zu Lebzeiten in Bronze gegossen wäre. Aus seinen Nüstern bläst dampfender Atem. Das Pferd ist gesattelt und gezäumt, aber ohne Reiter. Die Zügel hängen lose herunter.

Wie heißt das Pferd von Alexander dem Großen?

Das Pferd ist überrascht, das heißt wohl eher konsterniert über den energischen Gestus, mit dem ihm die Frage gestellt wurde, so dass es weiter in seiner antik wirkenden Haltung verharrt. Da beiden die Antwort nicht einfällt, greift Tanner, mehr aus Verlegenheit denn aus tierpflegerischer Ambition, nach den Zügeln des Pferdes und überlegt sich eine nächste Frage, die er dem Pferd stellen könnte. Zum Beispiel, wie es komme, dass es allein, ohne Reiter, aber gesattelt, durch die Gegend irre und einsame Friedhofsbesucher erschrecke?

Das heißt, er wollte gerade diese nächste Frage stellen, als ein Geländewagen mit kreischenden Rädern angebraust kommt, jäh abbremst, zwei Männer aus dem Wagen springen und auf Tanner zustürmen.

Das Pferd erschrickt, und noch bevor Tanner reagieren kann, bäumt es sich auf und reißt ihn, der, ohne es wirklich zu wollen, die Zügel mit der Hand umklammert, in die Höhe. Sobald das Pferd wieder steht, ist der Jüngere der beiden Männer, ein Schwarzer, der seine rote Wollmütze bis tief auf die Augenbrauen hinabgezogen hat, bei Tanner und entreißt ihm die Zügel. Unsanft wäre eine schamlose Untertreibung.

Der ältere Mann stapft vorbei und schreit Tanner ständig etwas zu, was er aber nicht versteht. Eigentlich hört er ihn nicht einmal. Alles, was er wahrnimmt, ist ein sich ständig aufreißender Mund, wie in Großaufnahme.

Schnell hat der Schwarze das Pferd gebändigt.

Hinter den Bäumen hört man ein weinendes Kind. Die beiden Männer schreien sich etwas zu, was Tanner aber auch nicht versteht. Der Schwarze schwingt sich kraftvoll auf das Pferd und stiebt im wilden Galopp davon.

Jetzt kommt der andere Mann, der in der Zwischenzeit hinter der Baumgruppe verschwunden war, wieder hervor und zerrt an seiner Hand ein rotblondes Mädchen energisch hinter sich her. Sie weint und hat Blut an ihrer Stirn. Sie trägt Jeans, rote Lederstiefel und eine flaschengrüne Reiterjacke, wattiert und abgeschabt. In ihrer Hand hält sie einen schwarzen Reiterhelm. Das Mädchen ist nicht so jung, wie Tanner auf Grund des Weinens dachte. Er schätzt sie, jetzt, wo er sie sieht, auf siebzehn Jahre.

Hat sie sich verletzt?, fragt er einfallslos. Man sieht ja, dass das Mädchen blutet, und nicht zu knapp.

Der Mann antwortet ihm nicht und marschiert grimmig an ihm vorbei. Auf seiner Stirn leuchtet eine Narbe. Sie sieht aus wie ein Halbmond. Darüber trägt er wilde Haare von einem erstaunlich kräftigen Weiß.

Das Mädchen guckt Tanner im Vorübergehen an. Ihre Lippen zittern, als ob sie etwas sagen möchte.

Wieder reißt sie ihr Vater, oder Großvater, an der Hand. Während sie stolpert, lächelt sie leicht. Vielleicht hat sie auch nur, wegen des Stolperns, den Mund verzogen.

Der Mann bugsiert das Mädchen in den Fond des Geländewagens, umschreitet den Wagen, ohne Tanner eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen, wendet und braust in Richtung der Autobahnbrücke.

Vor der Kurve leuchtet nur eines seiner Bremslichter auf. Dann ist er verschwunden. Eine Weile hört man noch den jaulenden Dieselmotor.

Dann fällt der erste Regentropfen.

Tanner betrachtet den Himmel. Ohne dass er es vorhin bemerkt hätte, hat die Windstärke zugenommen. Der Himmel ist mit dunklen Wolken bedeckt. Jetzt regnet es, und kurz darauf gießt es aus allen Kübeln.

Tanner schließt pflichtbewusst das Tor zum Friedhof und rennt zum Bauernhaus. Tropfnass erreicht er das Haus und stellt sich atemlos unter das Vordach. Die Garagentür steht immer noch offen. Seine Vermieter sind noch nicht zurückgekehrt. Er schaut durch die Glasscheibe der Haustür und zuckt zusammen.

Er blickt direkt in zwei dunkle Hundeaugen, die ihn unbeweglich anschauen. Der große Hund hat sich auf seine Hinterbeine gestellt, die Vorderpfoten gegen die Tür gestemmt und seine Augen fixieren ihn. Tanner schaut so lange, bis der Hund unsicher wird und sich wieder auf den Boden fallen lässt. Oder hat er seine Augenprüfung bestanden?

Bevor er die Außentreppe hinaufsteigt, zieht er seine nassen Schuhe aus. Die Katze erwartet ihn vor der oberen Tür und Tanner bringt es nicht übers Herz, sie wegzujagen. Also kommt sie mit in sein Zimmer. Sie lässt sich völlig selbstverständlich auf dem Bett nieder.

Weißt du, wie das Pferd von Alexander dem Großen heißt?

Ich habe es nämlich gerade gesehen und konnte es leider nicht korrekt ansprechen. Aha, du weißt es also auch nicht. Weißt du wenigstens, wie das rotblonde Mädchen heißt, das vom Pferd gefallen ist?

Statt einer Antwort streckt sich das kleine Tier und versenkt seine Krallen ins weiße Kopfkissen.

Erneut versucht er sie telefonisch zu erreichen. Diesmal lauscht er andächtig ihrer Stimme auf dem Anrufbeantworter. Nach dem Piepston unterbricht er die Verbindung.

Die zweite Tür seines Zimmers führt in einen Korridor, von dem noch zwei weitere Türen abgehen, und da befinden sich auch eine Toilette, eine Dusche und ein Lavabo. Er putzt seine Zähne und zieht sich aus. Sanft, aber entschieden schiebt er die Katze vom Kissen und legt sich ins Bett.

Ich taufe dich jetzt offiziell auf den Namen Rosalind. Any objections, mylady?

Er löscht das Licht. Zur Antwort leckt die Katze seine Nase und schnurrt ein Schlaflied mit unzähligen Strophen.

Draußen fällt der Regen und Tanner hört die Schweine. Also sind sie noch nicht geschlachtet. Er denkt an den Witz mit den beiden Hühnern von der Hühnerfarm. Sie wispern heimlich.

Hast du auch gehört? Wir dürfen irgendwohin in die Ferien!

So? Wohin denn?

Irgendwas mit Wien und einem Wald!

Tanner schließt die Augen und sieht das Pferd. Wie heißt du bloß?

Sieht die Augen auf dem Bild von Leonor Fini. Wo bist du?

Das blutende Gesicht des Mädchens. Tut's noch weh?

Die Augen des Hundes. Träumst du?

Die frischen Gräber. Seid ihr im Himmel?

Einen leuchtenden Halbmond. Warum so wütend?

Sein letzter Gedanke ist, dass es fahrlässig ist, seine Dienstwaffe einfach so im Auto zu lassen! Morgen. Morgen …

ZWEI

Halte mich! Nimm meine Hand! Bitte halte mich!

Er rudert wild mit den Armen und verstrickt sich dabei immer mehr in den grünen Schlingpflanzen. Er hört seine Stimme gar nicht, obwohl er doch laut schreit. Plötzlich sieht er einen Schatten auf sich zuschweben. Hilfe, ein Haifisch! Es ist aber bloß ein schwarzes, rundes Ding, das, von der Strömung getrieben, an ihm vorüberschwebt. Wie eine rabenschwarze Qualle.

Das ist dein Reiterhelm! Der geht ja kaputt im Wasser!

Das lose Kinnleder schlängelt sich wie ein Aal dem Helm hinterher. Der Helm verschwindet aus seinem Gesichtsfeld, und er schwimmt panisch hinterher.

Jetzt überholt ihn von schräg hinten ein schmaler, länglicher Fisch. Wie elegant!

Nein! Es ist eine Reitpeitsche aus geflochtenem Leder. Sie zieht wie ein Pfeil in Zeitlupe seine Bahn. An ihm vorbei in die Tiefe der Dunkelheit.

Ich kann ja das Wasser atmen. Hallo! Schaut mal her! Ich kann das Wasser atmen! Wie ein Fisch!

Obwohl er schwimmt, wird es immer dunkler, und er fällt in die Tiefe. Unter seinen Füßen öffnet sich eine Falltür. Grelles Licht blendet ihn unvermittelt.

Vor Schreck wacht Tanner auf. Durch das Fenster sticht ein flacher Sonnenstrahl und bildet über seinem Bett in leicht verschobener Form ein buntes Fenster ab. In zartrosa Farben. Rosenfing-rig. So wird dieses Licht in dem Buch genannt, das auf seinem Tisch liegt.

Er schüttelt ungläubig seinen Kopf. Er weiß nicht, wo er ist. Schweißgebadet, das Bett zerwühlt. Auf dem Tisch steht eine kleine Kuh, die ihn neugierig anschaut.

Ach so! Ich bin in meinem neuen Zimmer!

Er wundert sich, dass die Katze nicht mehr im Zimmer ist. Das Fenster ist geschlossen und beide Türen auch. Wahrscheinlich hat sich die Katze beim ersten Sonnenstrahl in ein jungfräuliches Mädchen verwandelt und ist einfach aus dem Zimmer geschlichen. Leise, um den fremden Mann nicht zu wecken.

So, Tanner, nun komm mal in die Wirklichkeit zurück, das ist ja lächerlich.

Er steht auf und öffnet das Fenster. Eine frische Morgenbrise bläst ihm ins verschlafene Gesicht und die Sonne blendet seine Augen. Er schließt sie.

Wen habe ich denn da gerufen in meiner Not?

Und wie wenn man in einem Bilderbuch blättert, kommen ihm einzelne Stationen seines Traumes in den Sinn. Er befand sich, ohne sich einer Vorgeschichte entsinnen zu können, auf einem Schlitten. Hinter ihm saß eine ihm unbekannte Frau und umschlang zärtlich, aber kraftvoll seinen Oberkörper. In ihrer Hand hielt sie eine Reitpeitsche. Auf welchem Belag sie Schlitten fuhren, wusste er nicht. Es war auf jeden Fall kein Schnee. Eher Eis. Aber entweder berührten die Kufen des Schlittens das Eis nicht, oder das Eis sah nur aus wie Eis und war in Wahrheit etwas ganz Weiches und Sanftes. Sie froren nicht und die Fahrt wurde immer schneller und schneller. Die Frau hinter ihm rief immer wieder denselben Satz. Wie ein Refrain.

Higher, higher to the sky!

Als Kind bekam Tanner beim Überschreiten einer gewissen Geschwindigkeit immer Angst. In seinem Traum hatte er keine Angst. Er fühlte sich glücklich und behütet. Es war ein Glücksgefühl, so stark, wie er es im wirklichen Leben nur ausnahmsweise erlebt hatte, und wenn, nur in homöopathisch verdünnter Dosis. Unvermittelt landeten sie im Wasser und die ihn so wohlig beschützenden Arme lösten sich. Dann kam die Panik.

Jetzt kommt ihm in den Sinn, dass er, kurz vor dem Traum, oder war es während des Traumes, einen aufheulenden Motor gehört hat. Und quietschende Reifen beim Bremsen oder bei einem rasanten Start. Kavalierstart nannte man das früher. Tanner hält sein Gesicht unter das kalte Wasser und beschließt, sich vorläufig nicht mehr zu rasieren. Auf dem Display seines Telefons sieht er, dass es eben acht Uhr ist. Eine Uhr trägt er schon lange nicht mehr. Obwohl er zwei besitzt. Er kleidet sich an und ist bereit, sich seinen Vermietern zu stellen. Sie hören sicher seine Schritte. Spätestens wenn er die Außentreppe hinuntersteigt.

Er öffnet die Haustür und blickt in einen dunklen, engen Korridor. Ein wenig Licht fällt durch eine Glastür, die sich ganz am Ende des Ganges, an der linken Längsseite, befindet. Vorne links ein Holzgestell mit Schuhen und Stiefeln, dann eine Waschmaschine, darüber eine Garderobe, die hoffnungslos überfüllt ist. Mit Mänteln, Jacken und Arbeitskleidung. Weiße Wandschränke schließen sich an, die den schmalen Gang noch enger werden lassen. Am Boden liegt ein großer, wolfsähnlicher Hund mit braunschmutzigem Fell und einem fast schwarzen Kopf. Beim Öffnen der Tür hebt er seinen Kopf und schaut Tanner ruhig an. Unbeweglich.

Guten Tag! Wir haben uns ja gestern schon durch die Scheibe der Haustür in die Augen gesehen.

Tanner spricht sehr leise.

Als ob er zufällig das richtige Passwort gefunden hätte, schnüffelt der Hund einen geradezu andächtigen Moment lang in seine Richtung und legt dann die große Schnauze wieder auf seine mächtigen Pfoten.

Er schließt daraus, dass er eintreten darf.

Du bist aber ein schöner Hund! Schöner Hund.

Aus der ersten Tür rechts hört er jetzt Küchengeräusche und die Stimme eines Nachrichtensprechers. Auch riecht er den unwiderstehlichen Duft von Gebratenem. Sofort meldet sich bei ihm ein bohrendes Hungergefühl. Er hat ja gestern nur noch ein Käsebrot gegessen. Tanner klopft. Die Geräusche brechen abrupt ab und einen Moment später verstummt auch der Nachrichtensprecher mitten in seinem Satz. Er öffnet entschlossen die Tür.

Das Erste, was er sieht, ist der Kochherd. Genauer gesagt, er blickt in eine Eisenbratpfanne, in der eine goldbraune Röschti brutzelt. An einem großen Esstisch, der links vor dem Fenster zum Gemüsegarten steht, sitzt ein Mann mit krausem, dunkelblondem Haar. Gerade wollte er eine Gabel voll Röschti in den Mund schieben. Eine Bewegung, die er aber wegen Tanners Eintreten eingefroren hat. Rechts am Spültrog, über dem sich ein zweites Fenster auf die Straße hinaus befindet, steht Ruth M. Dunkelblond und kräftig. Sie hält einen Strauß Osterglocken in ihrer Hand.

Guten Tag, ich bin Simon Tanner. Ihr neuer Zimmerherr.

Eigentlich wollte er nur seinen Namen sagen. Zimmerherr? Wie ein Findling steht das Wort in der Küche.

Da beide weiterhin bewegungslos verharren, ihn dabei aber freundlich anschauen, spricht er weiter.

Ich hoffe, dass es in Ordnung ist, dass ich in Ihrer Abwesenheit das Zimmer bezogen habe. Es gefällt mir sehr gut. Und vielen Dank für die Blumen.

Der Mann bewegt sich jetzt als Erster, legt seine Ladung Röschti ungegessen zurück auf den Teller, erhebt sich und streckt ihm seine Hand entgegen.

Guten Tag. Herzlich willkommen. Ich bin der Karl.

Tanner drückt seine Hand und erschrickt nicht über den kräftigen Händedruck. Den hat er angesichts der Statur erwartet. Tanner erschrickt über die Rauheit seiner Hand. Wie die Rinde einer Eiche.

Ohne sich gegen diesen Gedanken zur Wehr setzen zu können, fragt er sich, wie diese Hand sich wohl anfühlt für seine Frau, wenn er sie berührt beim Sex?

Um ihm nicht mehr in seine klaren Augen schauen zu müssen, wendet er sich der Frau zu, die sich ihrerseits abwendet, um die Blumen abzulegen und ihre nassen Hände abzutrocknen. Dann gibt sie ihm ihre Hand, die angenehm weich und vom kalten Wasser schön kühl ist.

Machen Sie sich darüber keine Gedanken, bitte!

Sie sagt es mit dunkler Stimme.

Wie bitte? Siedend heiß wird es Tanner. Kann sie Gedanken lesen?

Ja, ich meine, darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Wegen dem Zimmer. Ich habe Ihnen ja geschrieben, Sie sollen sich wie zu Hause fühlen. Sie lacht.

Herzlich willkommen. Ich heiße Ruth. Mögen Sie Kartoffeln zum Frühstück? Nehmen Sie bitte hier Platz, wenn es Ihnen recht ist. Wollen Sie Tee oder Kaffee zum Frühstück? Wir essen immer um acht Uhr. Aber Sie können auch später essen, wenn es Ihnen lieber ist. Hatten Sie gestern eine gute Fahrt? Es ist übrigens erstaunlich, dass der Hund nicht gebellt hat, als Sie eben hereingekommen sind. Sie lacht immer noch.

Tanner beantwortet die Fragen ungefähr in der gestellten Reihenfolge und setzt sich Karl Marrer gegenüber, bekommt Kaffee eingeschenkt und einen Teller voller himmlisch duftender Röschti.

Ruth Marrer setzt sich nicht an den Tisch, sondern hantiert in seinem Rücken weiter mit ihren Blumen. Tanner weiß nicht, ob er essen soll, solange sie sich nicht auch hinsetzt.

Greifen Sie kräftig zu!

Freundlich ermunternd löst Karl das Dilemma und sie essen schweigend.

Tanner spürt in seinem Rücken eine unbestimmte Unruhe. Plötzlich weiß er, dass ein stummer Dialog über seinen Kopf hinweg stattfindet. Allerdings mehr von Ruth zu Karl. Er ist ja ungedeckt Tanners Beobachtung ausgesetzt. Wahrscheinlich signalisiert sie ihm ihren ersten Eindruck über ihn. Negativ oder positiv?

Wollen Sie nicht auch essen, Ruth?

Er will damit den stummen Dialog unterbrechen und testen, wie das klingt, wenn er einfach Ruth sagt. Mit den Vornamen haben sich ja beide vorgestellt, bei gleichzeitigem Sie.

Ich will nur noch die Blumen schneiden und in die Vase stellen, gibt sie lachend zurück.

Karl legt seine Gabel auf den leeren Teller und räuspert sich umständlich.

Es tut mir Leid, äh … Ihnen gleich etwas, äh … sagen zu müssen. Er macht eine verlegene Pause. Tanner schaut ihn fragend an. Er spürt, wie Ruth in seinem Rücken den Atem anhält.

Ihr roter Ford, also … wie soll ich es sagen, wissen Sie … also kurz gesagt … alle vier Pneus sind heute Nacht zerstochen worden. Es ist eine Sauerei!

Die Fortsetzung übernimmt Ruth.

Wissen Sie, so etwas ist hier noch nie passiert. Wir haben schon alle Nachbarn gefragt, ob sie etwas bemerkt haben. Aber niemand weiß etwas. So haben wir heute früh die Autowerkstatt im nächsten Dorf benachrichtigt. Die schicken im Laufe des Morgens einen Mechaniker vorbei, der das in Ordnung bringt. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass wir so gehandelt haben.

Ruth blüht richtig auf. Nicht weil sie froh ist, dass die Pneus von seinem Auto zerstochen sind, sondern offensichtlich über die Tatsache, dass die Sauerei ausgesprochen ist.

Dies war also der Dialog hinter seinem Rücken. Sie wollte unbedingt, dass es sofort zur Sprache kommt, Karl wollte vielleicht warten, bis Tanner gefrühstückt hat.

Vielleicht hat er von den quietschenden Reifen heute Nacht doch nicht geträumt.

Hat hier im Dorf jemand einen schwarzen Golf GTI?

Tanner stellt die Frage so sachlich wie möglich.

Die beiden gucken ganz verdattert ob seiner konkreten Frage. Ruth überlässt es Karl, die nicht sehr überzeugende Antwort zu geben.

Nein, äh … nicht dass ich wüsste. Kennst du jemanden, Ruth?

Bevor sie antworten kann, knurrt der große Hund im Korridor. Draußen fährt ein Wagen vor.

Das ging aber schnell!

Tanner versteht nicht. Ruth merkt es.

Der Automechaniker!

Sie blickt durch das Fenster über der Spüle. Sie zögert.

Es sei nicht von der Autowerkstatt. Es sei der Portugies' vom Mondhof. Karl solle rausgehen und fragen, was er wolle.

Karl erhebt sich, verdreht dabei die Augen und fordert Tanner auf, doch ruhig weiterzuessen, bevor die Kartoffeln kalt werden.

Tanner überlegt, ob er bei der Gelegenheit auch aufstehen soll, um den Schaden am Auto zu begutachten. Aber erstens weiß er, wie vier zerstochene Reifen aussehen, es ist ihm vor drei Jahren in Marokko passiert, und zweitens kann er auch zuerst fertig essen und sich das Auto nachher in aller Ruhe anschauen.

Draußen bellt kurz der Hund. Danach ist wieder Ruhe.

Seltsam, dass weder Karl noch Ruth gefragt haben, warum er sich nach einem schwarzen Golf GTI erkundigt hat?

Und außerdem wäre es doch nahe liegend gewesen, auch die Polizei zu benachrichtigen, obwohl Tanner keine besondere Lust hat, gleich am ersten Tag mit der hiesigen Polizei in Berührung zu kommen. Na ja! Eins nach dem anderen!

Wie meinen Sie, fragt Ruth und dreht sich einen Moment vom Fenster weg.

So ein gutes Frühstück habe ich noch nie gegessen, daran könnte ich mich glatt gewöhnen.

Bevor Ruth auf sein Kompliment antworten kann, fährt draußen das Auto weg und sie hören, dass Karl zurückkommt.

Karl setzt sich schwer und schaut Tanner prüfend an.

Kennen Sie die Finidori vom Mondhof, Simon?

Ich kenne gar niemanden in dieser Gegend, außer unserem gemeinsamen Bekannten, der mir freundlicherweise das Zimmer vermittelt hat. Und der wohnt ja auch nicht mehr hier, antwortet er wahrheitsgetreu.

Obwohl? Er weiß, dass er diesem Namen schon mal irgendwo begegnet ist. Der Name ist ziemlich ungewöhnlich, aber Tanner kommt nicht dahinter, wo er ihn gehört hat. Das behält er aber für sich und schaut Karl fragend an.

Ja also, äh … es ist so, und ich verstehe es auch nicht, also kurz gesagt, die Madame Finidori fragt höflich an, ob Sie heute Nachmittag um fünf Uhr zum Tee zu ihr kommen könnten. Auf den Mondhof. Sie hat den Portugiesen geschickt mit der Einladung.

Die letzte Bemerkung ist mehr an Ruth adressiert denn an Tanner.

Die Alte Oder …? Ruth fragt mit auffallender Heftigkeit.

Karl zuckt mit den Schultern.

Ja also, äh … das müssen Sie halt selber entscheiden, äh … ob Sie da hingehen wollen, Simon. Sie entschuldigen mich. Die Arbeit ruft. Wegen dem Auto machen Sie sich keine Sorgen, das bringen wir in Ordnung. Der Thévoz ist mir sowieso noch was schuldig vom Holz dieses Winters. Aber es tut uns Leid wegen den Umständen.

Karl lächelt Tanner entschuldigend zu und geht nach draußen. Ruth lächelt auch.

Ich muss ins Städtchen einkaufen gehen, wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es bitte, es macht mir keine Umstände. Haben Sie genug gefrühstückt?

Tanner bedankt sich, ebenfalls lächelnd, und sagt, dass er nichts brauche.

Mittagessen ist um halb eins!

Von uns war noch nie jemand auf dem Mondhof eingeladen!

Bevor er sie fragen kann, wer denn die Finidori sind, verschwindet Ruth durch die Tür, die von der Küche in ein weiteres Zimmer führt, wahrscheinlich in das Wohnzimmer, oder wie es hier heißt, in die Stube. Wo das Telefon klingelt.

Einige Fragen hätte Tanner schon, vor allem auch wegen des vielsagenden Lächelns bei ihrer letzten Bemerkung.

Und er hätte Ruth auch noch beibringen müssen, dass er kein Fleisch isst. Und das auf einem Schweizer Bauernhof …

Er hört Ruth leise telefonieren, versteht aber kein Wort. Er trinkt seinen Kaffee aus und beschließt jetzt, seinen Morgenspaziergang in das Dorf zu machen. Abends der Friedhof, morgens das Dorf.

Er geht kurz in sein Zimmer, zieht einen Pullover an, denn es ist trotz des Sonnenscheins noch kühl. Er entscheidet sich für seine alte Nikon mit dem guten Objektiv. Er stopft noch ein kleines Wachstuchheft in seine Jackentasche.

Gerade als er die Treppe wieder runterkommt, schließt Karl die vordere Stalltür.

Heute Abend kriegen wir Zuwachs!

Tanner setzt eine verständnislose Miene auf und Karl lacht.

Meine schöne Laura kalbt heute Nacht. Sie kriegt ein Junges. Ich hoffe, ein Mädchen. Die Muni sind ja doch nur für den Metzger. Verstehen Sie mich, Simon?

Ja, Simon versteht. Auch Simon mag Mädchen lieber.

Viel Glück denn! Auf die Mädchen!

Karl steigt auf seinen Traktor und fährt mit elegantem Schwung davon.

Beim Stichwort Metzger hätte er doch ganz bequem das Thema Fleischessen anschneiden können. Nichts wäre einfacher gewesen! Ungenutzte Gelegenheit Nummer tausendunddrei, gratuliere Tanner!

Wo ist eigentlich meine neue Freundin? Immerhin haben wir unsere erste Nacht zusammen verbracht.

Und jetzt gehst du nicht ins Dorf, Tanner, sondern du guckst dir jetzt erst mal dein Auto an und anschließend gehst du noch mal beim Friedhof vorbei, denn da bist du gestern unterbrochen worden.

Er wollte ja gestern gerade die Namen und die Geburts- und Todesdaten der beiden Kinder überprüfen, als er durch ein gewisses einzelnes Pferd unterbrochen wurde.

Sein dunkelroter Ford sieht genauso aus, wie ein Auto aussieht, wenn alle vier Reifen zerstochen sind. Irgendwie beschissen. Keine Eleganz mehr. Bei jedem Reifen eine einzige, klare Einstichstelle.

Da hatte jemand ein sehr scharfes und ein sehr großes Messer zur Hand. Und vor allem weiß dieser Jemand damit umzugehen. Das waren keine übermütigen Nachtbuben, die, unbefriedigt von der Disco, unbedingt noch einen Spaß haben mussten. Die Einstiche unterscheiden sich jedoch in einem Punkt. Sie sind nicht alle vier gleich breit. Das heißt, dass der Täter das Messer nicht jedes Mal gleich tief in den Reifen gestoßen hat. Die meisten Messer verbreitern sich in der Regel zum Heft hin. Vielleicht hat beim dritten Stoß die Kraft, oder die Wut, nachgelassen. Beim vierten Einstich war er offensichtlich schon zufrieden, als die Luft rauszischte.

In den Mänteln der Reifen sind sehr stabile metallische und textile Gewebe eingearbeitet. Viermal hintereinander das Messer bis zum Heft in einen Pneu zu wuchten, das braucht schon sehr viel Kraft …

Der Täter hat rund um das Auto mögliche Fußspuren verwischt. Das ist ganz deutlich zu sehen. Auch das pflegen besoffene oder übermütige Nachtbuben nicht zu tun.

Unweit des Autos findet Tanner einen Fichtenzweig, der sicher gute Dienste geleistet hat. Neben dem linken Hinterrad entdeckt er eine nur zur Hälfte verwischte Spur. Man sieht noch deutlich die vordere Hälfte einer kräftigen Profilsohle. Die Profillinien verlaufen im Zickzack quer zur Schuhsohle. Da die Tat nachts begangen wurde, hat der Täter diese Spur übersehen.

Er muss irgendwie diesen Abdruck konservieren, um ihn später abgießen zu können. Denn bald kommt wahrscheinlich der Automechaniker, danach ist die Spur verloren.

Tanner geht in die Scheune und findet eine rostige Schaufel mit abgebrochenem Stiel, die achtlos in einer Ecke lehnt. Mit dieser flachen Schaufel kann er so viel Erde mit der Fußspur zusammen weggraben, dass der Abdruck der Schuhsohle unberührt bleibt. In der neuen Einstellhalle findet er beim Holzstoß an der alten Wand einen sicheren Platz.

Um diese Spur wird er sich später kümmern, falls es notwendig sein wird. Im Städtchen gibt es sicher ein Malergeschäft, wo man ein Kilo Gips kaufen kann. Aber deswegen wird er heute nicht auf das Angebot von Ruth zurückkommen, dass sie ihm etwas besorgen könne. Er möchte den Fund vorläufig für sich behalten.

Sonst findet er keine weiteren Anhaltspunkte. Keine abgebrochene Messerspitze. Vielleicht hat der Täter am Auto Fingerabdrücke hinterlassen, aber wie viele Menschen haben das Auto in letzter Zeit angefasst? Und Tanner hat vergessen, wann er das Auto das letzte Mal gewaschen hat.

Am Brunnen wäscht er sich die Hände und reibt den Dreck von den Hosen.

Er hat gehofft, dass Ruth aus dem Haus kommt. Sie wollte ja einkaufen gehen. Gerne hätte er sie über Madame Finidori ausgefragt, aber das Telefongespräch dauert wohl etwas länger.

Er nimmt seinen Fotoapparat und macht ein paar Aufnahmen von den Rädern. Dann wandert er erneut zum Friedhof.

Unterwegs wird er von einem langsam fahrenden Traktor überholt. Auf dem kleinen Anhänger sitzt eine Frau mit Kopftuch und düsterem Gesichtsausdruck. Sie sammelt während der langsamen Fahrt die orangefarbenen Wegmarkierungsstangen ein. Der Winter ist vorbei, auch wenn es noch kühl ist. Er grüßt beide, den Fahrer und die Frau, wird aber nur angestarrt. Sie tragen beide ein schwarzes Band am Oberarm. Diese Art, Trauer zu tragen, kennt er bislang nur aus südlichen Ländern.

Wieder steht Tanner vor dem rostigen Friedhofstor. Er öffnet es vorsichtig und heute gelingt es ihm ohne Quietschen.

Irgendetwas hat sich verändert.

Auch wenn er nicht begreift, was es ist, spürt er die Veränderung. Er geht ein paar Schritte weiter. Irgendetwas ist seit gestern verschoben, oder anders angeordnet. Er erinnert sich an die Bilderrätsel, die er als Kind so geliebt hat. Finde fünfundzwanzig Unterschiede!

Jetzt weiß er es. An der hinteren Mauer steht, halb versteckt hinter einem Buchsbaum, eine nagelneue Gießkanne aus leuchtend gelbem Kunststoff. Tanner ist sich sicher, dass die gestern noch nicht da war. Zwar steht auf jedem Friedhof, den er besucht, irgendwo eine gelbe Plastikgießkanne herum. Aber jetzt ist er sich ganz sicher, dass die gestern noch nicht da war. Das leuchtende Gelb bringt die ganze Komposition des Friedhofs durcheinander. Und auf dem frischeren Grab sind die verwelkten Blumen weggenommen und durch verschiedene grüne Pflanzen ersetzt worden. Und mit Wasser begossen.

Auf dem ersten Kreuz, am etwas älteren Grab, steht Vivian Steinegger. Geburts- und Todesdatum. Auch auf dem zweiten Kreuz steht der Name eines Mädchens. Anna Lisa Marrer. Geburts- und Todesdatum.

Ein sechsjähriges Mädchen und ein knapp fünfjähriges Mädchen.

Vivian ist vor zwei Jahren, Anna Lisa vor knapp einem Jahr ermordet worden.

Und eines heißt Marrer, wie seine Vermieter.

Aber das hätte ihm sein Freund doch erzählt, wenn seine Marrer erst kürzlich eine Tochter verloren hätten. Und dann noch unter diesen grauenvollen Umständen. Nein, das kann nicht sein!

Er wendet sich fröstelnd ab und betrachtet erneut die Gießkanne. Das Preisschild klebt noch zur Hälfte an dem Griff. Er hebt die Gießkanne hoch und sieht, dass der Besitzer auf den Boden mit grünem Filzstift, in großen Buchstaben geschrieben hat. Marrer.

Viele haben zu Hause einen grünen Filzstift. Dass der Begrüßungszettel gestern Abend auch mit einem grünen Filzstift geschrieben war, lässt er als Indiz, dass Anna Lisa doch die Tochter von seinen Marrers war, nicht gelten. Es kann nicht sein, sonst wären diese Leute doch in einem ganz anderen Zustand.

Da verlässt sich Tanner definitiv auf seine Menschenerfahrung. Er hat zu viele Mütter und Väter erlebt, die ihre Kinder zu Grabe getragen haben.

Fünf Pflanzen sind angepflanzt auf dem Grab. Ob das ein Zufall ist? Eine Pflanze für jedes Jahr, das Anna Lisa leben durfte.

Ein Kuckuck ruft.

Er muss direkt auf einem der Bäume neben dem Friedhof sitzen. Da die Bäume erst ganz winzige Blätter haben, müsste man doch den Vogel sehen. Aber in dem heillosen Durcheinander der Äste hoch über seinem Kopf kann er ihn nicht ausmachen. Tanner starrt in die Höhe, bis sein Nacken wehtut. Er hört ihn ganz nahe, kann ihn aber nicht sehen.

Das gibt's doch nicht. Wo bist du denn, du Vogel, du. Zeig dich!

Tanner geht aus dem Friedhof hinaus, die Baumkrone immer schön fixierend, bis er einmal ganz um den Baum herumgegangen ist. Er lässt seinen Kopf enttäuscht nach vorne fallen, denn der Nacken schmerzt.

Im Gras, direkt vor seiner Nase, liegt eine vom Regen nasse Reitpeitsche. In diesem Moment rauscht es über seinem Kopf. Ein wahrhaft metaphysisches Rauschen und er weiß, das ist der Kuckuck. Jetzt könnte er ihn sehen! Aber er kann seinen Blick nicht von der Reitpeitsche lösen, als ob sie verschwinden würde, wenn er wegschaut. Er geht in die Knie und betrachtet die Peitsche von allen Seiten, ohne sie anzufassen. Die Peitsche ist insgesamt etwa sechzig Zentimeter lang, hat einen schwarzen Griff mit einem Knauf und geht dann über in ein helles, geflochtenes Leder. Ziemlich neu und ziemlich teuer.

Er nimmt die Peitsche in die Hand. Da ist natürlich kein Preisschild dran. Aber auf dem Knauf ist ein Metallplättchen eingelassen und auf dem Metallplättchen befindet sich ein eingravierter Buchstabe.

Er steht auf und ruft in Richtung des weggeflogenen Kuckucks.

Danke! Ohne dich hätte ich diese Peitsche nie gefunden.

Ohne Zweifel gehört diese Peitsche dem Mädchen, das gestern vom Pferd gefallen ist. Wer so einen Helm trägt, hat auch so eine Peitsche.

Unweit der Stelle, wo die Peitsche lag, ist ein Fleck mit niedergetrampeltem Gras.

Hier ist das Mädchen vom Pferd gefallen, murmelt er leise und beginnt, die Stelle zu untersuchen. Es gibt einige Blätter mit braunen Flecken. Das könnte ihr Blut sein. Er riecht daran und reibt einige Flecken zwischen seinen Fingern.

Er ist sich nicht sicher. Aber dass die Halskette mit dem kleinen goldenen Medaillon, die er jetzt zwischen den Grasnarben findet, auch dem Mädchen gehört, da ist er sich sofort sicher. Auf der Rückseite des Medaillons ist zwar nicht der gleiche Buchstabe wie bei der Reitpeitsche eingraviert, aber trotzdem. Tanner versucht das Medaillon zu öffnen, aber es bleibt verschlossen. Er sucht in seiner Jackentasche, aber er hat kein Messer dabei.

Er sucht noch eine gute halbe Stunde das ganze Umfeld systematisch ab, kann aber nichts mehr finden. Nur viele Hufspuren von dem großen Pferd.

Vom Friedhof aus, der auf einer leichten Kuppe liegt, sieht man die Autobahn, die noch ziemlich neu sein muss. Je nachdem, wie der Wind dreht, kann man die Autos sicher bis hierher hören. Heute nicht. Geräuschlos ziehen die Autos und Lastwagen ihre Bahn. Über der Autobahn kreist gelassen ein großer Vogel.

Hinter der Autobahn steigt das Gelände wieder sanft an. Man sieht vier Bäume nebeneinander stehen. Gegen den hellen Horizont geben ihre noch blätterlosen Baumkronen eine scharfe Silhouette ab.

Unwillkürlich muss er an eine Kinderzeichnung denken.

Die Bäume sehen aus wie Vater, Mutter, ein Junge. Und ein Mädchen. Alle geben sich die Hand. Nur das Mädchen steht etwas abseits, und seine Baumkrone wächst, als wäre es erschreckt worden, von seinen Eltern weg.

Rechts von der Baumgruppe erkennt man die Dächer eines Bauernhofes und ein hohes Silo, über dem eine zerrissene Fahne flattert. Da man nur die Dächer sieht, spürt man das sanfte Abfallen der Landschaft zum See hin.

Auf der geteerten Straße, die an dem Friedhof vorbei ins Dorf führt, fährt ein heller Opel Kombi vorüber. Eine Hand winkt ihm aus dem offenen Fenster zu. Tanner winkt etwas unsicher zurück. Ob das Ruth ist, die vom Einkaufen zurückkommt? Bei der Fahrt ins Städtchen hat er sie nicht bemerkt. Vielleicht gibt's noch eine andere Straße?

Ob er ihnen beim Mittagessen von seiner gestrigen Begegnung erzählen soll? Sie wüssten bestimmt, wer das war. Denn immerhin möchte er ja die Peitsche und das Medaillon nicht einfach behalten.

Tanner, sagt er lachend zu sich selber, du willst doch einfach dieses Mädchen wiedersehen.

Sein besseres Ich sagt vor seinem inneren Hohen Tribunal tapfer etwas von Bürgerpflicht und wertvollen Gegenständen, die man doch nicht einfach behalten kann …

Ach, lass es, Tanner. Und damit basta!

Er schaut auf sein Telefon und sieht, dass er doch mehr Zeit mit seiner Untersuchung des Bodens zugebracht hat, als er dachte. Es geht schon gegen zwölf Uhr. Bald ist Mittagessenszeit. Er fotografiert den Friedhof und auch die frischen Gräber. Eigentlich weiß er nicht genau, warum.

Bloß indem ich die Gräber der Kinder fotografiere, finde ich den Mörder nicht!

Der Kuckuck ruft. Diesmal aus der Ferne.

In der Küche sitzt Karl schon am gedeckten Tisch und liest die Zeitung. Ruth steht am Kochherd und hantiert mit einem Stabmixer. Sein Gruß geht im Lärm der Küchenmaschine unter.

Karl nickt und bedeutet ihm, er solle nur reinkommen.

Da der Kochherd direkt bei der Eingangstür steht, muss er gezwungenermaßen sehr nahe an Ruth vorbei, und trotz der vielfältigen Gerüche aus den vielen Pfannen riecht Tanner ganz deutlich ihr Parfum. Vanille und Zitrone. Er könnte schwören, dass sie heute Morgen noch kein Parfum verwendet hatte.

Das Geräusch des Stabmixers bricht ab und jetzt hört man wieder den Nachrichtensprecher. Wie am Morgen.

Stört es Sie, wenn wir die Nachrichten hören? Uns Bauern interessiert ja vor allem das Wetter. Sie seufzt.

Wenn der Boden nicht bald trocken wird, bekommen wir Probleme.

Sie prüft mit einem schnellen Blick, ob er, der Städter, auch versteht. Ihre Zunge schnellt kurz über ihre lächelnden Lippen.

Sie haben mich vorhin im Auto nicht erkannt, als ich Ihnen zugewinkt habe, oder?

Karl blickt über den Zeitungsrand.