Cover

Über dieses Buch:

Was ist das für eine alte Uhr, die Kim von seinem Großvater geschenkt bekommen hat, welches Geheimnis birgt sie? Als Kim die rätselhafte Uhr im Beisein von Lisa und Dennis untersuchen will, bewegen sich die Zeiger plötzlich rückwärts, ein magisches grünes Licht beginnt zu pulsieren, alles um sie herum gerät in Bewegung ... Und auf einmal landen sie im Louvre, im Frankreich des 17. Jahrhunderts, mitten in einer Verschwörung gegen den jungen König Ludwig den Dreizehnten! Gelingt es ihnen, das Leben des erst 15-Jährigen zu retten? Und vor allem: Schaffen Sie es rechtzeitig, nach Hause zurückzukehren?

Fesselnd und voller Spannung erzählt Eva Maaser vom höfischen Leben im 17. Jahrhundert!

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Ebenfalls bei dotbooks erschienen Eva Maasers Kinderbücher Kim und die Seefahrt ins Ungewisse, Kim und das Rätsel der fünften Tulpe, Leon und der falsche Abt, Leon und die Geisel, Leon und die Teufelsschmiede und Leon und der Schatz der Ranen.

***

Neuausgabe Mai 2013

Copyright © der Originalausgabe 2007 Coppenrath, Münster

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: akg-images/Erich Lessing; akg-images/De Agostini Pict.Lib.

ISBN 978-3-95520-266-8

***

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Kim und die Verschwörung am Königshof an: lesetipp@dotbooks.de

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.twitter.com/dotbooks_verlag

www.gplus.to/dotbooks

Eva Maaser

Kim und die Verschwörung am Königshof

Band 1

dotbooks.

1. Das Dämonenmädchen

„Du bist ja Chinese!“

Kim überlegte, ob diese Feststellung lediglich Erstaunen oder auch eine Spur Verachtung verriet.

„Halbchinese“, stellte er widerwillig richtig.

„Ach so. Das ist ja nur halb so schlimm. Und was kriegst du die Stunde? Schön, dass du wenigstens ein bisschen Deutsch sprichst. Vielleicht lassen wir dich morgen bei uns das Laub zusammenfegen.“

Kim beschloss, sich mit dem Ärgern Zeit zu lassen. In der fremden Stimme klang etwas durch, was ihn misstrauisch machte. Das Mädchen, das ihn über den Zaun hinweg anstarrte, sah sonderbar genug aus, um es seinerseits anzustarren. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal solche Haare gesehen zu haben. Sie wirkten wie rote Drahtwolle. Und dann die Augen! Eindeutig Katzenaugen, grüne Katzenaugen in einem käseweißen Gesicht. Beim Gedanken an Käse schnitt Kim vor Abscheu eine Grimasse. Er würde nie verstehen, wie jemand Käse essen konnte. Er hatte einmal welchen probiert, und ihm war sofort schlecht geworden.

Etwas von seinem Abscheu musste das Mädchen aus seiner Miene gelesen haben und das war ganz erstaunlich. Normalerweise konnten waschechte Europäer aus seiner Miene überhaupt nichts lesen. Anscheinend war dieses Mädchen überdurchschnittlich intelligent. Das machte ihn neugierig.

„Was ist? Hat dir die Aussicht auf einen zweiten Job die Sprache verschlagen? Wenn du natürlich nur blöd in der Gegend herumstehst, können wir auf dich verzichten.“ Die Rothaarige deutete auf den Rechen, auf den er sich stützte. Inzwischen war Kim zu der Überzeugung gelangt, dass die rote Drahtwolle und die grünen Augen Kennzeichen eines Dämonenwesens sein mussten, und dazu passten auch die Sommersprossen. Flecken wie auf der Haut einer Naja, einer tödlich giftigen Schlange. Mit Sicherheit war hier Vorsicht geboten.

Nachlässig warf er den Rechen beiseite und entfernte sich ein paar Schritte vom Zaun. Noch etwas war ihm an dem Mädchen aufgefallen. Es war wenigstens einen halben Kopf größer als er, und das versetzte ihn nun doch in schlechte Laune.

„He! Du bist noch nicht fertig! Ich sag Tante Betty, dass du deine Arbeit nicht ordentlich machst. Wie heißt du überhaupt?“

So würdevoll wie möglich, wandte sich Kim um. „Kim. Kim Reimer.“ Und dann begriff er endlich. Sie wusste natürlich, wer er war. Aber das besserte seine Laune kein bisschen. Großtante Betty hatte ihren Nachbarn sicher längst alles über ihren Neffen Lutz Reimer und seinen halbchinesischen Sohn erzählt. Dass sie aus Shanghai hierher gezogen waren, ein halbes Jahr nach dem Tod von Kims Mutter. Aus der Weltstadt Shanghai in ein Kaff namens Drensteinfurt, um im Haus seines Großvaters zu leben. Das Dorf bestand nur aus einer Handvoll kleiner Häuser und einer Spielzeugkirche. Nicht ein Hochhaus! Und selbst im Zentrum war es so still wie auf einem Friedhof. Kein Autohupen, kein schrilles Gekreisch, keine laute Musik. Kim schüttelte sich in Gedanken.

„Ach, du bist Kim?“, flötete sein Quälgeist und streckte ihm über den Zaun die Hand entgegen. „Ich bin Lisa Wagner.“ Sie betonte jede Silbe, als ob er schwerhörig wäre. „Du verstehst? Ich bin deine Nachbarin.“ Ihre grünen Augen funkelten übermütig.

Es wurde Zeit, dass er sich etwas einfallen ließ. Er benahm sich ja wie ein Trottel, und das vor einem Mädchen!

Ohne die ausgestreckte Hand zu beachten, kreuzte er die Arme vor der Brust und verneigte sich tief. „Ich mich fülchten vor Dämonenmädchen, das hat glühenden Dlaht um Kopf.“

Da hatte er wohl ins Schwarze getroffen.

Ihr Gesicht verfinsterte sich schlagartig, anscheinend war er nicht der Erste, der sie wegen ihrer roten Haare aufzog. Jetzt würde sie gleich anfangen zu kreischen, da war er ganz sicher. Das konnte peinlich werden!

Zu seiner Überraschung lachte Lisa laut auf.

„Nicht schlecht gekontert, Kim. Aber den Witz, dass Chinesen angeblich kein ‚R‘ aussprechen können, kannte ich schon. Hast du noch was Besseres drauf?“

Er wollte gerade angesäuert nachfragen, was sie damit meinte, als laut kläffend ein kleiner, weißer Hund an den Zaun gerannt kam. Es war einer von der wuscheligen Sorte, bei dem man nicht auf den ersten Blick erkannte, wo vorn und hinten ist. In diesem Fall war die Sachlage aber klar, weil der Kleine die Vorderpfoten in die Zaunmaschen stemmte, das Mäulchen weit aufriss und alle seine spitzen Zähne zeigte.

Kim gab sich begeistert. „Ich mag Hunde!“, überschrie er den Kläffer.

„Still, Willie!“, kommandierte Lisa.

Willie kümmerte sich einen Dreck um den Befehl. Erst als Lisa energisch in sein Zottelfell griff und ihn weg vom Zaun zog, gab er Ruhe. „Was hast du gerade gesagt?“, fragte sie an Kim gewandt.

„Ich mag Hunde“, wiederholte Kim bereitwillig, „geschmort schmecken sie am besten. Wann schlachtet ihr euren? Ich könnte deiner Mutter ein gutes Rezept ...“

Lisa schnappte nach Luft.

Volltreffer, stellte Kim befriedigt fest.

Angriffslustig streckte Lisa den Kopf vor. „Das kannst du dir irgendwohin stecken. Noch so eine nette Bemerkung über Hunde und ich zeig dir morgen in der Schule, wo’s bei uns langgeht.“

Mit einem Seufzer ließ Kim die Schultern hängen. Vor dem ersten Schultag in einer fremden Schule, in einem fremden Land graute ihm, seit er vor einer Woche auf dem Frankfurter Flughafen angekommen war. Mitten in den hiesigen Herbstferien, an einem nebelgrauen Tag. Und jetzt hatte er eine nebelgraue Woche ganz allein in Tante Bettys Gesellschaft hinter sich und fragte sich, ob in Deutschland jemals die Sonne schien und ob er jemals Tante Betty entkommen würde.

Auf Tante Betty war er nicht richtig vorbereitet worden.

Sein Vater war schon zwei Tage, nachdem er ihn in Drensteinfurt abgeliefert hatte, zurück nach Shanghai geflogen. Er musste noch einiges an seinem alten Forschungsinstitut regeln, bevor er seine neue Stelle an einem Institut der Universität in Münster antrat. Lutz Reimer war ein in der Fachwelt sehr geschätzter Biotechnologe, im gleichen Fach war auch Kims Mutter tätig gewesen. Kim hatte seinen Vater angefleht, ihn ja nicht allein in diesem düsteren alten Haus in der westfälischen Provinz zu lassen. Aber Lutz Reimer hatte gemeint, er könne die Zeit bis zu seiner Rückkehr in vier Wochen nutzen, um sich mit Tante Betty anzufreunden.

Kim hatte nur undeutliche Erinnerungen an seinen inzwischen verstorbenen deutschen Großvater. Und auch Tante Betty hatte er nur einmal gesehen, als er als Fünfjähriger mit seinen Eltern einen Besuch in Deutschland gemacht hatte. Damals hatten andere Leute im Nachbarhaus gewohnt. An ein freches, rothaariges Mädchen hätte er sich ganz bestimmt erinnert.

Etwas Farbe war in Lisas Wangen gestiegen, vermutlich vor Zorn. Sicher war sich Kim nicht, denn Lisa schaute nicht wirklich wütend drein. Wahrscheinlich machte sie das Geplänkel mit ihm eher kribbelig – genauso wie ihn. Bevor er das herausfinden konnte, öffnete sich die Terrassentür. Tante Betty trat heraus.

„Du kannst morgen weitermachen, Kim. Komm jetzt rein, es wird dunkel. Der Tee ist fertig.“

Mit dreizehn Jahren um sechs Uhr nachmittags reingerufen zu werden, weil es dunkel wurde, war vor allem deshalb peinlich, weil jemand höchst interessiert lauschte.

Lisa grinste breit. „Dann lass Tante Betty mal nicht warten, sonst wird der Kamillentee kalt.“

„Willst du nicht auch kommen, Lisa?“, rief Tante Betty. „Bestimmt hast du mit Kim noch etwas wegen der Schule zu besprechen.“

Energisch schüttelte Lisa den Kopf. Vermutlich hatte sie schon einmal mit Tante Betty Tee trinken müssen. Geschmacklosen Tee aus fusseligen Teebeuteln.

„Ich hole ihn morgen um sieben ab, der Schulbus fährt zehn nach sieben. – Sei bloß pünktlich fertig, ich warte nicht auf dich!“, setzte sie für Kim hinzu. Sie nahm den Hund auf den Arm und marschierte davon.

Aufgebracht sah Kim ihr nach. Jetzt kommandierten ihn schon zwei weibliche Wesen herum, eine alte Frau und ein Mädchen, das er gerade erst kennengelernt hatte. Betont langsam schulterte er den Rechen und schlurfte zum Schuppen hinter dem Haus, wo die Gartengeräte aufbewahrt wurden.

Wie jeden Tag, seit er hier war, wünschte er sich, in Shanghai bei seinen vielen Freunden zu sein, die er schmerzlich vermisste. Die Freunde, die wunderbare Stadt – und Großvater Kao. Er hatte bei ihm einziehen wollen, aber davon wollte sein Vater nichts wissen. Großvater Kao aber auch nicht. Kims chinesischer Großvater war ein geheimnisumwitterter alter Mann von mindestens achtzig oder neunzig Jahren. Oder hundertzehn. Für hundertzehn sprach die Tatsache, dass er sich jeden Fleck der Erde angeschaut hatte. Bloß wann? Er war nämlich seit Jahrzehnten nicht aus China herausgekommen.

In seiner Jugend hatte er als Mönch in einem Tibetischen Kloster gelebt. Manchmal, wenn er etwas mitteilsamer war, hatte er von seinem Leben in den Bergen des Himalaya erzählt, wo es Dinge gab, von denen die Menschen im Westen nichts ahnten oder nichts verstanden. Großvater Kaos Abschiedsgeschenk war so ein Ding. Auf dem Flughafen von Shanghai hatte Kim nur ganz kurz einen Blick darauf werfen können, während er Großvater Kaos leiser Stimme lauschte, die im Lärm des Flughafenbetriebs beinahe unterging. Ihr Flug wurde gerade zum dritten Mal aufgerufen. Deshalb hatte Kims Vater gesagt, er solle das Kästchen schnell einstecken und sich vom Großvater verabschieden.

Nachdem Kim das Geschenk im Rucksack verstaut hatte, hatte er eine Hand zur Faust geballt an die Brust gepresst, die andere flach davor gehalten und sich tief verneigt. Auf diese Art erwies er einem Mann, der uralte Geheimnisse des Universums kannte, seinen Respekt. Lutz Reimer nannte seinen Schwiegervater allerdings einen Spinner und den größten Lügner aller Zeiten. Er war eben ganz und gar Wissenschaftler.

Buchstäblich in der letzten Sekunde hatte Großvater Kao Kim liebevoll umarmt. „Ich werde jeden Tag auf dich warten“, hatte er ihm ins Ort geflüstert. Kim hatte gemerkt, dass ihm die Augen feucht wurden. Und da war ihm der Abschied von dem kleinen alten Mann noch schwerer gefallen.

Nachdem er den Rechen in den Schuppen gebracht hatte, ging er zum Haus und dachte über das Abschiedsgeschenk nach: eine seltsame alte Uhr in einem Holzkasten. Mit der Uhr, hatte Großvater Kao erklärt, könne er jederzeit zu ihm reisen, er bräuchte dafür keins dieser schwerfälligen Flugzeuge oder eins der noch langsameren Schiffe.

Wie reiste man denn mit einer Uhr?

Die Frage beschäftigte Kim, seit er unter Tante Bettys Fuchtel stand. Tante Bettys erster Satz, wenn sie ihn irgendwelchen Bekannten vorstellte, lautete: „Der arme Junge hat kürzlich seine Mutter verloren.“ Und der zweite, mit noch größerem Bedauern ausgesprochene: „Er ist in China aufgewachsen.“ Den dritten Satz, „Seine Mutter war Chinesin“, konnte sie sich eigentlich sparen, denn das sah ja jeder.

Tante Betty hatte alle seine Sachen durchgesehen und alles Waschbare in die Waschmaschine gesteckt, kaum dass er in ihrem Haus angekommen war. Als fürchtete sie, er hätte Flöhe oder Wanzen mitgebracht. Großvater Kaos Abschiedsgeschenk hatte sie aber nicht entdeckt. Das hatte er gerade noch aus dem Rucksack ziehen und damit aus dem Zimmer schleichen können. Er war die Treppe zum Dachboden hinaufgesaust und hatte es in einem riesigen Schrank unter einer Wolldecke versteckt.

Am gleichen Tag noch hatte Tante Betty die Tür zur Bodentreppe abgeschlossen und Kim damit in schwärzeste Verzweiflung gestürzt. Denn er wusste nicht, wo sie den Schlüssel aufbewahrte. Von morgens bis abends kreisten seitdem seine Gedanken um den kleinen achteckigen Kasten. Die Uhr hatte er noch nicht einmal gesehen, aber seine wildesten Hoffnungen klammerten sich daran. Dabei konnte er jetzt nicht einmal herausfinden, ob die Uhr funktionierte. Und ob sie so funktionierte, wie Großvater Kao gesagt hatte.

2. Feigling!

Kim war stolz auf seine chinesische Abstammung, die europäische fand er langweilig. Schließlich wusste er, dass beinahe alle wichtigen Dinge wie Papier, Buchdruck, Nudeln und Obstsalat in China bereits erfunden worden waren, als die Europäer noch in Zottelfelle gehüllt durch die Steinzeit stapften.

Tante Betty konnte ihm daher nichts wirklich Wichtiges mitteilen, aber da er ihr als einer älteren Verwandten (einer sehr viel älteren Verwandten) Respekt schuldete, tat er seit einer Woche so, als ob er ihr pausenlos zuhörte. Dass das Mädchen aus dem Nachbarhaus in die gleiche Klasse ging, hatte er aber mitbekommen, auch dass sie ihm schon vor den Herbstferien die Schulsachen besorgt hatte und dass sie erst einen Tag vor Beginn der Schule von einer Reise mit ihren Eltern zurückkehren würde. Aber es war wirklich nicht nötig, sich wie ein Dreijähriger an ihre Fersen zu heften, wie es Tante Betty vorschwebte.

Die neue Schule kannte er, weil Tante Betty sie ihm auf einer Fahrt mit dem Bus in die Kreisstadt Münster gezeigt hatte. Er sah kein Problem darin, sie allein wieder zu finden, schließlich kam er aus einer Stadt mit vierzehn Millionen Einwohnern, und außerdem hatten die Chinesen den Kompass erfunden. Logischerweise verirrte sich ein echter Chinese nie.

Kurz vor sieben am nächsten Morgen stand Tante Betty vom Frühstückstisch auf. „Es wird Zeit für dich, Kim“, sagte sie besorgt und hob mahnend den Zeigefinger. „Hast du deine Schultasche gepackt?“

Kim nickte.

„Hast du deine Busfahrkarte eingesteckt?“

Kim nickte.

„Bist du warm genug angezogen?“

Kim nickte automatisch. Aber Tante Betty war nicht zufrieden und machte Anstalten, um den Tisch herum zu kommen, um seine Unterwäsche zu kontrollieren. Das hatte sie auch vor der Fahrt in die Stadt gemacht. Sie hatte wissen wollen, ob er eins der Unterhemden trug, die sie für ihn gekauft hatte, nachdem sie festgestellt hatte, dass sich in seinem Gepäck nur drei Stück befanden. In Shanghai hatte er selten Unterhemden getragen, dafür war es dort meist zu warm.

Hastig stapelte Kim die Teller übereinander. „Ich räume die schnell in die Spülmaschine.“

Wie erhofft, versetzte die Ankündigung Tante Betty in Panik. „Auf keinen Fall, Junge, du rührst mir die Spülmaschine nicht an.“

Tante Betty war ihm am ersten Tag aufs Klo nachgegangen, um ihm zu erklären, wie die Spülung funktionierte. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass es in ganz China nur Plumpsklos gab. Das war nicht einmal völlig falsch. Die meisten Klos in China waren Plumpsklos. Nur hatte Kim in einem Hochhaus gewohnt, in dem es vom Müllschlucker bis zur Mikrowelle einfach alles an modernen technischen Einrichtungen gab. Tante Betty hatte eine Mikrowelle, konnte aber nicht damit umgehen. Jetzt riss sie die Teller an sich und begann sie unter lautem Geklapper in die Spülmaschine einzuräumen.

Kim nutzte den Moment, um seine Schultasche zu schnappen, im Flur seine Jacke vom Haken zu reißen und hinauszuwitschen. Es war fünf vor sieben.

Um genau elf Minuten nach sieben hockte er auf den Fersen an der Bushaltestelle und sah einem Bus entgegen. Der Bus kam näher und näher, Kim stand erwartungsvoll auf. Ohne anzuhalten, donnerte der Bus an ihm vorbei. Kinder drückten sich die Nasen an den Fenstern platt, ein Mädchen mit rotem Wuschelhaar gestikulierte heftig und starrte ihn entgeistert durch die verschmierten Scheiben an. Es war Lisa. Sie schrie etwas, was er nicht verstand. Vielleicht schrie sie dem Busfahrer zu, dass er stoppen sollte, aber der Bus verschwand um eine Straßenbiegung.

„Junger Mann“, sagte eine ältere Frau tadelnd zu Kim, „der Schulbus hält hier nicht, das müsstest du eigentlich wissen.“

„Stimmt“, sagte Kim höflich, „aber ich wollte ausprobieren, ob er es nicht doch tut.“

Den Weg zur Schule legte er im Taxi zurück und musste dafür beinahe sein gesamtes Taschengeld für einen Monat herausrücken. Es blieben ihm noch drei Euro fünfzig übrig.

Der Schulhof wimmelte vor Schülern, als er die Schule erreichte. Es hatte noch nicht zur ersten Stunde geschellt. Kim wand sich durch kreischende Haufen und fühlte sich zum ersten Mal nicht mehr ganz fremd. Denn was ihm in Deutschland am meisten auf den Geist ging, war die fürchterliche Stille. Davon konnte auf dem Schulhof wahrhaftig nicht die Rede sein. Entzückt von all dem Geschrei, hatte er sich beinahe bis zur Schultür durchgekämpft, als ihm ein massiger, einen Kopf größerer Junge in den Weg trat und ihn am Kragen packte.

„He, Leute!“, schrie der Junge, „ich hab den Japsen gefunden, der in unsere Klasse kommen soll!“ Augenblicklich bildete sich ein Ring von Schülern um sie. Kim hielt ganz still.

„Ich bin Halbchinese und kein Japaner, du verwechselst da was.“

„Was du nicht sagst! Siehst du einen Unterschied zwischen Chinesen und Japanern?“, wandte sich der Junge grölend an einen ebenso bulligen Mitschüler, der gerade einige Schwächere rücksichtslos beiseite schubste.

„Sind alle klein und gelb. Was hat er gesagt? Er ist ein halber Chinese? Dass ich nicht lache! Der ist nur eine Viertelportion. Den machst du mit einer Hand platt, Latte.“

Das klang gar nicht gut. Vergebens spähte Kim nach einer Aufsichtsperson aus, die eingreifen konnte. Eine Prügelei mit einem schrankförmigen Hohlkopf war nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen vorgekommen. Er wollte sich nicht prügeln. Auf keinen Fall. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus.

Auf einmal drängte sich ein Rotschopf durch die Gaffer.

„Hört auf, ihr Armleuchter!“ Lisa boxte den Jungen, der Kim am Kragen hielt, in die Seite. „Lass ihn los, Latte.“

Latte dachte nicht daran, sondern schüttelte Kim. Einen Augenblick schloss Kim genervt die Augen.

„Jetzt ist er gleich hinüber“, sagte Latte zufrieden. „Mann, ist das ein Hosenschisser.“

Kim blinzelte. „Mir ist schwindlig“, sagte er düster.

„Wovon?“, fragte Latte und schüttelte ihn noch einmal.

Lisa schrie auf und trat Latte vors Schienbein.

„Wovon?“ wiederholte Latte brüllend und versuchte, Lisa mit einer Hand abzuwehren.

Kim ließ sich wie ein nasser Sack hängen. „Seht mal“, setzte er leise ein und alle wurden ein bisschen ruhiger, um sich nichts entgehen zu lassen. „Die Erde kreist mit tausend Stundenkilometern um die eigene Achse und mit hunderttausend Stundenkilometern um die Sonne. Und das ganze Sonnensystem samt der Erde und allen anderen Planeten saust mit achthundertausend Stundenkilometern um das Zentrum unserer Galaxis. Und immer, wenn ich daran denken muss, wird mir schwindlig.“

Ein dicker, etwa zehn Jahre alter Junge in einem knallgelben Anorak starrte Kim aus weit aufgerissenen Augen an. „Mann!“, sagte er nur bewundernd.

„Ich glaube“, sagte Latte langsam, „du willst nur davon ablenken, dass du ein Feigling bist.“

„Er macht nicht einmal den Versuch, sich zu wehren, hängt nur in deiner Klaue wie eine ertrunkene Ratte“, pflichtete der andere vierschrötige Schüler bei.

„Stimmt“, gab Kim bereitwillig zu, „ich bin ein Feigling.“

Sofort ließ ihn Latte los und wischte sich die Finger an der Hose ab, als hätte er etwas Unappetitliches angefasst. Mit triumphierendem Blick schaute er in die Runde, aber besonders lange sah er Lisa an.

„Haben es alle gehört? Der Neue ist ein Feigling.“ Er stapfte an Kim vorbei und zischte Lisa zu: „Jetzt weißt du, woran du mit ihm bist. Er ist eine Niete.“

Die Schulglocke schrillte, und alle Schüler drängten sich auf einmal durch die Tür. In dem Wirrwarr schob sich Lisa an Kims Seite. „Das war sehr klug von dir, dass du dich nicht gleich mit Latte angelegt hast. Er ist ein mieser Typ, der jedem seine Stärke beweisen muss. Und ich glaube nicht, dass du ein Feigling bist.“

Erstaunt musterte Kim sie. „Aber ich bin einer“, sagte er aus tiefster Überzeugung.

Der dicke Junge in Gelb tauchte an Kims anderer Seite auf. „Über diese Erddrehungen müssen wir unbedingt reden. Interessierst du dich auch für Raumzeit?“

Lisa seufzte. „Darf ich vorstellen: Mein kleiner Bruder Dennis. Er ist zehn und geht das erste Jahr aufs Gymnasium. Er ist eine echte Klette.“

Dennis nickte grinsend. „Dazu steh ich, so wie du dazu stehst, ein Feigling zu sein. Du bist doch aus voller Überzeugung ein Feigling, oder?“

Du hast es erfasst, dachte Kim, hütete sich aber, es zuzugeben, als er Lisas Blick sah. Wahrscheinlich verachtete sie Feiglinge.

Ohne das Problem mit seiner Jacke wäre der erste Schultag vielleicht noch erträglich verlaufen. Inzwischen hatte Kim mit Lisa den Klassenraum der 7b erreicht und wollte seine Jacke ausziehen. Der Reißverschluss glitt drei Zentimeter nach unten und saß fest. Während die übrigen Schüler Hefte auf die Tische klatschten, mühte er sich weiter mit dem widespenstigen Ding ab. Ohne Erfolg. Lisa kam ihm wieder zu Hilfe.

„Lass mich das machen“, sagte sie knapp. „Du bist nicht wirklich ein Feigling, nicht wahr?“ erkundigte sie sich nervös und ruckte am Reißverschluss.

Was sollte er darauf antworten, wo sie doch dabei war, seinen Ruf in der neuen Klasse endgültig zu ruinieren? Welcher dreizehnjährige Schüler brauchte Hilfe beim Ausziehen seiner Jacke?

„Setzt du ihn nachher aufs Töpfchen?“, erkundigte sich Latte mit honigsüßer Stimme. Er hatte seinen Platz direkt hinter Kim.

Kim versuchte sich von Lisa loszureißen, stolperte rückwärts über einen Stuhl und fiel zusammen mit ihr hin. Ihre Haare kitzelten seine Wange und in ihren Augen funkelten grüne Lichter. Ganz nah. Kim fühlte sich verwirrt, weil er Lisa praktisch im Arm hielt. Sie roch wunderbar nach Frühling, der Duft ging ihm durch und durch.

Bevor sie sich aufrappeln konnten, erschien ein Mann mit stoppeligem Dreitagebart und äugte misstrauisch auf sie herab.

„Du gehst ja vielleicht ran, Junge“, sagte der Mann ausdruckslos. „Lass dir das nicht zur Gewohnheit werden, die Mädchen anzugrapschen. Nicht in meiner Stunde.“

Der Dreitagebart gehörte zu Kims Klassenlehrer Dr. Schneider, einem sportlichen Mitdreißiger in ausgewaschenen Jeans. Nach diesem Start behandelte Dr. Schneider ihn wie ein exotisches Insekt, das er unter die Lupe nehmen wollte, um herauszufinden, wie gefährlich es war. Kim musste gleich vorne an einem Einzeltisch sitzen und Dr. Schneider feuerte eine Menge Fragen über China auf ihn ab. „Wusstest du“, fragte er missbilligend zum Schluss, „dass China im Begriff steht, einer der größten Umweltverschmutzer der Erde zu werden?“

Kim sagte, das bedauerte er sehr.

Als nächstes wurde er an die Tafel zitiert, um eine Mathematikaufgabe zu lösen. Sobald er damit fertig war, erklärte ihm Dr. Schneider in aller Ruhe, dass das Ergebnis zwar richtig, der Weg dahin aber falsch sei, da hätte er viel aufzuholen.

In den Pausen hänselten ihn Latte und sein Riesenfreund Bobo, aber einige andere Mitschüler zeigten sich richtig nett. Einer tauschte Kims Käsebrot, das ihm Tante Betty in die Schultasche gesteckt hatte, großzügig gegen einen Schokoriegel ein. Trotzdem fühlte sich Kim nach der sechsten Stunde wie ausgelaugt, außerdem war er verschwitzt, weil er die Stunden in der warmen Jacke hatte absitzen müssen. Erst kurz bevor die letzte Stunde zuende ging, riss der Reißverschluss entzwei.

Auf dem Weg zum Schulbus pfiff Kim der kalte Wind durch die Rippen und er sehnte sich nach einer heißen Dusche, um sich aufzuwärmen. Nur hatte ihm Tante Betty gleich am ersten Tag erklärt, dass er aus Umweltschutzgründen nur einmal täglich duschen durfte. Morgens, nach dem Aufstehen.

Noch bevor er mit Lisa und Dennis die Haltestelle erreichte, hielten ihn Latte und Bobo auf. Latte schlug sich mit der Faust in die andere, flach ausgestreckte Hand.

„Ich muss da noch was klarstellen, was Lisa betrifft“, grummelte er.

„Von Lisa“, fügte Bobo hämisch hinzu, „lässt du nämlich in Zukunft die Finger, kleiner Feigling.“

Lisa schrie auf. „Bild dir bloß keine Schwachheiten ein, Latte! Bei mir kannst du nie und nimmer landen.“

Kim hatte schon gemerkt, woher der Wind wehte. Latte schien ja heftig in Lisa verschossen zu sein, aber das kümmerte ihn überhaupt nicht. „Von mir aus“, sagte er gleichmütig. „Ich steh nämlich nicht auf Käsegesichter.“

Auf der Fahrt im Bus nach Hause schaute Lisa beleidigt zum Fenster hinaus und überließ  Dennis die Unterhaltung.

„Was du über die Erddrehungen gesagt hast, war toll. Du hast Ahnung von Astrophysik, stimmt’s? Ich komme dich heute Nachmittag besuchen, dann können wir darüber reden“, kündigte er erwartungsvoll an.

Lisa wandte sich halb vom Fenster ab. „Das läßt du bleiben, Dennis.“ Und zu Kim gewandt, setzte sie säuerlich hinzu: „Ich hab Tante Betty versprochen, mit dir Hausaufgaben zu machen, und was ich verspreche, halte ich. Ich werde sehen, ob ich dir in Mathe auf die Sprünge helfen kann. Aber viel Hoffnung habe ich eigentlich nicht.“ Und schließlich fuhr sie richtig heftig fort: „Zeigst du nie auch nur ein bisschen Mut?“

„“