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Gregor von Rezzori

Greisengemurmel

Ein Rechenschaftsbericht

© Nachlass Gregor von Rezzori

E-Book-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe © 1994 beiC. Bertelsmann Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: getty images

ISBN 978-3-942822-25-1

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Von Gregor von Rezzori zuletzt bei hey! erschienen:

Mir auf der Spur

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Der Autor gesteht, dass er beim Überlesen des fertiggestellten Manuskripts in einem Anfall von Gereiztheit sämtliche Kommata bisauf solche in Zitaten und wenige unumgänglich notwendige, vielleicht auch einige übersehene herausgestrichen hat. Diese Myrmidonen volksschulmeisterlicher Satzregler glätteten auf ärgerlich verkehrspolizeiliche Weise einen Text, dessen Greisenbockigkeit mit Hilfe von Semikolon, Doppelpunkt, Gedankenstrich und Klammern deutlicher zum Ausdruck kommt. Allerdings ist der Leser nun in Gefahr, im Geschachtel der Nebensätze die Orientierung zu verlieren, und wird gelegentlich gezwungen sein, einen Schritt zurückzutun, um die Arbeit des Lesens neu zu beginnen. Also aktiv teilzunehmen an der sprachlichen Sorgfalt, die der Autor beim Schreiben angewendet hat. Der Gewinn mag eine größere Intimität mit dem Text sein.

Und Ilfrid der Fischer begann: »Wisse, o Dämon: in frühen Tagen, die weit in entschwundene Zeitalter ragen, herrschte ein König namens Junân über die Stadt Fürs im Lande Rumân.«

AUS DER ERSTEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Seit ich zurück bin aus dem Krankenhaus merke ich wie meine Augen nachgelassen haben. Achtzehn zwanzig Stunden schreiben und lesen am Tag und durch die halbe Nacht (trotz aller Schlafmittel die kaum noch wirken) haben sie arg mitgenommen. Ich will mich nicht daran gewöhnen auch für die Weitsicht Brillen zu tragen. (Auch Kollege Goethe hat sie nicht gemocht.) Fürs Nahe sind sie seit Jahren unentbehrlich. (Waren's übrigens auch für ihn.) Die Gegenstände sind vernebelt als lägen sie hinter einer beschlagenen Scheibe. Weiter voraus habe ich bislang noch ziemlich klar gesehen. Klar genug jedenfalls um immer noch ein wenig schneller Auto zu fahren als die meisten anderen. Jetzt meldet sich Bedenken an. Nicht nur bei mir selber. Es fehlt nicht an Hinweisen auf die Dichte des Straßenverkehrs. (Als ob ich die schon wie ein Blinder mit dem Stock ertasten müsste.)

Ich habe ein Spiel begonnen das mich bei entsprechend grimmiger Laune hält. Eine Art Auskultierung meines Daseins in dieser Lebenswelt. Fasse ich etwas Bestimmtes in den Blick – den Großinsektenschädel eines Motorradfahrers der jählings einschwenkt den grünen Abweichpfeil im Rotlicht einer Ampel das Weiße im Auge eines todesmutigen Fußgängers im blechdröhnenden Hexenkessel der Stadt – so sehe ich's präzise aber herausgenommen aus dem was es umgibt. Es löst sich aus den Zusammenhängen; vereinzelt sich umso entschiedener je enger ich die Lider zusammenkneife um seine Konturen zu festigen. Es repräsentiert sich in einer bedeutungslosen Wichtigkeit wie ein Rekrut der einen Schritt aus der Reihe tritt seinen Namen herausbellt und wieder zurückspringt in seinen Kader. Er meldet seine grundsätzliche Anonymität. Was zählt sind nur noch die Kategorien.

Zu Hause treibe ich dieses Spiel als gymnastische Übung meiner Augen. Es sind mir noch andere empfohlen. Zum Beispiel zur Förderung des Blutkreislaufes das Strampeln auf einem feststehenden Fahrrad. Das steht zum Glück bei allerlei anderem Ertüchtigungsgerät im großen Haus. Wir wohnen im Turm. Vorübergehend heißt es. Aber es scheint ein Dauerzustand zu werden. Meiner Augengymnastik kommt das entgegen. Aus allen Fenstern bietet sich weite Aussicht. Die Tage sind prachtvoll: blauhimmelig nach grauen Wochen in denen ein winterliches Frühjahr das Land mit kargem Grün betupft hat. Man erwartet anderes von Italien. Aber auch an Klimawechsel gewöhnt sich der Mensch. Man hat den Eindruck das Wetter sei eine Angelegenheit der EG. Neapel hat das gleiche wie Schottland; hier ist's wie dort. Wiewohl vor Kurzem noch die Nächte Reif ansetzten sprießt es jetzt allenthalben. Eine blanke Sonne bisweilen verdeckt von leicht hinziehenden Wölkchen – es wird sogleich empfindlich kalt –lässt frisches Gras aufgleißen wenn sie wieder zum Vorschein kommt. Ein biologisches Höflichkeitslächeln der Natur: wie um uns zu versichern dass es noch eine Weile währen mag bis das Ozonloch lotrecht über unseren Häuptern klafft. Mit einem Mal sind Blüten da; Glyzinien an den Mauern; über dem Goldgelb des Rapsfeldes das Geschäume der Kirschbäume im Gemüsegarten – Prost Blume! Nur das Sommerlied der Insekten fehlt. Die Bienen sind tot. Eine Pest hat sie vernichtet sagen die Padres von Vallombrosa die Dutzende von Völkern verloren haben. (Kollege Miltons shady vales of Vallombrosa. Paradise lost. Kein Wunder: der Mann war blind.) Immerhin: der Nussbaum den ein Strich sauren Regens getroffen hat setzt an den unversehrten Ästen wieder Laub an.

Ich richte meine Augengymnastik südwärts mit dem weitesten Blick wo nur Wald zu sehen ist. Vielmehr was hier bosco heißt: ein Wucherwuchs von krüppeligen Eichen Buchen Eschen Kastanien Akazien. Nicht was ich einen Hochwald nennen würde. Kein Einhorn tritt dort aus dem Morgennebel ins Caspar-David-Friedrich-Licht. (Wunderwald der Kindheit: »'t was brillig, and the slithy toves did gyre andgimble in the wabe …«) Überschauen lässt sich's allerdings als waldige Masse: dicht verfilzt mit einem Unterholz von Lorbeer Holunder Ilex. Hier und dort gesprengt von den gelben Explosionen des Ginsters und jugendstilistisch ornamental überklettert von den Würgern des wilden Efeus und der Buschwindröschen und Brombeeren. Ich überschaue das in Sprüngen: stelle die Pupillen vom Näheren aufs Ferne ein und zurück und voraus und hin und her auf Einzelheiten wie man an einem Fernglas die Linsen schärfer zieht. Das Gelände ist bergig-hügelig längs durchklüftet von tiefen Schluchten: Erdeinbrüche auf deren Grund spärliche Wasserläufe sich einschneiden. Die roten Lehmwände stürzen ab wie die Kliffe einer Steilküste. Ihnen verdanken wir's dass meilenweit im Umkreis das Land verschont bleibt von der Baulust der frisch gebackenen italienischen Industriegesellschaft.

Wir wohnen im Turm weil das große Haus im Schwang beständiger Verbesserung und Verschönerung endgültig zum schutthaldigen Bauplatz für die Herstellung seiner Idealgestalt geworden ist. Ich gebe zu dass es dazu einlädt. Wie viele seinesgleichen – sogenannte case coloniche: Pachtbauernhäuser aus den Besiedlungszeiten der ruralen Toskana im vierzehnten sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert – war es ursprünglich angelegt für zwei Familien die mitsamt ihrem Vieh einträchtig unter einem Dach lebten. Es war halb eingestürzt als wir es vor fünfundzwanzig Jahren bezogen haben: eingebettet in kniehohes Wiesengras und überschneit von Akazienblüten. Schwalben die das Dach mit ihren Nestern bekrustet hatten umschwärmten es wie dereinst die Bienen ihren Stamm. Als wir es wiederhergestellt hatten waren die Nester zerstört und die Schwalben weg; wir aber standen vor einem Geschachtel von Ställen Zimmern Stuben Kammern mit deren Bestimmung und Einrichtung wir nie recht fertig geworden sind. Kaum ist hier Perfektion erreicht wird dort etwas reparaturbedürftig; und wo ohnehin Eingriffe nötig sind entfesselt sich der innendekoratorische Gestaltungstrieb von B. Ich wandere mit meinen Siebensachen von einem Winkel zum anderen: das Paradoxon eines häuslichen Nomaden. Die Schwalben sind nicht wiedergekommen.

Der Turm steht hundert Schritte abseits: der Stummel eines mittelalterlichen Signalturms dem wir eins der abgetragenen Stockwerke wieder aufgesetzt haben. Wir haben ihn für Gäste hergerichtet und er erweist sich unvergleichlich viel wohnlicher und unseren Bedürfnissen besser angepasst als das große Haus. Bruce Chatwin hat hier einige Kapitel seines Romans »Auf dem Schwarzen Berg« geschrieben; er liebte den Turm. So do I. Beschwerlich ist mir nur die Wanderung nach allem was ich nicht gleich mitgenommen habe: von Kleidungsstücken bis zu Nachschlagewerken. Dabei ist auch insgeheim Absicht im Spiel. Ich vermeide es tunlich mich ein für alle Mal systematisch auszustatten. Nicht nur weil mir Bewegung verordnet ist und die Wanderungen vom Turm zum Haus und vom Haus zum Turm mir (zugegeben: mehr symbolisch als effektiv) die strikt gebotenen Spaziergänge ersetzen; sondern auch weil ich mir Freiheit erhalten möchte. Greisenhafter Starrsinn, ich weiß. Wahrscheinlich versteckt sich darin auch etwas abergläubisch Beschwörerisches. Ich lehne mich auf gegen allzu rational eingerichtete Ordnung. Ich weiche jeder Planung aus weil ich ihr misstraue. Ich habe mein Leben lang in den Tag hinein gelebt. Nicht immer in süßer Muße. (Wer überhaupt kennt noch das Wort? Muße … Ach sie sind fern die Zeiten da die Tage aufkamen wie aus Licht gemachte Gefäße die nach Lust und Laune zu füllen waren!… Gibt es das heute noch für die Jungen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts von den Jungen von heute: Ich kenne nur jung Gebliebene und alt Geborene.) Wie auch immer: Durch ein Dreivierteljahrhundert hab' ich in den Tag hinein gelebt. Nicht immer untätig. Nicht immer in Muße (in des Wortes schöner Bedeutung: im Spielraum der freien Zeit). Allerdings in einer beständig wachen Gewärtigkeit mich dem Wechsel derUmstände anzupassen. Es ist notwendig. Die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts war – verglichen mit der ersten – zumindest an den Großbrandherden verdächtig ruhig. (Kräftesammeln für neuerliche Endlösungsversuche?J Jetzt beginnt's wieder unruhig zu werden. Man muss auf der Hut sein vor Überraschungen. Die Stunden können gänzlich unvorhergesehen Gestalt und Inhalt wechseln. Das stellt hohe Forderungen an existenzielle Wendigkeit. »Das Dasein ist eine Wildwasserfahrt« pflegte mein Vater zu sagen. Die Zeit reißt einen heimtückisch über Schnellen Untiefen Strudel. Ich bilde mir ein dass ich ein geschickter Kanute war. Das aufzugeben bin ich noch nicht alt genug.

Abergläubische Wirklichkeitsbeschwörung, wie gesagt. Haushaltsmagie. Auf Italienisch heißt das scaramanzia: Man malt das Schlimme an die Wand um das Gute herbeizuwünschen. Ich wünsche mich jung zu halten indem ich mich als ein bockiger Greis gebärde. (In Wahrheit eher umgekehrt: ich gebe mich rigoros jugendlich um als Greis sentimentalen Kredit einzuheimsen.) Die rührende Fürsorge der Weiber im Haus (Anna, Fedora, neuerdings auch Aisha und Leila aus Marrakesch) nehme ich mit paschahaftem Gleichmut hin; lasse allerdings durchblicken dass ich Launen habe. Gegen allzu eigenmächtigen Eingriff ins Verfügungsrecht über meine Physis wehre ich mich entschieden. Man hat sich abgewöhnt mir Wundermittel und -Methoden sowie verspätete Vorbeugungsmaßnahmen vorzuschlagen. (Deutsche Familienblätter sind beängstigend damit befasst. Die »Kraft und Schönheit«-Welle meiner jungen Jahre ist verebbt in einem Marasmus von hausbackenen Ratschlägen wie hautkrebsförderliche Sonnenbrände Herzinfarkte Schweißhände und stressbedingte Magengeschwüre zu vermeiden sind. Kollege de La Rochefoucauld sagt es gebe keine lästigere Krankheit als beständig um seine Gesundheit besorgt zu sein.) Hybride Blüte der Naturheilkunde. (Korrelat zur Zerstörung der Natur.) An mich vergeudet. Um mir zu Bewusstsein zu bringen dass mein Körper zunehmend Abnützungserscheinungen zeitigt brauche ich mich nicht an Heubadheiler und Thalassotherapeuten zu wenden. Dazu genügt mir die wissenschaftlich ausgeübte Medizin. Sie hat mich überzeugt dass mein Überleben an einem Faden hängt. Der wird angeblich verlängert indem man mich von Operationssaal zu Operationssaal karrt. Die Eingriffe zeitigen sogenannte side effects. Die müssen beseitigt werden mit nachfolgenden Interventionen (die ihrerseits side effects zeitigen). Mechanikerprobleme. Kräutertees und Körnernahrung Akupunktur und Yoga Augen-, Haar- und Fußsohlendiagnose kommen bei mir zu spät. Auch die Umstellung meines Bettes das möglicherweise auf einer Wasserader steht habe ich abgelehnt. Ebenso mit Hilfe von Einspritzungen in meine mannigfachen Narben die behinderte Zirkulation magnetischer Lebensströme im Körper wieder flüssig zu machen. (Wo käme ich damit hin? Eine jugendliche Entgleisung ins Korpsstudententum hat mir an Schmissen einiges eingetragen; freilich längst nicht so großzügig wie letzthin die Chirurgie. Aber wie's auf schlecht wienerisch heißt: es leppert sich zusammen.)

Indes ich bin bereit zu Konzessionen. Heilung durch Autosuggestion. (Zu meiner Zeit nannte man das »Methode Coué«.) Ich rede mir ein ich sei noch genügend rüstig um den nächsten operativen Eingriff zu überstehen. Gehe ich vom Turm zum Haus – zum Beispiel um von dort einen Stapel Bücher zu holen die bereitliegen um meine Augen anzustrengen – so drücke ich die Schultern zurück und die Brust heraus und atme mehrmals durch: Grundstellung aller Leibesübung. Genügt vollauf. Die Psyche bedingt den heilsamen Effekt. Zwar maule ich (unter Berufung auf ähnliche Plagen in Kindheitstagen) wenn meine Kleidung mir nach den Wettermeldungen im Fernsehen (damals nach den Rheumaschmerzen unseres Kutschers) ausgelegt wird. (B. entwickelt dabei eine energische Entschiedenheit um die eine Schweizer Jugendpflegerin sie beneiden könnte.) Ich füge mich unwillig, am Ende aber dankbar. Ich hasse Unterhemden Wollschals warme Kopfbedeckungen gebe aber zu dass sie wärmen. (Senile Widersprüchlichkeiten: Ich hasse auch Nachthemden habe mich aber in Krankenhausbetten daran gewöhnt.) Ich mucke nicht auf wenn ich zu hören bekomme dass alle Fürsorge zu meinem Besten unternommen werde und ich denn doch auf meine fortgeschrittenen Jahre und angegriffene Gesundheit Rücksicht nehmen müsse; und ich sehe ein dassRegelmäßigkeit der Pilleneinnahme eine Gewissensfrage ist. Auch die strenge Rationierung meines Alkoholkonsums nehme ich hin obwohl ich mir vorbehalte gelegentlich mit einem Gläschen über die Stränge zu schlagen. Aber der Rummel um meine verfallende Physis geht mir unsäglich auf die Nerven. Ich bin nicht nur ein immer weniger leistungsfähiger Leib. In mir spielt sich auch Mythologisches ab. Zum Beispiel die Befeuerung des Geistes durchs Dionysische. Also gelegentlich doch ein Gläschen über den Durst. B. nimmt das persönlich: ein ihr angetaner Tort.

Alles das irritiert mich doppelt weil ich ohnehin über Gebühr mit mir selber beschäftigt bin. Vielleicht ist Egozentrik eine Alterserscheinung. Vielleicht ist Nabelbeschau die Essenz der schriftstellerischen Existenz. (Ich als Fluchtpunkt aller Nah- und Fernsicht.) Wie auch immer: es steht jetzt über meinem Dasein in diesen kühlen Frühlingstagen ein unmissverständliches Symbol des Greisentums. Sinnbild für dessen Gebrechlichkeit und Anspruch auf Schonung: die Bettente. Sie ist mein eigener Beitrag zur Lebensabendgestaltung. Ich habe sie aus dem Krankenhaus mitgebracht. (Auf Italienisch heißt sie papagallo.) Auch daran hängt viel Erinnerung an Kindheitstage. Zwar ist es nicht mehr der liebe alte pot de chambre (Potschampa) aus gewichtigem Porzellan der in meiner Kinderstube die erbittertsten Machtkämpfe mit meiner Schwester hervorgerufen hat und den heute Innenraumgestalter beim Antiquitätenhändler kaufen um ihn als Blumenvase ins Raumbild einzusetzen. (Altväterhausrat.) In meiner Jugend war der Nachttopf ein unumstößlicher Gebrauchsgegenstand auch in Provinzhotelnachtkästen wo er die Vorstellung erotischer Abenteuer von Handlungsreisenden heraufbeschwor. (Üppige Schöne in viktorianischen Dessous hockte darüber mit entblößtem Hinterteil, der beglückte Voyeur schaut zu.) Jetzt ist das assoziationsträchtige Nachtgeschirr zu einem federleichten Gegenstand aus Plastik geworden. (Die dereinst sporadisch mit meiner Erziehung befassten pseudo-englischen Gouvernanten würden ihn flimsy genannt haben; aber nicht nur das Material sondern auch das Design ist zeitgemäß: olivenförmig mit angesetztem kurzen Tubenhals; in der Tat ähnlicher einer von Brancusi abstrahierten Ente als einem Papagei.) Gleichviel: Bezeichnend ist dass ich's immer noch mit schlechtem Gewissen benütze; um so verlegener dank dem scheuen Zeremoniell mit dem jeweils Anna Fedora Aisha oder Leila mir's abends unters Bett schieben und morgens warm gefüllt davontragen nachdem sie mir das Frühstückstablett auf den Bauch gestellt haben. Ein schönes Zeugnis der Ehrfurcht und des Einfühlungsvermögens von Müttern in die Unzulänglichkeiten ihrer Pfleglinge. Spezialität der naiv gebliebenen Bewohnerinnen des Mittelmeerraums. Archaisches Zivilisationsniveau. Folklore mit Antiquitätenwert. Manchmal möchte ich sie dafür ohrfeigen.

Mit einem Wort: Ich passe mich meinen beinah achtzig Lebensjahren an. Da sind allerdings die Augen. Die brennen wenn ich sie öffne. Im Gegensatz zu meinen jungen Jahren lese ich jetzt viel zu viel. (Kraut und Rüben durcheinander: Norman Mailer und die Bibel. Panovsky und Handke; immer wieder die »Wahlverwandtschaften« und den »Mann ohne Eigenschaften«.) Ich bin nicht sicher ob das nur Flucht ist oder schon Süchtigkeit. (Wäre ich gründlich so müsste ich nachlesen was die Kollegen Pascal Kierkegaard und Heidegger über die Langeweile sagen.) In jedem Fall führt's zu einer Art Wirklichkeitsverlust. (Mit Wirklichkeitsgewinn in einer anderen Dimension.) Die Lesebrille verengt mir die konkrete Welt im gleichen Maße wie sie mir den Einblick in die abstrakte der Druckbuchstaben eröffnet. Dass ich nun auch für die Weitsicht Brillen brauche lässt mich fürchten ich könnte mich gänzlich traumwandlerisch im Niemandsland der abstrahierten Wirklichkeiten verlieren. Literatenexistenz. Mein Leben lang sind mir Buchstabenhörige verdächtig vorgekommen. (Typen die mit dreizehn ihren Proust gelesen haben und den Rest des Lebens wie Kollege Borges mit dem Sammeln von literarischen Raritäten hinbringen.) Mandelstams Kulturrentner. Aber was anderes bleibt einem übrig?

Gereist bin ich weit genug. Geliebt habe ich verworren genug. Es gibt nicht viel gescheiten Zeitvertreib.

Natürlich stehe ich nicht allein unter bedenklichem Papierbefall. Der Regenwald Brasiliens wird nicht nur für mich abgeholzt. Printed matter ist ein reißender Konsumartikel. Ohne das wäre unsere Welt nicht was sie ist. (Bravo!) Sprechen wir nicht von Literatur und deren hybridem Wuchern. Schon der profane Alltagsverbrauch ist gewaltig. Bei meinen Aufenthalten in New York erschreckt mich die Sonntagsausgabe meiner dortigen Zeitung: Hunderte von riesigen Blattseiten. Ein schwerer Armvoll von druckerschwärzebesudeltem Papier. Der schiere Hohn auf die Klage ums Waldsterben in Maine das dieses provinziellste aller Großstadtblätter regelmäßig meldet. (Zu den Weltnachrichten: Der Untergang der UdSSR in zwanzig Zeilen auf dem Seitenkopf; darunter ein halber Meter Kaufhausanzeigen. Aller Text nur auf den schmalen Seitenköpfen. Ein Sadist in Virginia bringt siebzehn junge Farbige um. Kaum jemals ein Wort über Europa. Siebzehn Todesurteile in China. Jede Menge Hingemeuchelte in Peru in Chile in Nicaragua. Die zoologische Gattung Mensch kommt ihrem Schöpfungsauftrag emsig im Kleinen wie im Großen nach. Zwölf volle Seiten Film-Annoncen. Korruptionsaffären im Senat. Die Nachricht dass rote Rüben cholesterolabsetzend wirken.) Und es sind nicht die Presse-Exkremente allein die eine höchst anzweifelbare Wirklichkeit vorzaubern. Allmorgendlich birst der Postkasten von Streifbandsendungen: Prospekte Werbungen Pamphlete Mitteilungen deren Flut den Zweifel an der Wirklichkeit dieser »Wirklichkeit« verschwemmt. (Kollege Nabokov sagt man dürfe dieses Wort nur zwischen Anführungszeichen verwenden.) Auch ich kann mich der Hypnose durchs Gedruckte nicht entziehen. Die Magie der Runen ist mächtig. Ich richte meine Auflehnung gegen ihren vermassenden Träger: das Papier. Bisweilen versetzt mich dessen wahnwitzige Vergeudung in Wut. Ich stopfe in den Kamin was mir unter die Hände kommt. (Niemals Bücher: sie brennen schlecht.) Hinfälliges Bemühen auch mit dem was aufloht.

Meine Autodafés läutern mich nicht. Ich bin den Druckbuchstaben verfallen. Selbst hier in der kulturverschönten Wildnis der Toskana beziehen wir drei Tageszeitungen vier Wochenblätter sechs Monatszeitschriften. Oft ist der Tag um bevor ich seinen Niederschlag in Druckerschwärze aufgesogen habe. Dazu sorge auch ich für die Herstellung von Makulatur. Auch ich gehöre zu den berufsmäßigen Papierbesudlern. Auch ich versuche mit Runen »Wirklichkeit« hervorzuzaubern. Allerdings bewusst fiktive. (Ob das entschuldigt steht dahin.) Jedenfalls gehöre auch ich zu den Magiern die mit Hilfe von Rotationsmaschinen Fetische produzieren. Dass ich mich als ein solcher ernst zu nehmen habe ist Pflicht. Ich schulde das B. Sie liebt mich. (Den Schriftsteller.) Die angestrebte Vernunft der gesundheitserhaltenden Lebensführung soll vor allem dazu dienen dass ich möglichst viel und gut (und erfolgreich) schreibe. Ich füge mich gern. Mein Schreiben ist mein Leben. Das Herstellen einer fiktiven Wirklichkeit liegt mir im Wesen. Träumer von Gemüt. Taschenspieler von Geblüt. (Oder umgekehrt.) Also stelle ich mir meine abstrakte Welt her. Papier ist geduldig. Darauf habe ich mir die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« erschrieben. Ich erfülle sie gewissenhaft. Ich schreibe regelmäßig (wenn ich nicht lese).

Es gibt allerdings auch Augenblicke – vielmehr: Stunden Tage – in denen ich dazu nicht fähig bin. (Als ich um die Hand meiner ersten Gattin Priska Klara anhielt – Ansatz zur Fehlgeburt einer bürgerlichen Existenz – und meinem präsumtiven Schwiegervater gestehen musste ich sei Schriftsteller blickte er bekümmert an seiner Nase entlang und sagte. »Und was machen Sie wenn Ihnen nichts einfällt?«) Das braucht mich heute nicht zu ängstigen. Ein halbes Jahrhundert des irrenwärterlichen Umgangs mit mir selbst in Arbeitspsychosen (so lange schreibe ich schon: ein halbes Jahrhundert!) hat mich Geduld gelehrt. B. ist alles andere als geduldig; umso bewunderungswürdiger ist ihre Nachsicht. Ich beschwichtige sie mit Gleichnissen (die sie durchschaut). Eine fragwürdig bildhafte Analogie hat mir meine Pupillengymnastik nahegelegt. Die Stunden und Tage der Arbeitsunlust Einfallslosigkeit und Gedankenleere (sage ich) könnten meiner Schaffenskraft so zuträglich sein wie dem Gelände hier die Schluchten die es vor der Bedrohung durch Zement und Mörtel bewahren. (Appell ans Romantische: B. hält's mit den Grünen.) In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Ich fülle die sterilen Zeitstrecken mit Lesestoff. Ohne Schonung meiner Augen stopfe ich sechzehn achtzehn Stunden des Tages voll mit den fiktiven Welten anderer produktiver Nabelbeschauer. Ohne Rücksicht auf das was ich fürchten sollte: die literarische Ansteckung. Die Wirklichkeitsherstellung aus behaupteten Wirklichkeiten. Fiktives aus Fiktivem gezeugt. Literatur aus Literatur. (Wenn möglich aus der Zeitung aufgelesener.) Inzestuöser Intellektueller. (Kollege Gombrowicz hat gesagt er trete lieber als ein falscher Graf auf denn als Intellektueller.) Ich weiß dass ich zu den Wirklichkeitsschwindlern gehöre. Auch ich ein Schamane der Runenkunst. Aber an der landläufigen Augenauswischerei möchte ich mich nicht ohne ein Zwinkern beteiligen.

Das lässt mich an Ugo Muías denken. Seine Sucht die Fotografie vom Fotografischen zu läutern. Vom Schwindel des Fiktiven den sie im Nimbus der Objektivität noch täuschender vollführt als die anderen Künste. (Die Unwirklichkeit der Wirklichkeit.) Er zog nicht nur das aufgenommene Motiv ab sondern gleich auch das Bild des Films auf dem es festgehalten war. Am liebsten hätte er die Kamera mit aufgenommen und dahinter sich selbst: als Denunziant des Auges das dem Objektiv verwehrt objektiv zu sein. Ich erinnere mich an ein solches Selbstporträt. (Ich besitze es nicht: ich bin kein Sammler von Souvenirs.) Sein Etruskerkopf: das beinah slawische Knabengesicht mit dem volllippigen Mund der kurzen aufgeworfenen Nase den hohen Backenknochen und weit auseinandergesetzten sacht geschlitzten Augen (»die breite Stirn bekränzt von hyazinthnert Locken« heißt's doch wohl). Ein junger Waldmensch: Faun. Im Museum in Volterra ist ein solcher Kopf zu sehen. Er krönt eine schmale Klinge aus grün patinierter Bronze. Ein gut entwickeltes Geschlechtsteil auf der Vorderseite und auf der Rückseite die schwungvoll angedeutete Linie einer Wirbelsäule sowie an derBasis ein naturalistisches Paar nackter Füße machen's augenfällig dass es die Gestalt eines Jünglings ist. Abstrahiert und lang gezogen wie eine Skulptur von Giacometti. Sie heißt Ombra della sera: Abendschatten; und etwas Abendschattiges lag über Ugos scharfäugiger Milde: eine sanfte Trauer die von seiner Lebendigkeit aufgeheitert aber nie verbannt war. Wie liebenswürdig er war hat sich in New York herausgestellt. Er war dorthin gekommen um die Protagonisten der amerikanischen Kunst-Epiphanie zu fotografieren: Rothko und Barnie Newman Stella Jim Dine Oldenburg und Rauschenberg Lichtenstein und Jasper Jones (Pollock war schon tot) – kurz: the New York art scene der sechziger Jahre. Er sprach keine Silbe Englisch und kroch als ein lächelnder Taubstummer knipsend in ihren Ateliers herum und sie liebten ihn alle und beschenkten ihn mit ihren Werken obwohl schon damals deren Preise Nullen ansetzten wie Karpfen Laich. Mir hat er einmal die Geschichte seines Vaters erzählt: Ein carabiniere den's aus Sardinien in die Lombardei verschlagen hatte und dessen Traum es war ein Stück Land zu besitzen und darauf seine Familie gedeihen zu sehen. Der Traum erfüllte sich; aber in die Quere kam ihm der andere: aus seinen Kindern studierte Leute zu machen. Das war kostspielig; längst bevor sie ausgebildet waren kam der kleine Besitz unter den Hammer. Ugo erzählte das lächelnd: unstillbar milde Trauer in den Augen. Es war noch in den Tagen bevor er erkrankte. Einmal hat er uns hier besucht. Das Haus war weit entfernt von der unperfekten Perfektion vor Kurzem (vor dem devastierenden Ansatz zur endgültigen Perfektionierung). Es war noch überschattet von zwei riesigen Ulmen die dann beim allgemeinen Ulmensterben in den späten Siebzigern eingegangen sind. Der Turm war ein Stummel. Ugo ging mit seinen scharfsichtigen träumerischen Augen herum und vergaß beinah zu fotografieren. Es gab damals noch einige verlassene case coloniche in der Gegend (Landflucht der sieben fetten Jahre industrieller Prosperität). Er spielte mit dem Gedanken eins für seine Töchter zu kaufen. Ein Hindernis war nur dass sie zu weit von ihren Schulen sein würden. Bald danach erkrankte er.

Die frühen Gefährten hier: Ugo und Bruce. Die Frühverstorbenen. Die Frühvollendeten. Jünglingsopfer auf dem Altar des Großfetisches Kunst. Trotzdem. (Was ich wohl damit meine?)

Der König erstaunte gewaltig und sprach: »Dies ist etwas, über das man nicht Schweigen bewahren kann, und mit diesem Fisch hat es irgendeine besondere Bewandtnis.«

AUS DER ZWEITEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Unter meinen Freunden ist keiner der mich nicht um diesen Ort beneidet. Ich führe jeden ins höchste Turmzimmer. Die Aussicht dort ist stupend. Ringsum ist nur unbebautes Land zu sehen, schütter eingestreut eine Handvoll Häuser in der Richtung zum Arnotal, das nächste einen Fußmarsch von einer halben Stunde entfernt. Südlich sind es in der Luftlinie von einem Dutzend und mehr Meilen nur zwei Gebäude: der skurrile Maurenpalast von Sammezzano ziegelrot ins Nadelholzdunkel seines Parks gesteckt wie der Kamm ins Haar einer Andalusierin; und einen weiteren Sprung dahinter der Torre del Castellano einfältig wie die Kinderzeichnung einer Ritterburg: winzige rauchblaue Silhouette im luftigen Taubenblau das der Pratomagno an den Saum des Himmels malt. Beides, Maurenpalast und Ritterburg sind historische Fälschungen. Das Maurische von Sammezzano ist das Produkt der Orientmode um 1850 welcher ein damaliger Besitzer (der sich für einen Nachkommen der Aragon ausgab) allzu eifrig folgte. Die Ruine des Torre del Castellano wurde nach 1945 von einem lokalen Liebhaber aufgekauft und streng mittelalterlich hergerichtet. Doch das tut der Pracht des Panoramas keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es italienisiert das Etruskerland.

Ich breite es mit einladender Handgebärde vor meinem Gast aus. Bitte sich zu bedienen: Jede Menge Toskana. Mutterland architektonischer Hochkultur. Auch botanisch: Auf erhabeneEffekte angelegte Friedhofsvegetation: Lorbeer Pinien und Zypressen über den violetten Hellebarden der Wunderblumegladiolo, der Iris im Florentiner Wappen. (Bei uns wühlen die Stachelschweine die Knollen rascher aus der Erde als wir sie nachpflanzen können.) Eine Landschaft voll kunsthistorischer Anzüglichkeiten. Hier und dort ein schiefes Bauernhaus der macchiatoli. Hier und dort auf einer Hügelkuppe eine michelangeleske Villa (Weinflaschenvignette); hier und dort eine Böcklinsche Toteninsel in Heckenrosen eingesponnen. Auch die Hügelzüge sind eine Täuschung. In Wahrheit ist's ein belebt welliges Gelände das aus dem Arnotal aufsteigt und durch die krassen Abstürze gebirgig wirkt. Allerdings mit der Dramatik einer Manieristenlandschaft. Das war einmal zäh dem kargen Boden abgerungenes Bauernland. (Die wundervolle Sparsamkeit der toskanischen Baukunst kommt ja bekanntlich aus der Armut.) Die gegenwärtige Verwilderung ist ein Ergebnis industrieller Blüte. Hastige Landflucht der fünfziger und sechziger Jahre. Ich deute auf die hellen Tönungen im Tarnkleid des bosco: das silbrige Flimmern des Laubs der überwucherten Oliven die noch nicht erstickt sind im Gefilz aus Efeu und Brombeerranken. Weingärten und Ölgärten einstmals; jetzt sich selber überlassen, kein Narr gibt sich mehr mit der Bestellung ab. Tant mieux pour nous

und dann fragte ich meinen Gast ob diese ökologisch nicht ganz einwandfrei aus der dereinstigen Zähmung wuchernde Schönheit auch ihn so irritiere wie mich? Ob nicht auch er den Eindruck habe das sei inszeniert um eine Daseinsmöglichkeit vorzutäuschen die keiner Wahrheit entspricht? Der vorangegangenen noch weniger als der gegenwärtigen. Ich für mein Teil traue meiner Herrlichkeit hier nicht. Abgesehen von dem was dahinter lauert: die Supertanksteilen der Autobahn die zwar zu fern ist um sie tagsüber zu sehen nachts aber als ein glitzernder Wurm aus den indigoblauen Hügelausläufern kriecht und sich südostwärts verschlängelt. Die bald gänzlich von Blechfahrzeugen verstopften alten Städte: Figline San Giovanni Montevarchi Arezzo. Bröckelndes Mauerwerk über Konfektionsboutiquen und Elektroläden; Proletarierjugend in Lederjacken auf tosenden Krafträdern; wappenüberkrustete gotische Rathäuser eingesponnen ins wirre Netz der Leitungsdrähte; und ringsumher die Metastasen der schundigen Neubauten Fabrikhallen Garagen; die Räude der Bauplätze Müllhalden. Das wüste Werkgelände zur Schaffung einer immer perfekteren Welt – das zu bejammern, sage ich, ist hinfällig ist peinlich nachzüglerisch. Das Lamento über eine Welt die so eigenmächtig über ihren idealen Entwurf hinausgeraten ist dass dessen Sinn sich in sein Gegenteil verwandelt hat füllt ohnehin meine drei Tageszeitungen vier Wochenblätter und sechs Monatszeitschriften. (Spalte an Spalte mit glanzpapierbunten Ermunterungen irgendwas zu kaufen was die Weiterentwicklung ins Katastrophale beschleunigt – Herr vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tun!) Wir aber klagen an. Wen? Wie als wären wir tatsächlich bereit auf unsere Wasserspülung zu verzichten um die heile Gottesnatur wiederherzustellen – wir rastlose Passagiere donnernder Flugzeuge: wir schnöde Kinder der einen erdballumfassenden steinernen Megalopolis die sich für uns allabendlich ins Feenreich der Myriaden Glühbirnen verwandelt – ich kann nur kichern sage ich. Die Toskana! Langhornige weiße Ochsen vor schwer unter Traubenlast schwankenden zweirädrigen Karren – nicht wahr? Jauchzende Winzer bei der Lese: Ja ja der Chiantiwein! Auf Folklore kann verzichtet werden. Naturschutzgebiet ohne Abfalleimer für Plastiktüten Blechdosen und ausgeschossene Schrotpatronenhülsen (sie liegen frei herum). Heile Gottesnatur der Bauvorhaben. Ausnahmslos von Ferienhausbesitzern Pensionisten englischen Militärs im Ruhestand weltflüchtigen Kunstschaffenden besiedeltes Hedonistenreservat. Solcherlei Schlupfwinkel gehören zu unseren Lebenslügen und ich frage mich wie lange es dauern werd bis unsere Brüder und Schwestern aus dem endlich befreiten Osten sie durchschauen werden. Mit ihnen werden wir in nächster Zeit zu rechnen haben. Sie haben ihre Lüge leben müssen und sich schließlich tapfer dagegen aufgelehnt. Heldenhaft (mit besseren Konsummöglichkeiten und Ferienzielen imAuge) haben sie das Joch des nachsichtslos perfektionistischen Willens zur Gestaltung einer idealen Welt abgeworfen und suchen nun bei uns die Wahrheit. Werden sie willig von uns lernen wie man sich auf sublimere Weise belügt?

Sie rühren mich zu Tränen, die Schwestern und Brüder aus dem Osten, sage ich. Ich habe einen Blick in ihre Misere getan. Ich meine die Misere ihrer vermeintlichen Befreiung. In Rumänien, zum Beispiel. Wenige Tage nach dem Sturz (und der Ermordung) Ceauşescus. In der blutigen Morgendämmerung der Freiheit, die einen schwer bewölkten Tag versprach. Als die Helden der sogenannten Revolution zu begreifen begannen dass es nicht ihre Revolution war. Dass es gar keine Revolution war. Ein schlichter Betrug. Ein Theatercoup zur Kaschierung der bösen Wahrheit. Zehn Tage habe ich den taschenspielerhaft konfusen Bemühungen zugeschaut angeblich einige Ordnung ins absichtlich hervorgerufene Chaos zu bringen. Herausgekommen ist dabei notwendig wieder die nachsichtslose Alte: Irgendwer musste ja Ordnung machen – und außer den alten Ordnern war eben keiner dazu da. Also musste alles zwangsläufig beim alten bleiben. In den Trümmern einer ruinierten Stadt eines restlos ausgeplünderten Landes einer durch und durchkorrumpierten und nun auch ideologisch sterilisierten Gesellschaft. Auf dem Buckel eines seit eh und je zu stumpfem Erdulden geknechteten Volks in dem es gottbehüte gären könnte. (Nicht allzu bedrohlich allerdings. Die Ordner haben die Dinge in der Hand.) Unmittelbar danach hat's mich nach Köln verschlagen wo ich sechs Tage lang hinter Prinz Karneval und seinem Gefolge hergefahren bin. Dort durfte ich zuschauen wie die Deutschen sich bemühen zur Zerstreuung launiges Chaos zu organisieren. Zur Entspannung der überforderten Nerven in einer straff verwalteten Wohlstandswelt die kein Risiko scheut um die Wohlstandsmöglichkeiten der weniger wohlstehenden Schwestern und Brüder aus dem endlich befreiten deutschen Osten profitabel aufzukaufen. Sechzehn Tage sind nicht viel zu Beobachtung und Vergleich. Immerhin genügend um nach Kollegen Nietzsche rasch und möglichst tief zu tauchen. (Die Tiefe war nicht mein Verdienst: die Umstände haben mich niedergedrückt.) Danach war ich in Indien wo die Begegnung mit der MUTTER von Pondicherry mich zu noch verwirrterer Nachdenklichkeit angeregt hat; und danach wieder einmal im Krankenhaus. 1990 war ein ereignisreiches Jahr. Für mich auch ein erlebnisreiches. (Nicht alle Ereignisse gehen uns nah.) Und zunächst hatten auch mir meine Erlebnisse nichts miteinander zu tun. (Obwohl doch alles auf ein und dasselbe hinausläuft.) Ist es verständlich, frage ich dass ich auf dem Aufbrechen des Frühlings hier und in Osteuropa und überall sonst wo in dieser beschleunigt ihrem Untergang entgegenstrebenden Welt mit zwiespältigen Gefühlen zuschaue? Miterlebend gewiss; mitleidend sogar. Aber in der entfremdenden Neugier dessen der's unternimmt dieser unglaubwürdigen Wirklichkeit eine fiktive entgegenzustellen. Popliteratur. Und wäre sie auch noch so schön und künstlerisch wohlgeraten …

und während ich mich daran weide wie mein Gast sich aus der Antwort windet brenne ich vor Ungeduld ihn loszuwerden. Mich ödet mein eigenes Geschwätz an. Ein Allerweltsgeschwätz wie's in der Zeitung steht. Ich kann's kaum erwarten allein zu sein und meine Lesebrille aufzusetzen um einzugehen in die holde Irrealität der Buchstabenwelt: immer noch der lauschigste Winkel im Limbo der Beziehungslosigkeiten.

Und als er näher herankam, fand er einen Palast, gebaut aus schwarzen Steinen und belegt mit Eisenplatten, und einer der Flügel des Tores stand weit offen, während der andere geschlossen war.

AUS DER DRITTEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Der fragwürdige Frühling vor meinen Fenstern ist ein Geschenk des März. (Ein Lied aus Kindertagen, das mein Vater trällerte: »Die Pappeln dort auf der Chaussee wiegt schon der Märzenwind; mein Wintertraum zerfließt wie Schnee, der von den Dächern rinnt …«) In der Tat ist noch kein Monat vergangen seit das Wetter entschieden winterlich war. Entsprechend dem was hier Winter heißt: Eisregen im Nebel; manchmal zaust böser Wind die Oliven. Es hat mich nicht angefochten; ich hab' den Fuß nicht vor die Tür gesetzt. Ich klebe am Fernsehschirm. Ich klebe daran seit dem Januar 1991. Was sich damals darauf abgespielt hat (als spielte sich's hier tatsächlich vor meinen Augen ab und nicht einige Tausend Meilen ostwärts im Fabelland Arabien) war der Golfkrieg. Ein Wintertraum der Medien der nicht mit dem Schnee zerflossen ist sondern im Nebelgrau des Flimmerschirms. Die Faszination des vorgezauberten Geschehens war betäubend. Ich sagte mir: Das ist nun endlich wirkliche Wirklichkeit. (Wenngleich nicht meine hier.) Ich stürzte mich hinein. Meine Bücher ließ ich liegen. Das Reich der sieben Säulen der Weisheit war in mein Zimmer gekommen. Lawrence of Arabia's Abenteuer fanden ihre konsequente Fortsetzung vor meinen Augen. Was ich sah war welthistorisches Geschehen: Der irakische Diktator Saddam Hussein hatte Kuwait besetzt und ist (wie inzwischen jedermann sattsam weiß) nach ausgiebigem Bombardement durch Mr. Bushs »Wüstenschild« und Fünf-Sterne-General Schwarzkopfs »Wüstensturm« wieder hinausgefegt worden. Fürs Fernsehen und meine drei Tageszeitungen vier Wochenblätter und sechs Monatszeitschriften beispielhaft das was im journalistischen Fachjargon (der unsereSprache immer üppiger durchdringt) ein scoop heißt. Doch welch jämmerlich falsch gefurzter! Ich schaute mich von einer Enttäuschung in die andere. Die Bilder waren lebensmuterstickend nichtssagend. Die Kommentatoren bemühten sich den Sensationswert aufzuheizen. Geschwätz ist die gewohnte Geräuschkulisse zum bewegten Bild. Und das hätte sich verstecken müssen. Anfangs stundenlang nichts anderes als aufsteigende und landende Flugzeuge. Wie im Kino wenn man glauben soll Held oder Heldin hätten sich an einen anderen Ort begeben. Aber wenn sie dort gelandet sind geschieht gewöhnlich irgendwas. Hier nicht. Es waren Bomber, wo hatten sie ihre Bomben abgeladen? Dank CNN sah man's dann endlich: Bagdad (die Stadt des Kalifen Harun ar-Raschid) bei Nacht. Kohlpechrabenschwarze Finsternis fern gesäumt von Elmsfeuern. Na schön: das hatte unsereiner von 1940 bis 1945 an Ort und Stelle (wenn auch einige Tausend Meilen westwärts: in Berlin) unvergleichlich viel dramatischer und geräuschvoller erlebt. Wirkliche Wirklichkeit. Hier war's abstrahiert. Gelegentlich sah ich was von oben: infrarot aufgenommen ein schemenhaftes Bombenziel im Fadenkreuz der (offenbar unbehelligten) Angreifer. Mehlig grauschwarz wie auf einem unterbelichteten Negativ. Ein unbestimmtes Etwas plötzlich ausgelöscht von einem draufgepatzten Schneeball. Das – sagte mir der Kommentator – war der Bombeneinschlag. (Und was da unten lebendig gewesen war hatte a snowball's chance in hell: Ebenso wie ich um 1943 in Berlin.) Jetzt und hier blieb's ein schattenhafter Vorgang. Eine Art Graupause des Entsetzlichen. (In meinem Turmzimmer war's gemütlich: ein flottes Feuerchen brannte im Kamin und ich hielt das Glas mit meinem Abendwhisky in der Hand.) Nur einmal belebte das abstrakte Kriegsgeschehen sich putzig: ein ameisenhaft winziges Männlein das gerade noch über den letzten Zipfel einer Brücke rannte bevor auch sie unter einem draufgepatzten Schneeball verdampfte. Endlich the human touch. Das wurde denn auch fleißig wiederholt. Desgleichen ein ölverschmierter Kormoran: Zeuge der satanischen Umweltverachtung eines brutalen fremdrassigen! Zwingherrn. Sodann die ölbeschwerten Gewässer des persischen Golfs. (Sindbads See wimmelnd von juwelengleichen Fischen. Scheherezades Welt: Smaragda und Rubinien und Tale von Türkis. In Petroleum erstickt.) Dass die Macht des Unholds gebrochen und er von Gottes Erdboden gefegt werden musste war Ehrensache aller zivilisierten Nationen. Und eben das wollte ich sehen. Das war mir versprochen worden. Das wollte ich – verdammt noch mal! – augenfällig erleben. So wie seinerzeit den Bombenhagel auf Berlin. The deadly human touch. Das hier war Betrug. Das Missverhältnis zwischen angeheizter Erwartung und kümmerlich vermitteltem Geschehen war ärgerlich. Die zoologische Gattung Mensch kam ihrem Schöpfungsauftrag allzu lässig nach.

Die Medientaktiker schienen das zu spüren. Gewöhnlich tanzt die Weltstimmung auf den scoops wie ein Pingpongball auf einem Wasserstrahl; sprudelt der nicht deftig so stürzt sie ab. Mr. Bushs innenpolitische Chancen standen auf dem Spiel. Die Medien taten nicht ihr Bestes. Sie stopften die Lücken im Bild mit müßigem Geschwätz. Alle halben Stunden schalteten Kommentatoren sich ein und redeten mit ernstgefassten Mienen theoretischen Stuss. Situationsanalysen. Fachleute am abstrakten Werk. Aus ebenso fernabliegenden Orten erstatteten Reporter nichtssagende Berichte. (Man ließ sie angeblich nicht näher ran.) An runden Tischen waberte dafür der Wortbrei vollzeitlich engagierter Intellektueller: Die ethischen moralischen politischen wirtschaftlichen völkerrechtlichen völkerpsychologischen Aspekte des Ereignisses. Sie waren mir bekannt. Wo war das Ereignis? Ich sah's verschwinden in den sonnenlichtverhüllenden Wüstensandfahnen die abrasselnde Panzer hinter sich herzogen. Würden sie bald irgendwo auf Saddam Husseins mörderische Verteidigungslinien treffen? Wenn ja so blieb's mir vorenthalten. Nichts was im einschlägigen Deutsch action heißt. (Wie das gemacht wird beschreibt Ryzard Kapuscinski in seinem »Fußballkrieg«: »… Gregor Straub von NBC verlangte die Nahaufnahmen des schweißüberströmten Gesichts eines Soldaten; Rodolfo Carillo von CBS bestand auf einem Kommandierenden, der weinte, weil er seine gesamte Einheit verloren hatte;

ein französischer Kameramann wünschte sich den Angriff einer salvadorianischen Einheit in die Flanke einer honduranischen – oder umgekehrt; ein anderer wollte einen Soldaten, der seinen toten Kameraden trug … Die Radioreporter stimmten ein. Einer verlangte die Hilfeschreie eines Verwundeten, leiser und immer leiser werdend, bis zum letzten Atemzug …«) Hier vor meinen Augen (und Ohren) nichts dergleichen. Nix Äckschn. Dieser Krieg ging entweder gar nicht oder so abseits von fesselnder Berichterstattung vor sich dass ich den Einsatz von Saddam Husseins Giftgranaten und Höllenraketen geradezu herbeiwünschte.

Irgendwas stimmte nicht an der Sache. Es waren doch die Medien – allen voran das Fernsehen – gewesen die sich den scoop dieses Wüstenzaubers aufgebaut hatten. Sie hatten uns auf den Wasserstrahl ihrer weltgeschichtlichen Neuigkeit gesetzt. (Jedenfalls hatten die irakische die saudi-arabische die israelische die amerikanische Mr. Bushs der seinen Blumenkrieg brauchte und weiß der Geier noch wessen Diplomatie sich ihrer zu diesem Zweck bedient; alle Welt war vielfach interessiert am Konflikt beteiligt.) Der Wasserstrahl war losgelassen aber leider gedrosselt; wir konnten darauf nicht tanzen. Vor meinen Augen verflüchtigte die Sensation (und vermutlich damit auch der Zweck) sich unter ungeschickten oder irgendwie gebundenen Händen. Ich bin ein alter Hase im Gewerbe. In prähistorischen Zeiten – von 1946 bis 1956 – habe ich mit dem Rundfunk herumgespielt. In Hamburg an der Elbe. Vorangegangene historische Ereignisse – die Abtretung der Bukowina an Russland der Zweite Weltkrieg und so weiter – hatten mich dorthin verschlagen. Ich wurde Rundfunkjournalist. Dort zwar nicht im beinharten Konkurrenzkampf mit anderen Sendern wie heute in der kommerzialisierten Weltberichterstattung sondern in der lauschigen Höhlenzeit des deutschen Medienwesens: Als wir noch allein waren auf dem flachgebombten Feld. Immerhin vermittelte auch das einige Einsicht in handwerkliche Geheimnisse: Wer einen scoop wittert muss ihn sich aufbauen wie ein Schwergewichtsmeister seinen Gegner in der Ringecke. Dann aber in die Fresse was das Zeug hält. (Nämlich in die Schnauze des Medienkonsumenten.) All right. Aber das Gegenteil davon war hier der Fall. Ich stand freiwillig in der Ecke und wartete vergeblich auf die hits. Irgendwie war der Laden schief. Was sich ja dann herausstellte: als die Mutter aller Schlachten mit der Sturzgeburt eines Pyrrhussieges niedergekommen war. Das war so flugs und sozusagen unter der Hand vor sich gegangen dass selbst den atemlos hinter dem Geschehen herhetzenden Kommentatoren und Runde-Tisch-Schwätzern die reale Gegenwart in eine irreale Vergangenheit entglitt. Geschehen war etwas durchaus Abstraktes. Niemand begriff recht was es eigentlich gewesen war. Sinnlich war's nicht fassbar: Ein Krieg in dem's kaum einige Dutzend eigener Toter (die Mehrzahl davon durch Verkehrsunfälle und eigenes Feuer) gegeben hatte und nur gerüchteweise mehrere Hunderttausend des Gegners. Aber von diesen hätte ich gern – verdammt noch mal! – einige angehäuft gesehen. Als Zeugen der gerechten Sache. (Wenn's das wahrhaftig gewesen sein sollte.) Handelte sich's nicht um ein ethisch und moralisch einwandfreies und von den vereinten Nationen der zivilisierten Welt gutgeheißenes und in jeder Weise (auch der des Verhungernlassens der zu befreienden Unterdrückten) unterstütztes Unternehmen? Emotiv ließ sich das nicht ganz zusammenreimen. Was fehlte war das Bildhafte. Das Greifbare: Das Begreifbare. Das sogenannte »Wirkliche«. Der erfüllte Schöpfungsauftrag unserer Gattung. Ohne die einstige Lebenswirklichkeit der Hunderttausend von Feindtoten war dieser drôle de guerre abstrakt. Ohne die Evidenz ihrer aufgehäuften Kadaver existierten sie nur für die Statistik. Zwar wollte man mich später dafür entschädigen: Mit Bildern der Vernichtung von Fahrzeugen der abziehenden und flüchtenden Truppen und Okkupanten aus dem Kuwait. Grauenhaft zerstörte Wagenkolonnen aus denen hauptsächlich die Identifizierung des gegenwärtigen Menschen mit seinem Vehikel zu entnehmen war. Auch dies war nicht unbedingt ein Mittel mir das ferne Geschehen nahzubringen. Ich blieb mit bangen Fragen zurück. Warum hielt man die Wirklichkeit versteckt? War's Verlegenheit wegen eines blamablen overkill? Wo war Saddam Husseins infernalische Kriegsmaschine verblieben? Aufgespart für den nächsten scoop? Bis der morgenländische Teufel imstande war wirklich tödliche Waffen einzusetzen? Ex oriente lux– auch wenn's das Licht eines Atomblitzes war? Hatten die Medien sich ihren scoop so aufgebaut dass sie mir damit endgültig die Schnauze einschlagen konnten? Seit sie imstande waren Weltgeschichte live ins Haus zu bringen (gleichviel in welcher abstrakten Form) waren sie vermutlich auch darauf aus sie möglichst atemberaubend wirklich herzustellen. Endgültig atemberaubend. Ich und meinesgleichen würden sie gutgläubig konsumieren. Wirklichkeitsgierig. In einem Zustand entrückter Teilnahme wie in einem sachten Drogenrausch. Anteilnehmend am Geschehen in einem Niemandsland zwischen den Wirklichkeiten. Gleichzeitig beschwingt und gelähmt. In einer Sphäre der Überwirklichkeit, die mich über mich hinaushebt. Sie passt zu meiner Existenz hier in meinem Turmzimmer in der Toskana wie die Faust aufs Auge. Aber sie passt.

Da bemerkte Scheherezâd, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die Zehnte Nacht anbrach, sprach ihre Schwester Dinazâd: »Erzähle uns deine Geschichte zu Ende« und sie antwortete: »Mit größter Freude …«

Ist's nicht verwunderlich dass ich noch Bücher lese? Gar Bücher schreibe? Unheilbar betört vom Zauber der Runen? Götzendiener ebenso wie Opfertier der Druckbuchstaben? Tapfer mein hauseigenes Dämonenreich verteidigend gegen das Entfesselte der angeblichen Wirklichkeit? (Bruce Chatwin: In »Traumpfade« hat er das Geheimnis Pulcinells verraten: Der Dichter ersingt sich die Welt.) Mutiger Nabelbeschauer. Tapferer Tempeldiener des Großfetischs Kunst. Heldenhaft ankämpfend gegen das Schattenspiel der Gegenwart die unwirklicher ist als alle auf dem Papier heraufbeschworene. (Kollege Thomas Manns »raunender Imperfekt«– welch alter Hut!) Ich für mein Teil mache mir nichts vor. Ich weiß: ich stehe auf verlorenem Posten. Nicht so heroisch wie die Frühvollendeten. Schlauer. Genüsslicher. Hedonist im Hedonistenwinkel. Offenäugiger Epochenverschlepper. Ein Literat des neunzehnten Jahrhunderts an der Schwelle des einundzwanzigsten. Später Weitersinger. Vom Runenkult zum Betrug verleitet. Aber nicht zum Selbstbetrug.

Cogito, ergo sum.