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JULIA DECK

Viviane Élisabeth Fauville

Roman

Aus dem Französischen
von Anne Weber

Verlag Klaus Wagenbach    Berlin

Die französische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Viviane Élisabeth Fauville bei Les Éditions de Minuit in Paris.

E-Book-Ausgabe 2013

© 2012 Les Éditions de Minuit

© 2013 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach,

Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Umschlaggestaltung Julie August unter Verwendung einer eigenen Fotografie.

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978 3 8031 4135 4

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 3251 2

Ich bin, seit ich bin, hier, da meine Auftritte
anderswo von Dritten bestritten wurden.

Samuel Beckett, Der Namenlose
übersetzt von Elmar Eophoven

1

Das Kind ist zwölf Wochen alt, und sein Atem wiegt Sie im ruhigen und gleichmäßigen Rhythmus eines Metronoms. Sie sitzen beide auf einem Schaukelstuhl inmitten eines gänzlich leeren Zimmers. Die von den Umzugsmännern aufeinandergestapelten Kisten säumen die rechte Wand. Aus dreien davon, den oberen, die offenstehen, wurde das Allernötigste entnommen, Gebrauchsgegenstände für Küche und Bad, ein paar Kleider und die Babysachen, die zahlreicher sind als Ihre. Das Fenster hat keinen Vorhang. Es scheint an die Wand genagelt wie eine Skizze, eine reine Perspektivstudie, auf welcher die der Gare de l’Est entkommenen Gleise und Oberleitungen die Fluchtlinien darstellen.

Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wiederaufzunehmen, aber jedesmal, wenn Sie eine zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächsten nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächtnis ist.

Offen gestanden sind Sie nicht einmal mehr sicher, vorhin in jene Wohnung zurückgekehrt zu sein, die Sie seit Jahren heimlich aufsuchen. Konturen und Mengen, Farben und Stil verschmelzen in der Ferne. Hat es diesen Mann, der Sie dort empfing, überhaupt gegeben? Außerdem, wenn Sie sich etwas vorzuwerfen hätten, säßen Sie doch jetzt nicht untätig da. Sie würden umherirren, Ihre Fingernägel unter die Lupe nehmen, und die Schuldgefühle würden Ihre Entscheidungsfähigkeit lähmen. Doch davon keine Spur. Trotz jener Unschärfe, die in Ihren Erinnerungen herrscht, fühlen Sie sich sehr frei.

Ihre Hüften halten inne, hören auf, ihre Bewegungen auf den Schaukelstuhl zu übertragen. Sie bringen das Baby ins Nebenzimmer. Dieser Raum ist ein wenig mehr eingerichtet. Auf der einen Seite des Fensters steht ein schmales Bett – unter dem umgeschlagenen Laken ist die Decke straff gespannt – und auf der anderen die Wiege. Das Kind protestiert kaum, als Sie es auf den Rücken legen, und schläft gleich wieder ein. Sie werfen einen Blick ringsum, richten die Kleiderstapel wieder auf, hinter denen sich unter dem Fenster eine Holztruhe verbirgt, glätten das Kleid, das vorne an einem metallenen Kleiderständer hängt, der auch alle Ihre Mäntel und Hosen für den Winter trägt. Die Pullover türmen sich auf dem Gitter über der Kleiderstange, die Pumps und Stiefel warten paarweise zwischen den Rollen.

Die zwei Zimmer und das Bad sind vom Flur aus zu erreichen. Das Bad befindet sich am Ende des Flurs, ein winziger Verschlag, wo Ihre Knie, wenn Sie auf der Toilette sitzen, an das Waschbecken stoßen und Ihr linker Fuß an den Rand der Dusche. Farbzungen lösen sich langsam von der Decke ab. Eine Renovierung wäre nötig gewesen, aber Sie wollten so bald als möglich einziehen und haben dem Eigentümer erklärt, dass Sie die Wohnung, einmal vor Ort, selbst instand setzen lassen würden, wenn er Ihnen eine Monatsmiete nachließe. An der Küche gibt es nichts auszusetzen. Die unter der Arbeitsfläche aus Granitimitation eingebauten Elektrogeräte sind der letzte Schrei, und zusammen mit den strahlenden Rohren und Hähnen und den funkelnden Kacheln rechtfertigen schon sie allein die exorbitante Miete.

Sie nehmen zwei Eier aus dem Kühlschrank und eine Schüssel aus dem Schrank über der Spüle, um ein Omelett zu schlagen. Man glaubt, ein Omelett müsse homogen sein, und man irrt sich. Die Kunst besteht darin, dem Gelb einen Hauch Weiß einzuflößen und das Ganze genau zum rechten Zeitpunkt vom Herd zu nehmen. Sie haben oft Ihre Mutter beim Schlagen eines Omeletts beobachtet. Ihre Unterweisungen haben sich Ihnen eingeprägt, und das ist auch das Wenigste, was man erwarten kann, denn darauf beschränken sich Ihre häuslichen Talente. Sie haben studiert, eine schöne Karriere gemacht. Diese Beschäftigungen lassen wenig Zeit, eine perfekte Hausfrau zu werden. Sie bedauern das, denn in Momenten der Ratlosigkeit wären Sie bereit, auf den Erstbesten zu hören, und es finden sich noch immer Leute, die einem versichern, dass einem auf diese Weise der Mann nicht wegläuft.

Während Sie mit der Gabel die Eier verquirlen, versuchen Sie sich daran zu erinnern, was Sie heute gemacht haben. Das Baby hat Sie um sechs Uhr aufgeweckt. Eine schwache Klage erhebt sich in dem trotz fehlender Fensterläden noch dunklen Zimmer. Sie öffnen halb die Augen, murmeln eine dumme Melodie, einen jener Popsongs, die Sie mit fünfzehn gelernt haben, die einzigen Wiegenlieder, die Sie kennen. Dann machen Sie das Fläschchen warm und schlüpfen unter die Dusche, bis es die richtige Temperatur erreicht hat. Das Kind liegt in der Küche in Ihrem Arm, es trinkt und Sie denken beide an nichts mehr. Nach einigen Minuten legen Sie es wieder in die Wiege, um seine Sachen zusammenzusuchen, Ihre Haare zu kämmen, Ihre Lider mit dem Pinsel zu betonen. Zusammen gehen Sie hinaus.

Die Kinderfrau wohnt in der Rue Chaudron. Von Ihrem Haus aus, an der Ecke der Rue Cail und der Rue Louis-Blanc, geht es geradeaus, dann links, dann rechts. Die Kinderfrau beschränkt ihre Leistungen auf ein Minimum. Sie achtet darauf, dass die Örtlichkeiten peinlich sauber sind, betreut das Kind auf untadelige Weise und verausgabt sich nie mit unnötigen Höflichkeiten. Das ist Ihnen durchaus recht so. In einem Monat nehmen Sie Ihre Arbeit wieder auf, und die Kleine muss sich daran gewöhnen, ein wenig ohne Sie auszukommen.

Bis um zwei Uhr nachmittags sind Sie mit Formalitäten beschäftigt, die den Umzug, die Scheidung, das Kindergeld für Alleinerziehende betreffen. Sie kaufen auch ein paar Kleidungsstücke, gehen zum Friseur, wo Sie die Dienste der Maniküre, die Ihnen angeboten werden, in Anspruch nehmen. Früher, als es noch so aussah, als würden Sie kinderlos bleiben, mussten Sie sich häufig von Ihren Freundinnen, die schon Kinder hatten, sagen lassen, wie viel Glück Sie doch hätten, sich um sich selber kümmern zu können. Sollte das Glück sich wenden, haben Sie beschlossen, Ihrer Nachkommenschaft die Verantwortung für Ihre vernachlässigte Schönheit zu ersparen.

Das Omelett ist jetzt soweit. Mithilfe eines Pfannenwenders falten Sie es zu einem Halbmond zusammen und lassen es auf einen Plastikteller gleiten, wobei Sie auf den Tellerrand klopfen, um dieses eigentümliche Material, das so gut Porzellan imitiert, zum Klingen zu bringen. Sie haben es im Monoprix an der Gare du Nord gekauft. Ohne genauer hinzusehen, denn Sie waren zu sehr damit beschäftigt, aus dem Augenwinkel einen anderen Kunden vor demselben Regal zu beobachten. Er war ungefähr in Ihrem Alter, untersuchte die gleichen Modelle. Sie versuchten zu erraten, ob auch er notgedrungen das Familiengeschirr zurückgelassen hatte. Sie haben nicht die Unverfrorenheit besessen, ihn zu fragen.

Über der Mitte des Halbmonds schütten Sie den Inhalt einer Dose Karotten- und Erbsengemüse aus und stellen das Ganze in die Mikrowelle, ein leichter Verstoß gegen die Kunst des Omeletts, wobei Sie mit den Gedanken wieder zurückkehren zu dem, was Sie am Morgen gemacht haben. Es sieht ganz so aus, als seien Sie zu Ihrem Mann gegangen: Sie haben noch den Schlüssel, und es gibt da mehrere Gegenstände, von denen Sie gemerkt haben, dass sie Ihnen fehlen.

Die Wohnung in der Rue Louis-Braille hat sich seit einem Monat nicht verändert. Julien sagt, er werde umziehen, aber das scheint zu dauern. Übrigens wirkt es nicht so, als verbrächte er viel Zeit hier. Das Spülbecken und der Geschirrständer sind leer, im Mülleimer ist kein Plastikbeutel, und das Fernsehprogramm stammt noch von vor Ihrem Auszug. Sie holen sich ein rechteckiges Tablett, ein paar Handtücher und den Toaster. Im Schrank des zweiten Schlafzimmers – das für das Kind vorgesehen gewesen war – stoßen Sie, auf der Suche nach einer Tragetasche, um die Sachen zu verstauen, auf Ihre Hochzeitsgeschenke. Es gibt beim besten Willen keinen Grund, warum dieser Mann, der Sie so schlecht geliebt hat, den Sie so heftig begehrt haben, und der Sie derart enttäuscht hat, das achtteilige Küchenmesser-Set behalten sollte, das Ihre Mutter Ihnen zu dieser Gelegenheit geschenkt hat. Sie haben die Messer an sich genommen und in Ihre Handtasche gesteckt, daran erinnern Sie sich, und das ist schon gar nicht so schlecht. Sie essen den letzten Bissen Omelett auf und gehen zu Bett.

2

Am nächsten Morgen, Dienstag den 17. November, ist Ihr Gedächtnis wieder vollständig zurückgekehrt. Die Uhr am Fuße des Bettes zeigt 5:03. Es bleibt noch ungefähr eine Stunde, bis das Kind aufwacht, eine Stunde, um eine Lösung zu finden, um so weit es geht die überall verstreuten Scherben zusammenzukehren.

Sie sind Viviane Élisabeth Fauville, bis zu Ihrer Scheidung Hermant. Sie sind zweiundvierzig Jahre alt, und am 23. August haben Sie Ihr erstes Kind geboren, das wohl das einzige bleiben wird. Sie sind die Kommunikationsbeauftragte der Firma Bétons Biron. Das Unternehmen Biron macht hohe Gewinne, es ist untergebracht in einem achtstöckigen Gebäude in der Rue de Ponthieu, zwei Schritte von den Champs-Élysées entfernt. Empfangshostessen, so geschmeidig und klebrig wie früher die Küchenvorhangsriemen, bedeuten in der Eingangshalle den Besuchern zu warten, indem sie sie mit mehrdeutigen Trivialitäten versorgen.

Ihr Mann, Julien Antoine Hermant, ein Bauingenieur, wurde vor dreiundvierzig Jahren in Nevers geboren. Am 30. September hat er einer zweijährigen Ehehölle ein Ende gesetzt. Er hat gesagt Viviane, nachdem er zu vorgerückter Stunde von seinem angeblichen Planungsbüro zurückgekehrt war, Viviane, ich verlasse dich, es gibt keine andere Lösung, Du weißt sowieso, dass ich dich betrüge und dass ich es noch nicht mal aus Liebe tue, sondern aus Verzweiflung.

Sie haben mit vollkommener Gelassenheit den Schlag eingesteckt, der Ihnen die Rippen zertrümmerte. Kaum verkrampften sich Ihre Schultern, kaum veränderte sich der Rhythmus des Schaukelstuhls, kaum klammerten sich Ihre Finger um die Armlehnen. Er hat weiter gesagt Viviane, versteh mich, du hast das Kind, ich brauche Luft. Und außerdem kann ich dir nicht geben, was du von mir willst, vielleicht erwartest du zu viel von mir – Viviane, ich flehe dich an, sag etwas.

Sie haben geantwortet Nein, ich bin es, die geht. Behalte alles, ich nehme das Kind, Unterhalt brauchen wir nicht. Sie sind am 15. Oktober ausgezogen, haben eine Kinderfrau gefunden, Ihren Mutterschaftsurlaub aus gesundheitlichen Gründen verlängert, und am 16. November, also gestern, haben Sie Ihren Psychoanalytiker umgebracht. Sie haben ihn nicht symbolisch umgebracht, wie man irgendwann den Vater umbringt. Sie haben ihn mit einem Messer der Marke Henckels Zwilling, Serie Twin Profection, Modell Santoku, umgebracht. »Die einmalige Geometrie der Schneide bietet eine optimale Stabilität und ermöglicht ein leichtes Schneiden«, präzisierte die Broschüre, die Sie in den Galeries Lafayette studiert haben, während Ihre Mutter das Scheckheft zückte.

Dieses Messer, das zu einem achtteiligen Set gehört, haben Sie am Morgen aus Juliens Wohnung geholt. Sie haben keinen Moment gezögert, als Sie das Etui an sich genommen haben. Es ist auf den Grund der Tasche gefallen, Sie haben mit einer definitiven Geste den Reißverschluss wieder geschlossen. Dann ist etwas sehr Seltsames geschehen. Sie waren im Begriff, die Wohnung zu verlassen, Sie hatten schon die Hand an der Türklinke, als ein schwarzer Schleier auf das Zimmer niedergegangen ist. Plötzlich waren nicht mehr Sie es, die den Raum verließ, vielmehr war es der Raum, der sich um Sie herum drehte und sich von überall her hob, wobei der Boden, die Wände, die Decke in einer abrupten Umkehrung der Dimensionen gegeneinander krachten. Der Schweiß perlte auf Ihren Handflächen, in Ihrem Schädel brummten Tausende von Insekten, eine wimmelnde Armee, die sich auf das kleinste Fleckchen Haut stürzte, die Ausgänge blockierte, die Augen, den Mund und die Nase versperrte.

Sie sind auf das Linoleum gesunken, Kopf auf den Knien, um die Durchblutung des Hirns zu fördern. Haben die Flasche Mineralwasser aus Ihrer Tasche geholt. Ein paar Schlucke getrunken, Gebete gerichtet an Gott weiß wen und gehofft, der Schrecken möge sich verflüchtigen. Die gelben Augen der Katze, als einzige sichtbar in der Dunkelheit unter der Kommode, beobachten Sie besonnen.

Schließlich haben Sie sich daran erinnert, dass Sie einen Spezialisten bezahlen. Sobald Ihre Finger weniger stark gezittert haben, haben Sie Ihr Telefon herausgenommen, das Adressbuch durchlaufen lassen und »Psychoanalytiker« gewählt.

Er antwortet mit seiner dünnen, abweisenden Stimme, weil er gerade einen Patienten hat und weil es seine gewöhnliche Stimme ist. Der Doktor belastet sich nicht mit Formalitäten, sie widersprechen seiner Ethik und schaden der Behandlung, das hat er Ihnen oft gesagt. Sie haben Glück, dass er bereit ist, Sie kurzfristig zu empfangen, heute Abend um 18 Uhr 30, da wurde ein Termin abgesagt. Er liegt Ihnen sowieso schon seit Monaten damit in den Ohren, dass Sie besser dreimal pro Woche kommen sollten.

Sie sind nach Hause zurückgekehrt, um die Tragetasche mit dem Toaster abzustellen, dann sind Sie bei der Kinderfrau vorbeigegangen. Sie haben sie gefragt, ob sie das Baby ausnahmsweise bis zum Abend behalten könnte. Aber nein, das passt ihr überhaupt nicht. Sie nehmen Ihre Tochter, füttern sie und verbringen den Nachmittag damit, im Schaukelstuhl eine Lösung zu suchen.

In Wahrheit haben Sie die Lösung schon gefunden, Sie versuchen nur noch, sich mit der Idee anzufreunden. Wenn die Kleine einschläft, ist sie drei Stunden weg. Das lässt Ihnen genug Zeit, kurz ins 5. Arrondissement zu fahren – mit der Linie 7 geht es direkt. Sie werden das Gas abdrehen, nichts in der Nähe der elektrischen Heizkörper stehenlassen und die Tür nicht abschließen, um der Feuerwehr den Zugang zu erleichtern, falls trotz all Ihrer Vorkehrungen ein Feuer ausbrechen sollte. Ein solches Vorgehen macht natürlich Ihrem Mutterinstinkt keine Ehre. Sie sind keineswegs stolz darauf, und Sie werden die Szene gewiss nicht fröhlich Ihrer Tochter erzählen, wenn sie acht oder neun sein wird und darauf verfallen sollte, Sie bei Verfehlungen zu ertappen, nachdem ihr bei der Lektüre ihrer Jugendbücher aufgefallen sein wird, dass Sie nicht die ideale Mutter sind, die von den Romanen mit gewissem Sittlichkeitsniveau gepriesen wird. Also, Sie werden niemandem etwas davon erzählen, nie, Sie wissen Ihre kleinen Geheimnisse für sich zu behalten.

Gegen Ende des Tages füttern Sie das Kind, bringen es ins Bett, gehen dann die Rue de l’Aqueduc hoch bis zur Metrostation. Bis nach Censier-Daubenton sind es achtzehn Stationen, die Strecke dauert eine gute halbe Stunde. Als Sie wieder auftauchen, wird es gerade Nacht. Zwei Minuten später haben Sie den Platz überquert und sind in die Rue de la Clef eingebogen, die menschenleer ist. Auch als Sie in den dritten Stock des Hauses Nr. 22 hochsteigen, begegnen Sie niemandem. Sie klingeln und als der automatische Türöffner summt, treten Sie in den Wartesaal. Fünf Minuten später ist Verabschiedungsgemurmel zu hören, dann klappt die Tür zum Treppenhaus zu. Man lässt Sie noch eine ganze Weile warten, während man einige Anrufe zu tätigen und am Fenster eine zu qualmen scheint. Sie durchblättern zerstreut das einzig Lesbare, was greifbar ist, eine Taschenbuchausgabe von Corneilles Polyeucte, deren aufgefächerte Seiten sich vom Einband lösen. Man hat sich wahrhaftig keine Mühe gegeben, das Lampenfieber zu besänftigen, bevor der Vorhang hochgeht, und Sie denken im Nachhinein, dass Sie, wenn eine Nummer von Paris Match oder Point de vue herumgelegen hätte, wenn man auch nur ein klein wenig versucht hätte, Ihr Übel zu lindern, statt Sie weiter hineinzutreiben, vielleicht nicht so weit gegangen wären.

Der Doktor empfängt Sie nach einer langen Viertelstunde, er trägt ein befriedigtes kleines Lächeln zur Schau. Es sieht sogar so aus, als hätte er, zurücktretend, um Sie einzulassen, eine Verbeugung angedeutet.

Also, beginnt er mit gespielter Gutmütigkeit, als würde er Ihnen gleich eine gute Geschichte erzählen. Aber das ist ein erprobter Trick, eine Falle, in die der Patient sich stürzen soll. Sie kennen diese Falle schon lange, dennoch sind Sie außerstande, der dunklen Kraft des Arztes zu widerstehen.

Heute Morgen ist es wieder geschehen, fangen Sie an. Es war verschwunden während meiner Schwangerschaft, jetzt ist es zurückgekommen. Plötzlich lag ich am Boden in meiner Wohnung, also in der Wohnung meines Mannes, in meiner ehemaligen Wohnung. Es muss etwas geschehen, ich kann nicht mehr, ich muss mich um meine Tochter kümmern.

Der Arzt sagt Ja.

Was, ja? wiederholen Sie. Ich sage Ihnen, es muss etwas geschehen, da gibt es kein Ja oder Nein. Ich bin nicht gekommen, um bis zu Adam und Eva zurückzugehen, ich bin müde, mir muss jetzt geholfen werden.

Aber Sie wissen sehr gut, Madame Fauville, Verzeihung, Hermant, Sie wissen sehr gut, dass die Symptome nur Symptome sind. Dass man bis zum Ursprung zurückgehen muss, nicht wahr, Madame Hermant?

Lieber Herr, lieber Doktor, ich muss Ihnen sagen, dass mir der Ursprung schnurzegal ist. Seit drei Jahren führen Sie mich mit dieser Geschichte an der Nase herum, seit drei Jahren geht es weder vor noch zurück. Wenn Sie nichts für mich tun können, müssen Sie es sagen, dann suche ich mir jemand anderen.

Ja?

Sie hören mir nicht zu. Ich will nicht mehr spielen, ich passe. Sie müssen eine andere Methode anwenden, oder es ist unnütz, dass ich weiter zu Ihnen komme.

Kommen Sie, das ist Erpressung.

Das hat nichts mit Erpressung zu tun, sagen Sie und werden laut. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte bleiben, ich möchte, dass es funktioniert, aber ich kann nicht ewig ohne ein Ergebnis weitermachen. Dafür fehlen mir die Mittel.

Die Mittel?

Ja, die Mittel, genau, die Mittel, bellen Sie nun. Die Zeit, das Geld, die nötigen Einkünfte. Da ist die Miete, die Rechnungen, die Kinderfrau, mein Mann wird mir nicht helfen, muss ich Sie daran erinnern, mein Mann hat mich wegen irgendeiner jungen und frischen Gans verlassen, kurz, ich sitze alleine da, alleine mit meiner Tochter, wir sind allein und müssen über die Runden kommen.

Warum haben Sie diese Wahl getroffen?