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Javier Sebastián

Der Radfahrer von Tschernobyl

Roman

Aus dem Spanischen von Anja Lutter

Verlag Klaus Wagenbach  Berlin

Die spanische Originalausgabe erschien unter dem Titel El ciclista de
Chernóbil
bei DVD Ediciones in Barcelona.

E-Book-Ausgabe 2013
© 2011 Javier Sebastián
© 2013 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Alle Rechte vorbehalten.
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ISBN 978 3 8031 4141 5
Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2711 2

Für meine Eltern,
denen ich mein erstes Wort verdanke
.

Der Roman basiert in Teilen auf dem Leben des Kernphysikers Wassili B. Nesterenko, der im August 2008 in Minsk verstorben ist.

EINS

Jede Sekunde war ewig, als würde sich alles auf dem Meeresboden abspielen.

Ich überflog eine Reportage über den Untergang der Lusitania 1915, und als ich aufblickte, sah ich sie die Treppe hinaufkommen. 1 198 Passagiere waren damals ums Leben gekommen auf dem Dampfer, der unter britischer Flagge fuhr. Der alte Mann und die Frau sahen aus wie Überlebende der Tragödie.

Es war ein modernes Selbstbedienungsrestaurant mit Leuchttafeln, auf denen für diverse Menükombinationen mit Beilagen und Extras geworben wird. Die beiden gingen zu einem Tisch neben der Theke mit dem Serviettenspender und den portionsweise abgepackten Saucentütchen. Die Frau schleppte zwei volle Kleidertüten, die nach Umzug aussahen. Ich riss mich zusammen und wandte mich wieder meiner Sonntagsbeilage zu; was ich dort sah, fiel nicht in mein Gebiet. Derjenige, der befohlen hatte, die Lusitania zu torpedieren, so las ich, hatte die Seekriegsbestimmungen missachtet, die verlangten, dass die Passagiere ziviler Schiffe vor einem Angriff ausgebootet sein mussten.

Wie magnetisch angezogen, wanderte mein Blick zu den soeben eingetroffenen Schiffbrüchigen hinüber. Der Mann hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, oder vielmehr hatte er sich darauf fallen lassen. Ich nahm an, dass ihn furchtbare Rheumaschmerzen plagten. Er kippte in eine gefährliche Schieflage, die Frau setzte ihn wieder gerade hin.

Es ging mich nichts an, also schaute ich wieder in meine Zeitung. Von einem Artikel über die Tobin-Steuer interessierte mich lediglich die Überschrift, ich blätterte weiter und blieb bei einer Werbeanzeige hängen. Eine weibliche Bikinihüfte mit einer Digital-Pentax darauf, an dem Strand wäre ich jetzt auch gern. Aber das geht nicht, es ist Sonntag und es ist September, ich bin tausendeinhundert Kilometer weit weg von zu Hause, und hier schaut keiner irgendjemanden an. Keiner außer mir, ich linse hinter meiner Zeitung hervor und habe alles im Blick: Die zwei Lusitania-Überlebenden haben ihre Essensschachteln geöffnet, Juniorboxen, die Frau muss es machen, er kann es nicht. Vielleicht hat einer von beiden Geburtstag, und sie wollen hier feiern. Das Lokal befindet sich auf der berühmtesten Prachtstraße des Landes. Das Land ist Frankreich. Und durch die breite Fensterfront hat man einen echten Luxusblick.

Der Mann kippt wieder zur Seite. Sie schiebt ihn zurück, damit er nicht abstürzt, wie sie es an diesem Tag sicher schon viele Male hat tun müssen. Dann streicht sie ihm das Haar aus dem Gesicht.

Ich brauchte Servietten, das war meine Ausrede, um an ihnen vorbeizuschlendern. Da sah ich alles. Der Mann konnte kaum kauen, ich denke sogar, er aß im Grunde gar nicht.

In den Tüten waren tatsächlich Kleider. Das konnte ich immerhin genau erkennen.

Zurück an meinem Tisch, breitete ich die Sonntagsbeilagen wie einen Fächer vor mir aus, als hätte ich vor, noch eine ganze Weile zu bleiben; es kam mir auf einmal ganz gemütlich vor hier, beinahe wie zu Hause. Ich linste wieder hinüber. Sein Anzug war ihm zu weit. Das Jackett hatte ihm vielleicht früher mal gepasst, jetzt aber nicht mehr.

Sie steht auf. Wischt sich die Krümel von der Bluse. Stellt mit Bedacht die Essensreste auf das Tablett wie jemand, der alles richtig machen will, und trägt es zu einem Abfalleimer. Dort wirft sie alles hinein. Kommt wieder zu ihm an den Tisch. Sie beugt sich ein wenig zu ihm hinunter, wie um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, doch dann hält sie inne, sagt nichts, richtet ihm lediglich den Hemdkragen, der sich ihm hinten aufgestellt hat. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Stirn, streicht ihm über die Wange, noch ein Kuss, und sie geht. Sie ist weg.

Die Frau war gegangen und hatte den Lusitania-Überlebenden in dem Selbstbedienungsrestaurant neben zwei vollen Kleidertüten sitzenlassen. Nach zehn Minuten war sie immer noch nicht zurück. Nicht nach einer Viertelstunde und auch nicht nach einer halben. Da der Mann vom Stuhl zu kippen drohte und sie nicht zurückkam, musste ich zu ihm hingehen und ihn wieder richtig hinsetzen. Dass ich es nicht mit ansehen konnte, wie er so schief dasaß, erklärte ich ihm so behutsam wie möglich.

Der Lusitania-Überlebende gab keine Antwort. Er schaute mich an wie jemand, der nicht versteht. Mit einer Geste verlangte er nach etwas zu schreiben, jedenfalls kam es mir so vor, ich gab ihm eine Papierserviette, schreiben Sie darauf, was Sie wollen, sagte ich. Wenn Sie nicht sprechen können oder es Sie zu sehr anstrengt, können wir uns schriftlich verständigen. Hier, Sie können meinen Stift nehmen. Aber der Mann zuckte mit den Schultern und wollte doch nicht mehr schreiben.

Ich half ihm, sich richtig hinzusetzen. So würde er nicht vom Stuhl fallen, wenn ich meine Sachen zusammenpackte und ging. Alles Weitere würde schon irgendjemand in die Hand nehmen. Doch dann begegnete ich auf der Treppe einem Angestellten, dachte, Bescheid sagen könnte ich immerhin, und sprach ihn an.

Sehen Sie den Mann da drüben, sagte ich. Vielleicht könnten Sie sich um den kümmern, man hat ihn hier sitzenlassen.

Der Mann von Prypjat hatte seinen Unterschlupf in der Autoscooterkabine. Er sortierte die Chips nach Farben, und an manchen Abenden erlegte er Schlangen mit einer Pfanne. Er trug zwei Mäntel übereinander und hatte noch einen dritten als Reserve.

Das Autoscooterhäuschen war sicherer als eine Wohnung, denn in den Höfen, in den Parks und auf dem Gelände des Tschemigow-Sportkomplexes streunten wilde Hunde. Unten im Hausflur nahmen sie Witterung auf und kamen dann über die Treppen nach oben. Es gab keine Türen mehr, die hatten sie alle abtransportiert, und die Hunde drangen überall ein. Magere, dreckstarrende Köter, manche hatten blutige Pfoten, an denen sich die Haut abgelöst hatte.

Es geschah bei den Autoscootern. Der Mann von Prypjat hatte eine Technik erfunden, die Wagen wie von alleine fahren zu lassen, dann konnte man rufen: Hurra, der Strom ist wieder da, es lebe das Leben, es kommt wieder zurück, das Schlimmste ist vorbei.

Für die vereiste, spiegelglatte Bahn hatte er sich Seilrollen und mehrere Meter Seil aus einem Lager besorgt. Die Seile schlang er einmal um das Gitter und knotete die Enden an den Lenkrädern fest.

Er blickte zum Himmel auf und dachte, dass es keinerlei Notwendigkeit dafür gab, dass er existierte. Aber irgendjemand in Prypjat sollte doch existieren und die Verwandlung sehen, die sich gleich vollziehen würde.

Das Seil fest gepackt, zählte er – eins, zwei, drei – und zog mit aller Kraft. Die Wagen setzten sich in Bewegung. Der rechte, der mit der Nummer fünf, hatte sich zehn Meter nach vorne bewegt. Seiner war mehr zur Seite gerollt, schräg über die Bahn, bis zu einem Riss im Asphalt. Seine Botschaft war: Shmychow, du bist nicht mehr allein.

Oder falls hier noch irgendjemand lebt, dann weiß er jetzt Bescheid. Es ist ein neuer Bewohner eingetroffen in der Stadt Prypjat, der Stadt des Atomkraftwerks.

Jetzt fehlte nur noch, dass die Lichter angingen. Fröhliches Rummelplatzgedudel, alte Schlager und aktuelle Charthits, junge Leute mit Fahrchips in der Hand, die darauf warteten, dass sie an der Reihe waren. Die Sirene ertönt und Fahrerwechsel, die nächste Riege auf die Piste.

Ja, jetzt konnte man sagen, dass in der Stadt Prypjat jemand lebt, und der Beweis dafür ist, dass er vier Autoscooter in Bewegung gesetzt hatte. Manchmal pochte er morgens mit einem Stock gegen die Blechjalousien, um sich anzukündigen. Oder er legte auf einer Straßenkreuzung seinen Namen aus Steinen. Was konnte er sonst tun, ich habe doch zwei Hände, rief er laut, ich nehme Raum ein, ich gehe Straßen entlang, ich hinterlasse Spuren, wenn ich gehe.

Das heißt: Jetzt gibt es Beweise, sehen Sie mich an, wenn Sie es nicht glauben, man wird diese Autoscooter hier zur Kenntnis nehmen müssen, wo haben sie vor fünf Minuten gestanden, und wo stehen sie jetzt? Von alleine fahren sie nämlich noch nicht, die Autoscooter.

Es sollte aber auch Publikum geben, selbst wenn die Zuschauer nur Attrappen wären, also machte er sich auf in die Uliza Drushby Narodow, wo vor dem Unfall ein Laden gewesen sein musste. Er stapfte über losen Schutt, alles war von Pflanzen überwuchert. In einer Kiste fand er zwanzig Säcke, später würden sicher noch mehr auftauchen, aber erst einmal hatte er diese zwanzig Säcke, so groß wie Handtaschen.

Er ging zurück über den großen, leeren Platz, auf dem noch ein paar Busse standen, die Ikarusse von der Evakuierung. Unterwegs rupfte er allerlei Unkraut aus und stopfte damit die Säcke voll. Solange keine anderen da sind, sind das hier eben meine Freunde und Bekannten, sagte er.

Er postierte sie um die Bahn herum, band sie am Gitter fest, wie die Gesichter von Zuschauern sahen sie aus, Verwandte und Bekannte, die über die Landstraße von Iwankowo gekommen waren, um ihn Autoscooter fahren zu sehen. Mit einem Körper aus Zweigen und einem Mantel oder einer Decke darüber würden sie von weitem aussehen wie Menschen.

Unterdessen warteten die Gesichter darauf, dass sie an der Reihe waren. Aber sie werden noch ein wenig warten müssen, wir haben alle Zeit der Welt, die Piste zu stürmen, überlegen Sie sich ganz in Ruhe Ihre tausend kleinen Kunststückchen, bis das Eis geschmolzen ist, sehen Sie mich an, wie ich die Kunst des Fahrens beherrsche. Er erhob sich und applaudierte.

Hier, ihr Gesichter, seht mich an!

So begann er feierlich sein fabelhaftes neues Leben. Er blieb noch einen Moment in dem Autoscooter sitzen, es sollte bloß nicht eins von den Gesichtern kommen und ihm den Wagen wegnehmen, noch war er dran. Das Atmen fiel ihm schwer, die Leute sagen, am Ende wird einem die Zunge schwarz. Die Haut löst sich ab, und man fängt an sich zu übergeben. Oder man spuckt gelben Schleim. Aber die Leute sagen alles Mögliche, also kann man nie wissen.

Man musste sich nur daran gewöhnen, in Prypjat zu leben hatte nämlich durchaus Vorteile, zum Beispiel den, dass hier alles ihm gehörte, weil keine anderen da waren, war er der Chef, der Vorsitzende vom Gorkom, dem Sitz des Parteikomitees.

Vom Seilziehen waren ihm die Hände ganz blau geworden. Er griff nach dem Lenkrad und stellte sich vor, er sei unterwegs auf der Straße. Mit größter Sympathie grüßte er die Passanten. Aber bitte halten Sie mich nicht auf, ich werde nämlich im Kraftwerk erwartet, ich soll dort etwas berechnen.

Er fuhr über die Felder. Beschleunigte auf hundert Stundenkilometer. Durchquerte Semichody, Schepelytschi und die nächstliegenden Orte. Ob jemand hier sei, rief er im Vorbeifahren, und es tauchte vielleicht eine Witwe in langem Gewand auf, das Haar mit einem Tuch zurückgebunden und das Foto ihres seligen Mannes in der Hand. Ich bringe Brot und Nachrichten, rief der Mann. Hier können Sie nicht bleiben, Sie sind hier nämlich mitten in der Sperrzone, und sehr bald werden die Soldaten Ihr Dorf mit ihren Baggern begraben; es wundert mich, dass sie es nicht schon längst getan haben. Falls Sie aber doch bleiben, gehen Sie nicht in den Wald, pflücken Sie keine Pilze, trinken Sie kein Brunnenwasser.

Ja, bei den Autoscootern fing alles an. Ein paar Tage später wollte er die Wagen noch einmal fahren lassen, er hielt schon das Seil in der Hand, da sah er, dass einer der Säcke am Gitter fehlte. Er hatte ihnen allen Namen gegeben: meine gute Ilsa, große, endgültige Liebe meines Lebens. Alexei. Wolodja. Der Sack hier soll Valentina Maljawskaja heißen. Der andere da ist Shmychow von der Anorganischen Chemie im Sosny-Laboratorium. Die kleine Darja. Und so weiter bis zwanzig. Und jetzt waren es nur noch neunzehn.

Beim Riesenrad und bei den Schaukeln fand er nichts, also suchte er das ganze Gelände bis zu den Bänken im hinteren Teil ab und umrundete erneut die Autoscooterbahn. Wo steckst du, brummte er, du Sack oder du Gesicht du, keine Ahnung, wie ich dich nennen soll. Aber ich werde dich sowieso finden, das ist reine Zeitverschwendung hier. Plötzlich lag der Sack auf einem der Autoscootersitze, daneben eine Handvoll Kosmos-Bonbons.

Jemand hatte ihm Augen und Mund gemalt.

Bei dem Anblick befiel den Mann von Prypjat ein so panisches Entsetzen, dass er sich schnellstens in seine Kabine flüchtete. Unter mehreren Decken vergraben, spähte er eine ganze Weile regungslos durch den Türspalt, doch es war niemand zu sehen.

Früh am nächsten Morgen traf ich mit den Vertretern der Staaten zusammen, die an der offiziellen Homologierung des Kilogramms teilnahmen, dafür war ich in Paris. Einberufen hatte die Generalkonferenz für Maß und Gewicht. Willkommensfrühstück und altbekannte Worte über die Bedeutung unserer Arbeit von Roland Jöhri, dem Vorsitzenden der Konferenz. Später wurde jeder einzelne Zylinder exakt gewogen und feierlich verwahrt, damit wir später in den jeweiligen Territorien unserer Rechtsprechung bescheinigen konnten, dass ein Kilo auch exakt ein Kilo war. Ein eindeutiges und unmissverständliches Kilo. Das amtliche Kilogramm.

Die Waagen maßen bis auf die Tausendstel genau, denn die geringste Gewichtsabweichung konnte für die Industrie oder die Landwirtschaft eine Katastrophe bedeuten. Zum Schluss bekam man ein paar orangefarbene Papiere abgestempelt, die anschließend in Plastik eingeschweißt wurden, und damit fuhr man zurück in sein Land.

Die Vertreter der übrigen sechs Konventionsmaße wurden an den folgenden Tagen einberufen. Das Mol, das Kelvin, das Ampere und der Rest. An diesem Tag war das Kilogramm dran. Da der Veranstaltungssaal der Zentrale in Sèvres renoviert wurde, beförderte man uns mit dem Bus in ein nahe gelegenes Gebäude, gut vier Dutzend Beamte mit identischen Koffern, darin jeweils exakt ein Kilogramm.

Ich allerdings hatte zwei Zylinder dabei. 1896 nämlich, genau in dem Moment, als das homologierte Kilo nach Manila geschickt werden sollte, hörten die Philippinen auf, Kolonie zu sein, und die spanischen Behörden, denen der Zylinder ja gehörte, beschlossen, ihn zu behalten. So war Spanien das einzige Land der Welt, das offiziell zwei Kilogramme besaß, und ich als sein Vertreter trug sie durch die Gegend, genau wie meine Amtsvorgänger es getan hatten. Doppeltes Gewicht, doppelte Anstrengung, aber die gleiche Bezahlung wie die übrigen Delegierten. Doch ich beklagte mich nicht. Meine Arbeit flößte denen, die meine Dienste benötigten, Respekt ein.

Da kommt der Exakte. Der Mann, der niemals lügt. Da kommt Dos Kilos, wie sie mich nannten.

Ich fand das ganz lustig, nahm es aber nicht allzu ernst.

Ich sprach mit dem belgischen Delegierten und mit der Russin Jana Lednewa, die zur Abteilung Mol gehörte und von daher an diesem Tag nicht hätte da sein müssen, aber trotzdem da war. Ich sprach mit Montignoso, mit Peter Becker von der deutschen Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und mit Carolina Pompeo.

Am späten Vormittag bekamen wir die Zertifikate, und ich verabschiedete mich. Ich blieb nicht zum Mittagessen und auch nicht zu den Nachmittagssitzungen. Und das, obwohl Jana Lednewa sich beträchtlich ins Zeug legte. Aber es ging nicht. Ich hatte etwas zu erledigen.

Ich trat auf die Straße hinaus und ging zu Fuß zurück zum Hotel, die Avenue de La Motte-Picquet entlang, und die Lusitania-Überlebenden gingen mir nicht aus dem Kopf, wie schon den ganzen Vormittag über. Deshalb war ich auch nicht geblieben.

Der Mann war vielleicht in dem Selbstbedienungsrestaurant ausgesetzt worden, und ich hatte mich dann auch nicht um ihn gekümmert. Obwohl das genaugenommen so nicht ganz stimmte; bevor sie ging, war die Frau immerhin so anständig gewesen, ihn zum Essen einzuladen, und zwar an einem Ort, an dem nicht nur die Menüs leicht zu kauen waren, sondern wo sie auch davon ausgehen konnte, dass ihm bestimmt jemand zu Hilfe kommen würde, was etwas ganz anderes ist, als ihn zu Hause vor sich hin faulen zu lassen. Und ich, ich hatte einem Angestellten Bescheid gesagt, damit sich jemand seiner annahm.

Da ich mit dem Auto unterwegs war, musste ich nicht zu einer festen Zeit nach Spanien zurückfahren und marschierte mit meinem Zweikiloköfferchen in das Fastfood-Lokal. Ich wollte wissen, was aus dem Mann geworden und ob meine Zeugenaussage erforderlich war.

Ich stieg die Treppe hoch in die obere Etage, aber da war er natürlich nicht, wie sollte er da auch sein; da sah man es, ich hatte kein Talent. Auch die Kleidertüten entdeckte ich nicht. Insgesamt keinerlei Hinweis darauf, dass hier einen Tag zuvor jemand ausgesetzt worden wäre. Die Welt erneuert sich jeden Augenblick. Indessen verschwindet das Vergängliche, ohne dass man weiß, wohin. Ich wollte schon wieder gehen, da sah ich den Angestellten vom Vortag, ich erkannte ihn an seiner Fantasybrille mit dem lila Gestell. Erinnern Sie sich an mich? Er blickte mich mit unergründlicher Miene an. Und erinnern Sie sich an den älteren Herrn, der gestern an dem Tisch da drüben saß?, fragte ich ihn und deutete mit dem Finger auf den Tisch. Ja, ich erinnere mich, sagte er.

Was ist denn aus ihm geworden?

Einen Moment bitte, er werde den Geschäftsführer rufen, Monsieur Parveaux. Der Brillenmann schoss in Richtung Büro davon und verschwand hinter einer Tür. Ich schaute ihm perplex hinterher, ich hatte ihm doch eine ganz einfach zu beantwortende Frage gestellt. Die Tür ging auf, jemand streckte kurz den Kopf heraus, blickte mir forschend ins Gesicht und zog die Tür wieder zu. Eine Minute später war Monsieur Parveaux bei mir und entschuldigte sich beflissen, dass er mich habe warten lassen.

Ich wollte mich nur nach dem Mann erkundigen, rein mitmenschliches Interesse, nichts weiter, weil ich doch gestern gesehen habe, wie er hier am Ende ganz alleine sitzen geblieben war, und immerhin habe ich hier, ich klopfte mir auf die Brust, keinen Stein.

Monsieur Parveaux verstand.

Aber bitte, kommen Sie doch bitte hier entlang.

Er bestand darauf, dass ich ihn ins Büro begleitete, fasste mich am Arm, es machte beinahe den Eindruck, als hielte er mich fest. Es schmeichelte mir, dass er mich so dringend zu konsultieren wünschte, und ich hatte ja keine Eile.

Der alte Mann. So schutzlos wirkte er, immer schräger hing er da auf seinem Stuhl, beinahe wäre er zu Boden gestürzt. Und die Kleidertüten, was haben Sie mit denen gemacht, Monsieur Parveaux? Sagen Sie mir doch bitte, was passiert ist. Aber zunächst bat mich Monsieur Parveaux darum, ganz kurz einen Fragebogen zur Servicequalität des Lokals auszufüllen. Dafür erhielt ich mehrere Gutscheine, mit denen ich Anspruch auf ein Dutzend Menüs hatte.

Nichts lag mir ferner, als dem liebenswürdigen Monsieur Parveaux meine Achtung zu versagen, also stellte ich mein Köfferchen auf dem Boden ab, um den Bogen auszufüllen. Ich musste um einen Stift bitten, denn meinen hatte der alte Mann behalten, nach dem ich mich erkundigen wollte, wie ich jetzt bemerkte.

Hier haben Sie mehrere, sagte Parveaux, Geschenk des Hauses. Als ich bei der elften Frage war, die die Sauberkeit des Etablissements betraf, und noch schwankte, ob ich befriedigend oder vollkommen befriedigend ankreuzen sollte, klopfte es an der Tür. Ohne Parveauxs Aufforderung abzuwarten, traten zwei Gendarmen ein. Das ist er, sagte Parveaux schnell und zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück, wo er sich offenbar sicherer fühlte. Er zeigte mit dem Finger auf mich. Das ist er.

Die Gendarmen wollten meinen Namen wissen, ich nannte ihn. Kommen Sie mit.

Ich widerspreche niemandem gern, ich sehe meist keine Veranlassung dafür, also fand ich mich zu allem bereit. Der eine Gendarm sagte, sie würden mir alles beim SAMU Social erklären, dem französischen Sozialdienst. Jetzt seien Sie still, und kommen Sie mit. Sie würden mir keine Handschellen anlegen, es sei denn, ich machte Schwierigkeiten.

Schauen Sie mich an, sagte ich, und Sie werden sehen, dass das nicht nötig sein wird.

CBLB 502 ist der Name eines Medikaments, das Dr. Andrei W. Gudkow im Lerner Institute in Cleveland, Ohio, Mäusen und Affen injiziert. Dadurch wird die Apoptose verzögert, was bedeutet, dass sie, nachdem sie hohen Dosen ionisierender Strahlung ausgesetzt werden, weniger schnell sterben.

Im April 2008 wurden die Forschungsergebnisse der Ärzte Andrei W. Gudkow, Ljudmila Burdelja, Anatoli Gleiberman, Damodar Gupta und anderen zu CBLB 502 von der Zeitschrift Science veröffentlicht.

Mäuse und Affen, die man 45 Minuten bis 24 Stunden, bevor sie tödlichen Strahlendosen ausgesetzt wurden, mit CBLB 502 behandelte, überlebten länger beziehungsweise starben später als die Übrigen.

CBLB 502 hemmt den sogenannten Zellselbstmord.

Der Mann von Prypjat hatte die Plünderer beobachtet, wie sie die Motoren vom Schrottfuhrpark in Rossocha abtransportierten. Da er den Vorgang dokumentieren wollte, aber keine Kamera hatte, machte er schnell eine Zeichnung in sein Heft. Mit Kränen hievten sie die Wrackteile auf Lkws. Verschiedenste Einzelteile, aller möglicher Maschinenschrott, Hubschrauber. Auch Wolga-Räder wurden fern der verbotenen Zone sehr geschätzt.

Es waren acht Männer, die zwei Patrouillen bildeten. Sie kamen mit ihrem Laster nach Prypjat und nahmen alles mit, Kleidung, Wohnungstüren, selbst die Fliesen aus den Badezimmern. Sogar die Steckdosen rissen sie aus den Wänden, und kurz darauf wurde das ganze Zeug auf Kiewer Märkten verhökert.

Ein gewisser Chworost hatte das Kommando. Er war gut angezogen, nicht so einer mit Kittel und Militärstiefeln. Er hatte Stil.

Eines Abends stellte sich der Autoscootermann von Prypjat ihnen in den Weg, er breitete die Arme aus, zum Zeichen, dass er nichts Böses im Schilde führte. Erst wollten Chworosts Leute ihn nicht näher kommen lassen. Was bist du denn für einer, ein Untoter? Sie erhoben drohend ihre Stöcke. Pass auf, wenn du näher kommst, kannst du was erleben.

Damit sie sahen, dass er quicklebendig war, trug er ihnen rasch das Gedicht Der Kreml im Schneesturm 1918 von Boris Pasternak vor, und fünf Minuten später hatten sie einen Pakt geschlossen: Er würde die Türen der Häuser, in denen es etwas zu holen gab, mit einem Kreuz markieren. Stockwerk und Buchstabe. So würden Chworost und seine Leute nicht so viel Zeit bei der Suche verlieren. Im Gegenzug, verlangte er, sollten sie ihm Fleisch, Obst und Gemüse mitbringen.

Oder … ob sie ihn vielleicht auf ihrem Laster mit nach draußen nehmen könnten?

Das geht nicht, erklärte Chworost und klappte das Revers seiner Lederjacke hoch. An der Schranke gab es einen Gefreiten, der sie durchzählte, den Gefreiten Blasuzki. Und wenn acht Männer in die Zone hineingefahren waren, mussten auch acht wieder herauskommen, die Anweisungen waren klar. Dazu kam noch die Registrierung. Und ein Deal, der allen zugute kam. Vielleicht später irgendwann.

Chworosts Leute hatten in der Uliza Lessi Ukrainki begonnen, sie schien ihnen am vielversprechendsten, was allerdings bloße Eingebung war. Jede andere Straße konnte genauso gut sein. Oder genauso tödlich. Später folgten sie einem Plan. Die Straße der Helden von Stalingrad, das Gebäude des Gorsowjet, der Pionierpalast, das Hotel Oktober. Die Straße der Enthusiasten.

Sie kamen über Semichody. Acht Männer, manchmal einer mehr als Verstärkung. Es waren aber nicht immer die gleichen, sie wechselten sich ab, verordneten sich Saubere-Luft-Kuren, bevor sie wieder nach Prypjat kamen. Auf einen Beutezug durch die Stadt kamen drei oder vier Tage Pause. Manche trugen Gummiregenmäntel. Wohl zum Schutz vor der stinkenden Schmierschicht auf der Lkw-Karosserie.

Sie dachten, dass er wohl ein seligmachender Geist sein müsse, ein Engel oder sogar Erzengel.

Sie lachten und verlangten, er solle ihnen die Zunge zeigen, sie wollten sehen, ob sie schwarz war, und dann lachten sie noch mehr. Sag doch mal, wo kommst du denn her?, fragten sie.

Aus Krasny Kut, Region Lugansk.

Du musst lauter sprechen.

Krasny Kut.

Niemals kamen sie ihm nahe. Schon weil sie es immer eilig hatten. Deshalb hatte er ihnen ja die Route markiert, damit sie keine Zeit mit wahllosem Durchforsten verloren. Darauf basierte ihr Deal. Sie kamen für zwei Stunden, luden ihren Laster voll und fuhren wieder ab. Wenn es regnete, kamen sie nicht. Der nasse Asphalt stinke, sagten sie, und das Gras habe im Gegenlicht einen blauen oder je nach Perspektive sogar violetten Glanz.

Chworosts Männer brachten ihm in Scheiben geschnittenes Fleisch, er hatte keine Ahnung, von welchem Tier oder welchem Schlachthof dieses Fleisch stammt, oder ob es Wild war, womöglich auf der Landstraße überfahren. Einmal brachten sie einen Hecht mit, behaupteten, sie hätten ihn eigenhändig in einem Teich geangelt, in der Nähe von Gomel.

Bis sie mit einem Mal nicht mehr kamen. Der Autoscootermann setzte sich an der Straße nach Semichody in den Graben und wartete. Seine beiden Mäntel bis oben hin zugeknöpft, saß er dort jeden Nachmittag.

Du wirst sterben, sagte er sich. Oder auch nicht, wenn du dich jetzt aufraffst und die Läden durchsuchst. Es wird doch noch Konserven geben oder Kekse.

Im Swetljatschok entdeckte er Büchsen mit baltischem Fisch. Eine Woche lang aß er baltischen Fisch. Er pflanzte Bohnensamen in einem Park, doch es wollte nichts sprießen. Die Erde war tot. Die Lastwagenmänner wussten, wovon sie sprachen, wenn sie sagten, nach zwei Stunden müsse man das Weite suchen.

Doch sie kamen wieder. Der Mann von Prypjat stürzte aus dem Autoscooterhäuschen, rannte dem Laster entgegen, was passiert war, wollte er wissen. Sie gaben keine Antwort. Sie kurbelten nicht einmal die Scheiben hinunter, taten, als hätten sie ihn nicht gesehen. Bitte, mir ist es egal, ich wollte nur unseren Pakt wieder aufnehmen. Doch Chworosts Männer schenkten ihm keine Beachtung. Wir haben dir doch gesagt, dass du uns nicht zu nahe kommen sollst, schrien sie ihn an und schwangen drohend ihre Eisenstangen, du hast es doch gehört. An diesem Nachmittag fuhren sie direkt zur Küchenfabrik. Nach knapp drei Stunden hatten sie alles herausgeschleppt, was nicht niet- und nagelfest war, selbst die Fensterrahmen. Und mein Essen, sagte der Mann. Was ist mit meinem Essen.

Valeri Kebikow, Chworosts Stellvertreter, schimpfte, er wolle keine Matratzen mehr, immer nur Matratzen. Warum gehst du nicht in die Häuser und schaust unter die Fliesen, vielleicht ist da Geld drunter. Angewiesen waren sie auf ihn nämlich nicht mehr.

Neulich haben wir am Pavillon der Technischen Errungenschaften ein Ehepaar gesehen, die haben bei den Abflüssen nach Regenwürmern gebuddelt.

Dann ist da noch der Sänger vom Kino-Theater Prometheus. Und in der Uliza Drushby Narodow soll früher eine Frau mit zwei Kindern gelebt haben.

Immer mehr Menschen kehrten in ihre Häuser zurück. Sie verloren die Angst vor dem Atom. Obwohl sie in Wirklichkeit zurückkehrten, weil man sie anderswo nicht gewollt hatte.

Es kamen auch Soldaten. Sie rissen die Schuppen ein und vergruben sie, in Plastikplanen eingewickelt, in der Erde. So würde man dem Übel ein Ende machen, sagten sie. Und nebenbei den Plünderungen. Aber wieso, beschwerte sich Chworost, der Kebikow angewiesen hatte, den Laster anzulassen, wieso, wir haben doch auch Familie und ein Recht auf ein anständiges Leben. Oder wenigstens auf ein Leben.

Er schob sich die Sonnenbrille in die Stirn; ein Paar melancholischer Augen kam zum Vorschein. Dann kramte er in der Jackentasche nach Zigaretten. Er zündete sich eine an und blickte zu Boden.

Also los, streng dich an, besser, du treibst das nächste Mal was Ordentliches auf, oder es ist vorbei mit den Lieferungen.

Alles, was ihr wollt, antwortete der Mann von Prypjat, alles, bloß nicht wieder diese baltischen Fischdosen, der Fisch war nämlich wirklich ungenießbar.

In einem Zivilwagen aus Sarkozys Fuhrpark transportierten sie mich ab. Ein Staatsauto. Ich saß hinten und hielt meinen Koffer fest umklammert. Während der Fahrt weigerten sich die Gendarmen, mit mir zu sprechen. Sie seien nicht befugt, sich mit Festgenommenen zu unterhalten, sagten sie. Ich verlangte lediglich eine Erklärung; sie bestanden darauf, dass ich den Mund halten solle. Während der Rundfahrt durch Paris hatte ich nicht das Bedürfnis herauszufinden, ob die Wagentüren verriegelt waren, ich hatte nicht vor, in voller Fahrt aus dem Auto zu springen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die alles anfassen. Wenn man mir sagt, dass ich den Mund halten soll, halte ich den Mund. Und wenn ich stillsitzen soll, sitze ich still. Das tat ich dann auch, und ich versuchte, mich auf meinem Sitz und überhaupt in diesem Frankreich, das mir jetzt nur noch halb so sympathisch schien, so klein wie möglich zu machen.

Wir fuhren vor einem Gebäude vor. Ich sah kein Schild an der Tür noch sonst einen Hinweis darauf, dass der Bau eine staatliche Behörde beherbergte. Weder Concierges noch Sicherheitsbeamte empfingen mich. Niemand, den ich grüßen konnte. Wir liefen mehrere Flure entlang, durchquerten begrünte Innenhöfe, stiegen ein paar Treppen hinauf. Sie führten mich in einen abgedunkelten Raum, in dem ich warten sollte.

Ich war eingeschlossen. Vielleicht wollten sie mir Angst machen, Isolation ist als Methode ja altbekannt. Doch nach fünf Minuten trat eine Frau ein. Sie hatte eine Mappe und mehrere Kugelschreiber in der Hand, vielleicht rechnete sie damit, dass einer nach dem anderen den Geist aufgeben würde. Am Revers baumelte ein Dienstausweis des SAMU Social. Ihr Name, Solange Gaillard. Sie grüßte, ohne mich anzusehen, sagte, ich solle mich setzen, dafür seien die Stühle da. Dazu ein Tisch mit abgerundeten Ecken, wie die Stühle am Boden festgeschraubt. Sie schrieb meine Personalien aus meinem Ausweis ab. Nationalität. Wohnsitz. Sie wies mich darauf hin, dass sie über Interpol nachprüfen würden, ob meine Angaben korrekt waren. Danach hinterließ ich meine Fingerabdrücke auf einem hellblauen Pappvordruck.

Jetzt haben wir ihn, murmelte sie.

Solange Gaillard schien anzunehmen, dass ich harmlos war. Und sie tat recht daran, denn wir beide waren die ganze Zeit allein und unbewacht, und es passierte nichts.

Sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben. Aber bitte keine Gründe, die interessieren mich nicht.

Ich wollte kooperieren und erzählte ihr von der alljährlichen Konvention des Kilogramms. So ein Kilo habe ich nämlich hier in diesem Koffer, sagte ich. Wobei ich persönlich allerdings zwei Kilogramme bei mir habe, erklärte ich dann, damit sie mich nicht für einen Betrüger hielt. Das ist die reine Wahrheit. Ich erzählte ihr von Manila 1896. Ich war der einzige Bevollmächtigte mit zwei Kilogrammen. Daher mein Spitzname Dos Kilos.

Und dann haben Sie die Reise genutzt, unterbrach sie mich, um den armen Mann tausend Kilometer von zu Hause in einem Lokal auszusetzen. Wen ich meine? Das wollen wir hier beim SAMU Social ja gerade herausfinden, er hatte nämlich keine Papiere bei sich. Nur diesen Dienstkugelschreiber hier, der offenbar Ihnen gehört. Da ist so ein Emblem aufgedruckt: Pesas y Medidas de España. Hier, sehen Sie, oder täusche ich mich.

Solange Gaillard täuschte sich nicht.

Weil er nicht spricht, dachten wir zu Anfang, er will uns nichts sagen. Das ist normal, sie brauchen Zeit, um es zu akzeptieren, sie empfinden Scham, sich selbst in dieser Situation zu sehen. Dann hat der Arzt die Laborwerte gebracht, und wir haben gesehen, dass im Blut Tranquilizer nachgewiesen werden konnten. Ja wie soll er denn sprechen, wenn er nicht kann? Wie viele Pillen haben Sie ihm gegeben, Monsieur, eine ganze Packung, was?

Zu sagen, dass das nicht stimmte, dass ich damit nichts zu tun hatte und jetzt gehen würde, schien mir eine derart schwache Verteidigung, dass ich es vorzog zu schweigen.

Jedenfalls, fuhr Solange Gaillard fort, zog sich den Ring vom Finger und ließ ihn auf dem Tisch hin und her rollen, jedenfalls werden Sie ja wohl nicht verlangen, dass wir ihn hierbehalten, wir haben genug mit unseren eigenen Leuten zu tun, da können wir nicht auch noch welche aus Spanien gebrauchen.

Ich musste wegsehen. Ob sie etwa annehme, dieser Mann sei mein Vater, fragte ich, aber mein Vater ist tot, der ist schon vor Jahren gestorben.

Wenn Sie ihn mitnehmen, sagte Solange Gaillard, ist die Sache erledigt. Dann hat es keine Pillen gegeben und nichts, und ich zerreiße auf der Stelle diese Unterlagen hier. Sie deutete eine entsprechende Bewegung an. Wenn nicht, sagen Sie es mir. Sagen Sie es mir, damit wir das Verfahren einleiten. Wir handeln von Amts wegen, das ist das französische Gesetz. Kennen Sie einen Anwalt in Frankreich?

Nach einer Minute, in der keiner von uns beiden etwas sagte, stand sie auf und bedeutete mir, ihr zu folgen. Sie führte mich zu einem anderen Raum am Ende eines fensterlosen Gangs. Solange Gaillard öffnete die Tür, und da saß der Lusitania-Überlebende in einem Rollstuhl. Als er mich sah, machte er eine unverständliche, unmöglich zu deutende Geste. Die Schwester allerdings, die ihm Gesellschaft leistete, fühlte sich bemüßigt zu sagen: Sehen Sie, er hat Sie erkannt, und wie er sich gefreut hat.

Wir werden Sie jetzt einen Moment allein lassen, erklärte Solange Gaillard. Wir kommen dann wieder.

Der Lusitania-Überlebende und ich hatten uns herzlich wenig zu sagen. Er, weil er generell nicht sprach, und ich, weil ich ihn nicht kannte, abgesehen von der unbedeutenden Hilfe, die ich ihm einen Tag zuvor in dem Selbstbedienungsrestaurant geleistet hatte, indem ich ihn aufrichtete, als er vom Stuhl zu fallen drohte, und später einem Angestellten Bescheid gesagt hatte. Das hätte jeder getan. So verharrten wir also stumm einander gegenüber. Doch zehn Minuten in dem Raum taten ihre Wirkung. Schließlich fragte ich ihn, ob es stimme, dass man ihn ausgesetzt hatte.

Wer das getan hatte, wollte ich wissen.

Ich lehnte mich gegen die Wand und sagte laut, damit man mich auf der anderen Seite der Tür hörte: War es diese Frau, die da bei Ihnen war?

Sagen Sie denen ihren Namen, und sie werden sie finden.

Und dieser Solange Gaillard sagen Sie bitte, dass wir beide uns nicht kennen. Kommen Sie, sagen Sie es ihr.

Er streckte die Arme nach mir aus. Vielleicht wollte er mir etwas ins Ohr flüstern. Ich ging zu ihm hin, beugte mich zu ihm hinunter, und plötzlich wurde mir klar, dass er mich umarmen wollte. Ich verwehrte es ihm nicht, denn ich weiß, wann es einem Menschen schlecht geht, auch wenn er es nicht sagt. Ich roch seinen Ascheatem, streichelte ihm arglos die Hand. Als hätten sie uns durch ein Loch in der Wand beobachtet, ging in diesem Moment die Tür auf, die Krankenschwester und Solange Gaillard traten ein, begleitet von einem Gendarmen, der sofort anfing, Fotos zu schießen. Na, sehen Sie? Haben Sie sich ja doch wieder versöhnt. Es gibt eben doch für alles eine Lösung.

Der Autoscootermann von Prypjat betrat das Foyer des Prometheus. Er setzte sich ans Fenster und wollte sich in Erinnerungen an sein früheres Leben vertiefen. Da sah er ihn. Singend kam er hereinspaziert. Er trug einen Sapporo-72-Anorak und eine papacha mit Ohrenklappen.

Der Autoscootermann sprang auf und versteckte sich hinter einer Sitzreihe. Auf den Boden gekauert, meinte er, einen Militärmarsch zu hören. Dann sah er ihn in den Saal kommen. Auf die Bühne steigen, sich den Anorak ausziehen, wie dünn er war. Er hörte ihn sich bedanken. Für Sie, der große Laurenti Bachtjarow. Vielleicht wollte er einfach ab und zu eine Stimme hören, und wenn es seine eigene war. Anscheinend gefiel ihm die Akustik in dem Saal. Er sang ein paar patriotische und volkstümliche Lieder aus der Minsker Gegend. Danach zwei Songs von Sofia Rotaru und der Sikina. Anschließend trug er Velvet Mornings von Demis Roussos vor. Das Kino-Theater Prometheus war das Moskauer Bolschoi.

Als der Autoscootermann sich in seinem Sitz zurücklehnte, gab die Lehne nach und polterte zu Boden. Laurenti Bachtjarow horchte auf. Ist da jemand? Ich werde Ihnen nichts tun. Er stieg von der Bühne, seine Schritte hallten durch den Saal. Im Mittelgang hatten sich Pfützen gebildet, aber es war ihm egal, dass er mitten in sie hineintrat, er musste jetzt wissen, ob da jemand war. Dann stand er vor dem umgekippten Sitz, und sie hätten sich beinahe berührt. Der Autoscootermann rappelte sich vom Boden auf und stürzte los. Auf den losen Gipsbrocken kam er ins Stolpern und rutschte aus. Gehen Sie besser nicht raus, draußen sind die Hunde, sagte Laurenti Bachtjarow. Wenn Sie mir nicht glauben, schauen Sie doch hier durchs Fenster.

Immer wenn ich singe, kommen die Hunde, deswegen habe ich die Tür mit einem Brett verkeilt.

Wohnen Sie hier in der Stadt, oder sind Sie hier, um sich irgendwas zu holen?

Dann ist der Volkswagen, der da verbrannt ist, vielleicht Ihrer. Toller Motor, wirklich schade drum.

Laurenti Bachtjarow half dem Autoscootermann beim Aufstehen, klopfte ihm den Mantel ab. Sie haben Sie ja noch einen Mantel drunter, staunte er.

Da er keine Antwort bekam und er auch seine eigene Stimme ganz gern hörte, erzählte er gleich weiter. Dass er unten im Polissja schlafe. Dass es oben in der dritten Etage noch Matratzen gebe. Er meine nur, falls er Interesse habe.

Haben Sie die Touristen gesehen? 400 Dollar bezahlen die für einen Tag. Wenn sie kommen, gehe ich raus und drehe eine Runde um den Block, ich repräsentiere das normale Leben, verstehen Sie, ich habe sogar schon Autogramme gegeben. Der Reiseführer ist der junge Jewgeni Browkin. Er führt die Leute immer durch dieselben Straßen. Manchmal bringt er mir einen Topf gekochte Kartoffeln mit dafür, dass ich mich sehen lasse, das ist gut fürs Geschäft, sagt er.

Er sagt aber auch, dass ich aus Prypjat weggehen soll. Aber wohin sollte ich, wo ich hier eine ganze Stadt zu meiner Verfügung habe? Das können wohl wenige von sich sagen. Und dann ist da ja auch noch Ekaterina.

Laurenti Bachtjarow genoss die Gesellschaft. Die ganze Zeit zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch und runter. Er nahm den Autoscootermann beim Arm und schob ihn zu den hinteren Sitzreihen, wo man besser vor der Zugluft geschützt war. Dort nahmen sie Platz.

Sie sind wohl nicht so gesprächig, was?

Haben Sie im Park den Erdhügel mit dem Kreuz drauf gesehen? Das ist Ekaterina, meine Frau.

Als der Unfall war damals, hat uns kein Mensch informiert, was los war. An einem Sonntag tauchten dann Patrouillen von Soldaten mit Geigerzählern auf. Dann kamen die Evakuierungsbusse, alle in einer Reihe standen sie da, mit laufenden Motoren. Über Lautsprecher wurde durchgesagt: Packen Sie Kleidung und Hygieneartikel ein, die ungünstige Strahlensituation wird sich bald geklärt haben.