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 Christian Mörken– Das weiße Z und die verschollenen Juwelen

ISBN 978-3-417-22821-2 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Der Bibelvers Philipper 2,1 ist entnommen aus: Neues Leben. Die Bibel,

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Dietmar Reichert, Dormagen

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Schloss Döster, in dem die Familie von Frangenberg lebt.

Inhalt

Die Hauptpersonen

1. Die Pressekonferenz

2. Der seltsame Brief

3. Das Geheimnis des Dachbodens

4. Die Galerie

5. Falsche Identität

6. Schritte in der Wand

7. Die Sackgasse

8. Das Familiengeheimnis

9. Das Weingut

10. Überraschung in der Höhle

11. Fatale Wendung

12. Nachspielzeit

Über den Autor

imagesZorro
eigentlich Sigismund Ottokar Engelhard Dietrich Balduin von Frangenberg, liebt Hip-Hop, aber nicht seine Vornamen.
imagesTessi
eigentlich Therese Amalie Dorothea Kunigunde von Frangenberg, ist die jüngere Schwester von Zorro und ein Computergenie.
imagesBacke
eigentlich Caspar-Melchior-Balthasar Huber. „Meine Eltern haben sich in der Grundschule beim Krippenspiel kennengelernt. Mein Vater war der Melchior und meine Mutter die Maria. Tja, ich darf das jetzt ausbaden.“
imagesMontag
eigentlich Kwadwo Yeboah. „In Gambia ist es nicht unüblich, dem Kind als Vornamen den Wochentag zu geben, an dem es geboren wurde. In der Landessprache meiner Eltern heiße ich dann Kwadwo. Das heißt Montag.“
imagesLilly
eigentlich Otilia-Walburga Lehmann. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal jemanden treffe, den es noch härter als mich erwischt hat. Wir haben schon überlegt, ob wir vielleicht den Club der blöden Vornamen gründen sollten.“

Zorro, Backe, Montag und Lilly gehen in die 8. Klasse in Bad Trekelsingen. Die Freunde wohnen in Dösterfelde.

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1. Die Pressekonferenz

Klick“, machte es und ein greller Blitz erhellte den Raum und dann noch einmal: „klick“. Zorro hielt sich die Hand schützend vor die Augen und blinzelte.

„Bitte noch einmal hierher, Herr von Frangenberg“, sagte eine junge Frau mit einem freundlichen Lächeln, in deren kurzen, blonden Haaren eine Sonnenbrille steckte. Um ihren Hals baumelte eine schwere, schwarze Kamera. Zu ihrer Rechten wartete ein Mann im Anzug, der in der einen Hand ein Mikrofon hielt und in der anderen einen Schreibblock. Hinter den beiden drängten sich weitere Kameraleute und Journalisten. Manche hielten Diktiergeräte in den Händen, andere schulterten schwere Kameras und wieder andere standen mit Block und Stift dazwischen und schrieben alles mit, was Zorro und sein Vater sagten.

„Wie sind Sie den Tätern auf die Spur gekommen?“, rief eine Journalistin aus einer der hinteren Reihen. „Hatten Sie keine Angst?“, rief ein anderer. „Wie kamen die Täter ins Haus?“, wollte eine weitere Reporterin wissen. „Hatten Sie Angst um Ihr Leben?“, rief ein kleiner Herr aus der vorletzten Reihe. „Wie gelang es Ihnen, den Entführern zu entkommen?“, rief jemand, den Zorro nicht erkennen konnte. „Wie werden Sie nun mit Ihrem Ruhm fertig?“, „Stimmt es, dass Sandy Star, die Siegerin der letzten Pop-Show-Staffel, Ihre Freundin ist?“

Zorros Blick sprang von rechts nach links, von oben nach unten. Immer wenn er eine Frage beantworten wollte, wurde eine andere in den Raum geworfen. Sein Vater hatte ihn zwar auf die Pressekonferenz vorbereitet, aber Zorro fühlte sich dennoch unsicher. Die vielen Gesichter, das Blitzlicht und der spürbare Druck sorgten bei ihm für ein flaues Gefühl in der Magengegend. Wäre dies hier eine Bühne bei einem Hip-Hop-Wettbewerb gewesen, es hätte ihm nichts ausgemacht.

Aber vor den Fragen der zahlreichen Journalisten und Reporter fürchtete er sich. Der Raum, in dem sie sich befanden, gehörte zum Hotel Krone in Bad Trekelsingen, dem nächsten größeren Ort bei Dösterfelde. Es war ein schlichter Konferenzraum. Auf dem Boden lag ein dunkler Teppich, die Stahlrohrstühle waren in geraden Reihen aufgestellt und an den Seitenwänden hingen schlichte Landschaftsmalereien, die Burgen und Seen der Umgebung von Bad Trekelsingen zeigten.

An der Rückwand gab es zwei Tische, auf denen Gläser, einige Flaschen mit Wasser und Limonade sowie ein paar Knabbereien angerichtet waren. Zorro und seine Freunde waren schon vor zwei Stunden mit seinem Vater gekommen und hatten alles vorbereitet.

Dabei hatten sie die Hotelbediensteten dabei beobachtet, wie diese Kaffee, Tassen und Kekse auf Servierwagen in den Raum gebracht hatten und dann auf jedem Stuhl jeweils einen Block und Stift für die Reporter verteilt hatten. Am Schluss nahm Zorros Vater alles in Augenschein und versicherte dann dem Oberkellner, dass er sehr zufrieden damit war.

Wieder erhellte ein Blitz den Raum und Zorro bemerkte, wie weitere Journalisten hereinkamen.

„Wie lebt es sich als Held in einem so beschaulichen Ort wie Dösterfeld?“, fragte die junge Reporterin mit der blonden Kurzhaarfrisur und hielt ihm nun ein Mikrofon vor den Mund.

„Dösterfelde!“, antwortete Zorro, „es heißt Dösterfelde.“

„Aha“, sagte die Frau teilnahmslos ohne ihn wirklich anzusehen.

„Und ich bin kein Held!“, setzte Zorro nach.

„Meinst du nicht, dass man dir das als falsche Bescheidenheit auslegen könnte?“, fragte nun der Mann mit dem Block. Bevor Zorro darauf reagieren konnte, wurde er von einem erneuten Blitzlicht geblendet.

„Wo glaubst du, dass die Bilder versteckt sind?“, rief eine Journalistin aus einer der hinteren Reihen.

„Ich weiß es nic…“, weiter kam Zorro nicht, denn plötzlich drängelte sich ein korpulenter Mann nach vorn, dem ein hagerer Mann folgte, auf dessen Schulter eine Kamera lag.

„Diephagen, Regional-Aktuell-TV“, stellte er sich knapp vor und schob dann seinerseits Zorro ein Mikrofon unter die Nase. „Was sagst du zu den Vorwürfen, dass du die Bilder längst gefunden hast und es bisher nur verschweigst?“

„Jetzt reicht es“, sagte auf einmal eine markante, männliche Stimme, die Zorro nur allzu gut kannte. Dann spürte er, wie sich die Hand seines Vaters auf seine Schulter legte. Zorro war erleichtert.

„In wenigen Minuten beginnen wir mit der Pressekonferenz. Dann können Sie all Ihre Fragen stellen. Ich verbitte mir aber solcherlei Unterstellungen wie die gerade vorgebrachte. Wir sind hier, um ein Buch vorzustellen, nicht um ein Verbrechen aufzuklären.“

Damit führte ihn sein Vater in Richtung des Podestes, das am Kopfende des Raumes aufgebaut war. Auf dem Podest standen zwei Tische und dahinter sechs Stühle. Während Zorro und sein Vater sich durch die wartenden Reporter drängten, bemerkte Zorro aus dem Augenwinkel schon Lilly, Backe und Montag. Sie lächelten ihm zu und schlossen sich ihnen an. Dann bestiegen alle das Podest. Zorro und sein Vater setzten sich in die Mitte und die drei Freunde platzierten sich um sie herum. Die wartenden Reporter und Journalisten nahmen nun auf den zahlreichen Stühlen vor dem Podest Platz. Als alle saßen, bemerkte Zorro, dass auf dem Podest noch ein Platz frei war. Allerdings stand dort kein Stuhl. Und dann sah er seine Mutter, die Tessi hereinschob. Tessi war Zorros jüngere Schwester, die seit ihrer Geburt von der Hüfte abwärts gelähmt war. Kaum erreichten seine Mutter und Tessi das Podest, sprangen zwei Herren in dunklen Anzügen zu ihnen und halfen den Rollstuhl auf das Podest zu heben. In diesem Moment leuchteten wieder zahllose Blitzlichter auf und tauchten den Raum in ein unwirkliches, grelles Licht. Dazwischen riefen die Reporter Tessi Fragen zu, die aber im allgemeinen Geraune und Geflüster untergingen. Kaum stand sie auf dem Podest, übernahm Tessi behände die Kontrolle über den Rollstuhl und rollte schwungvoll an den freien Platz neben Montag. Nun beruhigte sich der Saal, die Blitzlichter wurden weniger, die aufgeregten Zwischenrufe verstummten. Als es ruhig genug geworden war, räusperte sich Zorros Vater deutlich hörbar und zog das Tischmikrofon näher zu sich heran.

„Ich denke, dass wir dann vollzählig sind“, sagte er und sah noch einmal die Tische entlang. „Somit können wir also mit der Pressekonferenz beginnen. Im Namen des Frangenberg-Verlages möchte ich Sie alle recht herzlich willkommen heißen. Wir sind heute hier, um Ihnen das Buch „Das weiße Z und ein Schloss voller Lügen“ vorzustellen. Es basiert auf tatsächlichen Erlebnissen meines Sohnes Zorro sowie seiner Freunde Lilly, Montag und Backe und natürlich meiner Tochter Tessi.“

„Ihr Sohn heißt wirklich Zorro?“, rief eine Stimme aus der Menge.

„Nein, ich meine natürlich Sigismund Ottokar Engelhardt Dietrich Balduin von Frangenberg und seine Freunde Kwadwo, also Montag, Otilia-Walburga, genannt Lilly und Caspar-Melchior-Balthasar, genannt Backe.“ Nachdem sein Vater ihre Namen genannt hatte, herrschte ungläubiges Schweigen im Raum. Zorro wünschte sich in diesem Moment, dass sich der Boden unter ihm auftun möge. Er konnte seinen Namen nicht ausstehen und Lilly und Backe ging es ebenso. Was hatten sich ihre Eltern nur dabei gedacht? Warum hatten Sie ihm keinen normalen Namen geben können? Daniel, Matthias, Florian oder Oliver? Nein, Sigismund Ottokar Engelhardt Dietrich Balduin – er war doch kein Kreuzritter! Zorro wusste, dass er diesen Namen dem Adelstick seiner Mutter zu verdanken hatte. Sie liebte alles, was mit der Geschichte der Familie von Frangenberg zu tun hatte, und so hatte sie ihm kurzerhand sämtliche Vornamen der wichtigsten Vorfahren verpasst. Gerade mahnte sich Zorro, sich wieder auf die Pressekonferenz zu konzentrieren, als er bemerkte, dass die Reporter bereits woanders hinblickten.

Sie sahen alle auf Tessi, die rot anlief und mehr schlecht als recht versuchte den neugierigen Blicken zu entgehen.

„Fangen wir also mit Ihren Fragen an“, sagte Zorros Vater und ließ seinen Blick über die Reihen mit Reportern und Journalisten gleiten. Sofort erhob sich eine Frau mit langen dunklen Haaren, die einen hellen Mantel trug und auf deren Nasenspitze eine Lesebrille prangte. Sie schob die Brille zurück, warf noch einen kurzen Blick auf ihre Notizen und wandte sich dann an Zorro: „Darf ich Du sagen?“, fragte sie und fuhr fort, als Zorro nickte: „Also, die Geschichte hast du so erlebt, richtig?“

Zorro nickte.

„Hast du, während du mit den Entführern in Kontakt warst, irgendeinen Hinweis auf das Versteck der Bilder bekommen?“, fragte sie.

„Nein, absolut nicht“, antwortete Zorro. „Sie haben mir gegenüber die Bilder nie erwähnt. Ich wusste ja auch noch nichts von den Bildern.“

„Haben Sie inzwischen mit Ihrem Bruder sprechen können?“, fragte die Reporterin nun Zorros Vater.

„Nein, wir haben bisher keinen Kontakt gehabt“, sagte dieser.

Nun erhob sich ein kräftiger Mann mit Glatze und einem gewaltigen Bauch. In seinen riesigen Händen schienen sein Block und sein Stift fast zu verschwinden.

„Glauben Sie, dass die Bilder bei Ihnen im Schloss versteckt sind?“, fragte er an Zorros Vater gewandt. Doch dieses Mal war es Zorro, der die Frage beantwortete: „Wir wissen es nicht. Gefunden haben wir nichts. Es gibt auch keinerlei konkrete Hinweise darauf, dass die Bilder bei uns im Schloss versteckt sind.“

„Aber stimmt es nicht, dass es dein Onkel Ludwig gewesen ist, der deinen Eltern den Tipp mit dem Schloss gegeben hat? Stellst du da keinen Zusammenhang her?“

„Ich verstehe die Frage nicht“, antwortete Zorro und sah zu seinem Vater.

„Ich weiß nicht, was Sie damit andeuten wollen“, sagte Zorros Vater in Richtung des Reporters. „Aber wir haben keinen Anlass zu glauben, dass die Bilder sich im Schloss befinden.“

„Dem schließe ich mich an“, kam auf einmal eine Stimme von der Seite. Zorro kannte diese Stimme. Er sah in die Richtung und erblickte Herrn Jansen, den Versicherungsdetektiv der Global-Metropol-Versicherung. In seinem Gesicht prangten noch immer der dunkle Vollbart und die wuchtige Brille. Nur trug er dieses Mal keinen Trenchcoat, sondern ein dunkles Jackett und Jeans. Er stand unweit der Eingangstür. Als die Gesichter der Journalisten sich ihm zuwandten, begann Herr Jansen zu erzählen und Zorro merkte, wie er in seinen Gedanken zu den Ereignissen zurückkehrte, die sich vor gerade einmal neun Monaten in Dösterfelde zugetragen hatten.

Er erinnerte sich an den Umzug aus Hamburg nach Dösterfelde, an die ersten Tage und seine Gefühle. Wie hatte er den Umzug gehasst. Aus der brodelnden Großstadt, in der alles immer in Bewegung zu sein schien, in das beschauliche Dösterfelde, in dem der Hahnenschrei am Morgen und das Läuten der Kirchturmglocken die täglichen Höhepunkte markierten. Und alles nur wegen seiner Schwester Tessi, für die das Leben als Rollstuhlfahrerin in der Großstadt zu viele Hindernisse bereithielt. Seine Eltern hofften, dass das Leben auf dem Land für Tessi mehr Möglichkeiten bieten würde. Schließlich konnte sie in Dösterfelde allein umherfahren, ohne auf den Großstadtverkehr achten zu müssen oder vor defekten U-Bahn-Aufzügen zu stehen. In Dösterfelde bestand die größte Gefahr darin, durch einen Kuhfladen zu fahren, oder dass Frau Babel von der Käserei Tessi mit ihren Geschichten zu Tode langweilen würde. Es gab keine steilen Treppen, keine Aufzüge, kaum Kantsteine und die wenigen Traktoren im Ort fuhren so langsam, dass Tessi ihnen problemlos ausweichen konnte. Nicht zuletzt bot ihr neuer Wohnsitz Tessi ungeahnte Möglichkeiten. Hatten sie in Hamburg noch in einer großen Altbauwohnung gewohnt, nannte Zorros Familie nun ein ganzes Schloss ihr Eigen. Es lag etwas abseits des Ortes auf einer Anhöhe, umgeben von einem großen Garten, in dem steinalte Kastanien und Eichen wuchsen. Daneben gab es einen Springbrunnen und eine weitläufige Kiesauffahrt, die die Besucher direkt vor die großzügige Freitreppe führte. Neben der Kiesauffahrt hatten ihre Eltern extra einen geteerten Weg anlegen lassen und neben der Freitreppe verlief eine Fahrstuhlrampe, sodass Tessi sich völlig frei bewegen konnte. Im Schloss konnte Tessi alle Etagen mit einem Fahrstuhl erreichen. Einmal oben boten die großen Säle und breiten Galerien beste Bedingungen für einen Rollstuhlfahrer. Ganz anders als das enge Treppenhaus in Hamburg.

Dennoch hatte Zorro bereits am ersten Tag in Dösterfelde beschlossen, so schnell es ging wieder nach Hamburg zu kommen. Und dann hatte sich die ganze Sache mit dem Wettbewerb ergeben und er hatte sich auf den Weg nach Hamburg gemacht. Alles war schließlich in der Geschichte geendet, wegen der er nun hier saß und den anwesenden Journalisten Rede und Antwort stand. Er war eine Berühmtheit geworden. Allerdings nicht als Hip-Hop-Star.

„Stimmen Sie der Darstellung von Herrn Jansen zu?“, fragte der Reporter mit dem Block.

„Was, was?“, stammelte Zorro geistesabwesend und nickte dann eilig.

„Das heißt also, aus dem Buch Ein Schloss voller Lügen werden wir nichts über den Verbleib der Bilder erfahren?“, fragte die Journalistin mit der Kurzhaarfrisur.

„Nein“, sagte Zorros Vater. „Es ist eine Abenteuergeschichte für Kinder, kein Enthüllungsroman. Das Spannende daran ist, dass es eben eine wahre Geschichte ist. Das Weiße Z gibt es wirklich. Es sitzt hier vor Ihnen. Diese fünf Kinder haben die Ganoven zur Strecke gebracht. Ganz allein, ohne die Hilfe der Polizei.“

„Na ja, fast“, schränkte Zorro ein. Er erinnerte sich an den Moment, als er fast von einem der Gangster entdeckt worden wäre. Er mochte sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die Polizei nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre. Für einen Augenblick spürte er, wie sich sein Herz zusammenzog.

Dann folgten einige Fragen der Journalisten, die sich direkt mit dem Buch befassten. Zorro hörte seinem Vater zu, wie er routiniert jede Frage beantwortete und das Buch Das weiße Z und ein Schloss voller Lügen immer wieder in die Kameras hielt. Nach weiteren dreißig Minuten war die Pressekonferenz beendet. Viele der Journalisten verließen den Raum so schnell es ging, manche Teams kamen aber auch noch einmal zu Backe, Tessi, Lilly, Montag und Zorro und baten, weiter Fotos machen zu dürfen.

Dabei bemerkte Zorro eine Frau. Sie mochte vielleicht Mitte fünfzig sein. Sie trug eine rote Kostümjacke und dazu einen roten Rock und schwarze Stiefel. Auf ihrem Kopf prangte eine schwarze Baskenmütze, unter der ein weißblonder Zopf hervorlugte. Sie lehnte an der Rückwand des Raumes und hielt eine schwarze Handtasche umschlungen. Ihr Blick wich nicht von der Bühne, auf der Zorro und seine Freunde saßen. Zorro wusste nicht, wie er den Blick der Frau einordnen sollte. War sie eine Journalistin? Oder war sie nur aus Neugierde gekommen, um die Buchpräsentation zu beobachten? Zorro konnte sich nicht helfen, aber die Frau sah nicht aus wie eine Reporterin. Auch hielt sie keinen Stift oder Block und auch kein Diktiergerät in ihren Händen. Zorros Blick fiel erneut auf die Handtasche, die sie mit beiden Armen umklammerte. Es schien, als befände sich etwas sehr Wertvolles in der Tasche. Zorro überlegte kurz, ob er zu ihr gehen sollte.

Aber die Gruppe der Reporter und Journalisten umringte ihn immer noch. So sah Zorro keine Möglichkeit, von der kleinen Bühne zu kommen. Erneut bemerkte er, dass die Frau ihn nicht aus den Augen ließ. Was wollte sie hier? Dann plötzlich öffnete sie die Handtasche und zog etwas heraus. Es war klein und weiß. In etwa so groß wie eine Streichholzschachtel. Sie hielt es für einen Moment zwischen Daumen und Zeigefinger. In diesem Moment trafen sich ihre Blicke. Sah sie ihn wirklich direkt an? Zorro wandte den Blick ab. Dann sah er wieder zu ihr. Sie hielt ihren Blick immer noch auf ihn gerichtet. Nun ließ sie die Hand, in der sie den weißen Gegenstand hielt, sinken. Dann ließ sie den Gegenstand fallen, nicht ohne sicherzugehen, dass Zorro sie dabei beobachtete.

„Ist was?“, hörte Zorro die Stimme von Lilly neben sich. Er drehte sich um und sah, dass sie sich neben ihn geschoben hatte. Sie trug ihre blonden Haare zu einem Zopf gebunden und es schien für Zorro, dass in Lillys Gesicht noch mehr Sommersprossen prangten, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie trug ein weißes T-Shirt, das sie offenbar von einem Besuch in London mitgebracht hatte, Jeans und Stoffturnschuhe.

„Ich weiß nicht“, flüsterte Zorro in Lillys Richtung, „aber die Frau da hinten an der Wand sieht mich die ganze Zeit an.“

„Vielleicht findet sie dich schön?“, witzelte Lilly und zog die Augenbrauen hoch.

„Quatsch!“, sagte Zorro. „Ich meine, sie sieht mich an, als wäre irgendetwas an mir nicht in Ordnung.“

„Lass mich mal sehen“, sagte Lilly und beugte sich zu Zorro und musterte ihn. „Also nein, du hast keine Essensreste zwischen den Zähnen und dir klebt auch nichts auf der Nase“, sagte sie und lächelte.

„Mann, wann ist das denn endlich zu Ende“, sagte plötzlich Montag, der sich an zwei Reportern vorbei zu Zorro und Lilly vorgekämpft hatte. Die Journalisten gruppierten sich nun um Backe, der die Aufmerksamkeit sichtlich genoss.

„Wieso, gefällt dir der Rummel nicht? Du bist jetzt berühmt!“, sagte Lilly und legte ihren Arm um Montags Schultern.

„Berühmt“, wiederholte Montag fast verächtlich. „Die wissen nicht einmal, wie ich heiße. ‚Hallo Montag, wie hast du denn die Entführung deines Freundes erlebt und stimmt es, dass du ihn in einer Höhle, die sich unter deiner Villa befindet, versteckt hast?‘“, äffte Montag eine Reporterfrage nach.

Zorro und Lilly mussten lachen.

Montag zog sich seine Baseballkappe ins Gesicht und nickte den beiden zu. „Ich bin dann mal weg“, sagte er und bahnte sich einen Weg durch die Reporter.

Zorro sah ihm kurz nach. Dann fiel sein Blick wieder auf die gegenüberliegende Wand. Die Frau war verschwunden. Eilig erhob Zorro sich, um über die Köpfe der Reporter gucken zu können. Aber er konnte die Dame nicht mehr sehen. Sie hatte den Raum verlassen. Zorro schob den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, zur Seite und drängte sich an zwei der Journalisten vorbei. Dabei wollte der eine Zorro noch eine Frage stellen, aber Zorro wich ihm aus. Nachdem er sich noch an drei weiteren Personen vorbeigeschoben hatte, gelang es ihm aus der Menschentraube auszubrechen, die sich noch immer um das Podium versammelt hatte. Er bemerkte im Vorbeigehen, wie Backe gerade einer Reporterin noch einmal die Geschichte erzählte, wie sie die Entführer mithilfe der Bettlaken überwältigt hatten. Dann sprang Zorro von der kleinen Bühne und blickte sich im Raum um. Nein, von der Frau war absolut nichts mehr zu sehen. Sie war verschwunden. Etwas unentschlossen, was er unternehmen sollte, ging Zorro durch den Raum, vorbei an den leeren Stuhlreihen. Einige der Journalisten hatten das kostenlose Freiexemplar des Buches Das weiße Z und ein Schloss voller Lügen zurückgelassen und Zorro fand auch einige der Einladungen auf dem Boden, die sein Vater an die Redaktionen verschickt hatte. Und dann fiel sein Augenmerk auf einen weißen Papierschnipsel, der genau dort lag, wo die Frau gestanden hatte. Zorro machte einige Schritte darauf zu. Sicherlich war es nichts Wichtiges. Vielleicht nur ein alter Einkaufszettel. Oder eine unwichtige Notiz. Doch dann erkannte Zorro, dass es sich nicht um einen Zettel handelte. Es war eine Visitenkarte. Vielleicht war es die Visitenkarte der Frau? Würde er nun erfahren, wer sie war, und vielleicht auch, warum sie ihn so angesehen hatte? Zorro bückte sich und hob die Karte auf. Als er den Text las, war er erstaunt. Es war kein Frauenname, der dort stand. Vielmehr war es die Karte eines Geschäftes. ‚Balduin Goldacker, Kunstmaler, Galerie, Poststraße 2, 5002 Muebeck‘. Noch einmal las Zorro die Karte und dann war es, als würde sein Herz für eine Sekunde stehen bleiben. ‚Goldacker las er erneut. Goldacker – das war der Name, der auf dem Plakat mit dem vermissten Kind gestanden hatte. Der Name, von dem Zorro angenommen hatte, dass es sein richtiger Name war und der ihn in die Arme der Entführer getrieben hatte. Vor seinem geistigen Auge sah Zorro das Poster mit dem Bild, das ihn zeigte. Später hatte sich herausgestellt, dass das Poster eine Fälschung war. Aber nun sah er diesen Namen hier erneut: Goldacker. Wie passte das zusammen?

„Ist was?“, hörte er wieder Lillys Stimme und bemerkte im selben Moment, wie sie sich über seine Schulter beugte.

„Ich habe diese Karte hier gefunden“, sagte Zorro. Lilly las den Text und machte dann ein Geräusch, das nach Erstaunen oder Überraschung klang.

„Goldacker, den Namen kenne ich doch“, sagte Lilly und überlegte einen Moment. „Klar, das war doch der Name auf dem Plakat, auf dem du als vermisst gemeldet wurdest, oder nicht?“

„Genau!“, sagte Zorro.

„Von wem hast du die Karte?“, fragte Lilly und nahm sie Zorro aus der Hand.

„Ich habe sie dort gefunden“, sagte er und deutete auf die Stelle, an der die Karte gelegen hatte.

„Aber die ganze Geschichte mit deiner Entführung … ich meine, das passt doch nicht“, sagte Lilly und sah erneut auf die Karte in ihrer Hand.

Zorro nickte.

„Alles in Ordnung?“, fragte Montag, der sich, mit einer Limonade in der Hand, zu ihnen gesellte.

„Das hat Zorro gerade gefunden“, sagte Lilly und reichte Montag die Visitenkarte. Montag erkannte sofort, worauf Lilly und Zorro hinauswollten. „Dann ist die ganze Geschichte also doch noch nicht zu Ende?“, sagte Montag mehr zu sich selbst als zu seinen Freunden.

„Sieht so aus“, sagte Zorro und sah erneut zum Podest. Mehr und mehr Journalisten packten ihre Sachen zusammen und verließen den Raum.

Nur noch eine Handvoll Reporter stand um Backe geschart und lauschte seinen Ausführungen. Zorros Vater war ebenfalls aufgestanden und begann seine Unterlagen zusammenzupacken. Jemand hatte den Beamer bereits ausgeschaltet, der das Cover-Bild des Buches an die Wand hinter dem Podest geworfen hatte. Von irgendwoher drang leise Musik zu Zorro und einige wenige Journalisten standen an dem Tisch, auf dem es Getränke und Knabbereien gab.

„Haben wir irgendeine Ahnung, wem die Karte gehören könnte?“, fragte Montag und sah abwechselnd zu Lilly und Zorro.

„Nein, keine“, sagte Zorro. „Also vielleicht doch, meine ich. Hier war so eine Frau. Ich kenne sie nicht, aber sie hat mich so seltsam angesehen.“

„Was meinst du damit?“, fragte Montag.

„Weiß nicht, aber irgendetwas an ihr war seltsam. Ich kann es nicht genau sagen.“

Nun lösten sich auch die letzten Reporter vom Tisch mit den Erfrischungen und gingen aus dem Raum. Auch bei Backe stand inzwischen niemand mehr. Zorros Vater unterhielt sich mit einem Angestellten des Hotels. Jetzt erhob sich Backe, zog seinen Hosenbund hoch und stieg von dem Podest. Währenddessen halfen Zorros Mutter und zwei der Bediensteten Tessi herunter. Backe trug einen Kapuzenpulli, eine weite Hose, Turnschuhe und seit Neuestem einen langen Zopf. Seine runden Backen glänzten und ließen seine kleinen Augen noch kleiner erscheinen. Mit einem breiten Grinsen kam er zu ihnen herüber. Als er in Hörweite war, hob er seine massige rechte Hand und klatschte sich mit der Luft ab.

„Na, war das nicht riesig“, sagte er nun mit noch breiterem Grinsen, sodass seine kleinen, dunklen Augen fast ganz hinter seinen glänzenden Pausbacken verschwanden.

„Fandest du?“, fragte Montag verwundert.

„Na, logisch!“, sagte Backe. „Ich meine, hey, morgen sind wir in allen Zeitungen zwischen Cemmenraden und Bad Trekelsingen. Der Mann vom ‚Format‘ hat mir gesagt, dass er die Geschichte schon bundesweit erscheinen sieht. Und dann erst die Frau von ‚BILD-News‘ – die meinte, dass sie die Geschichte auf Seite eins bringen will! Sie hat mir sogar schon die Schlagzeile verraten“, sagte Backe und sah seine Freunde schelmisch an.

„Ja, und?“, fragte Lilly. „Jetzt spann uns doch nicht auf die Folter!“

„Wow Backe!“, sagte Backe und strahlte übers ganze Gesicht.

„Wow Backe?“, wiederholte Montag kopfschüttelnd. „Was soll das denn heißen?“

„Na es klingt eben wie ‚Au Backe‘, aber eben in diesem Fall ‚Wow Backe‘“, sagte Backe. Er klang enttäuscht, dass seine Freunde sich seiner Begeisterung nicht anschlossen.

„Aha“, sagte Lilly und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß zwar nicht, was das mit unserer Geschichte zu tun haben soll, aber wenn die Frau meint.“

„Ey, jetzt sei mal nicht so. Immerhin habe ich die Polizei geholt! Wenn die nicht rechtzeitig gekommen wären, dann hätte Zorro ganz schön alt ausgesehen.“

„Ich glaube, der liebe Backe hebt nun ganz schön ab“, neckte Lilly und grinste.

„Gar nicht!“, sagte Backe beleidigt.

„Bei dem Gewicht wird das auch nichts mit dem Abheben“, warf Montag ein und knuffte seinen Freund.

„Jetzt werd mal nicht unverschämt, ja?“, sagte Backe, musste aber auch grinsen.