Buchinfo

Neue Stadt, neue Freunde, neues Leben: Nach dem Tod der Mutter ist für Rebekka nichts mehr, wie es war. Auch an der neuen Schule fühlt sie sich fehl am Platz, bis sie den geheimnisvollen Juri kennenlernt. Rebekka ist fasziniert von seiner ruhigen, selbstsicheren Art. Doch nach ihrem ersten Kuss ist er wie vom Erdboden verschluckt. Als sie bei einem Ausflug unglücklich ins Wasser fällt und zu ertrinken droht, ist Juri überraschenderweise zur Stelle. Dass er danach wieder spurlos verschwindet, kann Rebekka nicht verstehen. Sie beschließt, seinem merkwürdigen Verhalten auf den Grund zu gehen und kommt einem uralten Geheimnis auf die Spur …

So geheimnisvoll und romantisch wie Romeo und Julia!

Autorenvita

Astrid Frank

© privat

Marliese Arold wurde als jüngstes Kind von drei Geschwistern in Erlenbach am Main geboren. Das Nesthäkchen liebte die Märchen, die ihre Mutter ihr erzählte, und entdeckte sehr früh die Liebe zu Geschichten. Sie konnte von Büchern nicht genug bekommen, aber Bücher waren knapp. Um Abhilfe zu schaffen, beschloss sie kurzerhand, selbst zu schreiben.Über zweihundert Bücher hat die Vollzeit-Autorin, die mit ihrem Mann noch immer in Erlenbach lebt, schon geschrieben. Ihre beiden Kinder sind inzwischen erwachsen. Ihre lustigen, traurigen, spannenden und frechen Erzählungen vermehren sich fröhlich weiter und, tatsächlich, langsam wird es auf ihren Bücherregalen eng!

Titelseite

PROLOG

Ich muss mich bei meinem Dad einhaken, sonst sacken mir die Knie weg. Ungeschickt stolpere ich neben ihm her, blind vor Tränen. Das Jugendorchester der Musikschule spielt Air von Johann Sebastian Bach. Das Stück hat meine Mutter so geliebt.

Jetzt ist sie tot und ich gehe hinter ihrem Sarg her, der geschmückt ist mit weißen Lilien und roten Nelken. Je zwei Sargträger links und rechts, die Männer von Mamas Freundinnen und Malerkolleginnen. Sie hat zuletzt nur noch knapp vierzig Kilo gewogen – und jetzt ist sie noch leichter, weil ihre Seele den Körper verlassen hat. Eine Seele soll ja einundzwanzig Gramm wiegen. Glaube ich das? Gibt es überhaupt so etwas wie eine Seele?

Ich weiß nicht, wie ich das alles aushalten soll. Der Tod ist so schrecklich. Krebs ist so schrecklich. Meine Hand klammert sich an Dads Ärmel, meine Finger krallen sich in den schwarzen Stoff seines Anzugs.

Ein Schritt und noch ein Schritt. Ich trage schwarze Schuhe mit halbhohen Absätzen, in denen ich immer wieder umknicke. Aber auch in ganz flachen Sneakers hätte ich heute das Gleichgewicht verloren, würde ich mich nicht an Dad festhalten. Der gepflasterte Weg führt leicht abwärts. Aus den Augenwinkeln nehme ich die Gräber links und rechts wahr. Auf vielen brennen rote Lichter, sie sind gepflegt, frische Blumen in den Vasen, nirgends ein Unkraut. Ich weiß, dass Mutter solche geschniegelten Gräber nicht mag, am liebsten hätte sie sich in einem Friedwald begraben lassen, in einer Urne, unter einem Baum. Aber das hat Dad nicht geschafft. Er wollte sie nicht verbrennen lassen. Außerdem wollte er ein sichtbares Grab, mit einem Grabstein, den wir erst noch aussuchen müssen. Vielleicht wird auch ein Engel auf ihrem Grab stehen, der wenigstens im Tod über sie wacht, wenn er es schon im Leben nicht getan hat. Engel sind mir genauso suspekt wie die Sache mit der Seele.

Wir sind beim Grab angelangt. Die Grube ist an den Rändern ausgelegt mit grünem Kunstrasen.

Es ist schrecklich, als der Sarg in die dunkle Grube hinabgelassen wird. Einen Augenblick lang wird mir schwarz vor Augen. Aber ich werde nicht ohnmächtig. Ich atme tief aus und ein, und in diesem Moment kommt es mir vor, als stünde eine andere als ich vor dem Grab.

Dad neben mir schluchzt. Ich würde ihn gern trösten, doch ich brauche selbst Trost.

Er wirft einen Strauß rote Rosen ins Grab. Ich bin an der Reihe. Ich habe nur eine Rose, dunkelrot, mit langem Stiel und ohne Dornen, mit roter Schleife.

Ich werfe sie ins Grab, ohne etwas zu sagen, denn ich habe keine Worte. Ich muss Abschied nehmen, ohne Abschied nehmen zu wollen.

Nichts ist richtig. Der Tod ist nicht richtig. Dass ich hier an ihrem Grab stehe, ist nicht richtig.

Meine Hand zittert, als ich nach der Schaufel greife. Erde poltert auf den Sarg. Es ist, als würde ich meine Mutter damit endgültig umbringen.

Ich kann nicht mehr, meine Knie geben nach. Jemand greift mir unter die Achseln und führt mich ein paar Schritte weg. Silke, meine beste Freundin. Sie reicht mir ein Taschentuch. Es fängt meine Tränen auf. Tränen der Trauer und Tränen der Wut, weil das Leben so verdammt ungerecht ist und weil ich nichts dagegen machen kann.

Kapitel eins
NEUE UFER

Ich bin nirgendwo zu Hause außer auf dem Meer.

K.S.

»Wir können nicht hierbleiben«, sagte Dad eines Abends, ungefähr zwei Monate nach der Beerdigung.

Ich hatte Simon gerade ins Bett gebracht und dafür gesorgt, dass er sich zuvor die Zähne putzte. Wie immer hatte ich meinem Bruder eine Gutenachtgeschichte vorgelesen und darauf bestanden, dass er ein Stück selber las und zwar laut.

Ich liebte das abendliche Ritual, es schweißte uns zusammen. Manchmal redeten wir über Mama. Simon war mit seinen sieben Jahren fest überzeugt, dass sie jetzt im Himmel war und durch die Wolken auf uns herabschaute. Ich beneidete ihn um seinen kindlichen Glauben und wünschte mir, ich könnte genauso Trost finden wie er. Es fiel mir schwer, mir etwas anderes vorzustellen außer dass Mamas Körper jetzt unter der Erde zerfiel und dass nur unsere Erinnerungen von ihr übrig blieben. Gab es ein Weiterleben im Jenseits? Oder wurden wir alle irgendwann wiedergeboren, in einer anderen Zeit, in einer anderen Gestalt? Es gab niemanden, den ich fragen konnte, und ich hatte auch aufgehört, im Internet nach Antworten zu suchen.

»Warum können wir nicht hierbleiben?«, fragte ich Dad. »Wie meinst du das?«

»Ich dachte, wir könnten nach Hamburg ziehen«, sagte er, ohne mich anzusehen.

»Zu Oma?« Ich schnappte nach Luft.

»Genau. Ihr Haus ist groß genug für uns alle. Ich habe schon mit ihr gesprochen.«

Etwas schnürte meine Kehle zu. Ich kannte meine Oma väterlicherseits kaum. Mit fünf Jahren hatte ich sie das letzte Mal gesehen. Sie wohnte in einem Schloss. So kam mir damals die riesige Villa vor – ein Schloss mit einer bösen Königin, die Mama nicht leiden konnte. Weil sie Künstlerin war. Und weil sie Papa geheiratet hatte und er ihretwegen nicht in den Familienbetrieb eingestiegen war.

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte ich.

Dad wich immer noch meinem Blick aus.

»Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl, Rebekka.« Seine Stimme war jetzt so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. »Wir sind pleite. Ich muss das Haus verkaufen, um die Schulden zu bezahlen.«

Mamas Krankheit hatte zuletzt viel Geld verschlungen, besonders, als klar war, dass ihr die Schulmedizin nicht helfen konnte. Dad hatte immer wieder nach alternativen Möglichkeiten gesucht, vergebens. Niemand konnte sie heilen, weder die Professoren in New York noch der Schamane in Österreich. Meine Eltern hatten sich an jeden Strohhalm geklammert.

»Ich habe schon einen Makler beauftragt«, redete Dad weiter. »Morgen Vormittag kommen die ersten Interessenten.«

Ich konnte es nicht fassen. Offenbar hatte er schon alles organisiert. Ich sprang auf.

»Toll, du hast es einfach beschlossen, ohne mir ein Wort zu sagen!« Empört verließ ich das Wohnzimmer und schmetterte die Tür hinter mir zu. Ich rannte in mein Zimmer hinauf und warf mich aufs Bett. Mein Herz raste. Ich griff nach meinem Kopfkissen und schleuderte es auf den Boden. Meine Wut war riesig. Ich hatte große Lust, etwas kaputt zu machen. Dad hatte einfach über mich und Simon bestimmt, ohne uns zu fragen, wie wir uns unser zukünftiges Leben vorstellten. Vermutlich hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, dass wir unsere Freunde verlieren würden. Und nicht nur das 

Ich schloss die Augen. Tausend Gedanken drehten sich in meinem Kopf. Hamburg – das bedeutete neue Schule, andere Lehrpläne, fremde Mitschüler und Lehrer. Ganz zu schweigen davon, dass wir bei Oma wohnen sollten. Eine Gänsehaut kroch meinen Rücken empor. Mein Bauch verkrampfte sich. Nein, nein, niemals im Leben! Es musste doch noch eine andere Möglichkeit geben. Wir konnten hierbleiben und in eine kleine Mietwohnung ziehen. Meinetwegen konnte sie ganz winzig sein, ich war auch bereit, mein Zimmer mit Simon zu teilen. Alles – aber nicht zu Oma, nicht nach Hamburg 

»Hamburg ist doch so was von cool«, meinte Silke am nächsten Tag, als ich ihr in der Pause von Dads Plänen erzählte. »Ich komm dich garantiert besuchen. In der Großstadt hast du viel mehr Möglichkeiten als hier … Wow, und du hast mir noch nie verraten, dass deine Oma stinkreich ist.«

Ich starrte meine Freundin an und verstand nicht, wie sie so reden konnte. Gut, ich hatte ihr nichts von dem Konflikt erzählt, der zwischen meiner Mutter und meiner Oma geherrscht hatte. In der letzten Zeit hatte es eigentlich nur zwei Gesprächsthemen zwischen uns gegeben: Mamas Krankheit und Silkes Beziehung zu diversen Jungs. So unterschiedlich diese Themen auch waren, sie versetzten uns in ähnliche Stimmungen, himmelhoch jauchzend oder abgrundtief traurig. Ich lief wie auf Wolken, wenn sich Mamas Zustand besserte und es Hoffnung auf Heilung gab. Silke war im siebten Himmel, wenn sie sich mit ihrem neusten Schwarm verabredet hatte. Doch sowohl Silkes als auch meine Welt stürzten regelmäßig zusammen: Der Neue entpuppte sich wieder einmal als Dumpfbacke und bei meiner Mutter stand die nächste Chemo an. Mum wurde blasser und wog immer weniger, und Silke verlor allmählich das Vertrauen, dass es irgendwo einen Jungen gab, der kein Arschloch war.

»Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben als hier«, sagte ich und ließ meinen Blick über den Schulhof schweifen. Alles war so vertraut, und ich spürte einen Stich in der Magengegend bei dem Gedanken, von hier weg zu müssen.

»Du bist ein Angsthase.« Silke lachte und warf ihre blonde Mähne mit Schwung nach hinten – eine Geste, auf die die Jungs abfuhren. »Ich wäre glücklich, wenn ich an deiner Stelle wäre. Stattdessen muss ich in diesem Kaff versauern. Ich kann es gar nicht abwarten, bis ich achtzehn bin und irgendwo studieren kann.«

Ich seufzte. Silke und ich waren so verschieden – und doch waren wir die allerbesten Freundinnen. Sie war mutig und abenteuerlustig und ich wollte eher Sicherheit. Sie war gefühlsbetont und ließ sich von ihren Emotionen leiten, während ich immer alles hinterfragte und eher meinem Verstand als meinem Bauchgefühl vertraute.

»Ich weiß, dass du deine Mutter vermisst«, sagte Silke. »Aber du musst nach vorne schauen. Das Leben geht weiter.«

»Meine Großmutter ist ein Ungeheuer«, murmelte ich dumpf. »Mir wird eiskalt bei dem Gedanken, dass wir bei ihr einziehen sollen.«

»Meine Güte! Du kennst sie doch gar nicht richtig. Gib ihr eine Chance, Bekka.«

Das hätte auch mein Vater sagen können. Es erstaunte mich, solche Worte aus Silkes Mund zu hören. War ich wirklich so engstirnig und verbohrt? Ich versuchte, mich an meine Großmutter zu erinnern, aber in meinem Kopf tauchte nur ein riesiges Gebäude mit einer geschniegelten Rasenfläche auf. Ein marmorner Springbrunnen mitten in der Auffahrt. Kiesbestreute Wege. Ein Badezimmer mit einer viel zu großen Badewanne. Hohe Räume mit Samtvorhängen an den Fenstern 

»Es ist eine ganz andere Welt …«

»Die Welt der Reichen und Schönen«, ergänzte Silke. »Und du gehörst dazu. Wie ich dich beneide. Bestimmt habt ihr auch einen Ballsaal. Ich stelle mir schon vor, wie du als Debütantin in die feine Hamburger Gesellschaft eingeführt wirst …«

Ich schüttelte den Kopf. »Du hast zu viele schnulzige Filme angeschaut.«

Silke hakte mich lachend unter. »Was willst du anziehen? Sicher bekommst du ein tolles Kleid. Du wirst mit deiner Oma in den teuersten Geschäften shoppen, sie bezahlt überall mit ihrer Platin-Kreditkarte und anschließend bucht sie einen Benimmkurs für dich. Du wirst Golf spielen …«

»Nur über meine Leiche«, erwiderte ich.

»Wollen wir wetten? Wenn ich recht habe, lernst du schwimmen.«

Schwimmen. Mein schwacher Punkt. Mit meinen fast sechzehn Jahren konnte ich immer noch nicht schwimmen. Ich hatte höllische Angst vor Wasser. Im Schwimmbad bekam ich schon im Nichtschwimmerbecken die Krise. Es hatte deswegen immer wieder zahlreiche Kämpfe und Diskussionen gegeben, aber weder Drohungen noch die Aussicht auf Belohnung hatten meine Angst überwinden können. Mein Vater ließ mich in dieser Hinsicht inzwischen in Ruhe und auch die Sportlehrer hatten ihre Bemühungen eingestellt.

»Einverstanden«, sagte ich. »Und wenn du die Wette verlierst, musst du deine Haare raspelkurz schneiden.«

Silke stieß einen erschrockenen Schrei aus. Die langen Haare waren ihre ganzer Stolz, die Friseurinnen durften die Spitzen nur immer wenige Millimeter kürzen.

»Es muss schon wehtun«, behauptete ich. »Sonst ist es nicht fair.«

Silke zögerte. »Okay«, sagte sie dann und streckte mir die Hand entgegen. Ich schlug ein.

»Du wirst sehen, ich gewinne, Bekka.«

Alles ging viel zu schnell. Dad fand einen Käufer für unser Haus, ein Umzugsunternehmen wurde bestellt, eine Gärtnerei würde sich um Mums Grab kümmern. Schon zwei Tage nach Ferienbeginn brachen wir auf in Richtung Norden. Unser alter Kombi war so vollgepackt, dass Simon auf dem Rücksitz kaum Platz hatte.

Die Fahrt dauerte ewig, und es war brütend heiß. Die Klimaanlage des Wagens hatte schon vor Jahren ihren Geist aufgegeben. Auf der A7 war Stau, wir kamen nur im Schritttempo voran oder standen ganz. Simons ständiges Gejammer machte sogar meinen sonst so geduldigen Vater nervös.

»Herrje, ich kann es nun mal nicht ändern. Halt endlich mal die Klappe.«

Simons Augen füllten sich mit Tränen. »Aber ich muss Pipi.«

Dad stöhnte. Er stieg aus. Ich half ihm, Simon zwischen all den Decken und Bettzeug aus seinem Kindersitz zu befreien, dann ging Dad mit ihm hinter die Leitplanke. Meine Blase drückte auch, aber ich hoffte, es bis zum nächsten Autohof aushalten zu können. Trotz der Hitze trank ich sehr wenig. Mein Kopf schmerzte, mein T-Shirt war verschwitzt und ich hatte die Fahrt restlos satt. Am liebsten wäre ich umgekehrt. Dass unser neues Leben schon mit solchen Schwierigkeiten begann, konnte nur ein schlechtes Omen bedeuten.

Endlich erreichten wir einen Rasthof. Simon stopfte sich mit pappigen Pommes frites voll. Für ihn schien die Welt damit wieder in Ordnung zu sein. Ich aß einen Salat und Dad telefonierte mit Oma, um ihr mitzuteilen, dass wir erst später kommen würden. Als wir weiterfuhren, hatte sich der Stau aufgelöst und wir kamen zügiger voran. Trotzdem war es im Auto immer noch unerträglich heiß, und Simon kotzte das Essen nach einigen Kilometern auf den Rücksitz.

Es war schon nach neun Uhr, als wir unser Ziel endlich erreichten. Der Kies knirschte unter den Reifen, und die riesige Villa erhob sich vor uns wie eine Festung. Meine Beine waren bleischwer, als ich ausstieg. Simon, der auf dem letzten Stück geschlafen hatte, krabbelte müde aus dem Auto und ergriff meine Hand. Ich hatte immer noch den Geruch nach Erbrochenem in der Nase, obwohl wir den Rücksitz mit Küchentüchern und Mineralwasser gesäubert hatten.

In der Villa rührte sich nichts. Dad läutete, aber anscheinend hörte niemand das Klingeln. Endlich kam ein älterer Mann über den Rasen. Er trug eine Gartenschürze und schob einen Schlauchwagen neben sich her.

»Moin. Gestatten, Gustav Heinke, Hausmeister«, stellte er sich vor. »Oder besser Mädchen für alles.«

Simon neben mir kicherte leise. »Moin, hat er gesagt. Dabei ist es ja schon Abend. Und er sieht gar nicht aus wie ein Mädchen.«

Das stimmte. Ich schätzte Gustav auf Mitte oder Ende sechzig. Er sah aus wie eine etwas aufgedunsene Version von Sean Connery – dünnes weißes Haar, weiße Bartstoppeln, braune Augen und auffällig dunkle buschige Augenbrauen. Unter seiner Gartenschürze trug er ein rot kariertes Hemd und eine Jeans, Größe XXL. Seine rauen Hände verrieten, dass er Arbeit gewohnt war.

»Wir haben Sie schon erwartet«, redete Gustav weiter. »Frau Eckershausen ist vermutlich hinten auf der Terrasse, sie verbringt bei schönem Wetter die Abende meistens im Freien. Sie können ums Haus herumgehen, aber ich kann Ihnen auch die Türe aufschließen.«

»Wir gehen ums Haus«, entschied Dad. »Nach der langen Fahrt tut es gut, sich die Beine zu vertreten.«

»Wenn Sie mir Ihren Autoschlüssel geben, bringe ich Ihr Gepäck hinein«, bot Gustav an.

Dad zögerte kurz. »Darum kümmern wir uns später selbst«, erwiderte er dann.

»Ganz wie Sie wünschen«, antwortete Gustav knapp.

Wir waren es nicht gewohnt, von Personal bedient zu werden. Zu Hause hatten wir alles selbst machen müssen. Ob es noch mehr Hausangestellte gab? Sicher kochte jemand für meine Großmutter und meinen Onkel, und meine Oma nahm garantiert auch keinen Putzlappen in ihre vornehmen Hanseatenhände 

Wir umrundeten die Villa, was einer kleinen Wanderung gleichkam. Der Garten, der zu der Villa gehörte, war riesig. Wir überquerten eine kleine Brücke, dahinter begann ein Rosengarten. Auf der einen Seite zog er sich bis zu einem kleinen Wäldchen, auf der anderen Seite verlief er bis zum Haus. Eine Wand der Villa wurde von einem hohen Rosenspalier bedeckt. Die dunkelroten Kletterrosen verbreiteten einen süßen Duft. Unwillkürlich musste ich an mein Lieblingsbild denken, das Mum mit leuchtenden Acrylfarben gemalt hatte: Es zeigte sie als junge Frau unter einem Rosenbogen sitzend.

Simon war von dem Garten begeistert. »Kannst du mir ein Baumhaus bauen, Papa?«, fragte er und hüpfte vor Freude.

»Mal sehen«, antwortete Dad ausweichend. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Großmutter erlauben würde, den geschniegelten Park mit einem Baumhaus zu verunstalten.

Die Terrasse erstreckte sich über die ganze Südseite des Gebäudes. Meine Großmutter saß in einem Strandkorb. Als sie den Kopf hob und die Sonnenbrille hochschob, sprang ein weißes Wollknäuel von ihren Knien und schoss kläffend auf uns zu. Eigentlich liebte ich Hunde, aber dieses kleine Biest gehörte zur Gattung Wadenbeißer. Er bellte mit schriller Stimme, zeigte seine spitzen Zähne und in seinen Augen war deutlich zu lesen, dass wir unwillkommene Eindringlinge waren.

»Hierher, Samantha!«, rief meine Großmutter »Pfui! Aus!«

Sie musste aufstehen und ihren Befehl wiederholen, bevor der Kläffer seinen Platz räumte. Großmutter bückte sich und nahm ihn auf den Arm, dann machte sie ein paar Schritte auf uns zu.

»Hallo, Mutter!« Dad war zuerst auf der Terrasse. Er küsste Großmutter links und rechts auf die Wange, während der Hund ihn anknurrte. Simon hatte wieder meine Hand genommen und sah mich fragend an.

»Los, komm!«, sagte ich, obwohl ich am liebsten kehrtgemacht hätte. »Wir müssen Oma begrüßen.«

Ich hatte ein unangenehmes Kribbeln im Bauch, als ich die Terrasse betrat.

Meine Großmutter, Cäcilie Eckershausen, war eine hochgewachsene, schlanke Frau.

Trotz ihrer neunundsechzig Jahre war ihr Gesicht faltenlos. Sie hatte ihr schwarz gefärbtes Haar kurz geschnitten und leicht toupiert, was sie noch größer erscheinen ließ. An diesem Abend trug sie einen bordeauxfarbenen Rock und eine weiße Bluse, beides schlicht geschnitten, aber garantiert sehr teuer, dazu weiße Pumps.

Ich roch den Duft von Chanel N° 5.

»Hallo, Oma«, sagte ich und streckte höflich meine Hand aus.

Samantha wand sich auf Omas Armen und schnappte wütend in meine Richtung. Erschrocken zog ich die Hand zurück.

»Das meint sie nicht ernst, sie will nur spielen.« Meine Großmutter lächelte.

Ich lächelte unsicher zurück. Ihr Lippenstift hatte das gleiche Rot wie ihr Rock. Eine zweireihige Perlenkette säumte ihren Hals, in den Ohren trug sie passende Stecker dazu. An ihrem rechten Ringfinger funkelte ein Goldring mit einem großen Türkis.

»Du kommst ganz nach deiner Mutter«, sagte sie, nachdem ihre grauen Augen mich gemustert hatten. So, wie sie es aussprach, klang es wie ein Vorwurf.

Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog.

»Aber ich kann längst nicht so gut malen wie sie«, konterte ich.

»Rebekka ist ganz anders.« Dad legte den Arm um meine Schultern. »Sie ist ehrgeizig und zielstrebig – eine echte Eckershausen.«

Ich warf ihm einen wütenden Blick zu. Was sollte das denn? Es klang, als sei Mama nachlässig und faul gewesen. Vermutlich war sie das auch in Großmutters Augen. Wie konnte Dad so schnell die Seiten wechseln? Sagte er es nur, um sich einzuschleimen? Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, warum er Mama einfach verriet.

»Eine echte Eckershausen«, wiederholte Großmutter mit schmalen Lippen. »Na, das werden wir sehen.«

Ich fühlte, dass es eine dicke Wand zwischen ihr und mir gab. Auch mit Samantha würde ich mich nie anfreunden, ich verabscheute den bissigen Köter jetzt schon.

»Und das ist Simon.« Dad schob meinen Bruder, der sich hinter meinem Rücken versteckt hatte, nach vorne.

»Hi, Oma«, murmelte er.

»Was für ein entzückender Junge!« Großmutter streckte die Hand aus und verwuschelte seinen blonden Haarschopf. Samantha hielt sich diesmal zurück und beschränkte sich auf hysterisches Hecheln.

»Sicher wollt ihr euch nach der Fahrt frisch machen«, sagte sie dann. »Anna wird euch eure Räume und die Badezimmer zeigen. In der Küche findet sich bestimmt etwas für euch, falls ihr jetzt noch essen wollt. Wir speisen normalerweise um siebzehn Uhr, späteres Essen ist ungesund und macht dick.«

Beim letzten Satz ließ sie ihren Blick auf meinen Hüften ruhen und lächelte süßsauer. Ich hasste sie dafür. Hunger hatte ich ohnehin keinen.

»Wir holen vielleicht zuerst unser Gepäck«, schlug Dad vor. »Der Umzugswagen bringt morgen früh unsere ganzen Sachen.«

»Die Möbel, die nicht gebraucht werden, können wir in der Remise lagern«, meinte Großmutter. »Oder wir spenden sie einem guten Zweck.«

Zwei Stunden später saß ich in meinem neuen Zimmer und heulte. Ich hatte ein breites Himmelbett, einen Kronleuchter aus funkelndem Kristall und ein eigenes riesiges Badezimmer, aber ich fühlte mich hundeelend. Alles war so fremd. Das Zimmer sah aus wie ein pompöses Hotelzimmer, die Möbel waren dunkel und schwer und rochen nach Politur. Ich hatte mit meinem Handy schon ein paar Fotos gemacht und Silke eine Botschaft geschickt. »SOS! Hol mich raus aus diesem Museum!«

Sie antwortete nicht. Wahrscheinlich war sie unterwegs oder ihr Handyakku war wieder einmal leer. Dabei hätte ich jetzt ganz dringend jemanden gebraucht, der mich tröstete.

Ich seufzte tief. Am scheußlichsten war der Schrank, der mich an den Beichtstuhl der kleinen Kirche in unserem Dorf erinnerte. Man hätte ohne Probleme eine Leiche darin verstecken können.

Die beiden Fenster gingen nach Westen hinaus. Ich stand auf und schob die dicken Vorhänge und Stores beiseite, um die Flügel zu öffnen. Draußen war es dunkel, aber die Gartenbeleuchtung verhinderte, dass ich die Sterne am Himmel sehen konnte. Rosenduft stieg in meine Nase. Ich beugte mich aus dem Fenster. Unter mir an der Wand befand sich das Spalier. Ich musste nur meine Hände ausstrecken, um die Rosen zu berühren. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich auch die Beete mit den Rosen und das Wäldchen dahinter. Die großen schönen Bäume erinnerten mich an den Kastanienbaum, der in unserem Garten gestanden hatte. Er hatte meine Kindheit begleitet. Früher hatte ich oft auf seinen Ästen gesessen und, versteckt im Laub, gelesen oder vor mich hingeträumt. Immer wenn ich Kummer hatte und niemand zum Reden da war, hatte ich mich zu dem Baum geflüchtet, und es war, als würde mich ein guter Freund beschützen und trösten.

Ein Nachtvogel rief. In der Ferne entdeckte ich eine Gestalt, die im Garten spazieren ging. Dad? Oder war es mein Onkel?

Ich hatte Onkel Christian vorhin nur kurz gesehen. Er war aus seinem Zimmer heruntergekommen, um uns zu begrüßen. Die Ähnlichkeit mit meinem Vater war augenfällig. Christian war der Ältere der beiden Brüder, größer als mein Vater und etwas korpulenter. Er war geschieden und nach der Trennung von seiner Frau wieder in die Villa eingezogen. Kinder hatte er keine.

Mein Vater Daniel und Onkel Christian waren beide blond, aber Christian hatte mit Mitte Vierzig deutlich weniger Haare als Dad. Beide hatten graue Augen, die in der Familie Eckershausen so oft vorkamen. Dad und Onkel Christian hatten eine ähnlich Art, sich zu bewegen. Manche Gesten, die mir von Dad her vertraut waren, hatte ich auch bei Onkel Christian entdeckt.

Dad behauptete, dass sein Bruder ganz anders sei als er. Während der Schulzeit sei er ein Faulpelz gewesen, der nichts ausgelassen habe – und erst durch die Unterbringung in einem Internat habe er seinen Abschluss geschafft. Großmutter sei gegenüber Christians Schwächen völlig blind gewesen, aber Großvater habe ihn immer streng behandelt. Es habe oft heftigen Streit zwischen ihm und Christian gegeben, selbst noch dann, als Christian in das Familienunternehmen eingetreten war. Nach Großvaters Tod, der vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, übernahm er zusammen mit Großmutter die Geschäftsführung.

Das Verhältnis zwischen Dad und seinem Bruder war nie besonders gut gewesen, aber in der letzten Zeit redete Dad es schön. Er hatte mir nicht gesagt, welche Aufgaben er in der Firma übernehmen würde. War er gleichberechtigt mit seinem Bruder? Oder würde Christian ihn unterbuttern? Wie war das überhaupt? Standen Dad nach Großvaters Tod nicht auch Anteile an der Firma zu? Ich konnte mir gut vorstellen, dass Christian alles an sich gerissen hatte. Dieser Familie traute ich nicht über den Weg.

Mein Herz wurde schwer. Ich würde hier leben müssen. Wie lange würde ich es hier aushalten? Würde ich mich an alles gewöhnen oder würde ich eines Tages einfach ausreißen?

Manchmal wünschte ich mir, die Zukunft zu kennen 

Ich erwachte früh am nächsten Morgen und erinnerte mich dunkel, etwas Schlechtes geträumt zu haben, aber ich wusste nicht mehr was. Draußen vor dem Fenster ertönte Vogelgezwitscher. Ich hatte die Flügel offen gelassen.

Ich schlug die Bettdecke zurück und lief ans Fenster. Die Morgenluft war kühl und der Rosengarten lag noch im Schatten. Spatzen saßen im Spalier und tschilpten um die Wette. Sie ließen sich durch mich nicht stören.

Gustav war schon auf. Ich sah, wie er eine Schubkarre über den Rasen schob und hinter den Büschen verschwand. Ich versuchte zu schätzen, wo das Grundstück anfing oder aufhörte, aber ich kam zu keinem Ergebnis. Das Anwesen musste jedenfalls ein Vermögen wert sein.

Ich kehrte in mein Bett zurück. Jetzt bei Tageslicht sah mein Zimmer etwas freundlicher aus. Ich ließ meinen Blick über Decke und Wände schweifen. Wenn man die altmodische Tapete entfernte und durch einen weißen Anstrich ersetzte und wenn man die Museumseinrichtung gegen moderne Möbel austauschte, dann konnte der Raum richtig toll aussehen. Das Zimmer war mindestens dreimal so groß wie mein altes, und ich würde traumhaft viel Platz haben, sobald ich den alten Krempel entsorgt hatte.

Ich nahm mir vor, nachher Dad zu fragen, ob ich mein Zimmer renovieren durfte. Ich konnte gut mit dem Farbroller umgehen. Zu Hause hatte ich oft gestrichen, zuletzt im Frühjahr Simons Zimmer. Ich hatte ihm sogar ein Piratenschiff an die Wand gemalt. Alle hatten es bewundert, sogar Mum, als ich ihr im Krankenhaus ein Handyfoto davon gezeigt hatte.

Wieder sah ich meine Mutter vor mir, wie sie krank und elend in ihrem Bett lag, winzig klein und schutzbedürftig geworden. So bleich, die Lippen aufgesprungen … Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich vermisste sie so sehr. Mit ihr hatte ich über alles reden können, sie hatte immer Verständnis für mich gehabt. Und jetzt war sie fort und würde niemals wiederkommen.

Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen. Wann würde der Schmerz endlich nachlassen? Mir kam es vor, als sei es erst gestern gewesen, als wir sie begraben hatten. Ob die Zeit tatsächlich diese Wunde in meinem Herzen heilen konnte? Oder würde die Trauer für immer bleiben?

Ich sprang aus dem Bett, schlüpfte in meinen Bademantel und ging nach unten, weil mir der Magen knurrte. Am gestrigen Abend hatte ich kaum etwas heruntergebracht.

Großmutter war schon auf, ich begegnete ihr vor der Küchentür. Sie musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Guten Morgen«, grüßte ich höflich.

»Wir frühstücken niemals im Bademantel«, sagte sie so streng, als sei ich splitterfasernackt die Treppe herunterspaziert. »Halte dich bitte an die Regeln, solange du hier wohnst.«

Ich war völlig perplex. »Ooookaaay«, antwortete ich dann etwas lahm. »Gibt es hier irgendwo eine Hausordnung, die ich noch lesen muss?«

Ein kalter Blick traf mich. »Du brauchst nicht frech zu werden«, kanzelte sie mich ab. »Und Denglisch hören wir in diesem Haus auch nicht gern.«

»Oh, sorry!«, sagte ich spitz, während Wut in mir hochstieg. Ich schaute sie genauso kühl an wie sie mich, dann machte ich kehrt und ging so anmutig wie möglich die Treppe hinauf.

Oben in meinem Zimmer musste ich erst einmal Luft holen. Was bildete sich diese alte Frau ein? Wahrscheinlich würde sie mich demnächst tatsächlich zu einem Benimm-Kurs anmelden, damit ich in diese vornehme Familie passte. Ich hatte immer gedacht, dass wir inzwischen im 21. Jahrhundert lebten, aber diese Neuigkeit war hier vermutlich noch nicht angekommen. Ich kam mir vor wie in einer viktorianischen Adelsfamilie und ich war das schwarze Schaf!

Während ich noch vor mich hinschimpfte, hörte ich draußen im Hof Bremsen quietschen. Ich stürzte zum Fenster. Unser Möbelwagen!

Schnell schlüpfte ich in Shorts und T-Shirt, band meine roten Locken rasch zu einem Pferdeschwanz zusammen und rannte ein zweites Mal die Treppe hinunter. Diesmal hatte ich Glück, ich traf auf Dad.

»Unsere Möbel kommen«, rief er mir zu, und wir eilten gemeinsam nach draußen.

Der Fahrer hatte schon die Ladeklappe heruntergelassen, und die beiden Möbelpacker begannen mit dem Ausladen. Die Umzugskartons stellten sie zunächst vor dem Haus ab, um zuerst die schweren Teile hineinzutragen.

Sie luden gerade meinen Schreibtisch aus, als ein scharfes »Halt!« ertönte. Großmutter stand im Eingang.

»Wohin wollen Sie dieses Stück bringen?«

»In mein Zimmer«, antwortete ich. Der Schreibtisch war erst ein Jahr alt, Dad und ich hatten ihn im letzten Sommer zusammen ausgesucht. Er war weiß und leicht, trotzdem konnte man viel in den beiden Schubladen und in den Seitenregalen unterbringen.

Großmutter stieg die drei Stufen herab, trat auf die Möbelpacker zu, die ihr bereitwillig Platz machten, tippte mit spitzem Finger auf die Schreibtischplatte und sagte: »Dieser Sperrmüll kommt mir nicht ins Haus!«

»Das ist MEIN Schreibtisch«, mischte ich mich ein. »Ich brauche ihn zum Hausaufgaben machen.«

»In deinem Zimmer steht ein barocker Sekretär, den wirst du als Schreibtisch benutzen«, wies mich Großmutter zurecht.

»Das alte Ding mit den Holzwürmern?«, konterte ich und musste die Arme vor der Brust verschränken, um nicht vor Wut zu platzen. »Never ever!«

»Bekka!«, mahnte Dad.

»Stimmt doch«, beharrte ich. »Das hässliche Teil frisst das ganze Licht und ich kriege Beklemmungen, wenn ich daran sitze.«

Mein Herz klopfte wie wild, aber ich war entschlossen, meiner Großmutter Paroli zu bieten. Ich wollte und würde mich von ihr nicht unterbuttern lassen. Es war schon schlimm genug, dass ich mein altes Zuhause aufgeben musste. Auf keinen Fall wollte ich, dass mein Leben von nun an von meiner Großmutter bestimmt wurde. Ich war fast sechzehn, ich wollte selbst entscheiden!

»Also, was sollen wir jetzt mit dem Schreibtisch machen?«, fragte der eine Möbelpacker, während der andere nur vor sich hin grinste. Anscheinend amüsierte er sich über unsere Diskussion.

»Er kommt nicht über meine Türschwelle«, bestimmte Großmutter. »Am besten, Sie laden ihn gleich wieder ein.«

»Mutter!« Dad machte einen zaghaften Versuch, sie umzustimmen, aber er verstummte sofort, als sie ihm vorwarf, er habe noch nie guten Geschmack bewiesen. Ich fühlte mich von ihm im Stich gelassen. Eiseskälte breitete sich in meinem Körper aus, während ich zusah, wie diese alte Diktatorin Möbelstück für Möbelstück niedermachte. Einzig eine alte Vitrine, Simons Piratenbett und ein Schaukelstuhl fanden vor ihren Augen Gnade. Fast unsere ganze Einrichtung wurde in die Remise verbannt.

»Die Zimmer sind möbliert, ihr habt alles, was ihr braucht – und falls noch ein Teil fehlt, dann kaufen wir es dazu«, sagte sie.

»Wir hätten uns besser eine leere Wohnung suchen sollen«, meinte Dad leise zu mir, aber ich zeigte ihm die kalte Schulter und wandte mich ab. Darüber hätte er früher nachdenken sollen! Hätte er nicht wissen müssen, dass Großmutter so reagierte? Ich kam mir vor wie im falschen Film, als die Möbelpacker unsere geliebte Einrichtung in die Remise schleppten. Das alles war sicher nur ein Albtraum, aus dem ich gleich erwachen würde 

Kapitel zwei
ALTE WUNDEN UND NEUE FREUNDE

Ich trotze dem Sturm und den Wellen!

K.S.

Es ist an der Zeit. Ich fühle, dass ich wieder zum Leben erwache. Lange habe ich geschlafen, vielleicht zu lange. Ich kann meinen neuen Körper spüren. Er ist jung, voller Kraft. Noch bin ich blind und kann mich nicht im Spiegel sehen. Aber der Tag wird kommen. Bald 

Nach zwei Wochen war mir mein neues Zuhause immer noch genauso fremd wie bei unserer Ankunft. In meinem Zimmer hatte sich kaum etwas verändert. Ich hatte meine Bücher ins Regal gestellt und meine Kleidung in den Schrank geräumt. Die hässliche Tapete klebte noch an den Wänden und würde wahrscheinlich noch in zehn Jahren daran kleben. Ich war nur ein geduldeter Gast, genau wie Simon und Dad, angewiesen auf den Großmut meiner Großmutter, die in diesem Haus herrschte. Selbst Onkel Christian duckte sich vor ihr und fügte sich ihren Wünschen. Dabei war er ihr Lieblingssohn … Aber vermutlich konnte die alte Frau inzwischen keinen mehr lieben außer sich selbst. In all den Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten – oder zumindest diejenigen, die von ihrem Geld abhängig waren.

Inzwischen kannte ich den Tagesablauf und versuchte, meiner Großmutter möglichst aus dem Weg zu gehen. Manchmal hatte ich jedoch den Eindruck, dass die alte Hexe es schaffte, sich zu verdoppeln. War sie eben noch im Park herumspaziert, tauchte sie im nächsten Moment in der Küche auf und kontrollierte, was Anna zubereitet hatte. Ich fragte mich, wann sie überhaupt in die Firma ging. Offenbar hatte sie beschlossen, dort etwas kürzerzutreten, bis sich »die Neuen«, wie sie uns nannte, eingelebt oder vielmehr angepasst hatten.

Tausend Mal nahm ich mir vor, meine Antipathie gegen sie zu unterdrücken und eine freundliche Miene aufzusetzen und tausend Mal brach ich meine Vorsätze. Es war einfach unmöglich. Diese Frau brachte mich zur Weißglut. Sie hatte eine unnachahmliche Art, Dinge zwischen den Zeilen zu sagen und einen zu verletzen, ohne direkt beleidigend zu werden. Schon für die Art, wie sie spöttisch die Lippen kräuselte, hätte ich sie schlagen können. Ich hatte solche Lust, sie an den Schultern zu packen und zu rütteln, bis ihr perfekt frisiertes Haar in alle Windrichtungen abstand. Doch ich beherrschte mich, solange ich ihr gegenüberstand. In meinem Zimmer stieß ich wilde Flüche aus oder flüchtete mich in abstruse Fantasien. In meiner Verzweiflung schrieb ich ellenlange Mails an Silke, aber ich hatte immer mehr den Eindruck, dass sie sich für mein neues Leben nicht mehr wirklich interessierte. Wenn Silke antwortete, dann erzählte sie von ihrem neusten Typen, fragte, wie sich diese oder jene Bemerkung deuten ließe, oder schwärmte in höchsten Tönen von seinen leidenschaftlichen Küssen. Manchmal war ich so genervt von ihren Mails, dass ich sie erst gar nicht zu Ende las.

Dad hatte wenig Zeit für mich, schon ab der zweiten Woche arbeitete er in der Reederei und kam abends spät nach Hause. Ich sah ihm an, wie erschöpft er war. Alles war neu für ihn, und er gab sich große Mühe, seinen Bruder und seine Mutter zufriedenzustellen und zu beweisen, dass er nicht der Versager war, für den sie ihn hielten.

Nur Simon schien sich einigermaßen wohlzufühlen. Er hatte einen neuen Freund gefunden – Gustav. Er folgte ihm in den Garten, ließ sich erklären, wie die Pflanzen hießen, und half übereifrig bei allen Arbeiten. Nach Feierabend hielt sich Simon oft bei Gustav und seiner Frau Anna auf, die das alte Verwalterhäuschen am Ende des Parks bewohnten.

Die Heinkes waren die gutmütigsten Menschen, die mir je begegnet waren. Sie waren so, wie man sich die idealen Großeltern vorstellte: liebevoll, ein bisschen behäbig und immer mit einem offenen Ohr für alle Probleme. Kein Wunder, dass sich Simon in ihrer Gegenwart wohlfühlte. Ich wette, er wäre am liebsten auch in das Häuschen gezogen, wenn er gekonnt hätte.

Eines Abends, als ich Simon abholen wollte, weil er ins Bett sollte, luden die Heinkes mich zu einer Tasse Tee ein. Sie saßen auf ihrer kleinen Terrasse, und Gustav war gerade dabei, das Holz in einem Feuerkorb anzuzünden, was Simon mit großen Augen beobachtete. Er war fasziniert von Feuer und redete jetzt schon davon, dass er später einmal Feuerwehrmann werden wollte.

»Bitte, bitte, Bekka, lass mich noch eine Viertelstunde bleiben«, bettelte Simon. »Gustav wollte gerade eine Geschichte erzählen.«

Ich konnte meinem kleinen Bruder den Wunsch nicht abschlagen. Außerdem war es auf dieser Terrasse viel wärmer und gemütlicher als in den kühlen Räumen der Villa.

Anna Heinke kam mit einem Fotoalbum an und zeigte mir Bilder ihrer erwachsenen Kinder, während Gustav sich die Pfeife stopfte. Simon setzte sich neben ihn auf die Holzbank, und der alte Hausmeister legte den Arm um ihn.

»Na, mein Junge, was willst du hören?«

»Erzähl mir weiter von Störtebeker«, antwortete Simon wie aus der Pistole geschossen.

Gustav lachte. »Das habe ich mir schon gedacht.«

Ich hielt die große Teetasse mit beiden Händen und hörte mit einem Ohr zu, während Anna in dem Fotoalbum blätterte und die eine oder andere Bemerkung zu einzelnen Bildern machte. Nach und nach zog mich Gustavs Geschichte immer mehr in Bann. Er war ein wunderbarer Erzähler.

»Klaus und Kati konnten sich nur heimlich treffen. Kati war die Tochter eines Lübecker Kaufmanns. Dieser hatte sich der Hanse angeschlossen, einer mächtigen Vereinigung von niederdeutschen Kaufleuten. Die Hanse sorgte dafür, dass die Schiffe der Kaufleute sicher auf den Meeren fuhren und heil an ihrem Zielort ankamen. Störtebeker aber gehörte zu den Vitalienbrüdern, einer Gruppe von Seefahrern, die die Schiffe der Kaufleute überfielen und sich die Beute untereinander aufteilten.«

»Sie waren also Piraten«, erklärte Simon mit glänzenden Augen.

»Richtig.« Gustav nickte und zog an seiner Pfeife. »Eine Verbindung zwischen Kati und Klaus war streng verboten, und wenn Kati erwischt worden wäre, wäre sie von ihrem Vater schwer bestraft worden. Doch ihre Liebe war stärker.«

»Wieso hat er sie nicht einfach entführt?«, fragte Simon. Mein Bruder war manchmal wirklich ein kluges Kerlchen.

»Das hat er dann auch getan«, erzählte Gustav weiter. »Die beiden hatten es satt, sich immer verstecken zu müssen. Außerdem war es für Klaus sehr gefährlich, Kati zu besuchen. Wenn er entdeckt worden wäre, wäre er sofort festgenommen und verurteilt worden. Weil ihre Liebe aber so groß war, dass sie nicht voneinander lassen konnten, nahm Klaus Kati mit auf ein Schiff und brachte sie an einen sicheren Ort. Sie waren sehr glücklich miteinander.« Gustav ließ seinen Blick in die Ferne schweifen.

»Ist die Geschichte jetzt zu Ende?«, wollte Simon wissen.

Gustav schüttelte den Kopf. »Eines Tages wurde Kati schwer krank, aber davon erzähle ich dir ein anderes Mal. Jetzt ist es Zeit für dich, ins Bett zu gehen.«

»Ich bin aber noch gar nicht müde«, protestierte Simon.

Ich stellte meine Teetasse auf den Tisch zurück. »Nein, wir gehen, Simon.« Ich stand auf. »Vielen Dank für den Tee und für die Geschichte. – Komm, Simon.«

Anna begleitete uns noch bis zum Kiesweg und drückte mir zum Abschied den Arm. Sie wusste, dass es zwischen mir und meiner Großmutter nicht besonders gut lief.

»Lass dich nicht unterkriegen, Mädchen«, sagte sie. »Du bist stark, das spüre ich. Und außerdem bist du genauso hübsch wie deine Mutter.«

»Danke.« Ich fühlte, wie ich in der Dunkelheit rot wurde. Anna hatte das Porträt meiner Mutter gesehen, das ich in meinem Zimmer aufgehängt hatte. Die anderen Bilder hatten wir auf den Speicher bringen müssen. Ich hätte so gerne die alten Ölschinken, die überall im Haus hingen, von den Wänden gerissen und durch die leuchtenden Gemälde meiner Mutter ersetzt.

Kugelige Glaslampen beleuchteten unseren Rückweg. Mücken und Nachtfalter umkreisten sie. Manche versuchten so verzweifelt, ans Licht zu gelangen, dass sie den Tod fanden. Meine Bemühungen, Großmutters Zuneigung zu gewinnen, wären vermutlich genauso vergebens. Eher würde ich mir das Genick brechen 

Die Sommerferien in Hamburg hatten viel früher angefangen als in unserem Heimatort, und schon nächste Woche würde die Schule wieder beginnen.

Ich hatte den Gedanken daran so gut wie möglich verdrängt, denn es graute mir bei der Vorstellung, lauter fremden Lehrern und Mitschülern begegnen zu müssen. Einige Tage vor Unterrichtsbeginn eröffneten mir Dad und Großmutter Cäcilie, dass sie mich auf einem privaten Gymnasium angemeldet hatten.

»Diese Schule hat den allerbesten Ruf«, erklärte Großmutter. »Du wirst einen ausgezeichneten Abschluss machen, und danach steht dir die Zukunft offen.«

Ich war völlig überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Gleichzeitig kränkte es mich, dass sie mich nicht in ihre Überlegungen einbezogen hatten. Wieder einmal war alles über meinen Kopf hinweg bestimmt worden, aber bei meiner Großmutter wunderte mich das gar nicht. Und Dad, der Feigling, hatte sich angepasst, klar. Simon würde ebenfalls eine Privatschule besuchen.

In meinem Zimmer klappte ich meinen Computer auf und suchte im Internet nach Informationen über meine zukünftige Schule. Beim Wort Privatschule dachte ich sofort an Schuluniform und reiche, verwöhnte Schüler … Der Besuch auf der Website beruhigte mich. Die Schule war in einem ehrwürdigen Gebäude untergebracht, von Uniformen war nicht die Rede und die Schulleiterin machte auf dem Foto einen sehr sympathischen Eindruck. Es gab eine Menge Kurse und Arbeitsgruppen, die frei wählbar waren. Vielleicht würde ich es doch nicht so schlecht treffen. Das Schulgeld war allerdings auch beachtlich, aber Großmutter Cäcilie war offenbar bereit, in meine Ausbildung zu investieren.

Ich klappte den Laptop zu und blickte nachdenklich auf das Porträt meiner Mutter. In der letzten Zeit hatte ich mir angewöhnt, eine Art Zwiesprache mit dem Bild zu halten und ihr alles zu erzählen, was mich bedrückte. Vielleicht war das ein bisschen seltsam, aber es bewahrte mich davor, verrückt zu werden. Meistens fühlte ich mich danach erleichtert, manchmal sogar etwas getröstet. Es war mein Geheimnis, ich sagte niemandem etwas davon.

»Was meinst du, Mum, werde ich neue Freunde finden?«

Sie saß lächelnd unter dem Rosenbogen. Ihr rotes Kleid hatte dieselbe Farbe wie die Rosen. Einige Blütenblätter waren auf ihren Schoß und auf den Boden gefallen, es sah aus, als löste sich ihr Kleid auf.

Eigentlich war ich jemand, der schnell Anschluss fand. Ich war niemand, der automatisch im Mittelpunkt stand, aber ich konnte gut zuhören. In meiner alten Schule hatte man mich geschätzt. Doch jetzt hatte ich Bauchkribbeln. Würde es hier in Hamburg anders sein, noch dazu an einer solchen Nobelschule?

Das Bild gab keine Antwort, und nachdem ich es lange genug angesehen hatte, gab ich es auf und wollte ins Bad, um mich bettfertig zu machen. Da klopfte es an meiner Tür. Dad.

»Komm rein«, sagte ich.

Er trat ein. Mir fiel auf, wie müde und hager er aussah. Seit Mums Tod hatte er abgenommen. Er war nie dick oder mollig gewesen, aber jetzt war er richtig dünn. Lag es am Stress, an der Trauer? Oder hatte er eine Krankheit und ich würde ihn auch verlieren? In diesem Augenblick bekam ich richtig Panik.

»Dad!«

Er nahm mich in den Arm, und ich schmiegte mich an ihn. Ich roch sein Rasierwasser und ein bisschen Schweiß.

»Wir werden es schaffen, Kleines«, sagte er leise. »Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist. In der Firma bekomme ich auch nichts geschenkt. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.« Er drückte mich fest an sich.

Ich schloss die Augen und gab mich dem Gefühl der Geborgenheit hin. Früher hatte so eine Umarmung gereicht, um mich glauben zu lassen, dass alles gut werden würde. Inzwischen wusste ich, dass Dad nicht allmächtig war und dass es Probleme gab, die er nicht lösen konnte. Aber jetzt wollte ich den Moment genießen und mich einfach fallen lassen. Vielleicht gab es ja doch irgendwann ein neues Leben für uns – ohne die Regeln einer Cäcilie Eckershausen … Und vielleicht würde ich mich in der neuen Schule wohler fühlen als an der alten 

Wenige Tage später war es so weit. Gustav Heinke wartete kurz nach sieben neben einem weißen Mercedes, um mich zur Schule zu bringen. Das Auto war sein Dienstwagen, mit dem er auch alle Besorgungen für meine Großmutter erledigte.

Ich hatte in der Nacht kaum schlafen können und vor lauter Nervosität morgens keinen Bissen heruntergebracht.

Die benötigten Bücher hatte meine Großmutter bereits gekauft und ohne ein Wort auf meinen Schreibtisch gelegt. Ich hatte mir einen neuen Schulrucksack aussuchen dürfen. Als Gustav losfuhr, hätte ich alles darum gegeben, wenn er mich an meine alte Schule gebracht hätte.

»Aufgeregt?«, fragte er. Ihm war nicht entgangen, wie ich auf dem Beifahrersitz herumzappelte, an meinen Haaren drehte und mehrmals in einem Taschenspiegel mein Make-up überprüfte.

»Oh ja«, gab ich zu. »Und wie.«

»Musst du nicht sein, du wirst sehen, alles geht gut.«

»Hoffentlich haben Sie recht.« Ich seufzte tief.

Gustav konzentrierte sich auf den Verkehr. Ich hätte auch mit der S-Bahn und dem Bus zur Schule fahren können, aber natürlich war es bequemer, einen eigenen Chauffeur zu haben. Der Schulweg dauerte dadurch auch nur zwanzig Minuten. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln hätte ich die doppelte Zeit gebraucht.

»Na dann – Hals und Beinbruch!«, wünschte mir Gustav. »Hast du meine Handynummer? Ruf mich an, wenn du weißt, wann ich dich heute abholen soll.«