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Titelseite

 

Für Herrn Beck

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Prolog – oder warum man an manchen Tagen besser im Bett geblieben wäre …

»Los, nun mach schon!« Leonie lächelt mich an. Aber es ist kein aufmunterndes Lächeln, so viel ist selbst mir klar. Es wirkt eher irgendwie … höhnisch. Okay, damit ist es wohl eher ein Grinsen. »Oder traust du dich etwa nicht?«

Ich muss trocken schlucken. »Klar traue ich mich. Also, ich meine, ich würde mich schon trauen, aber …«

»Was, aber?« Nun grinst nicht nur Leonie, sondern auch Emilia, Ruth und Helene sehen aus, als hätten sie gerade den Spaß ihres Lebens.

»Äh, ich meine, dass es sehr unklug wäre, in ein Geschäft hineinzuspazieren, das von schätzungsweise vier Kameras überwacht wird, und dort ein T-Shirt zu klauen. Die juristischen Probleme wären unvermeidlich.«

Jetzt reißt Leonie die Augen auf. »Die juristischen Probleme wären unvermeidlich? Was redest du da für einen Müll?« Sie dreht sich auf dem Absatz um und lässt mich einfach stehen. Die drei anderen folgen ihr.

Verdammt. So wird das nichts. Ich weiß einfach zu wenig darüber, was es wirklich bedeutet, ein Mensch zu sein. Geschweige denn ein Mädchen. Das hatte ich mir deutlich einfacher vorgestellt.

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Hinterher ist man immer schlauer – aber wenn mir vorher jemand gesagt hätte, wie zickig meine neuen Mitschülerinnen sind, dann hätte ich mir nie und nimmer gewünscht, mit Kira zu tauschen. Dann wäre ich liebend gern der wunderschöne, schlaue und vielleicht ein bisschen verwöhnte Rassekater geblieben, der ich bis zu diesem verfluchten Gewitter war. Dann läge ich jetzt weiterhin auf meinem gemütlichen Sofa in der Hochallee und mein menschlicher Mitbewohner, Professor Werner Hagedorn, würde irgendetwas über Quantenphysik vorlesen. Oder über Schrödingers Katze und wie man mit der den Nobelpreis gewinnen kann. Für den fährt man dann nach Stockholm, kriegt sehr viel Geld und lernt den König von Schweden kennen. Was überhaupt mal wieder der Beweis dafür wäre, dass wir Katzen sehr wichtige Haustiere sind. Ach, was sage ich: die wichtigsten Tiere überhaupt! Aber statt auf meinem Sofa zu liegen, stehe ich hier und … bei meinen Ölsardinen, was für ein gigantomanischer Schlamassel! Aber jetzt der Reihe nach, damit hier alle noch mitkommen. Beginnen wir also mit dem Anfang, mit dem ersten Kapitel meiner unglaublichen Geschichte …

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Eine Dose wird geöffnet.
Und das bleibt nicht die einzige böse Überraschung.

Was in aller Welt ist das? Es riecht seltsam und sieht noch seltsamer aus … aber es liegt in meinem Napf! Ich vermute also, dass ich es fressen soll. Ach du heiliges Katzenklo! Das muss ein Missverständnis sein. Und zwar ein großes. Ich werde das aufklären, sofort! Denn ich, der vornehme Hauskater Winston Churchill, werde keinesfalls etwas fressen, was meinem edlen Gaumen nicht bekommt. Noch dazu, wenn ich es gar nicht bestellt habe!

Missmutig trabe ich aus der Küche, um Olga zu suchen. Olga ist unsere Haushälterin und somit bestimmt verantwortlich für das Desaster in meinem Fressnapf. Normalerweise bekocht Olga mich und meinen Professor ganz vorzüglich, aber heute ist da offensichtlich etwas schiefgelaufen.

Ich werde mich also beschweren. Wenn ich Olga überhaupt finde, denn momentan fehlt von ihr jede Spur. Sie ist nicht im Wohnzimmer und nicht im Esszimmer, auch im Arbeitszimmer: Fehlanzeige. Komisch. Ich setze mich in die Mitte unseres langen Flurs und blicke abwechselnd mal in die eine, mal in die andere Richtung. In der Wohnung ist es ganz still. Wenn sie irgendwo wäre, müsste ich sie doch hören. Als Kater habe ich nämlich richtig gute Ohren.

Da! Ein leises Rascheln kommt aus dem Schlafzimmer! Sofort sause ich an das andere Ende des Flurs und schlüpfe durch die Tür, die einen Spalt geöffnet ist. Olga steht mit dem Rücken zu mir vor dem Kleiderschrank und sortiert Wäsche ein. Mit Schwung will ich mich an ihre Beine schmeißen, als ich eine Vollbremsung einlegen muss: Das sind gar nicht Olgas Beine! Vor mir steht eine mir völlig unbekannte Frau. MAUNZ! Wer ist das?

Die fremde Frau dreht sich zu mir um und schaut mich erstaunt an. Ich habe sie offenbar genauso überrascht wie sie mich. Sie bückt sich und will mir über den Kopf streicheln. Ich lege den Rückwärtsgang ein. Mit Fremden kuschele ich grundsätzlich nicht!

»Oh, wer bist du denn?«, will sie von mir wissen. Ihre Stimme hat den gleichen Klang wie die von Olga. Erstaunlich! Und auch sonst sieht ihr die Fremde ähnlich: schlanke Figur, lange blonde Haare, Pferdeschwanz. Etwas jünger vielleicht, aber da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich kann das Alter von Menschen nicht besonders gut schätzen. Wenn sie erst mal keine Kinder mehr sind und ihre endgültige Größe erreicht haben, sehen sie für mich alle ziemlich gleich alt aus.

Ich mache wieder einen Schritt auf die Frau zu und mustere sie. Sie lächelt mich freundlich an, als ob sie auf eine Antwort warten würde. Tja, wer bin ich? Wenn ich sprechen könnte, würde ich mich der Dame natürlich formvollendet vorstellen. Und ihr erzählen, dass ich Winston Churchill heiße, mich aber alle immer nur Winston nennen. Dass ich schon ziemlich lange hier bei Professor Werner Hagedorn in der vornehmen Hamburger Hochallee 106a lebe. Dass ich am liebsten auf dem gemütlichen Sofa im Wohnzimmer oder dem flauschigen Teppich vor dem Kamin liege. Dass meine Leibspeise frisch gekochtes Geflügelherz mit einem Hauch Petersilie ist. Und dass ich ein reiner Hauskater bin, also die Wohnung niemals verlasse. Schon gar nicht freiwillig, denn wenn ich vom Fenster die struppigen Katzen im Hof beobachte, dann graust es mich vor der ungemütlichen Welt da draußen.

Könnte ich sprechen, würde ich dieser fremden Frau vielleicht all das über mich erzählen. Oder zumindest einen Teil davon. Aber ich kann ja nicht sprechen und deswegen sage ich einfach nichts. Ist aber auch wurscht, denn die viel wichtigere Frage lautet doch: Wer ist die Frau? Und was macht sie hier?

Ich setze mich vor die Frau, maunze ein wenig und schlage mit dem Schwanz hin und her. Sie streckt noch einmal die Hand aus und krault mich hinter den Ohren. Ich lasse es geschehen und es fühlt sich sogar ziemlich gut an. Trotzdem: Könnt ihr Menschen euch nicht einmal richtig vorstellen? Man krault keine fremde Katze, der man sich noch nicht vorgestellt hat. Die meisten Menschen haben einfach kein Benehmen!

Die Tür zum Schlafzimmer schwingt auf und Olga kommt herein. Ich laufe zu ihr hinüber und begrüße sie stürmisch, indem ich meinen Kopf an ihren Beinen reibe und laut miaue.

»Hallo, Winston«, begrüßt sie mich lachend, »hast du mich vermisst? Ich war nur kurz draußen. Und ich sehe, dass du Anna schon kennengelernt hast.«

»Klar, wir sind gerade dabei, uns anzufreunden«, antwortet die fremde Frau, die offensichtlich Anna heißt. Wir freunden uns an? Na, das wüsste ich aber!

»Ach, das ist schön!« Olga lächelt. »Weißt du, Winston, ich hatte gehofft, dass du Anna magst. Anna ist nämlich meine Schwester.«

Donnerwetter – Olgas Schwester! Daher also die Ähnlichkeit! Wenn ich nicht so viele Haare im Gesicht hätte, würde ich jetzt überrascht gucken. So bleibt mir nur ein leises Miauen.

»Winston ist Professor Hagedorns Katze«, erklärt Olga ihrer Schwester. »Du musst dich also nicht nur um den Herrn Professor, sondern auch um seinen Kater kümmern.«

Anna nickt. »Das hat mir der Professor bereits erklärt. Ich habe Winston gleich etwas zu fressen gegeben.«

Ha! DIE war das! Ich schnaube laut – aber Anna und Olga bemerken es nicht, sondern unterhalten sich munter weiter.

»Du hast ihm schon etwas gegeben? Was denn?«

»Na, ich habe Katzenfutter gekauft. Eben, als ich das Waschmittel besorgt habe. Sie hatten einen ganzen Karton Dosenfutter im Angebot. Den habe ich gleich mitgenommen.«

»Dosenfutter? Für Winston?« Olga lacht.

Was, bitte schön, ist daran so lustig?, frage ich mich. Und was ist überhaupt Dosenfutter?

»Ja, natürlich. Warum denn nicht? Ich habe mir den Inhalt durchgelesen und es klang sehr lecker. Pute mit Reis.«

Olga lacht immer noch, ich bin fassungslos. Das, was ich in meinem Napf gesehen habe, war niemals Pute mit Reis. Es sah eher aus wie die feuchte Blumenerde, die Olga im Frühling immer auf dem Balkon stehen hat, wenn sie die Zimmerpflanzen umtopft.

»Ich glaube nicht, dass unser Winston Dosenfutter frisst. Dafür ist er viel zu verwöhnt. Ich koche immer frisch. Für den Kater und den Professor. Das kannst du dir schon mal merken.«

Erstens: Olga hat recht. Zweitens: Warum soll sich Anna das merken? Versteh ich nicht. Hauptsache, Olga weiß, was Werner und mir schmeckt.

»Okay, schreib ich mir gleich in mein Buch. Hoffentlich mache ich nicht alles falsch, wenn du nicht mehr da bist.« Anna seufzt.

»Keine Sorge. Das wird schon. Nächste Woche kann ich dir noch alles zeigen. Und du kannst mich auch immer anrufen, wenn du Fragen hast.«

Moment mal! Was heißt denn: wenn du nicht mehr da bist? Da muss ich mich wohl verhört haben! Olga gehört so sehr in die Hochallee 106a wie Werner, mein zwei Meter hoher Kratzbaum aus Samt und unsere Regalwand mit den vielen Büchern. Und natürlich ich. Andersherum: Hochallee 106a ohne Olga funktioniert nicht. Da kommen dann solche Sachen wie »Pute mit Reis« aus der Dose bei raus.

Aber tatsächlich zieht diese Anna jetzt ein Büchlein und einen Stift aus ihrer Hosentasche und beginnt, darin herumzukritzeln. Muss ich daraus schließen, dass Olga ernsthaft plant, uns zu verlassen? Ein sehr unangenehmes Gefühl beschleicht mich, ein sanfter, aber dauerhafter Druck auf meinen Katerbauch. Gut, dass der noch so leer ist, sonst wäre dieses Gefühl wahrscheinlich sogar schmerzhaft. Wenn du nicht mehr da bist – je länger ich über diesen Satz nachdenke, desto schneller schlägt auch mein Herz. Ich mag es nämlich gar nicht, wenn sich Liebgewonnenes in meinem Leben ändert. Ich würde sogar sagen: Ich hasse es!

Klick, klick – ein Schlüssel dreht sich im Schloss der Wohnungstür. Werner! Der muss den ganzen Unsinn stoppen, und zwar sofort! Mit meinem Professor lebe ich schon so lange zusammen, dass er mich auch ohne Worte versteht. Ich flitze also zur Wohnungstür, und kaum steht Werner im Flur, beginne ich, wehleidig zu maunzen und mich vor ihm auf dem Boden hin- und herzuwälzen.

»Mensch, Winston, was ist denn mit dir los?« Werner zieht seine Cordjacke aus und bückt sich zu mir. »Hast du Bauchweh?« Liebevoll streicht er über mein Bäuchlein. Dann richtet er sich wieder auf. »Olga? Ich bin zurück! Ich glaube, Winston geht’s nicht gut.« Mein Professor! Einfach Weltklasse. Hat sofort geblickt, dass es ein Problem gibt.

»Moment!«, tönt es aus der anderen Ecke der Wohnung. »Komme gleich!«

Ich beschließe, die Mitleidsnummer noch ein wenig auszubauen, bevor Olga hier aufkreuzt und vielleicht findet, dass ich mich zu sehr anstelle. Also miaue ich noch wimmernder und bleibe schließlich auf dem Rücken liegen, alle viere von mir gestreckt. Wenn das kein Bild des Jammers und des Elends ist!

»Oh, was hat der Kater?«

»Tja, er scheint sich gar nicht wohlzufühlen. Haben Sie ihn heute schon gefüttert?«

Olga nickt. »Anna hat ihn gefüttert. Allerdings mit Dosenfutter. Ich habe noch gar nicht nachgeschaut, ob Winston das überhaupt angerührt hat. Vielleicht hat er einfach nur Hunger, weil es ihm nicht geschmeckt hat.«

»Dosenfutter?« Werner schüttelt den Kopf. »Das geht natürlich nicht, dass Sie in Zukunft Ihren Dieter bekochen und wir hier mit Fast Food vorliebnehmen müssen.«

Fast was? Versteh ich nicht. Aber macht nichts, denn es ist offenbar etwas, das sowieso nicht schmeckt. Der Hinweis auf Dieter ist allerdings interessant … ich habe nämlich irgendwie das Gefühl, dass mir dieser Kerl noch einige Probleme bereiten wird. Zumindest ist der Name in letzter Zeit verdächtig häufig aufgetaucht, verbunden mit einem schwärmerischen Seufzen von Olga. Dieter ist wohl jemand, der ihr viel bedeutet. Und zwar so viel, dass sie in Zukunft lieber für ihn anstatt für Werner und mich kochen möchte. Zum Fellraufen ist das!

Olga lacht.

»Keine Sorge, ich werde meiner Schwester noch zeigen, was ihr hier gern esst. Dieter setze ich übrigens erst mal auf Diät, der hat in letzter Zeit ganz schön zugelegt.«

»Kein Wunder. Wer sich die beste Köchin der Welt als Frau angelt, der kommt um ein paar zusätzliche Pfunde wohl nicht herum. Und wissen Sie was?« Werner macht eine Kunstpause.

»Nee.« Olga schüttelt den Kopf.

»Ich beneide Dieter glühend. Ich würde, ohne zu zögern, fünf Kilo zunehmen, wenn ich Sie dafür behalten dürfte. Von mir aus auch zehn. Dass Sie uns verlassen, betrachte ich als echte Katastrophe!«

WAS? Es ist wirklich wahr? Olga wird gehen und Werner kann es nicht verhindern? Das ist eine echte Katastrophe! Egal wie man es betrachtet! Ich rolle mich vom Rücken auf die Seite und lege den Kopf ganz schlapp auf den Boden. Mir ist schwindelig. Vor Kummer – oder vom vielen Rumrollen.

»Schauen Sie mal, Olga: Winston sieht schon ganz mickrig aus. Dem gefällt es auch gar nicht, dass wir bald ohne Sie auskommen müssen.«

»Ach, Herr Professor, nun hören Sie auf damit! Sonst fühle ich mich richtig schlecht! Außerdem haben wir doch bereits die perfekte Nachfolgerin für mich gefunden. Meine Schwester Anna wird sich als neue Haushälterin bestimmt noch viel liebevoller um Sie beide kümmern, als ich es bisher getan habe. Anna ist schließlich Mutter. Die hat viel Übung im Kümmern.«

Na und? Das leuchtet mir nun gar nicht ein. Was hat denn Muttersein mit Kümmern zu tun? An meine eigene Mutter kann ich mich nur schwach erinnern. Falls die sich sehr um mich gekümmert hat, hat sie das jedenfalls nicht besonders lang getan – ich war schließlich noch ziemlich klein, als mich Werner beim Züchter abgeholt hat. Seitdem sorgt er gemeinsam mit Olga für mich, und das klappt so gut, dass ich keinen Grund zur Beschwerde habe.

»Ach, Ihre Schwester hat ein Kind?« Werner klingt erstaunt.

Olga nickt. »Eine Tochter, zwölf Jahre alt. Ein süßes Mädchen. Sehr gut in der Schule, vor allem in Sprachen. Als meine Schwester mit Kira vor vier Jahren nach Deutschland kam, sprach das Mädchen noch kein Wort Deutsch, und nun hört man gar nicht mehr, dass sie nicht hier geboren wurde.«

Aha. Woran soll man das auch hören? Verstehe ich nicht. Kann man den Menschen sonst anhören, wo sie geboren wurden? Das wusste ich nicht.

Olga lächelt. »Kira begleitet ihre Mutter bestimmt gern mal hierher und spielt ein wenig mit Winston. Dann ist dem auch nicht mehr langweilig.«

Hallo? Mir ist überhaupt nicht langweilig! Woher hat Olga nur so eine abwegige Idee? Mein Leben gefällt mir genau so, wie es jetzt ist. Ich möchte keine Veränderung. Und erst recht möchte ich kein Kind zu Besuch, das mit mir spielen will. Im Gegenteil: Ich HASSE Kinder! Sie sind laut und ungezogen, und bisher hat mich noch jedes Kind, das mir begegnet ist, irgendwann geärgert. Mich zum Beispiel an meinen langen Schnurrbarthaaren gezogen. Oder gar versucht, diese abzuschneiden.

Werner hat einen Bruder mit drei besonders ungezogenen Rotznasen: zwei kleine Mädchen, Zwillinge, und einen etwas größeren Jungen. Die drei quälen mich jedes Mal, wenn sie in der Hochallee zu Besuch sind. Weihnachten, Ostern – egal welches Familienfest gefeiert wird, diesen Kindern fallen immer die hirnrissigsten Sachen ein. Beim letzten Weihnachtsfest haben sie zum Beispiel versucht, mir eine rote Zipfelmütze auf dem Kopf zu befestigen, damit ich aussehe wie der Weihnachtsmann. Mit Klebstoff! Das muss man sich mal vorstellen! Natürlich hat Werner mit den drei Mini-Terroristen geschimpft, aber da war es schon zu spät: Die Mütze klebte so fest in meinen Haaren, dass Olga sie mir mit einer Nagelschere aus dem Fell schneiden musste. Danach sah ich aus wie der letzte Idiot. Einfach furchtbar! Ich, Winston Churchill, völlig entstellt.

Also egal, was hier noch passiert und wer Olga ersetzt, wenn sie zu ihrem Dieter geht: alles, bloß keine Kinder in der Hochallee 106a! Heilige Ölsardine, BITTE keine Kinder!

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Erst ein Ende. Dann ein Anfang.
Und was für einer!

Falls es einen Katzengott gibt, hat er meine Gebete nicht erhört. Denn natürlich geht meine Geschichte mit KINDERN weiter. Und mit Olgas Abschied. Ein schwerer Schlag für einen treuen Kater wie mich!

Ein paar Tage später steht Olga nämlich mit ihren Koffern an der Tür, während Dieter neben ihr bereits ungeduldig von einem Bein aufs andere tappt. Ich beäuge ihn misstrauisch.

Wie ich von langen Fernsehabenden mit Werner weiß, bilden Menschen gern Paare. Ein Mann verliebt sich zum Beispiel in eine Frau und dann sind sie ein Paar und bleiben zusammen. So jedenfalls wünschen es sich die meisten Menschen. Viele der Filme, die ich gemeinsam mit Werner geschaut habe, handeln von den Problemen, die sich ergeben, wenn das mit der Liebe nicht richtig klappt. Das kann dann oft ziemlich kompliziert werden, und ich habe mir schon häufiger gedacht, dass die Menschen weniger Stress hätten, wenn es dieses Liebesding gar nicht gäbe. Werner zum Beispiel hat den ganzen Ärger nicht. Und das liegt eindeutig daran, dass er nicht mit einer Frau, sondern mit mir in der Hochallee lebt. Mann und Kater passen einfach besser zusammen als Mann und Frau. Olga wird das vermutlich auch noch merken, wenn sie diesen Dieter erst mal den ganzen Tag am Hals hat. Da wird der Traummann schnell zum Albtraum. Und dann wird sie sich wünschen, sie wäre hiergeblieben und würde sich noch um Winston und Werner anstatt um Dieter kümmern. Uns verlässt man eben nicht so einfach!

Olga greift in ihre Hosentasche und zieht einen Schlüsselbund heraus.

»Hier ist mein Wohnungsschlüssel.«

Werner nickt. Er lächelt nicht mehr, sondern guckt so traurig, wie ich mich gerade fühle. Nach ein paar Jahren als Haustier kann man ziemlich viel am menschlichen Gesicht ablesen. Ich jedenfalls weiß nach einem Blick auf Werner meistens sofort, wie er gerade gelaunt ist. Das kann sehr praktisch sein, etwa wenn ich etwas ausgefressen habe. Ein Blick auf sein Gesicht und ich erkenne, ob es richtig Ärger gibt oder Werner darüber lacht. Und je nachdem kann ich mich schnell verkrümeln oder eher ein bisschen mit ihm kuscheln.

»Tja, dann heißt es jetzt Abschied nehmen, richtig?«, will Werner wissen. Ob er auch hofft, dass es sich Olga in letzter Sekunde noch anders überlegt?

»Richtig«, sagt Olga und macht einen Schritt den Flur hinunter. »Anna«, ruft sie dann laut, »Dieter ist da, wir wollen los!«

»Moment!«, tönt es aus der Küche. »Ich komme gleich.«

Kurz darauf steht Anna bei uns. Ich schnuppere an ihrem Hosenbein. Anscheinend kocht sie gerade etwas. Riecht ganz lecker. Komisch nur, dass sie gar keine Schürze trägt. Ohne Schürze hat Olga nie gekocht. Aber offenbar geht es auch so. Interessant.

Olga friemelt an ihrem Schlüsselbund herum und reicht Anna einen Schlüssel.

»Hier, meine Liebe! Pass gut darauf auf! Und natürlich nicht nur darauf, sondern auch auf den Herrn Professor. Nicht zu vergessen Winston.«

Anna nimmt den Schlüssel mit der einen Hand und reckt die andere in die Luft.

»Ich schwöre!« Jetzt lachen alle, und die traurige Stimmung, die sich eben wie Bodennebel in der ganzen Wohnung auszubreiten drohte, wird von dem Gelächter ein wenig verscheucht. Olga schüttelt Werner zum Abschied die Hand. Der zögert kurz, dann zieht er sie in seine Arme und drückt sie kurz.

»Olga, machen Sie es gut! Ich werde Sie vermissen!«

Miau, ich auch! Aber wie sage ich das, ohne zu reden? Ich entscheide mich für einen rasanten Sprung vom Boden auf die Kommode unter dem Schlüsselbrett und von dort auf Olgas Arm. Lasst Taten sprechen! Zwei Sekunden später lande ich zielsicher in Olgas Armen.

»Oh, hoppla! Angriff von vorn!«, kommentiert Olga meinen Sensationssprung und krault mich hinter den Ohren. »Ich glaube, Winston will mit uns gehen!«

»Nee, nee, hiergeblieben!«, ruft Werner. »Ihr könnt jetzt nicht alle abhauen!«

»Das wär mir auch nicht recht«, ergänzt Dieter. »Ich habe nämlich eine leichte Katzenallergie. Auf Dauer würde das mit mir und der Katze nicht gut gehen.«

Unmöglich! Olga hat sich einen Mann ausgesucht, der keine Katzen verträgt? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Was für einen schlechten Männergeschmack sie hat! Beleidigt hüpfe ich von Olgas Arm und verkrümele mich in die Küche. Dort bleibe ich so lange, bis Olga und Dieter die Wohnung verlassen haben.

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Als ich mich in dieser Nacht in mein Körbchen lege, um zu schlafen, geht es mir, Gott sei Dank, schon ein kleines bisschen besser. Anna hat etwas sehr Leckeres für mich gekocht – Geflügelleber mit echtem Reis. Dann hat sie fröhlich pfeifend die Wohnung geputzt – ganz so, wie Olga das immer gemacht hat. Vielleicht ändert sich doch gar nicht so viel in meinem Katerleben. Mit diesem Gedanken rolle ich mich zufrieden zusammen, schlafe ein und beginne, süß zu träumen. Von Geflügelleber. Und einem frisch geputzten, sonnigen Plätzchen auf der Fensterbank.

Rrrriiiing! Rrriiiing! Riiiiiiiiinnng! Im Traum hat mich Werner auf das Tischchen neben dem Telefon gesetzt, als dieses zu läuten beginnt. Erst zögerlich, dann ziemlich aufdringlich. Miau! Das stört meinen schönen Traum aber empfindlich! Nun geh schon ans Telefon, Werner! Aber Werner reagiert nicht. Er sitzt einfach nur da und lässt es klingeln. Unmöglich! Merkt der nicht, dass dieses Geräusch nervt? Rrrriiiiinnng! Rrrriiiiinnng! Mann, Werner, geh ran! Ich kann mit meinen Pfoten wohl kaum den Hörer abheben.

Aber Werner geht einfach nicht ans Telefon, und je länger es klingelt, desto mehr fällt mir auf, dass das Geräusch nicht nur in meinem Traum, sondern auch in echt da ist. Und es ist gar nicht das Telefon, sondern die Türklingel, an der jemand Sturm läutet. Und das mitten in der Nacht. Gibt’s doch gar nicht!

Müde rappele ich mich hoch. Wer zum Teufel ist das? Jetzt taumelt Werner, noch halb im Schlaf, an mir vorbei.

»Was ist denn hier los, Winston?«, will er von mir wissen. Aber diese Frage kann ich ihm nicht beantworten. »Drei Uhr nachts! Das ist ein bisschen spät für Besuch.« Er gähnt und wirft einen Blick durch den Spion in der Tür. Von dort kann man sehen, wer im Hausflur steht.

»Ach du liebe Güte!«, entfährt es ihm. Offenbar ist der Besuch nicht nur überraschend, sondern sehr überraschend. Werner legt die Kette zurück, die unsere Haustür von innen versperrt. Dann öffnet er die Tür einen Spalt. Davor steht Anna. Und ein sehr dünnes, traurig dreinblickendes Mädchen.

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Erstens kommt es anders.
Und zweitens als man denkt.

Anna hat ganz geschwollene Augen und sieht irgendwie anders aus als noch vor ein paar Stunden. Das Mädchen scheint zu frieren, jedenfalls zittert es ein bisschen. Oder hat es vielleicht Angst? Und falls ja: warum? An Werner und mir kann es nicht liegen. Werner sieht in seinem gestreiften Bademantel bestimmt nicht besonders gefährlich aus – und ich bin hier ja nur die Katze. Schließlich haben nicht mal die ungezogenen Rotzgören von Werners Bruder Angst vor mir. Und die sind eindeutig jünger als das Mädchen.

»Hallo. Ich wollte nicht einfach so reinkommen, deswegen habe ich geklingelt.« Annas Stimme hört sich unsicher an. Das Mädchen neben ihr schweigt. Ob das Kira ist? Bestimmt. Zumindest sieht sie Anna ähnlich. Die gleichen hellen Haare, die gleichen großen Augen.

Auch Werner hat bisher noch kein Wort gesagt. Wahrscheinlich hat es ihm die Sprache verschlagen. Jetzt räuspert er sich.

»Hallo, Anna! Das ist ja eine Überraschung! Ist etwas passiert?«

Anna nickt.

»Ich … äh …« Sie spricht ganz leise. »Ja, es ist etwas passiert. Ich habe großen Ärger mit meinem Freund und ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Zu Hause konnten Kira und ich nicht bleiben. Es …«, sie zögert, »gab ein Problem.«

»Oh.« Mehr sagt Werner erst mal nicht, aber er öffnet die Tür ganz. Anna und das Mädchen kommen in die Wohnung. Jetzt erst sehe ich, dass Anna eine ziemlich große Tasche dabeihat.

»Sie können mit Ihrer Tochter im Gästezimmer schlafen. Wir reden weiter, wenn wir alle so richtig wach sind«, schlägt Werner dann vor.

Anna nickt, Kira sagt noch immer kein Wort. Die beiden gehen den Flur entlang Richtung Gästezimmer. Kurz bevor sie hinter der Zimmertür verschwinden, dreht sich Anna noch einmal um.

»Danke, Herr Professor!«

»Äh, keine Ursache. Schlafen Sie gut. Das versuche ich jetzt auch.«

Mit diesen Worten macht sich Werner ebenfalls wieder in Richtung seines Bettes auf. Ich trolle mich in mein Körbchen. Was für eine aufregende Nacht! Ich glaube nicht, dass ich nun einfach weiterschlafen kann.

Kann ich auch nicht. Unruhig wälze ich mich hin und her und versuche, an etwas Schönes zu denken. Zum Beispiel an eine große Sardinenlasagne. Zwecklos. Ich bin zwar müde, doch mir geht einfach zu viel durch den Kopf. Welche Probleme kann Anna haben, dass sie mitten in der Nacht ihre Tochter einpackt und bei uns auf der Matte steht? Das muss ja etwas ganz Wildes gewesen sein. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es in der Hochallee 106a von nun an ein wenig aufregender zugehen wird als bisher.

Werner ist ja eher ein ruhiger Vertreter der Menschenart. Tagsüber ist er meist an der Universität und forscht – und zwar an Teilchen, die so klein sind, dass man sie mit bloßem Auge nicht sehen kann. Atome nennt man die. Auch Werner kann sie nicht sehen, aber er weiß trotzdem, dass sie da sind. Genau wie seine Schwester. Die ist Pastorin und glaubt auch an irgendwas Unsichtbares. Alle komisch, diese Menschen. Ich glaube nur an Geflügelherz mit Petersilie. Und beides KANN ich sehen!

Nein, es hilft nichts. Ich kann einfach nicht einschlafen. Außerdem bekomme ich langsam Hunger vom vielen Wachherumliegen. Ich beschließe, einen Blick in meinen Fressnapf zu werfen. Vielleicht ist ja ein Wunder geschehen und es hat sich noch etwas Leckeres hineinverirrt.

Auf der Höhe der Küche angelangt, höre ich ein seltsames Geräusch. Es kommt aus dem Gästezimmer. Ich schleiche hinüber. Je näher ich tapse, desto klarer wird mir, dass das Geräusch ein Schluchzen ist. Jemand weint. Vielleicht Anna? Ich drücke meine Schnauze gegen die Tür. Sie ist nicht fest verschlossen und ich kann sie öffnen. Leise husche ich in das Zimmer.

Eine Gestalt sitzt aufrecht auf der einen Seite des Doppelbetts. Hier im Dunkeln dauert es einen kurzen Moment, bis ich sie genauer erkenne: Es ist nicht Anna, sondern Kira. Und sie weint tatsächlich. Okay, sie ist zwar ein Kind, das mich mit Sicherheit irgendwann nerven wird, aber dass sie weint, tut mir trotzdem leid. Ich schleiche zu ihr, hüpfe auf ihre Seite des Betts und beginne, ihre Hände abzuschlecken. Normalerweise ist das Hüpfen von Katern in Menschenbetten in dieser Wohnung zwar streng verboten, doch ich habe beschlossen, dass hier ein Notfall vorliegt. Außerdem verrät mir ein sanftes Schnarchen auf der anderen Seite des Betts, dass Anna tief und fest schläft. Die wird nicht mit mir schimpfen.

»Ui! Das kitzelt!« Kira, die eben noch geweint hat, kichert jetzt ein bisschen. Dann streckt sie ihre Hände nach mir aus und streichelt mich.

Wie auf Kommando beginne ich zu schnurren. Wenn ich etwas gelernt habe über die Kommunikation mit dem Menschen, dann, dass er Bestätigung braucht. So kann man sich seinen Menschen am besten erziehen. Wenn er also etwas macht, was einer Katze gefällt, ist sie gut beraten, ihn dafür zu loben. Und Schnurren ist für den Menschen ein Lob – jedenfalls freuen sich die meisten darüber. Also schnurre ich, was das Zeug hält, und tatsächlich versiegen so langsam auch die letzten Schluchzer von Kira und sie nimmt mich auf den Arm.

»Du bist ja süß! Mama hat schon von dir erzählt!« Kira klingt gar nicht so wie Olga oder Anna. Sie rollt das R überhaupt nicht und insgesamt hört sich alles, was sie sagt, ein bisschen weicher an. Sie spricht also eher wie Werner – eben nur mit kindlicher Stimme. Ob die Menschen daran erkennen, woher jemand kommt? Bevor ich noch länger darüber nachdenken kann, krault mich Kira hinter den Ohren. Ich rekle mich und mache mich ganz lang, dann drehe ich mich auf den Rücken, damit mich Kira auch auf dem Bauch kraulen kann. Herrlich!

»Das gefällt dir, nicht wahr?«

Am liebsten würde ich Ja! rufen, aber weil das nicht geht, schnurre ich einfach noch lauter. Kira kommt mit ihrem Gesicht ganz nah an mich heran, dann vergräbt sie es in meinem Fell. Eine Weile hockt sie so gebeugt über mir, bevor sie sich wieder aufsetzt.

»Das tut gut. Weißt du, ich hatte heute einen ganz fürchterlichen Tag. Na ja, eigentlich eine ganz fürchterliche Nacht.« Ich rolle mich von ihrem Schoß und setze mich vor sie aufs Bett. Das klingt nach einer spannenden Geschichte. Vielleicht erzählt Kira sie, wenn ich aufmerksam genug gucke? Ich spitze die Öhrchen und mache mein schlaustes und interessiertestes Katzengesicht in der Hoffnung, dass Kira es trotz der Dunkelheit bemerkt.

»Du wirst echt nicht glauben, was mir passiert ist! Ich kann es ja selbst kaum glauben. Wenn du willst, erzähle ich es dir.«

Bingo, sie hat gemerkt, dass ich die Geschichte hören will! Dieses Mädchen hat offenbar einen Draht zu Katzen. Ich lege den Kopf auf ihren Schoß und lausche gespannt.