Einleitung

„Und es gibt doch eine unsterbliche Seele!“ So könnte man im Boulevardstil eine These formulieren, der wir auf seriösem Weg mit wissenschaftlichem Rüstzeug nachspüren möchten. In einer „aufgeklärten“ Welt, in der sogar viele Theologen den alten Begriff als nicht mehr unserem Denken zumutbar erachten, melden sich ausgerechnet Mediziner und Naturwissenschaftler – denen man entgegenzukommen glaubte – zu Wort und reden von einem Bewusstsein, das sich vom Körper zu lösen vermag, oder in traditioneller Sprache von der unsterblichen Seele. Gibt es sie wirklich, und was können wir über sie sagen? Fliegt sie im Tod dem Körper davon wie ein Vogel und wird sie dabei auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, wie der Heidelberger Professor für Medizintechnik, Markolf Niemz, meint? So einfach ist es wohl nicht. Aber etwas Neues liegt in der Luft. Ein neues Verstehen von Mensch und Welt – lange vorbereitet durch die Quantenphysik – scheint nun endlich um sich zu greifen.

Einer der Anlässe und Grundlage für die neue Betrachtungsweise sind sogenannte Nahtoderfahrungen. Seit Raimond Moody 1975 in seinem Weltbestseller Leben nach dem Tod diesen Begriff geprägt hat, befasste sich zwar eine Anzahl Forscher damit. Es gab viele Einzelergebnisse. Aber der „Mainstream“ der naturalistisch geprägten biologischen und medizinischen Wissenschaften konnte damit nicht umgelenkt werden.1 Das scheint sich nun zu ändern. Ein Markstein ist die Veröffentlichung einer Studie des niederländischen Kardiologen van Lommel in der angesehenen Medizinzeitschrift The Lancet im Jahr 2001. Anhand zahlreicher Aussagen von wiederbelebten Patienten über Erlebnisse bei Herzstillstand und deren Überprüfung wird wissenschaftlich plausibel, dass es Bewusstseinsvorgänge gibt, die nicht hirnbiologisch zustande kommen. Das ist ein Tabubruch mit unabsehbaren Konsequenzen.

Van Lommel hat diese Konsequenzen innerhalb des Rahmens verfolgt, in dem sie zu suchen sind: innerhalb eines durch die sogenannte Quantenphysik veränderten Weltund Menschenbildes. Sein 2009 in Deutsch erschienenes Buch Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung ist ein erster umfassender Entwurf – mit Haken und Ösen im quantentheoretischen Teil. Wir wollen mit einfachen Worten einige Grundüberlegungen darstellen und alternativ weiterführen. – Für diejenigen, die sich nicht mit einer oberflächlichen Rede von der quantenphysikalisch erweiterten Wirklichkeit zufriedengeben möchten, bohren wir – mit anschaulichen Hilfsmitteln – etwas tiefer (es kann überlesen werden). Ferner stellen wir eine Beziehung her zu dem aufschlussreichen Dialog, den Mitte des vorigen Jahrhunderts der Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli mit dem analytischen Psychologen Carl Gustav Jung geführt hat.

Wir belassen es aber nicht bei wissenschaftlichen Überlegungen. Die praktische Relevanz von Nahtoderfahrungen für diejenigen, die sie erleben, und für die, auf die sie ausstrahlen, ist außerordentlich. Sie birgt einen Schatz erneuerter und in spirituelle Weiten geöffneter Lebensauffassung, der nur langsam vom „Mainstream“ der Menschen mit mäßigem religiösen Interesse entdeckt wird. Wegen seiner „Natürlichkeit“ erweckt er sogar Misstrauen bei manchen Menschen, die weltanschaulich festgelegt sind. Hier sind viele konkrete Stimmen hilfreich, denen wir in einer Dokumentation von 25 neuen, original deutschsprachigen, mir zugesandten Erfahrungsberichten Raum geben. Von ausgesprochen pädagogischer Relevanz ist die Beobachtung, dass viele Kinder Nahtoderfahrungen haben und in Bedrängnis geraten, weil sie kein Verständnis finden für das, was sie darüber erzählen. Wir widmen dem ein eigenes Kapitel, ebenso wie dem Nachbargebiet der Begegnung mit Verstorbenen.

Praxis und theoretische Fundierung gehören letztlich wieder zusammen. Sie sind auch in unserem täglichen Leben nicht mehr voneinander zu trennen, schon gar nicht in unserer „wissenschaftsgläubigen“ Welt. Denken durchdringt das Erleben, ist oft Voraussetzung, wenn man nicht leichtgläubig diversen Angeboten der Daseinsgestaltung folgen will. Das betrifft auch den religiösen Bereich. Wissenschaft dient aber nicht nur der kritischen Prüfung. Sie kann, wie wir am Beispiel der unsterblichen Seele zeigen möchten, auch neue Wege aufzeigen, uns ermutigen, in Neuland vorzudringen. Glaube ist nicht durch Wissenschaft ersetzbar. Aber die Zusammenschau beider birgt, wenn es um Nahtoderfahrungen und Seele geht, eine besondere Faszination.

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Tobias Licht, Susanne Sandherr, Johannes Bernhard Uphus und Marc Witzenbacher.

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Das Gesamtprogramm
von Butzon & Bercker
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ISBN 978-3-7666-1544-2
E-BOOK ISBN 978-3-7666-4149-6
EPUB ISBN 978-3-7666-4150-2

2., korrigierte Auflage 2012

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Umschlagbild: Hieronymus Bosch (um 1450–1516) „Der Aufstieg
in das himmlische Paradies“ (Ausschnitt), Venedig, Museum des
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für Kulturgüter und kulturelle Tätigkeiten.
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Satz: Schröder Media GbR, Dernbach
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I. Phänomene

1. Die Van-Lommel-Studie über Wiederbelebungen

Nahtoderfahrungen, wie sie seit Moodys Buch Leben nach dem Tod (1975) vielfach diskutiert wurden, sind nicht allgemein Sterbeerlebnisse, sondern Extremerfahrungen besonderer Art. Sie brauchen nicht einmal in – wirklicher oder psychologischer – Todesnähe zu geschehen, wenngleich sie im Umfeld des Todes besondere Bedeutung gewinnen. Allgemein definiert man sie durch bestimmte Merkmale, unter denen die folgenden deutlich hervorstechen:

Diese kennzeichnenden Merkmale sind prinzipiell unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Kultur und Religion, wenn sie davon auch in der Ausgestaltung beeinflusst werden. Sie kommen nicht alle in jedem Nahtoderlebnis vor. Je mehr von ihnen auftreten, desto „tiefer“ ist die Nahtoderfahrung, wie man sagt. Weltweit hat man Tausende von Berichten derartiger Erlebnisse gesammelt.

Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel, geboren 1943, hatte derartige Berichte zur Kenntnis genommen, als er sich 1986 einmal aktiv um die Kernfrage kümmerte, ob derartige Berichte nur subjektive, traumartige Erlebnisse wiedergeben oder ob da vielleicht doch etwas „Objektives“ dran ist. Zunächst erkundigte er sich zwei Jahre lang in seiner Sprechstunde bei Patienten, die wiederbelebt worden waren, nach entsprechenden Erfahrungen. Er war überrascht, dass zwölf von fünfzig Befragten ihm teils intensive und sehr bewegende Berichte gaben.

Trotzdem: Wenn auch die Schilderungen überzeugend und glaubwürdig waren, reichten sie nicht für wissenschaftliche Schlussfolgerungen aus. Um zu solchen zu gelangen, bot sich aber gerade für Kardiologen ein Weg an: Befragungen von Wiederbelebten unmittelbar nach der Reanimation und Vergleich der Aussagen mit nachprüfbarem Geschehen im OP oder am Unfallort.

Van Lommel gelang es, eine Anzahl von Kollegen, Mitarbeitern und Psychologen zu gewinnen, mit denen er ein gut ausgearbeitetes Projekt in Gang setzen konnte. Zehn Kliniken in Arnheim und Umgebung beteiligten sich daran.

„Im Laufe von vier Jahren“, so van Lommel, „von 1988 bis 1992, konnten wir konsekutiv 344 Patienten mit insgesamt 509 erfolgreichen Reanimationen in die Studie aufnehmen. Alle Patienten in unserer Studie waren zeitweilig klinisch tot gewesen. Als klinischen Tod definiert man die Phase der Bewusstlosigkeit, zu der es bei einem Herzstillstand oder einem akuten Herzinfarkt infolge unzureichender Durchblutung des Gehirns, eines Kreislaufzusammenbruchs und/oder eines Atemstillstandes kommt. Wenn in diesem Zustand keine Reanimation eingeleitet wird, tritt nach fünf bis zehn Minuten eine irreversible Schädigung der Gehirnzellen ein, und der Patient wird unweigerlich sterben.“2

Unter diesen Patienten fand man 62, die von einer Nahtoderfahrung berichteten, 41 davon mit mittlerer bis ausgeprägter Tiefe. Die weitere Befragung führte man auch bei ebenso vielen der übrigen Patienten mit vergleichbaren Lebensdaten als Kontrollgruppe durch. Überdies interviewte man nach zwei und nach acht Jahren die dann noch lebenden Befragten, um ein Bild von den Rückerinnerungen und auch den Lebensveränderungen zu gewinnen.

Die Ergebnisse der Untersuchung – man nennt sie heute kurz die Van-Lommel-Studie – waren derart beeindruckend hinsichtlich Inhalt und methodischer Durchführung, dass die renommierte Medizinzeitschrift The Lancet sie 2001 publizierte. Was den Inhalt angeht, bedeutete das eine Ungeheuerlichkeit. Denn hier wurde der Nachweis vorgestellt, dass es ein vom Gehirn unabhängiges menschliches Bewusstsein gibt, strikt entgegengesetzt dem in der klassischen Medizin üblichen „naturalistischen“ Weltbild.

Vergegenwärtigen wir uns einige weitere der wichtigsten Aussagen der Studie:

Von den 62 Befragten mit Nahtoderfahrung hatten 15, also etwa jeder vierte, das genannte Merkmal einer Außerkörpererfahrung, das sich für die Leib-Seele-Frage als besonders bedeutsam erweist. 19 bewegten sich durch einen „Tunnel“, 14 kommunizierten mit Gestalten im Licht und zwanzig begegneten verstorbenen Freunden oder Angehörigen. Acht erfuhren eine Lebensrückschau. Auch andere Merkmale waren vertreten: Besonders viele, nämlich 18, nahmen eine himmlische Landschaft wahr. Niemand schilderte eine Furcht einflößende oder schlechte Erfahrung.

Bei erneuten Befragungen der Überlebenden nach zwei und acht Jahren ging es neben einer kontrollierenden Wiederholung früherer Fragen vor allem um die Langzeitwirkung der Nahtoderlebnisse. Man erkundigte sich nach Veränderungen in den sozialen und religiösen Anschauungen sowie Verhaltensweisen. Hier spielte die Kontrollgruppe eine besondere Rolle, da ja das Erlebnis eines Herzstillstandes und der Wiederbelebung selbst einschneidende Veränderungen im Verhältnis zum Leben erwarten ließen. Das bestätigte sich auch; der Unterschied lag jedoch im Umfang. So waren nach zwei (acht) Jahren 42% (78%) der Befragten mit Nahtoderlebnis der Meinung, dass sie vermehrt „eigene Gefühle zeigen“, von den anderen 16% (58%). Entsprechend war das Verhältnis bei der Frage „liebevoller, empathischer“ 52% (68%) zu 25% (50%), bei „mehr Einsicht in den Sinn des Lebens“ 52% (57%) zu 33% (66%!) und bei stärkerem „Glauben an ein Leben nach dem Tod“ 36% (42%) zu 16% (16%).3

Einschneidender als die zahlenmäßigen Aussagen ist indessen die Tatsache selbst, dass Patienten aus der Phase des Herzstillstandes heraus berichteten, was sie sahen und erlebten. Kann man bei nachträglichen Erzählungen noch Fantasie oder falsche Erinnerung vermuten, so bestand hier die Möglichkeit, Behauptungen konkret nachzuprüfen. Besonders eindrucksvoll ist folgendes Beispiel, das wir in den Worten eines aktiven Pflegers wiedergeben:

„Während der Nachtschicht liefert der Rettungswagen einen 44 Jahre alten, bereits bläulich-violett verfärbten, komatösen Mann auf der kardiologischen Station ein. Passanten hatten ihn etwa eine Stunde zuvor in einem Park gefunden und bisher lediglich mit Herzmassage begonnen. Nach seiner Ankunft im Krankenhaus wird er mit Beutel und Maske beatmet, erhält Herzmassage und wird defibrilliert. Als ich die Beatmung übernehme und den Patienten intubieren will, fällt mir auf, dass er noch ein künstliches Gebiss trägt. Vor der Intubation entferne ich den oberen Teil der Prothese und lege sie auf den Instrumentenwagen. In der Zwischenzeit setzen wir die Maßnahmen zur erweiterten Reanimation fort. Nach etwa anderthalb Stunden hat der Patient zwar wieder einen ausreichend stabilen Herzrhythmus und Blutdruck, er wird aber noch beatmet …Eine Woche später, bei der Medikamentenausgabe, begegne ich dem Patienten, der gerade auf die Kardiologie verlegt wurde, wieder. Als er mich sieht, sagt er: ,Oh, dieser Pfleger weiß, wo mein Gebiss liegt … Sie waren doch dabei, als ich ins Krankenhaus kam, und haben mir das Gebiss aus dem Mund genommen und es auf einen Wagen gelegt, auf dem alle möglichen Flaschen standen. Er hatte so eine ausziehbare Schublade, und in die haben Sie meine Zähne gelegt.'“4

Wie der Patient M. noch weiter erzählte, hatte er alles in einem Schwebeerlebnis von oben, unter der Zimmerdecke schwebend, beobachtet. Die Angaben stimmten genau. – Hier sind wir bei dem vielleicht gravierendsten Punkt der Van-Lommel-Studie: Man konnte sowohl feststellen, dass das Außerkörpererlebnis sich während des Herzstillstandes vollzog, wie auch die Angaben des Patienten genau überprüfen.

An diesem Beispiel entzündete sich eine Diskussion, die illustriert, wie das Ringen um ein neues Menschenbild mit wissenschaftlicher Schärfe geführt wird. Es erscheint lohnenswert, ihr ein eigenes Kapitel zu widmen, ehe wir mit den allgemeinen Betrachtungen fortfahren.

2. Die Geschichte mit dem künstlichen Gebiss

Die in den USA erscheinende Zeitschrift Journal of Near-Death Studies ist ein seriöses Organ, wohl das führende hinsichtlich Berichterstattung und wissenschaftlicher Diskussion über die Szenerie der Nahtoderfahrungen. Sie veröffentlichte im Jahr 2008 einen Beitrag des Niederländers R. H. Smit über die genaueren Umstände und den Ablauf der Wiederbelebung des Patienten M., wie er im vorigen Kapitel geschildert wurde. Insbesondere erzählte darin der Pfleger „TG“ in einem Interview, wie er vom Kopfende des Patienten aus die Reanimation durchführte, einschließlich der Geschichte mit dem herausgenommenen künstlichen Gebiss. – Ein in den Niederlanden arbeitender australischer Anästhesist, G. M. Woerlee, selbst in Reanimationen erfahren, reagierte vehement in einer Skeptiker-Zeitschrift und interpretierte die Argumente von Smit so, dass eine hirnbiologische Erklärung dafür herauskam, warum Patient M. während des Herzstillstandes die Einzelheiten der Herausnahme seines künstlichen Gebisses wahrnehmen und später schildern konnte. Ein Kernpunkt seiner Argumentation besagte Folgendes: Wie dargelegt, wurde bei der Reanimation eine Beatmungsmaschine benutzt. Es ist bekannt, dass bei dem hierbei wieder einsetzenden Blutfluss das Bewusstsein in Anfängen wiederkehren kann, noch ehe das Herz wieder zu schlagen beginnt. Patient M. konnte also sehr wohl die Herausnahme des künstlichen Gebisses und dessen Lagerung im Instrumentenwagen in ganz gewöhnlicher Weise wahrgenommen haben.

Das Journal of Near-Death Studies druckte im Jahr 2010 den Beitrag von Woerlee vollständig ab, fügte allerdings eine Analyse und Recherche von Smit und einem weiteren Autor hinzu.5 Diese war vernichtend: Der Pfleger TG hatte, wie im Interview ausdrücklich dargelegt, das künstliche Gebiss herausgenommen, ehe er die Beatmungsmaschine einschaltete, also während das Herzflimmern von Patient M. noch anhielt. Hatte Woerlee diesen entscheidenden Punkt übersehen oder absichtlich verdreht? Auch die anderen Einwände erwiesen sich als nicht stichhaltig.

Gegen kritische und besonders sorgfältige Prüfung von so gravierenden Erlebnissen wie dem von Patient M. ist nichts einzuwenden. Zwischen echten, nachhaltigen und scheinbaren außerkörperlichen Erfahrungen und Nahtoderlebnissen soll sorgfältig unterschieden werden. Die tiefere Frage dabei ist, ob eine Offenheit gegenüber Erfahrungen besteht, die dem herkömmlichen naturalistischen oder materialistischen Weltbild widersprechen. So kann unser Bemühen, den gegenwärtigen Umbruch in unserem Weltbild zu vermitteln, auch als Angebot an den Skeptiker verstanden werden, sich ohne intellektuellen Salto neuen Verständnisweisen zu öffnen, insbesondere in der Frage nach Bewusstsein, Seele und Körper.

Zwar betraf die Van-Lommel-Studie nur eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen mit Nahtoderlebnis, nämlich solche, die das Erlebnis während eines Herzstillstandes hatten. Ihre Aussagen strahlen aber auf die Fülle anderer Nahtoderfahrungen aus, auch wenn diese „retrospektiv“, rückschauend, über das Erlebte Auskunft geben und nicht „prospektiv“ wie in der Van-Lommel-Studie untersucht werden können. Da man den vielen Berichten entnehmen kann, dass die Grundmuster wie Außerkörpererlebnis, Tunnel-Licht-Erfahrung, Begegnung mit Verstorbenen oder Lebenspanorama dieselben sind, erhalten auch die retrospektiven Studien neues Gewicht. So können wir, ehe wir einem genaueren Verstehen der Ergebnisse van Lommels nachgehen, den Kreis der Erfahrungsberichte erweitern. Wir beginnen mit einem ungewöhnlich reichhaltigen Bericht, in dem sehr viele der Grundmerkmale einer Nahtoderfahrung auftreten.

3. Damals in der DDR –
Beispiel einer Nahtoderfahrung

Günter Miersch schrieb im März 2007, wie er 1963 als 19- oder 20-Jähriger bei einem Judo-Training einen Unfall hatte und mit Vorgängen konfrontiert war, deren Verarbeitung sich im DDR-Umfeld als besonders schwierig erwies. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen (aus dem mir übersandten Originalbericht):

„Bevor ich das Bewusstsein verlor, überkam mich ein Vernichtungsgefühl. Für sich steigernde Angst war nicht mehr viel Zeit. Zum ,Glück' ging das alles recht schnell, und dann kam als Letztes auch schon das mir bekannte (von Äthernarkose) Rauschen in den Ohren. Dann sah ich auf Podesten zwei oder drei Vögel mit hängenden Köpfen und zerzausten Federn sitzen, die Ähnlichkeit mit einer Kreuzung zwischen Rabe, Geier und Bundesadler von der Seite gesehen hatten. Die Stimmung war etwas bedrückend.

Danach wurde es wieder dunkel, und ich konnte spüren, dass ich meinen Körper, besonders aus der Brustgegend, verlasse, und hatte dabei ein sehr schönes angenehmes Gefühl. Ich konnte plötzlich wieder sehen, befand mich ca. einen Meter über dem Boden und sah, dass vor mir zehn oder elf meiner Sportfreunde in ihren weißen Judoanzügen sich auf der Judomatte im Dreiviertelkreis um einen auf der Matte Liegenden stellten. Inzwischen war ich bis kurz unter die Turnhallendecke geschwebt und konnte den dort unten Liegenden jetzt genau und ganz klar erkennen und staunte: ,Das bin ja ich', hatte ich sofort begriffen, ohne Angst oder Sorge um mein Befinden zu haben. Mein Körper war mir gleichgültig. Am anderen Ende der Turnhalle hatte eine Grundschulklasse immer gleichzeitig Sportunterricht und war meistens mit Ballspielen beschäftigt, was natürlich mit viel Rufen und Geschrei vor sich ging. Das konnte ich von da oben noch klarer als sonst hören. Auch was die Sportkameraden sagten, konnte ich verstehen. Mein Körper lag auf dem Rücken mit geschlossenen Augen, und ich konnte ihn durch eine Lücke der um mich Stehenden deutlich von oben sehen. Einer machte einen kleinen Schritt in diese Lücke, und somit hatte er mir mit seinem Kopf den Blick auf mein Gesicht versperrt. Denn ich wollte gern noch mal mein Gesicht mit den geschlossenen Augen sehen. Das konnte ich nicht mehr in der noch verbleibenden kurzen Zeit erreichen. Diese Erinnerung ist immer noch fast hundertprozentig. Eine Kamera an derselben Stelle unter der Hallendecke hätte auch keine anderen Bilder liefern können.“

Später fügte Günter dieser ersten Phase seines Erlebens noch hinzu:

„Einige Minuten später habe ich dann meinen Sportfreund Reinhold H., der dabei war, gefragt, wie lange ich dalag. Nach seiner Schätzung waren es eineinhalb bis zwei Minuten. Ich zeigte ihm dann genau die Stelle auf der Judomatte, wo ich gelegen hatte, wo die Sportkameraden gestanden waren, sich bewegt hatten, wo er gestanden war, nämlich hinter meiner rechten Schulter, und die kleine Lücke, durch die ich mein Gesicht ja anfangs von oben etwas seitlich sehen hatte können. Reinhold bestätigte das wörtlich: ,Ja, so war's.' Dann reißt er den Kopf hoch und fragt mich: ,Woher weißt du das?' Da bin ich etwas zusammengezuckt und habe nicht geantwortet. Denn ich war nicht ganz sicher, ob er vielleicht etwas weitererzählt …“

Man hört heute noch immer wieder von Nahtod-Betroffenen, dass sie deshalb nicht über das Geschehene reden, weil sie Angst haben, für verrückt erklärt zu werden. Damals in der DDR kam noch hinzu, dass die materialistische Ideologie so etwas nicht zuließ und schnelle Konsequenzen möglich gewesen wären.

Besonders bemerkenswert an der geschilderten Szene ist, dass die Sportkameraden von Günter ausdrücklich dessen Beobachtungen im „Schwebezustand“ bestätigt haben. Wir treffen hier auf eines der fundamentalen Rätsel, die Nahtoderfahrungen Medizin und Naturwissenschaften aufgeben und das schon in der Van-Lommel-Studie thematisiert wird. Es war ein glücklicher Umstand, dass Günter spontan das Gespräch über die Postierung auf der Matte geführt und damit „objektiviert“ hat. Durch folgende Ergänzung über den Anfang des Schwebens wird das noch einmal verdeutlicht:

„Ich befand mich etwa einen Meter über dem Boden und hatte dazu ungefähr einen Meter Abstand zu den Füßen eines am Boden Liegenden. Dazwischen gingen drei oder vier Sportfreunde ganz nahe an mir vorbei und versperrten mir dabei jeweils kurzzeitig die Sicht zu dem vor mir auf dem Boden Liegenden. (Ich wusste noch nicht, dass ich das selbst bin.) Dabei sind einer oder zwei von rechts nach links praktisch durch mich (meine Position) durchgelaufen, ohne mich wegzuschieben. Ich konnte dabei sogar das ganz leise Schleifgeräusch ihrer Füße beim Gehen über die Judomatte hören.“

Fahren wir fort mit der zweiten Phase von Günters Nahtoderlebnis:

„Ich verlor wieder die Fähigkeit zu sehen und kam in die nächste Phase des Erlebten. Wie in einem Film konnte ich mein bisheriges Leben noch mal mit einigen herausgehobenen Erlebnissen vor mir ablaufen sehen. Dazu kam noch eine Person, die ich nicht sehen konnte, deren Stimme mich aber erklärend, helfend und wohlwollend begleitete. Es fand auch eine Bewertung statt, ohne Vorwürfe und Drohungen. (Es blieb aber auch nichts verborgen.) Ich konnte alles von höherer Warte aus selbst sehen, beurteilen und kommentieren. Dazu war ich fähig, weil meine Intelligenz und intellektuellen Fähigkeiten pöltzlich um ein Mehrfaches zugenommen hatten. Zusätzlich gab es da noch eine seltsame Erscheinung. Ich hörte eigenartige Knack- bzw. Knattergeräusche, die wie ein Störsender andere Eindrücke überlagerten. Das war etwas lästig. Daran kann ich mich nicht mehr so gut erinnern. (Vielleicht habe ich das auch verdrängt.)“

Dieser auch „Panorama“ oder „Lebensfilm“ genannte Teil von Nahtoderfahrungen ist bei manchen Betroffenen alleiniges Erlebnis und wird insbesondere von verschiedenen Bergsteigern berichtet, die einen Absturz überlebt, sich also nur wenige Sekunden in psychologischer Todesnähe befunden haben. Dass in einer so kurzen Zeit die Biografie eines Menschen in wesentlichen Teilen wahrgenommen werden kann, ist bereits ein außerordentliches Phänomen. Dazu kommen noch die inhaltliche Bewertung und ihre Konsequenzen, die Günter Miersch in seinem Fall selbst so kommentiert:

„In den folgenden Tagen bin ich auch die zweite Phase immer wieder gedanklich durchgegangen und war danach enttäuscht, weil meine besonderen intellektuellen Fähigkeiten wieder verschwunden waren. In dem lapidaren Satz ,Es blieb aber auch nichts verborgen' steckt eine umfangreiche und folgenreiche Aussage. Diese Feststellung und Erfahrung, die mir ganz sicher bewusst wurde, hat weit reichende Folgen, wenn sie sich auch in der Zukunft bewahrheitet. Denn ich nahm alle guten und schlechten Taten mit (sie waren mir bewusst) und spürte auch die Folgen bei anderen und was ich bei ihnen bewirkt habe. Deshalb auch meine Bemerkung ,Vielleicht habe ich das auch verdrängt'. Vorausgesetzt, dass jeder/jede diesen ,Lebensrückblick' erlebt, wenn es endgültig so weit ist, dann könnte das auch bewirken, dass ein Täter nicht mehr über sein Opfer triumphiert und der Ehrliche auch nicht der Dumme ist, zumindest ab diesem Zeitpunkt.

Mein Zeitgefühl war bei meinem Lebensrückblick verändert, so als könnte ich einiges gleichzeitig wissen und wieder erleben. Meine Eltern, auch Großeltern väterlicherseits kamen dabei vor, also nur Personen, zu denen ich auch real [in der profanen Wirklichkeit] Beziehungen hatte oder die ich persönlich kannte. Man kann sagen, dass ich mich auf einer anderen Ebene des Transzendenten befand [als bei Phase 1], aber noch durch die Rückschau Verbindung zur realen Wirklichkeit hatte.“

Die dritte Phase des Nahtoderlebens ist für Günter Miersch die „emotional ergreifendste“: Zunächst bewegte er sich durch eine

„… tunnelähnliche Röhre. Die Seitenwände des ,Tunnels' kann ich nicht mehr beschreiben, ich kann mich nur noch an sternähnliche Lichter erinnern.“

Auf einmal umgab ihn ein

„… festlich glänzender Raum, und mir begegnete eine ,strahlende Person' ohne konkreten Körper (vielleicht nebelartig), den ich nicht beschreiben kann. Ich erinnere mich noch recht gut daran, aber mir fehlen einfach die Worte, um das auszudrücken. Ich befand mich im Zustand eines ungewöhnlichen Glücks. Diese ,Person' nahm sich meiner an, sozusagen als Begleitung oder Führung. Es kamen noch sechs oder sieben solche ,Personen', die alle auch untereinander sehr freundlich waren, dazu. Sie kannten sich alle, auch mich, und sie waren alle schon Verstorbene. Bis auf drei oder vier erkannte ich sie auch. Meine Begleitung (Führung) wurde durch eine der dazugekommenen ,Personen' freundlich abgelöst. Ich befand mich in einer Atmosphäre von höchstmöglich vorstellbarer Liebe und Glück. Meinen Körper spürte ich nicht mehr.“

Einige undeutliche Erinnerungen in diesem Bericht haben sich später verdichtet, und so fügt Günter Folgendes hinzu: