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PAULO SCOTT

Unwirkliche Bewohner

Aus dem brasilianischen Portugiesisch
von Marianne Gareis

Verlag Klaus Wagenbach  Berlin

Die brasilianische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Habitante irreal bei Objetiva in Rio de Janeiro.

Dieses Werk wurde mit Unterstützung des Brasilianischen Kulturministeriums/Stiftung Nationalbibliothek veröffentlicht.

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MINISTÉRIO DA CULTURA
Fundação BIBLIOTECA NACIONAL

E-Book-Ausgabe 2013

© 2012 Paulo Scott
By agreement with Pontas Literary & Film Agency

Alle Rechte vorbehalten.
Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978 3 8031 4140 8
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3250 5

Für Simone da Costa Carvalho

inhalt

von allem, was passiert,
bleibt immer etwas übrig, das noch einmal passiert

niemand deutet das unerwartete richtig

frühling eines unwirklichen bewohners

niemand weiß so recht,
was er mit dem alltäglichen anfangen soll

von allem, was passiert, bleibt immer etwas
übrig, das noch einmal passiert

neunzehnhundertneunundachtzig*

* Müsste Paulo ein Resümee ziehen über seine Zeit als politischer Aktivist, würde er sagen, dass sie den Übergang von einer absoluten Idealisierung zu einem unvergleichlichen Zynismus darstellt und schließlich in den letzten Monaten zur Flucht in die Melancholie geführt hat. Eigentlich sollte es anders sein, schließlich hat die PT, die brasilianische Arbeiterpartei, gerade die Kommunalwahlen in Porto Alegre gewonnen, und er ist zu einer der wichtigsten Figuren der nationalen Studentenbewegung geworden, eine Position, die es ihm in drei Jahren ermöglichen wird, sich um einen Posten beim Stadtparlament zu bewerben, er, der gerade mal einundzwanzig ist, der Ende des Jahres seinen Abschluss in Rechtswissenschaften an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul machen wird und dem im Laufe des vergangenen Jahres eines klar geworden ist: Trotz seines ganzen Potentials wird er doch immer nur ein kleines Licht bleiben, ein Bauer unter den anderen Schachfiguren, ihm fehlt einfach der Ehrgeiz, sich auf Augenhöhe mit den fragwürdigen Vorgehensweisen der zweiten politischen Garde auseinanderzusetzen, dieser Bande von Halunken, die er bereits vor seinem Parteieintritt im Jahr neunzehnhundertvierundachtzig gehasst hat. Wenn er jetzt schon solche Schwierigkeiten hat, sich ganz und gar auf die Politik einzulassen, darin Karriere zu machen und für diese Karriere zu kämpfen, kann am Ende nur körperliche Abhängigkeit dabei herauskommen, ein Preis, der ihm jetzt schon zu hoch erscheint; und er weiß, wenn er sich nicht durchsetzt, sondern den schier unvermeidlichen Aufstieg der Partei einfach so mitmacht, besteht die Gefahr, dass er irgendwann beschämt einem dieser verhassten Halunken in den Arsch kriechen muss, um eine Stelle im Verwaltungsapparat zu ergattern und sein finanzielles Überleben zu sichern. Ähnlich wie diese Hunderte von Genossen, die sich gerade in den Kampf um die Posten gestürzt haben, die in Sekretariaten, im Büro des Bürgermeisters, des stellvertretenden Bürgermeisters, den Stiftungen, den staatlichen und halbstaatlichen Betrieben ausgeschrieben wurden; Leute, die sich vor Kurzem noch, und insbesondere nach ein paar Bierchen, auf die Brust geklopft und behauptet haben, sie würden einzig und allein deswegen mitmachen, um Brasilien vor der Ausbeutung durch das Kapital zu retten. In gewisser Weise kann er sie verstehen: Er selbst fordert sich zu viel ab und schafft es nicht, die sich nun endlich bietende Chance gelassen zu ergreifen, eine Chance, auf die er in den letzten vier Jahren all seine körperliche, geistige und emotionale Energie gerichtet hat. Doch wie dem auch sei, er hat sich von Anfang an, seit er neunzehnhundertdreiundachtzig an seiner ersten Parteiversammlung in Glória teilgenommen hat, geschworen, niemals zuzulassen, dass sein Mangel an theoretischem Wissen und seine komplette Naivität in Bezug auf Politik sich je in Mittelmäßigkeit verwandeln. Inzwischen betrachtet er die meisten der politischen Anführer nur noch als Verbündete einer machiavellistischen, ränkeschmiedenden Schmarotzer-Clique, deren einziger Plan darin besteht, an die Macht zu gelangen und schnellstmöglich zu Geld zu kommen. Er hat die Fähigkeit verloren, diese Widersprüche hinzunehmen. Sein Glaube ist weg. Deshalb kann er sich auch nicht mehr auf das konzentrieren, was getan werden muss, und hat die aus diesem Glauben resultierende Ruhe verloren. Geblieben ist ein Unbehagen. Vor knapp einem Monat hat Dr. Geraldo, Hausarzt seiner Familie seit drei Generationen, ihm bei einer Untersuchung gesagt: »Paulo, du lässt diese ganze Spannung zu sehr an dich ran, sie schlägt dir regelrecht auf den Magen. Es ist nicht normal, dass ein junger Kerl wie du eine chronische Gastritis in so fortgeschrittenem Stadium hat.« Der Arzt hat in seinem schleppenden südbrasilianischen Tonfall gesprochen und Paulo lange angeblickt, bis dieser sagte, Ich weiß, Herr Doktor, ich werde versuchen, besser auf mich aufzupassen. Er verließ die Praxis mit einem Rezept für einen noch stärkeren Säureblocker als das Cimetidin, das er bereits nahm, und dem absoluten, mindestens vierzehntägigen Verbot, Alkohol oder gewürzte Speisen zu sich zu nehmen. Paulo fühlt sich unwohl. Und obwohl er beschlossen hat, sich komplett aus der Partei zurückzuziehen, ist er immer noch Mitglied dieser trotzkistischen Gruppierung, in der er seit drei Jahren aktiv ist, und letzten Samstag ist er (auch wenn er am Freitag absichtlich getrödelt und den Bus um zweiundzwanzig Uhr dreißig verpasst hat, der mit fünfzehn weiteren Aktivisten an Bord von Porto Alegre nach Rio Grande do Sul zum ersten konspirativen Treffen seiner Organisation in diesem Jahr fuhr) vor sechs Uhr morgens aufgewacht, hat sich das Gesicht gewaschen, drei Garnituren Wechselklamotten in seinen Rucksack Marke Jurastudent gepackt und ist mit seinem stahlgrauen VW-Käfer Modell dreiundachtzig losgefahren, hat eine halbe Stunde später an der Tankstelle Nummer vier der Ipiranga-Kette an der Kreuzung Santo Antônio und Voluntários angehalten und den Tankwart gebeten, dreißig Liter Sprit einzufüllen, dessen Kosten er sich mit seinen beiden als Panzerknacker verkleideten Bekannten aus São Lourenço do Sul teilen wird, Eduardo Vanusa und Nico Schnauzbart, einer auf dem Beifahrersitz, der andere auf dem Rücksitz (beide noch betrunken von mehreren Runden Bier mit Steinhäger, die sie im Lola getrunken haben, während sie auf eine gewisse Neide aus dem Porto de Elis warteten, die im Kostüm des Dr. Frank Furter, des transsexuellen Vampirs aus der Rocky Horror Picture Show, erscheinen sollte, um sie in eine exklusive Kostümparty ins Ocidente einzuschleusen, am Ende jedoch gar nicht erschienen ist), hat dann, ohne sich um seine Mitfahrer zu kümmern, die bereits dem Schlaf hingegeben auf die Polster sabberten, um Viertel vor sieben die Hebebrücke über den Guaíba passiert und ist in den Süden des Bundesstaates zu seiner vielleicht letzten größeren Versammlung als Mitglied dieser Organisation gefahren, ohne dreihundert Kilometer lang seichte Gespräche über die Revolution aushalten zu müssen, über die sozialistische Internationale, über die Genossinnen, die man bereits flachgelegt hat und die, wenngleich anfangs störrisch, nach Einsatz bizarrster reichianischer Argumente lustvoll ihre Möse hinhielten. Der Samstag verlief schleppend, Paulo hatte Mühe, bei den Debatten nicht einzuschlafen, und ertrug es kaum noch, diesen Leuten ins Gesicht zu sehen. Deshalb schlich er sich am Abend, als die letzte Podiumsdiskussion beendet war, heimlich hinaus, schnappte sich das Auto und fuhr zum Cassino-Strand. Dort landete er auf einer Geburtstagsparty im Hotel Atlântico, wo er zufällig Manoela traf, eine Kulturmanagerin, zwei Jahre älter als er, in die er sich vor drei Jahren im Spätsommer auf der Ilha do Mel verliebt hatte. Sie war es, die ihn wiedererkannte, begeistert auf ihn zukam und ihm nach dem unvermeidlichen Wo hast du dich rumgetrieben, Was hast du gemacht, Wieso haben wir bloß die ganze Zeit nichts voneinander gehört, und nachdem er beiläufig erwähnt hatte, dass er mit dem Auto aus Porto Alegre gekommen sei, erzählte, sie arbeite als Theaterproduzentin und sei gerade mit einer Gruppe unterwegs, die am Sonntag in Pelotas auf der Bühne des Sete de Abril auftrete und jemand Vertrauenswürdiges suche, der die Garderobe des Theaterstücks nach Novo Hamburgo, wo die Gruppe beheimatet sei, zurückbringe, denn das Anfangsbudget habe leider nicht ausgereicht, und kein Transportunternehmen tätige eine solche Auslieferung in der erforderlichen Zeit, ohne einen komplett zu schröpfen, und dann sagte sie, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, dass sie ihm siebentausend Cruzados bezahlen werde, wenn er die Kostüme bei ihrer Assistentin vorbeibringe, damit sie gewaschen und rechtzeitig vor der Aufführung an der Universidade do Vale do Rio dos Sinos am Freitag ausgebessert würden, wobei sie noch hinzufügte, sie und die Schauspieler blieben bis Donnerstagabend in Pelotas, um ihren Verpflichtungen gegenüber der Stadtverwaltung nachzukommen; und als sie dann gleich darauf fragte, Das wirst du mir doch nicht abschlagen?, sagte er zu. Allerdings, fügte sie strategisch geschickt hinzu, gebe es da noch eine Kleinigkeit: Die Kostüme stünden erst am Dienstag zur Verfügung, Dienstag ganz früh, weil es ja noch einen Workshop gebe, und er wisse ja, wie das sei mit den didaktischen Anreizen, dem Lernen, der Phantasie der Schüler etc. Paulo fühlte sich angeschmiert, er musste am Montagnachmittag im Rechtsanwaltsbüro sein, wo er gerade ein Praktikum absolvierte. Er dachte einen Augenblick nach, es gab keine Aufgaben, die nicht auch bis Mittwoch warten konnten (er würde anrufen und sagen, er könne erst am Mittwoch zur Arbeit kommen). Dann ließ er Manoela noch eine Weile reden und unterbrach sie schließlich mit den Worten: »Ich habe von Sonntag auf Montag und von Montag auf Dienstag keine Unterkunft.« Sie lächelte (Lächeln ist sozusagen die Verkörperung ihres Sinns für das spontane Ergreifen von Gelegenheiten). »Wir sind im besten Hotel von Pelotas untergebracht«, sagte sie überheblich, »an Platz mangelt es uns nicht. Das Zimmer des Beleuchters ist gestern frei geworden, die Tagessätze sind schon bezahlt, es passt also alles. Mach dir darüber keine Gedanken, du übernimmst einfach sein Zimmer … und ich sag dir eins, du hast echt Glück, weil dieser Hurensohn sich das beste Zimmer geschnappt hat.« Im Grunde fand Paulo es toll, sie in Aktion zu erleben, zu sehen, wie sie andere nach ihrer Pfeife tanzen ließ, auch wenn er dabei einer dieser anderen war. Sie plauderten noch eine Weile und gesellten sich dann zu den wild tanzenden Gästen auf der Tanzfläche. Er spielte mit dem Gedanken, ihr ein wenig auf den Leib zu rücken und sie um die Taille zu fassen, die Grenzen auszutesten, um zu sehen, was dabei herauskäme, aber er war zu ungeschickt, Manoela war nie erreichbar für ihn gewesen, würde es niemals sein. Deshalb sagte er, als die Musik verstummte, auf eine blasierte Art, durch die er sich irgendwie reifer (im Sinne von Manoela) fühlte, Ich dreh mal eine Runde, Manu, Manoela strich ihm zärtlich über die Wange, und dann ging jeder seiner Wege. Er holte sich am Ausschank ein Bier, fing ein Gespräch mit einer Doppelgängerin Malu Maders an, die allem Anschein nach schon einen über den Durst getrunken hatte. Die falsche Malu, in Wirklichkeit Ana Cristina irgendwas, redete ziemlich viel Schwachsinn, was ihn mehr als alles andere nervte; dennoch ging er mit ihr zu einer Party, zwei Blocks entfernt vom Hotel, wo jedoch zu seinem Leidwesen nur lieblicher Rotwein angeboten wurde. Er log ihr vor, er habe bereits seinen Abschluss und reise in ein paar Wochen nach Kuba und dann nach Spanien und Portugal, um in Coimbra seinen Master in Vergleichender Rechtswissenschaft zu machen. Lügen, Lügen aus Jux, er beherrschte die Lage, nur so konnte er ihr gegenüber freundlich, aufmerksam sein. Trotz ihres sturzbetrunkenen Zustands meinte Ana Cristina, Paulos dynamische Art gefalle ihr ungemein, und da küsste er sie ohne Begeisterung (die Ähnlichkeit mit der göttlichen Malu Mader reichte wohl doch nicht aus). Anschließend hörte er sich noch eine Weile ihr hinterwäldlerisches Gewäsch an und kam zu dem Schluss, dass es das Beste sei, jetzt zu seiner Unterkunft zurückzukehren, sonst wäre er am nächsten Vormittag nicht in der körperlichen Verfassung, die Diskussionen zu ertragen. Wider Erwarten waren die sonntäglichen Debatten noch schlimmer als die vom Samstag. Er wartete nicht mal mehr das Ende ab, machte sich auch nicht die Mühe, heimlich zu verschwinden, er hatte längst die Taste Leckt mich doch alle gedrückt; im Chaos seines Lebens würde nichts mehr so sein, wie es gewesen war. Er wollte Verrücktheit, Ungestüm, wollte den französischen Schriftstellern näherkommen, die er las, den Texten der englischen Bands aus den Sechzigern, den europäischen Comics, der rhythmischen Wildheit des Rap, den Meinungen und Haltungen, die in seiner Vorstellung zeitgemäß und genial, unerschöpflich und unmöglich waren. Er beeilte sich, um vor Einbruch der Dunkelheit in Pelotas zu sein. Hotel und Zimmer waren in der Tat gut, und am Montag, als er es endlich geschafft hatte, sein Auto in der Gästegarage zu parken, die laut Geschäftsführer wegen der nationalen Süßwarenmesse das ganze Wochenende über voll besetzt gewesen war, erkundete er den ganzen Tag die Straßen und Plätze der Stadt und betrat abends um halb sieben, weil er einen Espresso trinken wollte, das Aquários, eine Café-Kneipe an der Ecke Quinze de Novembro und Sete de Setembro. Tresen und Tische waren voll. Zuerst wollte er umkehren, doch dann ging er, einer Eingebung folgend, auf einen Tisch am hinteren Ausgang zu, an dem ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren und einer lustigen weißen Brille in eine Ausgabe der Zeitschrift DUNDUM vertieft war (welches Mädchen aus dem Hinterland würde total ungerührt an einem so gänzlich von Männern mittleren Alters dominierten Ort die doch ziemlich schräge DUNDUM lesen?), trat näher, fragte, ob er sich setzen dürfe, worauf sie ihm einen misstrauischen Blick zuwarf, jedoch nichts sagte, weshalb er ihr versicherte, er werde nicht mehr als eine Handbreit des Tisches einnehmen, und erklärte, er sei den ganzen Tag rumgelaufen und könne den Kaffee nicht genießen, wenn er ihn im Stehen trinken müsse. Sie nickte und wies mit dem Kopf auf den leeren Stuhl, ohne ihre Überraschung über die Unverfrorenheit dieses Typen zu verbergen, er bedankte sich und fragte angesichts ihrer leeren Tasse, ob er ihr ein Getränk spendieren dürfe, worauf sie sagte, einen Tee würde sie nehmen. Es dauerte nicht lange, bis eine Unterhaltung in Gang kam, in der sie ihren Namen, Angélica, offenbarte und ihren außergewöhnlichen, ironischen, frechen und trockenen Humor. Sie sprachen fast nur über Lyrik (sie verstand weit mehr davon als er). Irgendwann zog sie ein Spiralheft, wie man es in der Schule benutzt, aus der Tasche, schlug es ganz selbstverständlich irgendwo in der Mitte auf und fing an (nachdem sie ihn eindringlich gemustert hatte), ihn zu zeichnen. Paulo wollte keine Fragen stellen, wollte nicht stören, redete einfach weiter. Sie vollendete ihre Zeichnung, klappte das Heft zu und ließ es auf dem Tisch liegen. Selbst als längst andere Tische frei waren und das Lokal immer leerer wurde, saßen die beiden noch beisammen, bis das Café schließlich zumachte, sie ihre Rechnung bezahlten und gingen. Draußen auf der Straße übergab Angélica ihm das Heft und sagte, er sei nun Teil eines neuen Spiels, das ihre Schulfreundinnen erfunden hätten und das sie ziemlich cool finde. »Du nimmst ein ganz einfaches Heft wie dieses, suchst dir jemanden, der dir wirklich gefallen hat, zeichnest diese Person so gut wie möglich, übergibst ihr das Heft unter der Bedingung, dass sie oder er etwas auf die Seite neben der Zeichnung schreibt und es dann, ohne lange zu warten, höchstens eine Woche, jemand anderem überreicht, der es wiederum an jemand anderen weitergibt und so weiter und so fort. Ich weiß nicht, ob das jetzt verständlich war. War es verständlich?« Er sagte, das käme ihm wie ein Eigenwechsel an den Begünstigten vor, der niemals eingelöst werden könne, und als sie lächelte, fragte er, ob er annehmen dürfe, dass er ihr wirklich gefallen habe. Sie zog eine Zigarette aus der Tasche und zuckte mit den Achseln wie ein alter, vom Leben enttäuschter Mensch, der gerade jemandem seine Zuneigung gezeigt hatte, ohne dass dieser es erwartet (oder verdient) hätte (und trotzdem ist es passiert). »Auf den ersten zwölf Seiten stehen ein paar Gedichte von mir«, antwortete sie ausweichend. Er wartete nicht ab, sondern versuchte sie zu umarmen, wie man einen Freund umarmt, aber sie wich zurück und sagte mit gerunzelten Augenbrauen, sie sei wirklich spät dran, müsse zu ihrer familiären Verabredung, drehte sich brüsk um und verschwand in Richtung Praça Coronel Osório. Er ging zurück ins Hotel, trank ein paar Büchsen Bier und verbrachte den restlichen Abend damit, immer wieder in dem Heft zu lesen. Am Dienstag früh (kaum dass die Schauspieler die Kostüme freigegeben hatten) schnappte Paulo sich die Säcke und Tüten, die man ihm gebracht hatte, klappte die Rückbank des VW-Käfers herunter, verstaute die Sachen im Auto, deckte alles mit einem dunkelgrauen Stoff ab, den Manoela ihm mit der Bemerkung aufgedrängt hatte, es gelte zu vermeiden, mit den Sachen die Aufmerksamkeit der Straßenpolizei auf sich zu ziehen, und fuhr ein paar Minuten, bevor es anfing zu regnen, rechts auf die BR hundertsechzehn in Richtung Porto Alegre. Auf Höhe des Cerro Grande erblickte er, obwohl die Sicht schon sehr schlecht war, weil der Regen sich in ein Unwetter verwandelt hatte, eine verschwommene Gestalt; es war ein Mensch, der links neben der Straße auf dem Boden kauerte. Er bremste ab, hielt aber nicht an. Es war eine junge Indianerin, die einen Stapel Zeitungen und Zeitschriften an ihre Brust presste. Neben ihr auf dem Boden zwei weiße Plastiktüten. Er kurbelte die Fensterscheibe herunter und betrachtete sie fasziniert, während er überlegte, wie weit sie wohl bis zu einem trockenen Unterschlupf würde laufen müssen (die nächsten indigenen Dörfer waren viele Kilometer entfernt). Er blickte in den Rückspiegel. Hinter sich: die verlassene Fahrbahn. Und als er sie bereits über die Schulter beobachtete (das Auto fuhr langsamer als zehn Stundenkilometer), spielte er mit dem Gedanken, einfach anzuhalten, tat es aber dann doch nicht.

zwei

Wenige Kilometer weiter versucht Paulo, der sich nicht eingestehen will, dass er eine Sekunde lang feige war und der Anblick des Mädchens ihn berührt hat wie selten etwas im Leben, versucht Paulo also sich einzureden, inzwischen habe sicher ein Lastwagen angehalten (obwohl ihm keiner entgegengekommen ist) und dem Mädchen eine Mitfahrgelegenheit angeboten. Nach ein paar hundert Metern fährt er rechts ran und stellt den Motor aus. Er atmet tief durch, beugt sich über den Rücksitz des VW-Käfers, zieht den dunkelgrauen Stoff auf den Tüten und Taschen mit den Klamotten der Theatergruppe weg, öffnet eine davon und holt ein kleines, unbenutzt wirkendes Handtuch, eine Jacke und eine Freizeithose in Größe S heraus. Er findet auch einen Knirps im schlimmsten aller Grüntöne, einem schreienden Knallgrün, blickt nach vorn und dann in den Rückspiegel, dreht den Zündschlüssel, blinkt links und fährt langsam, wegen des inzwischen noch heftiger tobenden Unwetters und der Aquaplaning-Gefahr durch die abgefahrenen Reifen, zurück in Richtung Süden. Er hat ein ungutes Gefühl, das mit jedem Kilometer schlimmer wird: dreihundertsechzig dreihunderteinundsechzig dreihundertzweiundsechzig dreiundsechzig vierundsechzig fünfundsechzig dreihundertsiebenundsechzig. (Es ist ihm gar nicht aufgefallen, dass er so weit gefahren ist.)

Sie steht noch an derselben Stelle, in derselben Haltung. Er sagt sich, dass er vorsichtig sein muss, um sie nicht zu erschrecken. Als sie merkt, dass das Auto hält, hebt sie den Kopf, steht auf, nimmt ihre Tüten und weicht ein paar Schritte zurück. Er bremst neben ihr und kurbelt das Fenster herunter, versucht, so wenig bedrohlich wie möglich zu wirken, fordert sie auf einzusteigen (als würde er mit einem Ausländer reden, der kein Portugiesisch versteht), sagt, dass er sie mitnehmen kann, bis zur nächsten Tankstelle oder zur Straßenpolizei. Sie rührt sich nicht und sieht ihm direkt in die Augen. Er fordert sie erneut auf, doch sie bleibt ängstlich. »Das bringt nichts, es ist dieses Helfenwollen, das nicht funktioniert …«, murmelt er vor sich hin, ehe er den Regenschirm nimmt und aussteigt. Als sie sieht, dass er die Autotür öffnet, überquert sie die Straße. Auf der anderen Seite angelangt, läuft sie schnell weiter in Richtung Süden. Einen Moment lang bleibt er vor dem VW-Käfer stehen und beobachtet, wie sie sich entfernt (der bleischwere Regen vermittelt ihm ein Gefühl von Taubheit und mineralischer Auslöschung). Er geht zurück zum Käfer, schnappt sich das Handtuch und die Kleidungsstücke, lässt das Auto stehen und läuft, unaufhörlich fluchend und ohne die geringste Ahnung, wozu das Ganze gut sein soll, hinter dem Mädchen her.

Würde jetzt zu allem Überfluss auch noch die Straßenpolizei anhalten und Paulo fragen, was das alles zu bedeuten hat, so würde er antworten, dass es keine klare Erklärung dafür gibt. Er würde gestehen, dass fast alles, was er in den letzten drei Jahren gemacht hat, diesem ansteckenden Sog geschuldet ist, dieser blinden Freiheit, die unbedingt gelebt werden muss, nicht nur von ihm, sondern von allen Brasilianern, die sich aufgrund ihrer Militärdiktatur-Erfahrung nun selbst einreden müssen, dass sie gerecht, emanzipiert und glücklich sind und noch den schlimmsten Determinismus akzeptieren, bei dem die Feinde leicht auszumachen sind und die Wahrheit, diese willkommene, bequeme Errungenschaft, sich dazu eignet, allem zu widerstehen. Eine Begründung, die, in einer englischen Comedy-Show geäußert, so unnütz und pathetisch wäre wie Schweigen oder wie zu glauben, dass es in einer solchen Situation (denn da fällt ihm ein, dass er das Licht angelassen hat und der Motor noch läuft) wohl am vernünftigsten wäre, die hundert, hundertirgendwas Meter bis zum Auto zurückzugehen, Scheinwerfer und Motor auszuschalten, eine geeignete Plastiktüte für die Kleidungsstücke und das Handtuch zu suchen, das Auto abzuschließen, den Schlüssel einzustecken und erst dann, abgesichert durch die polizeiliche Autorität (und den Applaus des Sitcom-Publikums), weiter hinter der Indianerin herzulaufen. Er steigert sich mächtig in seine Spinnereien hinein, und als er wieder zu sich kommt, blickt er nach Süden und ist erstaunt über die Entfernung, die sie inzwischen zurückgelegt hat (er wird sich richtig anstrengen müssen, um sie einzuholen). Dann wirft er noch einen Blick auf das Auto, nimmt den Regenschirm in die Hand mit den Klamotten, läuft nunmehr schnelleren Schrittes, bis er, als er der Indianerin schon recht nahe ist, sieht, dass sie vorsichtig über die Schulter zurückblickt, dass sie langsamer wird und sich wenige Meter, bevor er sie eingeholt hat, schnell zu ihm umdreht. Er wartet eine Sekunde ab, kommt wieder zu Atem und sagt, während er ihr den Knirps und die Klamotten hinhält, »ich will dir nur helfen.« Er deutet auf die Sachen in seiner Hand und dann auf sie: »Das sind trockene Kleider … trockene Kleider …« Sie streckt die Hand aus, nimmt die Klamotten und den Knirps. »Ich kann dich irgendwohin mitnehmen, wo du dich unterstellen kannst, aber wenn du nicht willst, ist es auch gut, dann lass ich dich hier. Ich geh jetzt zurück zum Auto«, sagt er und deutet mit dem Daumen hinter sich. »Wenn du eine Mitfahrgelegenheit brauchst, also wenn du mitfahren willst«, betont er, »brauchst du nur mitzukommen.« Er macht mit den Fingern eine Person nach, die in Richtung Auto läuft. Die Indianerin starrt ihn an. Wegen des heftigen Regens hat er das unbestimmte Gefühl, dass es zu keiner Lösung kommen wird. Er versucht es ein letztes Mal. »Ich heiße Paulo … Und du?« Sie antwortet nicht. Er überlegt, ob sie vielleicht wegen des Abstands zwischen ihnen nicht richtig hört, und wegen des Regens, der auf den Nylonstoff des Regenschirms trommelt. Er sieht ein, dass er nichts weiter tun kann, und geht Richtung Auto. Nach ungefähr zwanzig Metern blickt er sich um: Sie folgt ihm. Am Wagen angekommen, steigt er ein und lässt die Beifahrertür offen. Sie bleibt neben dem Auto stehen und hat Mühe, den Knirps zu schließen. Er überlegt, ob er ihr helfen soll, wartet aber ab. Dann setzt sie sich auf den Sitz, ihr Atem ist gehetzt, ihr Blick starr nach vorn gerichtet. Nach ein paar Sekunden schließt sie die Tür, er fährt langsam los in Richtung Norden. Während der acht Kilometer bis zu dem Restaurant schweigen sie, er lässt das Fenster heruntergekurbelt (weil er selbst das Bedürfnis hat, nicht bedrohlich zu wirken), es regnet ins Auto.

Er lenkt das Auto in die linke äußere, nur wenige Meter von der Toilette entfernte Parklücke. Die Indianerin steigt aus, sie wirkt nun weniger misstrauisch und scheint ihn verstanden zu haben, als er sagte, sie solle sich besser die trockenen Kleider anziehen. Sie geht sich umziehen. Er angelt sich seinen Rucksack Marke Jurapraktikant vom Rücksitz, schnappt sich das einzige T-Shirt, das überhaupt noch benutzbar ist, eine Bermuda und ein paar Sandalen und geht direkt auf die Toilette. Er braucht länger als beabsichtigt. Als er herauskommt, sieht er sich um und sucht das Mädchen. Er entdeckt keinerlei Anzeichen, dass sie schon herausgekommen ist. Also betritt er das Restaurant. Auf der rechten Seite befindet sich die Theke eines kleinen Schnellimbisses. Gebackene Pastetchen, lumpige Sandwiches und Kuchenstücke stehen unter Glas zur Schau. Er wählt einen Platz am Fenster, fernab der übrigen Kunden, und verlangt eine Tasse Michkaffee. Seine Bestellung wird gebracht. Er sagt dem Kellner, dass er gleich wiederkommt, und geht hinaus. In den Kleidern, die er ihr gegeben hat, steht sie neben der Telefonzelle der CRT. Er winkt sie heran, doch sie bleibt dort stehen, unschlüssig. Er tritt zu ihr, nimmt ihr die Tüten und den Knirps ab, aber als er versucht, den Stapel alter Zeitungen und Zeitschriften zu nehmen, den sie gegen ihre Brust presst, widersetzt sie sich. Er fasst sie sanft am Handgelenk und bringt sie dazu, ihm zu dem Tisch zu folgen, an dem er gesessen hat. »Willst du einen Kaffee?« Sie schüttelt den Kopf. »Eine Coca-Cola?« Es erscheint ihm angebracht zu insistieren. »Ja«, sagt sie (sie spricht erstmals mit ihm). Er bestellt das Getränk und einen Buttertoast bei der Kellnerin, die den Mann abgelöst hat, einer sichtlich eitlen Dame, die sich vor ihnen aufbaut, als wäre sie die Geschäftsführerin oder gar die Besitzerin des Lokals. Freundlichkeit scheint nicht ihr Ding zu sein. »Der Name«, sagt die Indianerin, »Maína.« Gott im Himmel, denkt er, sie kann nicht mal vernünftig reden. Als die Bedienung mit der Bestellung wiederkommt, knallt sie den Teller mit dem Toast auf den Tisch. Paulo bedankt sich trotzdem. Maína rührt sich nicht und klammert sich an ihren Zeitungsstapel. Nach ein paar Sekunden schenkt er ihr ein, da sie selbst keine Anstalten dazu macht, und schiebt ihr den Teller hin. »Das ist für dich. Du hast doch bestimmt Hunger, oder?« Sie legt die Zeitungen und Zeitschriften auf den Sitz neben sich, nimmt eine Toasthälfte und beißt ab. »Wofür brauchst du das alles?«, fragt Paulo und deutet auf den Zeitungsstapel. »Auf der Straße … wird weggeschmissen«, antwortet sie, als sie hinuntergeschluckt hat. »Liest du gern?«, fragt er. »Sammeln …«, sagt sie stockend, »aufheben … habe in der Schule Portugiesisch gelernt … ein wenig … lesen, ein wenig … Aber nicht oft.« Er bemerkt die Schönheit des Mädchens, ihr anmutiges Gesicht, selbst in einer Situation, in der sie sich nicht wohlfühlt. »Und wie alt bist du?«, fragt er weiter. Sie lächelt ihn verlegen an und sagt nichts. »Alter?«, insistiert er, »ich bin einundzwanzig …«. Er hält zweimal sämtliche Finger und dann den Zeigefinger hoch. »Und du?«, fragt er und deutet auf sie. »Dein Alter?« Nur nicht bedrohlich wirken. »Vierzehn«, antwortet sie. Was mache ich hier nur?, denkt er, und es entgeht ihm nicht, dass die Kellnerin-Geschäftsführerin eine kleine Revolte im Lokal angezettelt hat, weshalb nun sämtliche vierzehn Kunden, alle mit dem Aussehen italienischer Einwanderer, in seine Richtung starren, ihn verurteilen und die Autonummer seines Käfers bereits notiert haben, um ihn anzuzeigen, sollte ihnen in den nächsten Tagen irgendetwas vom Unglück dieser Indianerin, von irgendeiner Indianerin, zu Ohren kommen. Heilige Naivität, Paulo »Pech«, sagt er zu sich selbst, während er ihr beim Essen zusieht und sich an das Seminar zum vierzigjährigen Bestehen der Menschenrechtsdeklaration erinnert, an dem er im letzten Jahr teilgenommen hat (er fand die Koordinatorin ziemlich toll, eine Uruguayerin, die bei Amnesty International aktiv war), sowie an ein Podium, auf dem ein Kazike saß, der über die verheerenden Lebensbedingungen der indigenen Ethnien im Süden des Landes berichtete. Der Kazike sprach vom »Golgatha der indigenen Gruppen«, bevor er auf die enorm große Anzahl von Familien zu sprechen kam, die an Schnellstraßen leben, weil es in ihren Dörfern zu Konflikten gekommen ist, meist aus Land- oder Platzmangel. Paulo hat nicht die geringste Ahnung, dass genau das bei der vor ihm sitzenden Indianerin der Fall ist.

An der BR hundertsechzehn wohnen, ohne die ältere Schwester, die vor gut zwei Jahren ins Leben verschwunden ist, versuchen, sich wenigstens ab und zu über etwas zu freuen, Körbe aus Lianen flechten, mit den jüngeren Schwestern spielen, so gut sie kann, die Tage verstreichen lassen, unbemerkt bleiben (obwohl sie nach zwei Selbstmordversuchen verstärkt im Zentrum der Aufmerksamkeit der Mutter steht: der erste vor gut zwei Jahren, eine Woche, nachdem ein Freund aus einem benachbarten Camp, den sie sehr gern hatte, eines Sonntagabends, als er angeblich zu einem Fußballspiel zweier Regionalmannschaften ging, aus bislang ungeklärten Gründen umgebracht wurde, und den zweiten vor knapp sechs Monaten, als sie zu der Gewissheit gelangte, dass sie den Unterschied zu den Nicht-Indianern nicht länger ertragen könne und auf dem besten Weg wäre, eine ebenso melancholische Erwachsene zu werden wie ihre Mutter). Hin und wieder hat sie etwas über ihre Vorfahren und vom indigenen Widerstand im Süden gehört. Das haben ihr sogar die drei nicht-indianischen Studenten erzählt, die Guaraní sprachen und ab und zu im Dorf auftauchten (in der Zeit, als ihre Familie noch im Dorf wohnte). Doch wenn sie sich umsieht, entdeckt sie keine Spur von Widerstand. Ihre jüngste Schwester spielt im Ruß, im Gummistaub der Autoreifen. Sie hat sich sogar schon überlegt, wie sie sie am besten umbringt, solange die Kleine das eigene Elend noch nicht begreift. Sie hätte kein schlechtes Gewissen, weil sie weiß, sie kann sie glauben machen, dass sie in ein besseres Leben kommt. Maína glaubt an die Seele, und obwohl sie sich nicht vorstellen kann, was die Seele letztlich ist, träumt sie jede Nacht von einem Ort, der anders ist und an dem es keine Erwachsenen gibt oder zumindest keine wie ihren Vater, der abgehauen ist, als sie neun war. Als er weg war, bekamen die Mutter und die fünf Kinder Schwierigkeiten und mussten das Dorf verlassen. Maína weiß nicht genau, was sie tun soll, sie hat niemals ein Restaurant wie dieses betreten, hat überhaupt noch nie ein Restaurant betreten. Vor ein paar Wochen hat Maína auf einmal Angst bekommen, deshalb ist sie geflüchtet. Einmal hat Maína vom Bild Gottes geträumt, er hatte einen zerbrechlichen Körper und kam aus seinem Versteck heraus, um sie zu begleiten. Einen Moment lang hat Maína geglaubt, dieser junge Mann hier wäre möglicherweise Gott oder ein Geist. Welcher Nicht-Indio würde sonst am Straßenrand anhalten und sie so gut behandeln? Sie hat den Toast aufgegessen, den er ihr spendiert hat, nun muss sie nur noch ein paar Worte sagen, damit er versteht, dass sie wieder in dieses Auto von der Farbe einer Regenwolke einsteigen und mit ihm fahren will, wohin auch immer er sie bringt, selbst wenn es Stunden dauert, den ganzen Tag, so lange, bis sie eine Sprache erfunden hat, die sie beide verstehen, eine Sprache anstelle von Gott und den Geistern, die sich gern als Nicht-Indios ausgeben, und bis es ihr gelingt, die Augen fest zu schließen und (vielleicht die ältere Schwester nachahmend) zu verschwinden.

Auf dem Verkehrsschild hieß es »BEGINN DES INDIANERCAMPS ENTLANG DER STRASSE (LÄNGE: 28 KM)«, und Paulo hat bereits dreimal gefragt, wo sie aussteigen will. Statt einer Antwort hatte sie jedes Mal mit der Hand angedeutet, er solle weiterfahren. Deshalb blinkt Paulo dieses Mal, das vierte, um genau zu sein, rechts und hält am Straßenrand vor einer der Baracken an. »Tut mir leid, aber du wirst aussteigen müssen.« Er sagt es ruhig und bedächtig. Sie erwidert nichts. »Ich kann dich jetzt nicht weiter mitnehmen«, sagt er. Sie rührt sich nicht. »Los, Maína. Du weißt, dass es keine gute Idee ist, wenn du hier mit mir …«, er findet nicht die richtigen Worte, »wenn du einfach so … mit einem Unbekannten mitfährst. Das ist gefährlich.« Er steigt aus, umrundet das Auto und öffnet die Beifahrertür. »Die Kleider kannst du behalten … Ich will nur …« Sie unterbricht ihn. »Nimm mich in die Stadt … Ich geh zurück allein … ich geh zurück, lass mich mitfahren.« Na klasse, Paulo, erst hast du sie angefleht, und jetzt hast du erreicht, was du wolltest »Aber ich kann doch nicht …« Ohne sich von ihrem Sitz zu erheben, stößt sie ein ersticktes Bitte aus. Paulo sieht sich um, entdeckt niemanden, die Baracke, vor der sie angehalten haben, ist allem Anschein nach leer, nichts rührt sich. Das Mädchen ist zu allem fähig, ist auf so dumpfe Art zur Flucht entschlossen, dass sie, falls sie jetzt kein Glück hat, in einem anderen Auto enden oder in eine noch schlimmere Lage kommen wird. Die Sekunden vergehen, sind Teil eines schwindelerregenden Tests. Heute Morgen, als er im Radio des Hotels einen Lokalsender gehört hat, lief ein Hit von Legião Urbana, Jeden Morgen, wenn ich aufwache, fehlt mir die Zeit, die vergangen ist Der ist ihm während der Fahrt immer wieder durch den Kopf gegangen, und gerade bringt diese imaginäre Tonspur erneut seine Entscheidung durcheinander. Seine Kleider werden nass, der Regen drängt. Aber ich habe viel Zeit, wir haben alle Zeit der Welt Nur wenig kann schlimmer sein, als den Rest seiner Jugend und seines Lebens an diesem dreckigen Straßenrand festzusitzen. Sein Haus in Porto Alegre steht leer, seine Eltern sind verreist, seine Schwester ist für ein Austauschjahr in den USA. Er schließt die Beifahrertür, entschlossen, Maína spätestens morgen früh zurückzubringen (und in diesem Augenblick setzt die imaginäre Stimme Renato Russos ein, genau zum Refrain).

In Novo Hamburgo lässt der Regen nach, und das sollte eigentlich alles vereinfachen, doch die Angaben, die Manoela gemacht hat, sind ungenau (das Haus der Assistentin befindet sich nicht dort, wo sie es auf dem Plan eingezeichnet hat, den sie auf das Briefpapier des Hotels von Pelotas gekritzelt hat; niemand kennt die von ihr angegebene Gasse, obwohl sie ihm versichert hat, die Adresse sei superleicht zu finden). Lehmpisten und falsche Angaben führen Paulo in zunehmend steile und holperige Gassen und immer weiter weg vom Stadtgebiet. Er hat die Telefonnummer von Manoelas Assistentin, aber seit ein paar Minuten schon keine Telefonzelle mehr gesehen, von der aus er hätte anrufen können. Die Lage ist nur deswegen erträglich, weil die kleine Indianerin, wenn er sie ansieht, jedes Mal ganz ruhig lächelt, als wäre dieses ganze Schlamassel etwas völlig Normales; und weil das Auto Hinterradantrieb hat, was verhindert, dass sie auf dieser Schlammpiste ins Schleudern geraten. In einem Passat oder Opala wären sie vermutlich längst in einem der Schlaglöcher hängengeblieben. Schließlich gibt er es auf und fährt zurück zu dem kleinen Supermarkt, in dem er zuerst nach dem Weg gefragt hat. Er ruft die Assistentin an. In der Tat ist er gar nicht weit von ihrem Haus entfernt, er ist nur an der falschen Kreuzung abgebogen. Die junge Frau am anderen Ende der Leitung betont, dass die Gegend, in der er gewesen ist, nicht der geeignete Ort sei, um sich zu verfahren, weil es eindeutig das gefährlichste Viertel der Stadt ist, die sogenannte Höhe von Valmerão. Er kehrt zurück auf die Hauptstraße und biegt an der richtigen Stelle ab. Die Assistentin erwartet sie mit einem riesigen gelben Regenschirm vor dem Haus, sieht, dass die Indianerin Kleider aus der Theatergarderobe trägt, und bemerkt lediglich, dass sie sie zurückgeben kann, wann immer sie möchte. Paulo richtet die Rückbank des Wagens wieder auf. Er fordert Maína auf, sich nach hinten zu setzen, weil dort das Polster trocken ist. Sie schüttelt den Kopf und gibt ihm zu verstehen, dass sie auf ihrem Platz sitzen bleiben wird.

Er parkt das Auto in der Parklücke vor dem Haus. Paulo und Maína gehen zum Seiteneingang hinein. Paulo bringt sie direkt ins Badezimmer, macht das Licht an, zeigt ihr, wo die Handtücher liegen, sagt ihr, dass er in einer Minute wieder da ist. Er überlegt, was er ihr zum Anziehen geben kann, durchwühlt die Schränke seiner Schwester (die beiden haben fast dieselbe Größe), schnappt sich eine Jeans, eine Unterhose, Socken, schwarze Chucks, bedruckt mit Totenköpfen wie auf Piratenflaggen (die Schwester hat einmal gesagt, sie wolle sie einer Wohltätigkeitsorganisation zukommen lassen), und ein T-Shirt von AC/DC. Er kommt zurück, gibt ihr die Sachen, stellt die elektrische Dusche auf eine Temperatur ein, die ihm angenehm erscheint, zeigt ihr, wie sie die Badezimmertür von innen abschließen kann, und sagt, dass er etwas zu essen machen wird. Im Kühlschrank steht noch ein Topf mit Spaghetti, die er am Freitag gekocht hat. Er wärmt sie auf. Dann öffnet er eine Dose Thunfisch, mischt Mayonnaise, Ketchup und Knoblauchpaste in einem flachen Gefäß und macht eine Literflasche Coca-Cola auf. Er holt eine Tischdecke und stellt Teller, Besteck und alles Weitere bereit. Dann wartet er, bis sie aus dem Badezimmer kommt. Sie essen schweigend. Sie leert ihren Teller und tut sich selbst ein zweites Mal auf. Er geht in sein Zimmer, holt die Trip-Zeitschriften, die er findet, sechs an der Zahl, und reicht sie ihr. Er sagt, sie soll sich die aussuchen, die sie haben will. Dann schaut er auf die Uhr: halb zehn. Es reicht gerade noch für eine kurze Dusche. Er geht hoch in die Bibliothek seines Vaters, um nachzusehen, ob jemand auf den Anrufbeantworter gesprochen hat, hört die Nachricht von Adrienne ab, die ihn für heute Abend zu einer Party einlädt, in der Wohnung, die sie mit Serginho und Carlos teilt. Er geht wieder hinunter und duscht. Als er ins Esszimmer zurückkommt, hat Maína auf dem Tisch die Zeitschriften aufgeschlagen und sieht sich die Fotos der Trip-Models an. Ohne ein Wort räumt er das Geschirr weg, geht in den Garten und zur Garage, holt zwei saubere Plastikplanen, ähnlich denen, die man zum Campen benutzt, legt sie über die Autositze, weil der Käfer nach nassen Hundehaaren riecht, und sagt zu Maína, sie solle die Zeitungen einfach liegen lassen, aber sie will sie lieber mitnehmen. Paulo holt eine Umhängetasche seiner Schwester, eine der vielen, die sie gekauft und nie benutzt hat, steckt die Zeitschriften hinein, schließt das Haus ab, setzt sich ins Auto und drückt aufs Gas, damit sie noch rechtzeitig in die Zehn-Uhr-Vorstellung im Baltimore kommen.

Sie werden sich das Remake des Zeichentrickfilms Fantasia von Walt Disney ansehen. Vorher hat er noch süße Popcorn bei Seu Pestana bestellt, dessen Wagen gleich neben dem Kinoeingang steht: Der Alte liebt es, Menschen, die ihn noch nicht kennen, zu erzählen, dass er in den Sechzigerjahren bei der Stahlfabrik Piratini beschäftigt und einer der sechzigtausend Aktivisten der sogenannten Gruppe Elf war, die neunzehnhundertdreiundsechzig von Brizola gegründet wurde, um die sozialistische Revolution in Brasilien vorzubereiten. Er behauptet auch, sämtliche ins Portugiesische übersetzten Bücher von Tolstoi gelesen zu haben und beendet das Gespräch jedes Mal mit einer kleinen Predigt über die Gefahren des Alkohols (über die Schäden, die er Leber und Bauchspeicheldrüse zufügt, und darüber, wie er das Leben und Sozialverhalten zerstört), obwohl er selbst ganz offensichtlich Alkoholiker ist. Paulo kennt er natürlich schon lange (und weiß einzuschätzen, bei wem sein leeres Gerede auf taube Ohren stößt), deshalb hat er seine Litanei gar nicht erst angestimmt, dennoch sagt er zu Maína, als er ihr die Popcorntüte reicht, sie sei eine echte Perle des brasilianischen Eldorados.

Paulo versucht, ihr zu erläutern, was für eine Erfahrung ihr bevorsteht. Die projizierten Bilder, der Augenblick, in dem die Maus alle Gegenstände und Klänge des Universums beherrscht. Maína hört einfach nur zu. Der Film fesselt sie, die Tonspur, die Farben, die Informationen, die Geschichte. Er hat Glück gehabt mit dem Programm, besser wäre höchstens noch der Zauberer von Oz gewesen (er ist sich sicher, das Lied Over the rainbow in der herzzerreißenden Interpretation von Judy Garland hätte das Leben dieses Mädchens verändert). Er hat Glück gehabt, dass er ihr keinen Schrecken einjagen musste. Der Film ist zu Ende, die beiden warten, bis das Licht des Filmprojektors erlischt und die Musik verklingt, sie sehen einander an, und er nimmt dieses nach Phebo-Rose duftende, gänzlich im Gothic-Punk-Stil gekleidete Mädchen mit der Halskette aus Pflanzensamen über dem AC/DC-Shirt und der Stoffumhängetasche voll feuchter Zeitungen und Zeitschriften wahr, das auf dem schmuddeligen roten Ledersessel des Baltimore sitzt und sich, nachdem es eine bislang unbekannte Unsichtbarkeit erfahren hat, betrachten lässt und wiederum selbst betrachtet. Möglicherweise liegt darin eine Art Antwort, Paulo weiß, dass dem so ist, aber er kommt nicht weiter, sie ist schwer zu entziffern.