Cover

Ü B E R  D I E S E S  B U C H

»Welt vor Augen« ist eine Essay-Sammlung besonderer Art. Der Band bedeutet die Wiederentdeckung eines Prosa-Schriftstellers, dessen Arbeiten das Understatement der Tagesschriftstellerei benützten. Manuel Gasser, Mitbegründer der Weltwoche und Chefredakteur der internationalen Kulturzeitschrift du, Homme de lettres, der vom Auge aus schreibt, gestaltet seine Begegnungen mit Städten, Ländern und berühmten Zeitgenossen zu einem erregenden Lese-Abenteuer. Indem Hugo Loetscher jeden Aufsatz knapp kommentiert und die Sammlung als Komposition vorlegt, präsentiert sich »Welt vor Augen« als Porträt eines Prosaschriftstellers nach dessen eigenen Schriften wie auch als eine Art Roman aus Aufsätzen eines Zeitgenossen.

»Ich könnte mir Leser vorstellen, die schon in ihren nächsten Ferien sich aufmachten, um einen Teil von Manuel Gassers zivilisierter Odyssee nachzuvollziehen; Syrakus oder Salisbury, Ägina oder Urbino. Freilich müssten sie bedenken, dass zu solchen Abenteuern des Auges und der Seele zwei gehören im glücklichen Zusammentreffen: Reise und Reisender.« (Golo Mann)

D E R  A U T O R

Manuel Gasser wurde 1909 in Luzern geboren. 1930 ging der Journalist als Frankreich-Korrespondent für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung nach Paris. Im November 1933 erschien die erste Nummer der von ihm gemeinsam mit Karl von Schumacher begründeten Weltwoche. Von 1933 bis 1957, unterbrochen von Korrespondententätigkeiten in Berlin und London, war Gasser deren Feuilletonredakteur. 1958 wurde er Chefredakteur der Kulturzeitschrift du und blieb dort bis 1974. Manuel Gasser starb 1979 in Zürich.

M A N U E L  G A S S E R
W E L T  V O R  A U G E N
R E I S E N  U N D  M E N S C H E N

Vorgestellt von Hugo Loetscher
Mit einem Nachwort von Golo Mann

Edition diá

Porträt Manuel Gassers von Marino Marini, 1945

 

I N H A L T

Hugo Loetscher: Vorwort

I.  D E R  P A R A D I E S S U C H E R

Aufenthalt in Monemvasia

Segelschiff im Mittelmeer

II.  D I E  Z A U B E R G Ä R T E N

Die gute Stunde

Die Päonie

In Holland festgestellt [Bruchstück]

Der Zauberer von Orgeval

Unterm Doppeladler

III.  V E R U R T E I L T  Z U  R E I S E N

Kunst an Ort und Stelle

Herbstfahrt zu Pacher

Wanderungen auf Kreta

Staunen in Apulien

Bei Joan Miró

IV.  D A S  S C H Ö N E  U N D  D A S  A N D E R E

Ansicht der Stadt Salisbury

Schönheit einer als hässlich verschrienen Stadt

Die andere Möglichkeit

Besuch bei Henry Moore

Die Barackenstadt

V.  D I E  S P I E L V E R D E R B E R

Im Schutze der Maginotlinie …

»Stadt und Festung Belgrad …«

Brief nach Neuseeland

Land der Kapellen

Acht Tage im unbesetzten Frankreich

Sprung über die Grenze

VI.  D A S  B Ö S E  M Ä R C H E N

Berlin Alexanderplatz 1947

Ruinenkoller

Kleine Berlinerfreuden

Augenschein in Trier

Das Wirtshaus im Spessart

VII.  R Ü C K K E H R,
O H N E  W E G G E G A N G E N  Z U  S E I N

Die zeitlose Geburtstagsparade

Weekend in Oxford

Streifzüge nach Sardinien

Palermo – Porträt einer Stadt

VIII.  L I E B H A B E R  D E S
A U S S E R O R D E N T L I C H E N

Paris am Donnerstag

Das Lied der Inseln

Nîmes, 28. August 1960

Rom im Winterschlaf

IX.  D I E  K U N S T  D E R  N A I V E N  A U G E N

Cézanne, einem Kinde erklärt

Urbino – die braune Stadt

Auskunft über den Fotografen August Sander

Beschreibung der Insel Ägina

X.  U M  S T A U N E N  Z U  D Ü R F E N

Lob der Camargue

Die Freunde mit dem Denkmal

Syrakus

Golo Mann: Nachwort

Quellen

Impressum

V O R W O R T

Verehrter MG,

dies wäre also meine Auswahl Ihrer Aufsätze.

Ich weiß, es ist nicht die einzige Möglichkeit, Ihre Aufsätze herauszugeben. Man hätte zum Beispiel alle jene zusammenstellen können, in denen Sie von Ihren Begegnungen mit Künstlern und deren Werken berichten. Was für einen stattlichen Band hätten diese Begegnungen gegeben, als Bilanz würdig Ihrem Range als Kunstschriftsteller; da wäre von Braque und Picasso, von Morandi und Giacometti, von Wotruba und Moore, von Marini und Chagall, von Nicholson und vielen anderen die Rede gewesen. Dieser Band hätte gezeigt, dass Sie nicht nur die Wichtigsten zur Kenntnis nahmen, sondern er hätte auch für Ihr Glück gezeugt, den Besten persönlich begegnet zu sein.

Und wie leicht wäre es, diesen Band auszuweiten – in die Vergangenheit hinein, so dass von El Greco und Vermeer die Rede gewesen wäre, vom süddeutschen Barock und der italienischen Renaissance, vom englischen 18. Jahrhundert und den französischen Impressionisten – ja, es wäre eine Sammlung von Aufsätzen zusammengekommen, in der Sie eine Kunst feiern, die immer noch zum Ruhm Europas gehört und deren Wiederbesitz auch eine der Aufgaben meiner Generation ausmacht.

Oder man hätte ganz anders innerhalb Ihrer Aufsätze ordnen können. Wer, der Sie liest, hätte nicht mit Freude einen Band »Italienische Städte« zur Hand genommen. Ihre Städte-Porträts hätten ein Ganzes ergeben: Antelamis Parma und das Urbino der Montefeltro, Turin und Syrakus ebenso wie Palermo und Mailand, selbstverständlich Venedig und natürlich Neapel und immer wieder Rom. Und in Ergänzung: die Streifzüge nach Apulien und durch Sardinien. Ein Italienbuch, das neben anderen bestehen könnte. Und auch diesen Band hätte man ausweiten können. Thematisch liegt Griechenland sehr nah – mit Ihren Aufsätzen über Monemvasia, die Inseln Santorin und Ägina, über Ihre Wanderung auf Kreta. Mit dem zusammen, was Sie über Paestum, über Sizilien und Südfrankreich schrieben, hätte es ein anderes Buch ergeben, für das Sie den Titel mit einem einzelnen Artikel bereits geliefert hätten – »Im Dunstkreis der Antike«. Ja, wenn man dreißig Jahre lang schreibt und fast jede Woche einen Artikel oder mindestens eine Notiz publiziert, kommt Ertrag zusammen, und die Art der Buchpräsentation kann nur eine Auswahl sein; aber wie immer man die Aufsätze ordnet, es wäre nach dem üblichen Vorbild ein Buch geworden, in dem thematische Aufsätze zusammengestellt und mit einem Vorwort präsentiert worden wären.

Das lockte mich nicht. Denn als ich Ihre Aufsätze las, da zeichnete sich ein Gespräch ab, ein Gespräch mit Ihnen über Ihre Aufsätze; ich war beeindruckt, ich strich mir Dinge an, setzte Fragezeichen, und ich fragte mich, ob das Ganze zu einem Dialog mit Aufsätzen werden könnte.

Nun war ich stets neugierig, wie Generationen sich verhalten. Wegen eines Jahrganges vorlaut zu sein, störte mich auch bei Älteren. Nun weiß ich gar nicht genau, ob Sie eigentlich einer bestimmten Generation angehören; ich zweifle, und Ihr Alter schien mir immer eher eine konventionelle Rücksichtnahme in Bezug auf Erdenbürgerschaft. Wenn man sich das intellektuelle Rüstzeug in der Nachkriegszeit geholt hat wie ich, waren Worte wie »Schönheit« und »Verzauberung« aus dem Wortschatz verbannt – wegen zwanzig Jahren, die zwischen uns liegen. Wie leicht wäre es da, als Jahrgänger ein Eiferer zu werden und Entwicklungen auf sein Konto zu buchen, an denen man gar nicht Anteil gehabt hat. Nein, das schiene mir am Ende bloße Rechthaberei, und wichtiger dünkt es mich, dass man sich unter Anerkennung gegeneinander absetzen kann. Bei einem solchen Gespräch darf ich mich nicht als Partner in den Vordergrund schieben – sind es doch Ihre Aufsätze, um die es geht. Also musste eine andere Form gefunden werden. So entschloss ich mich zu einem Porträt von Ihnen, nicht nach der Natur, sondern nach Ihren eigenen Aufsätzen gezeichnet.

Das hatte zur Folge, dass ich nicht nach thematischem Prinzip auswählte; ja, ich versprach mir sogar einen besonderen Reiz davon, das Thema von Aufsatz zu Aufsatz zu wechseln. Des Ferneren ordnete ich die Artikel nicht chronologisch, auch wenn einzelne Kapitel sich der logischen Zeitfolge beugen. Und wenn es mir richtig schien, aus einem Aufsatz einen Abschnitt auszuwählen, tat ich es. Ich wählte die Rolle des Conférenciers, der die einzelnen Nummern ansagt und etwas Ordnung in den Ablauf der Veranstaltung zu bringen hofft.

Diese Aufgabe reizte mich. Denn ich versprach mir davon für den Leser einen zusätzlichen Gewinn. Da stehen ihm einmal Ihre Aufsätze zur Verfügung, wie sie einst verfasst wurden, und durch den Conférencier werden sie in ein bestimmtes Licht gerückt und vielleicht auch belastet. Es ergibt sich daraus nicht eine pure Ansammlung, sondern es kommt ein Ablauf zustande, so dass sich diese Sammlung gleichzeitig wie eine Art Roman aus Aufsätzen ausnimmt. Wenn Sie gestatten, lieber MG, stelle ich Sie als Paradiessucher vor.

Ihr H. L.

Zürich, im Juli 1964

I.  D E R  P A R A D I E S S U C H E R

Da schreibt MG: Er war in einem Paradies; nur einige Tage, aber immerhin. Wer darf dies behaupten? Es wäre talentloser Unanstand, nicht sogleich allen Paradiessuchern die Anschrift zu verraten, zumal MG die Adresse, schwarz auf weiß, preisgegeben hat.

Aufenthalt in Monemvasia

Was ein Name vermag! Da hatte man in der Schule gelernt, dass der Malvasier-Wein nach seinem Verschiffungsplatz, dem peloponnesischen Hafen Malvoisie oder Monemvasia genannt wurde. Und nun saß ich auf dem Marktplatz von Argos und las dieses Wort an der Stirn eines Postautos – mächtig lockend, obgleich der Guide bleu dem Städtchen nur knapp eine halbe Seite widmet und ihm nicht mehr als ein paar byzantinische Kirchen und Ruinen nachzurühmen weiß.

Was riskierte ich schon? Monemvasia liegt an der Spitze des östlichsten der drei Vorgebirge, welche dem Peloponnes die Form eines gelappten Blattes geben; sein Besuch bedeutete darum zum Mindesten eine Reise durch die ganze Halbinsel. Kurzentschlossen löste ich darum eine Fahrkarte.

Die Uhr schlug zehn, als wir in Tripolis einen kurzen Halt machten, und schon um halb eins waren wir in Sparta. Doch hielt man dort nur ein paar Minuten. Ich erstand einen Laib noch warmen Brotes, und versehen mit dieser spartanischen Wegzehrung ging es südlich, dem Lauf des Eurotas entlang, das Taygetosgebirge zur Rechten.

Der Wagen brauste auf einer schnurgeraden Straße dahin; wenn das so weiterging, mussten wir am frühen Nachmittag am Ziel sein.

Es kam anders. Bald bogen wir links ab, und von nun an rumpelte das Gefährt, in eine weiße Staubwolke gehüllt, über ein mit Schlaglöchern durchsetztes Sträßchen – auf Eselsrücken wäre man schneller vorwärtsgekommen. Auch hielten wir vier- oder fünfmal, wie mir schien, ganz ohne Grund, in irgendwelchen gottverlassenen Dörfern, wo es nichts zu sehen gab und man für Geld und gute Worte allenfalls ein Glas Zitronenlimonade oder ein fingerhutgroßes Schälchen Kaffee erhielt. So vertrödelte man den Nachmittag, das Abendlicht feierte seine Triumphe, der Autobus wurde leerer bei jedem Halt, niemand stieg zu, niemand schien Grund oder Lust zu haben, nach Monemvasia zu fahren, und als wir mit der Dämmerung endlich das Meer erreichten, war ich als einziger Fahrgast übrig geblieben.

Dann, plötzlich, bot sich ein Anblick, der für die Unbill der Reise entschädigte: Weit draußen in der schwankenden schwarzblauen Flut ragte ein ungeheurer Felsblock, fast senkrecht aufsteigend und oben abgeplattet, mit dem Festland durch einen langen, schmalen Damm verbunden. Kein Zweifel, ich hatte mein Ziel erreicht, Monemvasia, die »Einwegige« – wenn auch kein Licht die Anwesenheit einer Stadt verriet. Doch wurde meine Geduld auf eine letzte Probe gestellt; denn in dem Dorf am landseitigen Dammende – es trägt den Namen Gephyra = Brücke – wurde noch einmal haltgemacht. Erst als es völlig Nacht geworden war, rumpelte der Wagen über Brücke und Damm dem Felsen entgegen, bog nach rechts ab und hielt schließlich vor einer zinnenbewehrten Stadtmauer.

Verzauberung

Bis zu dieser Mauer war der Ausflug nach Monemvasia einer beliebigen Episode gleichgekommen; jetzt und hier hingegen begann ein Zustand, der aus Märchen wohlbekannt ist und mit Verzauberung bezeichnet wird. Er sollte erst damit enden, dass mich das Kursschiff nach dem Piräus entführte.

In der Mauer öffnete sich ein Tor. Es war nicht höher und breiter als eine Haustür und führte in einen gewölbten und gewundenen Gang, aus dem man durch ein zweites, inneres Tor die Stadt betrat.

Ich gelangte in eine enge, völlig dunkle Gasse, auf deren holperiges Pflaster ganz hinten ein fahler Lichtschein fiel. Dem strebte ich zu und fand ein Kaffeehaus, einen großen und hohen Saal, dessen Wände von oben bis unten mit schwarzgerahmten Bildern bedeckt waren. Die sechs Personen, die sich in dem Raum befanden, saßen nicht an Tischen, sondern mit dem Rücken gegen die Bilderwände, was den Eindruck einer sehr förmlichen gesellschaftlichen Zusammenkunft aus vergangener Zeit machte. Es waren zwei alte Männer in Schwarz, drei Frauen, eine ältere und zwei junge, sowie ein blonder Knabe von vierzehn oder fünfzehn Jahren.

Ich stellte mein Gepäck in eine Ecke und setzte mich an einen Tisch. Eine Weile geschah nichts; dann erhob sich eine der beiden jüngeren Frauenspersonen und entnahm einem Blumenglase eine rote und eine weiße Nelke, die sie mir mit ein paar Begrüßungsworten fast feierlich überreichte. Ich bedeutete ihr, dass ich hungrig sei, worauf die Wirtin hinter einem als Küche dienenden Holzverschlag verschwand und mit Pfannen und Tiegeln zu hantieren anfing.

Eine Weile hörte man nichts als das Klappern der Geschirre und das Sausen der Azetylenlampe, welche den Saal notdürftig erleuchtete. Dann wurde aufgetragen: Brot und Wein, ein kurzer, feister, auf dem Rost gebratener Fisch, Gurkensalat, Ziegenkäse und eingemachte Weichselkirschen.

Als ich beim Kaffee angelangt war, erschien, durch den Knaben herbeigeholt, eine winzig kleine, wohl über achtzigjährige Dame, ganz in Schwarz, mit einem klugen, freundlichen Vogelgesicht. Da sie fließend und fehlerlos Französisch spricht, versieht sie in Monemvasia die Rolle einer Dolmetscherin und Fremdenbetreuerin. Sie setzte sich an meinen Tisch, fragte nach dem Woher und Wohin, übersetzte meine Auskünfte für die andern Anwesenden auch gleich ins Griechische und eröffnete auf meine Frage nach einem Hotel, dass es ein solches in der Stadt zwar nicht gebe, doch habe man ein leerstehendes Haus als Herberge eingerichtet. Dieses werde mir für eine bestimmte Summe – sie nannte einen lächerlich geringen Preis – gerne und beliebig lange überlassen. Wenn ich mich zurückziehen wolle, brauche ich es nur zu sagen, alles Nötige sei bereits vorgekehrt.

Nach einer Weile erschien eine Frau, die zwei brennende Petrollampen und einen großen Schlüssel trug. Sie übergab mir eine der Leuchten und bedeutete, ihr zu folgen. Wir gingen eine krumme, von keinem Licht erhellte Gasse entlang, kamen an einer weißgetünchten Kuppelkirche vorbei, durchschritten einen gewölbten Gang und gelangten schließlich vor ein grüngestrichenes Hoftor. Der Schlüssel drehte sich kreischend im Schloss, und dieses gab einen ummauerten Garten frei, in welchem es süß und betäubend nach Zitronenblüten und Geranienkraut roch.

Durch eine enge Tür und über eine mit ausgetretenen Marmorschwellen belegte Treppe gelangten wir in ein Zimmer, in welchem ein frischbezogenes Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Waschgestell sowie eine bauchige Amphora als Wasserbehälter standen.

Meine Begleiterin stellte die eine der beiden Laternen auf den Tisch, wünschte gute Nacht und bedeutete mir, das Hoftor hinter ihr zu verriegeln.

So war ich nun unversehens Herr über Haus und Garten und hatte als Gefährten nur den gelben Schein der Ölflamme, den Ruf des Käuzchens und den gleichmäßigen Schlag der Wellen. Denn mein Haus stand auf einem Felsbuckel, der fast senkrecht gegen das Meer abfiel.

Als ich am andern Morgen mit dem ersten Strahl erwachte und ans Fenster trat, sprang mich die Bläue an wie ein Panther. Der Himmel, das Vorgebirge, die glitzernde Fläche des Meerarms, der Schatten des Hauses – alles blau. Blau vom Flügel der Libelle, Blau von der Leinblume, Blau vom Saphir – alle Arten und Abstufungen von Blau, gesehen durch eine Atmosphäre, klarleuchtend wie ein Block aus Kristall.

Nachdem ich mich an der Bläue gelabt hatte, begann ich mein kleines Reich zu inspizieren.

Das Haus war uralt, aber reinlich, gut gehalten, der Garten klein, von einer hohen Mauer eingehegt und mit blühenden Stauden und Sträuchern buchstäblich angefüllt. Es gab einen mit Früchten und Blüten besteckten Zitronenbaum, zwei Stämmchen Orangen, einen mehr als mannshohen Geranienstock, einen Granatapfelstrauch, allerlei starkduftende Küchen- und Heilkräuter, eine Rebe, die die halbe Mauer mit Blattwerk übersponnen hatte, Jasmin, ein paar Rosenstöcke und, alle überragend, einen Drachenbaum mit regelmäßig ausgespannten, schwarzgrün geschuppten Ästen.

Haus und Garten wirkten aber nicht nur bezaubernd, sondern auch verzaubert. Keine Vogelstimme war zu hören, und über die Mauer drang kein Laut. Stille. Totenstille.

Beklemmung mischte sich in das Glücksgefühl. Ich entriegelte das Hoftor, lief kreuz und quer durch die Gassen, fand, dass die meisten Häuser Ruinen waren, bloße Fronten, hinter deren Türen und Fenstern Nesseln und Disteln auf Schutthaufen wucherten. Und was noch stand, war zum größten Teil verlassen, dem Verfall anheimgegeben – wenn es hoch kam, gab es in der ganzen Stadt dreißig, vierzig bewohnte Häuser.

Keine Kinder in den Gassen, keine jungen Leute, nur ein paar Gewölbe, in denen ein Alter werkelte oder vom Festland herübergebrachte Feldfrüchte, Eier, Hühner feilgeboten wurden. Auf einem Mäuerchen saß in Silberhaar und -bart der Pope, die gichtigen Hände über der Krücke des Hirtenstabes gefaltet, und um ihn herum, Bernsteinrosenkränze mechanisch durch die Finger gleiten lassend, vier Greise.

Beim Frühstück sagte mir die kluge Alte mit dem Vogelgesicht, dass der Felsen, der vor Zeiten vierzigtausend Einwohner gezählt hatte, heute noch hundertfünfzig Seelen beherberge. Lauter Alte. Die Jungen zöge es nach dem Festland, nach Athen. Auch den Knaben von gestern Abend – er arbeite beim Barbier in Gephyra – möchte es wohl nicht mehr lang hier halten. So werde die Unterstadt von Monemvasia bald auch nur ein Name, eine Erinnerung und so tot sein wie die Oberstadt auf dem abgeplatteten Gipfel des Felsens.

So war das also: Ich hatte ein Paradies entdeckt, eine kleine Welt der Stille, des Friedens, der Seelenruhe, aber der Preis dafür waren Verfall der Gemeinschaft, Besitznahme des Menschenwerks durch Pflanze und Tier.

Ein Schatten fiel auf mein Glück. Wäre es nicht richtiger, ehrlicher gewesen, wenn ich an einem lebensträchtigen Platz Ferien gemacht hätte, in einem der nun kräftig aufblühenden griechischen Fremdenorte, wo man zwar Neonlicht und Radiolärm in Kauf zu nehmen, dafür aber auch die Gewissheit hat, mit dem Lebendigen, Zukunftsfrohen Schritt zu halten – statt, wie hier auf dem Felsen, die traumhafte Schönheit eines nahen Endes auszukosten?

Aber diese Zweifel behaupteten sich nur einen Augenblick; dann war das Glücksgefühl wieder da und mächtig. Es sollte drei Tage ohne Einschränkung und Unterbruch dauern.

Aber was besagt das: drei Tage? Rückblickend erscheint mir die auf dem Felsen verbrachte Zeit nicht wie die kurze Episode einer Griechenlandreise, sondern lang wie ein Lebensabschnitt. Dabei flogen die Stunden so schnell, dass ich die paar mitgebrachten Bücher gar nicht erst auspackte. Und als ich mich einmal vor das blaue Fenster setzte, um einen lange geschuldeten Brief zu schreiben, tat ich es mit der Ungeduld eines Schuljungen, der hastig seine Aufgabe erledigt, um ja schnell auf die Gasse, zum ungern unterbrochenen Spiel zurückzukehren.

Auch mit Baden und An-der-Sonne-Liegen verlor ich keine Zeit. Denn für Strandfreuden ist der meerumspülte Felsen nicht geschaffen; messerscharfe Gesteinsbrocken verwehren allenthalben den Einstieg ins Wasser, und ich brauchte eine gute Stunde, bis ich eine Stelle fand, wo man, mühsam genug, die Flut erreichte. So wurde das tägliche Bad zu einem Akrobatenstück, das man mehr als Pflicht denn als Vergnügen hinter sich brachte.

Was ich dann den lieben langen Tag getrieben habe?

Ich weiß es nicht, weiß nur, dass mich allein schon die gekalkte, von Rissen und Unebenheiten durchsetzte Mauer des Nachbarhauses eine Viertelstunde und mehr verweilen ließ, sooft mich der Weg an ihr vorüberführte. Aus ihren Ritzen und Spalten wuchsen die sternförmigen Büschel eines Krautes, das herzförmige, samtmatte Blättchen und rahmweiße Blüten trieb. Als sollten der zarten Abstufung vom bläulichen Weiß der Tünche zum gelblichen der Blütenstände noch andere Schattierungen derselben Farbe hinzugefügt werden, zeigten auch die Blätter, als hätte man sie in Kalkmilch getaucht, ein weißliches Grün; und an den Mauerblumen saßen Schmetterlinge, deren auf- und zuklappende Flügel ein feines schwarzes Liniengespinst wiederum auf reinweißem Grund aufwiesen. Manchmal kam auch ein brauner mit einem himmelblauen Band.

Oft habe ich mir die Frage gestellt, wodurch sich Griechenland von andern Mittelmeerküsten unterscheide?

Wohl dadurch, dass hier das Simpelste und Gewöhnlichste, ein im steinigen Acker sein Blätterdach spreitender Feigenbaum, ein schlichtes weißes Haus mit grünen Fensterläden, eine mit milchgrünen Blattbüscheln gestirnte Mauer – dass Dinge, die es anderswo auch gibt, hier, verwandelt, geadelt durch ein Licht ohnegleichen, so kostbar-schön erscheinen, dass sie Auge und Geist wie ein Wunder zu fesseln vermögen.

Am späten Nachmittag stieg ich jeweils zur Oberstadt hinauf. Ein gepflasterter, mit Mauern abgeschirmter Reitweg führte im Zickzack zu einem burgartigen Tor, hinter dem sich das abgeplattete Felshaupt mit dem Ruinenfeld dehnte. War die Stadt durchquert, so gelangte man an eine Stelle, wo der Berg an die zweihundert Klafter tief senkrecht gegen das Meer abfällt. Hinter dem weißen Brandungssaum zeigt ein hellgrünes Wasserband den Sockel des Felsens an; daran stößt unvermittelt tiefstes Blau, das, aus solcher Höhe gesehen, starr wie Glasfluss erscheint.

Seevögel bevölkern die unteren Regionen. Sie werfen sich ausschwärmend in den Wind, durchflecken wie winzige Papierschnitzel die grüne und blaue Tiefe, um dann, heftig flügelnd, zu ihren Felsennestern zurückzukehren.

Dies der Blick in die Tiefe. Der Nahsicht bot sich eine Ruinenstadt – mit dem Lineal gezogene Gassen aus Hausstümpfen, Pompeji nicht unähnlich, doch nicht trostlos nackt, sondern durchwachsen, überwuchert von Gras, Gestrüpp und gelbblühenden Stauden, überschwirrt von Vögeln, fliegenden Heuschrecken, Faltern, durchwimmelt von kleinem Getier, Eidechsen, Blindschleichen, Käfern, Ameisen.

Pflanze und Tier scheinen sich vorgenommen zu haben, das, was die Eroberer übrig ließen, dem Erdboden gleichzumachen. Da fällt ein Samenkorn auf einen Mauerrest, dringt ein Würzelchen mit sanfter Gewalt zwischen Mörtel und Quader, dort wühlt eine Maus ihren Gang in die Grundfeste eines Kirchenrests, und schon wieder hat die Stadt um ein Geringes ab-, die Wildnis um das Gleiche zugenommen. So schreitet das Zerstörungswerk fort, langsam, fast unmerklich, aber unaufhaltsam. Wer die Oberstadt von Monemvasia vor zehn oder zwanzig Jahren besuchte, wird, wiederkehrend, kaum eine Veränderung feststellen; doch braucht man nur ein wenig zu verweilen, um den mählichen Verfall mit Augen zu sehen; denn jedes Partikelchen, das die Ameisen aus einem Ruinenhaus schleppen, ist ein rinnendes Sandkorn im Stundenglas der Zeit. Und eines Tages, in fünfhundert oder in tausend Jahren, wird von der stolzen Stadt auch nicht ein Atom mehr bestehen.

Ein anderer Platz, der mich jeden Tag von neuem anzog, war das steinige Gelände, das sich gleich hinter dem Stadttor zwischen Felswand und Meer schiebt. Wie schnell war da ein halber Tag vertan! Denn da standen Distelstauden zu Hunderten wie gewaltige Kandelaber aus grünspanüberzogener Bronze. Die stachligen Leuchter trugen an Stelle von Flammen handtellergroße, hellweinrote Blüten, über denen Schmetterlinge in buntglitzernden Wölkchen wirbelten.

Diese Blütenteller dienten Insekten als Weideplatz – Käfern, die im üppigen Samt krabbelten. Der Arten waren so viele, dass das Gehen von Blüte zu Blüte spannend, überraschend war. Ein stark gebuckelter, goldgrün glänzender zwar fehlte fast nie, und auch ein schwarzer, dessen gerillte Flügeldecken violett schillerten, war beinahe immer vorhanden. Aber dann gab es platte, von der Form eines Wappenschildes, die eine zierliche Zeichnung in Braun und Weiß aufwiesen, smaragdgrüne, purpurrote. Zu den Käfern gesellten sich Fliegen mit schmalen, nachtblauen Flügeln und gedrungene, mit metallisch glänzenden Panzern. So glich jede Distelblüte einem Liliput-Tiergarten, der sich dem neugierigen Gulliver auf Augenhöhe darbot.

Und dann die Falken. Es wimmelte von ihnen auf Monemvasia. Zu den Jagdstunden, am frühen Vormittag und gegen Sonnenuntergang, durchpfeilen sie zu Dutzenden den Azur, verharren von Zeit zu Zeit rüttelnd an Ort, um dann ihr unvergleichliches Gleiten und Kreisen wieder aufzunehmen. Manchmal stößt einer im Sturzflug herab; aber nur ganz selten schwingt er sich mit einer Beute im Schnabel wieder auf. Wovon sie leben, wie sie es anstellen, auf diesem kahlen Felsen den Treibstoff für ihre so kunstvollen wie ausdauernden Flugspiele zu finden? Rätselhafter Haushalt der Natur! Dem Falkenvolk im Blau muss zwischen Felsbrocken und Geröll eine wimmelnde Beute an Mäusen und anderem Getier entsprechen, eine ewige und grausame Gleichung – mag es auch scheinen, als kreisten die bald goldbraun, bald schwärzlich vom Blau sich abhebenden Vögel aus reiner Lust und zur Augenweide eines seltenen Spaziergängers.

Der Bär

Des Herumkletterns im unwirtlichen Ufergestein müde, suchte ich am letzten Vormittag meines Aufenthalts einen Badeplatz auf dem Festland, eine halbe Wegstunde östlich des Brückenkopfes Gephyra.

Als ich mich gegen Mittag auf den Heimweg machte, stand da, etwas unterhalb des Ufersträßchens und kaum mehr als einen Steinwurf entfernt, plötzlich ein großer, hellbrauner Bär.

Nun ging es mir wie jenen Figuren in komischen Filmen, denen etwas Absurdes, Ungeheuerliches begegnet und die sich zuerst gar keine Rechenschaft von der Enormität des Vorfalls geben – um nachträglich dann allerdings umso mehr zu erschrecken. In meinem Fall: Ich betrachtete mit gelassener Neugier den Bären, dessen fast blondes Fell sich hübsch vom Blau des Wassers abhob, überlegte, wie sehr ein wirklicher Bär doch manchmal einem Teddybären gleiche – dann erst fuhr mir der Schreck in die Glieder. Ein Bär! Aber das konnte nicht sein. Es gab keine Bären auf dem Peloponnes, und wenn es sie gab, trieben sie sich nicht auf Fahrstraßen herum. Und wieder tat ich automatisch, was man sonst nur als Redensart kennt: Ich kniff mir in Arm und Ohrläppchen, um festzustellen, ob ich träume oder wache.

Aber der Bär war kein Hirngespinst. Er trat an Ort, knurrte auch ein bisschen, doch kümmerte er sich nicht weiter um mich.

Die Erklärung für das seltsame Zusammentreffen war einfach genug: Zigeuner waren in Gephyra eingetroffen, und während sie mit ihren Affen und dressierten Ziegen für die Nachmittagsvorstellung werbend von Haus zu Haus zogen, hatten sie den Tanzbären etwas außerhalb des Dorfes am Ufer festgebunden.

Ich sollte den Bären an diesem Tage nicht mehr loswerden. Denn als ich im Kaffeehaus mit den vielen Bildern mein Abendbrot verzehrte, erschien er dort, auf den Hinterbeinen hoch aufgerichtet und von seinem Herrn gefolgt, in der Tür. Tische und Stühle wurden beiseitegeschoben, damit er seine Tanzkünste zeigen konnte, während sich die Ziegen kreuzweis überhüpften und ein als Türke verkleideter Affe Münzen einsammelte. Und als bei Einbruch der Nacht der Kursdampfer in der Bucht vor Anker ging, saß ich mit den andern Passagieren schon lange in der Barke, die uns zum Dampfer hinausfahren sollte, aber noch immer wartete der Fährmann auf einen verspäteten Gast. Endlich erschien, von seinem Meister an der Kette geführt, mein Bär, bestieg, gewandter als man erwartet hätte, das schwankende Boot, klomm als Letzter das Fallreep hinauf und wurde auf dem Vorderdeck festgebunden.

Am andern Morgen, als ich bei Sonnenaufgang einen Spaziergang durch das Schiff unternahm, traf ich ihn wieder. Unser Boot hatte in der Nacht einen Hafen angelaufen und dort eine Menge Tiere an Bord genommen: Kühe, Esel, eine kleine Schafherde, ein Rudel Ziegen und eine Schar Truthühner. Das muhte, wieherte, blökte, meckerte und gackerte laut durcheinander. Und mittendrin lag, das blonde, plüschene Fell vom Fahrtwind durchwühlt, der Bär; er kümmerte sich so wenig um seine leckeren Reisegefährten wie die Löwen und Tiger auf jenen alten Bildern, die den Paradiesgarten darstellen. [1959]

Aber irdische Paradiese scheinen keine festen Koordinaten zu haben. Glaubt man anderen Aufsätzen MGs, braucht das Paradies nicht Monemvasia zu heißen und nicht in Griechenland zu liegen. Es muss nicht einmal ein fester Ort sein. Ein Segelschiff tut es auch, oder zumindest, tat es einmal.

Segelschiff im Mittelmeer

»Il était un petit navire …«

Fünf Uhr morgens im Marseiller Vorhafen. In unregelmäßigen Schauern stürzt ein lauer Sommerregen auf die Berge von Fässern und Ballen, die blankgewaschenen Quadern der Dämme. Silbrige Schleier heben sich, senken sich vor einer kaum erhellten Landschaft. Maste, Kran und Baggerschiff, alles unbestimmt, perlgrau, feucht.

Gegenüber, ein paar Ruderschläge vom Ufer entfernt, fünfzehn, zwanzig in einer Reihe, die Langoustiers, kleine, flinke Segler, buntfarbig, spitzschnäblig, jeder eine grün-weiß-rote Trikolore nass und unlustig am Hauptmast ausgehängt. Sie kamen von Sardinien herüber, schwerbefrachtet mit rotgepanzertem, scherenbewehrtem Meergetier und warten nun auf guten Wind, um nach ihrer Insel zurückzufliegen.

Eine Woche lang war ich jeden Morgen mit Sonnenaufgang auf diesen Damm herausgekommen, hatte mit den Schiffsherren, der Mannschaft auf Französisch, auf Italienisch, durch Dolmetscher verhandelt und sie zu bewegen versucht, mich an Bord zu nehmen, als Matrosen, Novizen, Passagier, ganz gleich wie. Umsonst. Die Leute hatten, Gott weiß warum, Angst, mit den italienischen Behörden in Konflikt zu geraten, hatten ausweichende Antworten gegeben, die Achseln gezuckt, auf später vertröstet.

Aber auch auf einem der baufälligen Dreimaster, die mit Marmor von Carrara kamen, drüben beim Fort Saint-Jean vor Anker liegen und seit drei Tagen altes Eisen für Livorno laden, ist keinerlei Aussicht, sich einzuschiffen und die spanischen Segler sind rar geworden, jetzt, da die Orangenzeit längst vorüber. So bleibt nichts als die schwache Hoffnung auf einen zufälligen Griechen oder Nordländer, und mehr aus Gewohnheit habe ich meinen Rundgang angetreten.

Sie sind zwanzig, dreißig Jahre zu spät gekommen, meint der Patron der winzigen Bar, die zu äußerst am Dammvorsprung klebt, mit den Segelschiffen ist’s aus und vorbei. Was wollen Sie, Tau- und Segelwerk sind teuer, die Löhne hoch, und dann geht das Ding zu langsam, selbst für Wein und Guano. Die Italiener, die sich mit Zwieback und weißen Bohnen zufriedengeben und Hungerlöhne annehmen, können sich’s noch leisten. Aber von den Franzosen, was bleibt? Ein, zwei Außenseiter im Mittelmeer und die Terre-Neuvas, von denen einer nach dem andern zum Motor übergeht. Ja, zu meiner Zeit …

Seine endlosen Erinnerungen an die glorreiche Zeit der Fregatten noch einmal anzuhören, habe ich keine Lust; der Regen hat inzwischen aufgehört, die Langoustiers spannen einer nach dem andern ihre gelb und rostroten Segel zum Trocknen aus, und ich nehme meine Suche wieder auf, vom Vorhafen gegen die Joliette und den vielen Molen entlang bis hinunter zur Pinède, ohne allzu viel Hoffnung nach einem Mastenpaar zwischen den vielen Kaminen spähend.

Warum das Unterfangen nicht aufgeben? Warum immer Entschwindendem nachjagen, den letzten Stieren und wilden Pferden der Camargue vor einem Jahr und den sterbenden Segelschiffen jetzt, in dieser Stadt, die lebendig und zukunftsfroh wie keine andere?

Aber dann steht plötzlich wieder, hoch und schimmernd, die Silhouette eines Dreimasters am Horizont, der alte Robinson wacht wieder auf, die alten Träume, das alte Fernweh ist wieder da und keine Mühe zu groß und keine Wartezeit zu lang. Dann, eines Morgens, liegt es plötzlich da, Frankreichs letztes Segelschiff im Mittelmeer! Und dabei sieht es keineswegs nach einem Museumsstück oder Gespensterschiff aus: Stolz und weiß wie ein Schwan wiegt es sich, zur Seite rotleuchtender Ziegelhaufen, in der blauen Bucht des Estaque. In goldenen Lettern auf azurnem Grund zeigt das Heck die Aufschrift »Paul-Arsène« und den Namen des Ursprungshafens: Paimpol.

Denn der schmucke Zweimaster ist nur halber Provenzale: Nachdem er fünfzig Jahre lang Kohlen von Southampton nach Saint-Nazaire gefahren, kam er vor acht Monaten erst nach Marseille, und neben den Baumwollsegeln des Mittelmeers werden noch immer die schweren, bretonischen Leinenbahnen aufgesetzt.

Da liegt es also in Reich- und Rufweite, das Ziel so langer Bemühungen, blankgefegt und fahrtbereit, und backbords auf einem Haufen Taue sitzt der Schiffsjunge, palt Erbsen aus und singt sich eins.

Dann geht alles plötzlich ganz leicht. Der Patron scheint nicht abgeneigt, eine wenn auch fragliche Arbeitskraft gegen Kost und freie Fahrt an Bord zu nehmen. Das letzte Wort sei immerhin beim Kapitän, ich solle morgen wieder vorsprechen. Der Kapitän begegnet meiner Begeisterung für die Segelschiffahrt mit spöttischem Wohlwollen; er scheint sich über die Fähigkeiten dieses marin d’eau douce keine Illusionen zu machen, aber seine Einwilligung gibt er trotzdem. Selbigen Tags, mit Einbruch der Nacht, gehe ich, meinen vollgepackten Segeltuchsack über der Schulter, an Bord.

Der Mistral fährt sausend die nackten Kalkhänge, die den Estaque säumen, herab, wuchtet über Deck, macht das Schiff an der Ankerkette zerren wie ein gereiztes Tier. Wir flüchten vor seiner Gewalt in die Kajüte und löffeln, Kapitän, Patron, Charles, der Matrose, Jean-Marie, der Schiffsjunge und ich, enggedrängt um den schmalen Tisch, die Fischsuppe aus einem gemeinsamen Topf.

Die schwanke Petroleumlampe beleuchtet ein rauchgeschwärztes Getäfel, zwei Votivbilder, ein Buchszweiglein sind an die Wand geheftet, ein paar Postkarten stecken hinter der Spiegelscherbe, und fast wider Willen drängt sich der eigentlich paradoxe Vergleich mit dem Innern einer gutschweizerischen Sennhütte auf.

Auch später, als wir über die Reling gelehnt nach den Lichtern des nächtlichen Marseille starren und die kahlen Felsgräte in unserm Rücken sich scharf gegen den hellen, großgestirnten Himmel abheben, meldet sich noch einmal die Erinnerung an manche Nacht vor der Klubhütte, und die Kojen, in denen wir uns schlafen legen – Kapitän und Patron nehmen die Kajüte in Anspruch –, sargschmale Kasten zuvorderst im Schnabel des Schiffes, sind dazu angetan, diesen Vergleich noch zu verstärken.

Dann aber, eingerollt in einen Segelrest, hingegeben dem gleichmütigen Wiegen der ewigen Wiegenfrau Meer, eingelullt vom Lied der Welle, die gurgelnd anschlägt und zerschellt, ist alles Vergangene plötzlich fern, und das eine Gefühl verdrängt alle andern: aufgenommen, umfangen, nur durch eine einzige, schmale Planke getrennt sein vom ersehnten Element, dem unendlichen Meer!

Küstenfahrt

Marseille liegt tot unter den Feuern des Mittags. Wir haben den ganzen Morgen Süßwasser geschleppt, Ziegel und Backsteine für Korsika geladen. Mit dem Glockenschlag zwölf ist das letzte Tau gelöst, und der »Paul-Arsène« zieht in großem Bogen gegen das Château d’If. Zur Ausfahrt genügen drei Klüver; erst als wir die Ile de Maire passiert, setzen wir Fock- und Großsegel auf.

Der Wind ist günstig, stark und stoßweise und schiebt das Schiff in unregelmäßigen Sprüngen über die weißschäumenden Wogen. Wir laufen acht oder neun Knoten, schätzungsweise; es ist keine Loge an Bord. Wozu auch? Wir sind doch der Willkür des Windes ausgesetzt und sollten es bereits in der ersten Nacht und später wie oft noch erfahren.

Eine halbe Stunde lang hatte Unruhe an Bord geherrscht. Kommandorufe, Kommandopfiffe und das hallende ohé, ohé, das die Manöver an der Ankerwinde und beim Segelhissen skandierte. Geschrei und Flüche, auf Provenzalisch und Bretonisch. Dann sucht sich jeder einen Platz im Schatten und sieht die Stadt mit Gleichmut allmählich entschwinden. Nur Tom-Pouce, das Hündlein, das wir in letzter Stunde an Bord genommen, läuft jämmerlich winselnd auf und ab und ist nicht zur Ruhe zu bringen.

Ein paar Stunden lang war Tom-Pouce der erklärte Liebling der Besatzung. Später begann er seine Tücken zu zeigen: Er zernagte und riss in Fetzen alles, was er irgend erwischen konnte, die Schweinsblase, in welcher der Matrose seinen Tabak aufbewahrte, meine Pantoffeln und schließlich des Schiffsjungen einzige Lektüre, einen alten, zerlesenen, mit Sprichwörtern und moralischen Erzählungen gespickten »Almanach Breton«. Aber damit war das Maß voll, und Tom-Pouce wurde in Nizza unbarmherzig ausgesetzt und seinem Schicksal überlassen.

So viel vom Hündlein. Aber es wird Zeit, sich auch die andern Fahrtgenossen etwas näher anzusehen.

Da ist der Kapitän, ein wahrer Ulyss, der alle Länder und Breiten von den Korallenriffen der Südsee bis hinauf zu den Basaltküsten der Nordmeere kennt, durchtrieben, schlau, voll Spott und Ironie und doch gern bereit, mir in langen Mußestunden die Geheimnisse von Peilung und Steuerung beizubringen. Wir lernten später auch seine Penelope, eine abgebaute Tingeltangel-Sängerin kennen. Dumm und eitel wie ein Pfau kam sie an Bord und meinte sich was wunders zu vergeben, als sie nach langem Zieren und Schöntun schließlich unser Abendbrot teilte.

Patron und Matrose, beide Provenzalen, verschlossen, misstrauisch und xenophob, wenig erquickliche Reisekameraden. Aber Jean-Marie, der Schiffsjunge! Er ist auf dem »Paul-Arsène« groß geworden und ihm auch nach seiner Versetzung ins Mittelmeer treu geblieben. Aus Locmiquelic gebürtig, Bretone durch und durch, ist er gemessen, ernst und gutmütig und entbehrt doch nicht jene feine Ironie und Behändigkeit des Geistes, die alle seefahrende Bevölkerung vor der Bauersame voraus hat. So wird er keineswegs böse, wenn ich seinen Walfischfänger- und Seeräubergeschichten nur halben Glauben schenke und seine in guten Treuen vorgetragenen naturgeschichtlichen Ausführungen ins Reich der Fabel verweise, die Hypothese zum Beispiel, dass die Haie blind oder beinahe blind seien und deshalb jeder einen kleinen Fisch als Piloten engagiert hätte, der gegen angemessene Verpflegung sich verpflichte, seinen Herrn und Meister bei seinen menschenfresserischen Jagdausflügen zu führen. Unfähig, auch nur eine Stunde müßig zu bleiben, weiß er sich von früh bis spät irgendwie zu beschäftigen, und wenn die Kajüte gekehrt, das Geschirr gewaschen, das Deck gesprengt, findet er immer noch ein ausgefranstes Tauende oder reparaturbedürftiges Segel, und erst wenn mit dem besten Willen keine Arbeit oder Bastelei mehr aufzutreiben ist, holt er seine kleine achtkantige Handharmonika, setzt sich in den Schatten und spielt die gemessenen Tanzweisen des fernen Morbihan.

Wir laufen zwei Seemeilen ungefähr von der Küste entfernt, ohne Zwischenfall und Ereignis, und gelangen mit Sonnenuntergang auf die Höhe von Sanary. Der Schiffsjunge putzt die Hecklaternen und hängt sie aus, ein grünes Licht steuerbords, ein rotes backbords. Die Nacht bricht plötzlich und fast ohne Dämmerung herein. Die Feuer zweier Leuchttürme und ein paar Lichter vom Ufer sind das einzig Helle. Tiefhängendes Gewölk verdeckt die Sterne.

Auch mit dem werdenden Morgen noch Dunst und Trübe. Vage, schwarzblaue Schatten in der Tiefe und darüber ein seltsam ziegelrot gemaserter Himmel. Heliotropfarbene Reflexe fliehen über die glatte Flut. Das Schiff liegt unbewegt mit schlaffen Segeln, und als der Nebel sich endlich hebt, liegen wir immer noch vor dem Kap Sicié und haben eine ganze lange Nacht hindurch keine drei Meilen gewonnen.

Der beängstigenden Dämmerung folgt ein klarblauer Morgen im Golf von Toulon. Ein Panzerkreuzer, von zwei Linienschiffen flankiert, rauscht stolz vorüber; Fischerboote kehren vom nächtlichen Fang zurück; der Postdampfer für Korsika verschwindet am Horizont; Tartanen fahren, die Spitzsegel vom eben sich wieder erhebenden Winde gebläht, nach Hyères und den Goldinseln: ein Bild des Meeres mit all seinen Attributen, so wie wir’s als Kinder in Staubs Bilderbuch gesehen.

Ein sanfter Westwind stößt uns gegen die Inseln; gegen neun Uhr fahren wir zwischen Grand Ribaud und Porquerolles ein. Wir haben alle Segel gesetzt und laufen doch höchstens vier Knoten. Ich stehe am Steuer, den Blick auf einen fernen Felsvorsprung fixiert. Totenstille an Bord.

Um Mittag stehen wir vor Cap-Blanc, um drei Uhr nachmittags vor Cap-Camarat. Gegen Abend belebt sich der Wind ein wenig, aber die Nacht ist lau und beklemmend. Cannes, Juan-les-Pins, eine einzige, flirrende Lichterkette, aus der ununterbrochen buntfarbige Leuchtkugeln steigen. Aber kein Ton dringt herüber, und jetzt, da die ganze Lichterherrlichkeit in weißglühende Feuergarben und -strudel sich auflöst und dann plötzlich erlischt, wird es einem fast unheimlich zumute, wie bei einem Gespensterfest.

Schließlich überkommt uns der Schlaf, irgendwo auf Deck, und am andern Morgen wecken mich Manövrierpfiffe und Geschrei im Augenblick, da wir mit der strahlenden Frühe in den Hafen von Nizza einfahren.

Auf hoher See

Die italienische Küste ist nur noch ein grüner Strich am Fuße grauer Felshänge, und einzig der Felsen von Monaco, umschwärmt von weißen Jachten, ist deutlich erkennbar. Aber das Auge hängt noch lange an jenen Strändern, wo uns widrige Winde und hohe See fünf Tage lang festgehalten. Nizza, Villefranche, Monte-Carlo, das war eine laute und bunte Welt gewesen und ist nun plötzlich wie weggewischt und ausgelöscht.

Und so stellt man sich mählich ein auf das winzige Splitterchen Kosmos, das, vierzig Schritte lang, fünf Schritte breit, von einem fröhlichen Nordwest unaufhaltsam ins Unendliche hinausgeblasen wird. Zuerst will’s einem fast unheimlich erscheinen, aber dann, wenn der schmale Küstenstrich bereits versunken und nur noch ein paar Berggipfel wie Inseln aus der Flut tauchen, ist auch die alte Hingerissenheit und Begeisterung für die Reise wieder da und jener seltsame Taumel, den ich in Marseille zum ersten Mal verspürt, nachts, als der Mistral das Schiff mit gewaltigen Armen gewiegt.

Unwillkürlich drängt sich auch der Vergleich mit dem galoppierenden Pferd wieder auf, jetzt, da das Schiff wie ein lebendiges Wesen über die Wellen springt, und später, am Steuerrad noch einmal, wenn die Hand in die Speichen nicht anders als in den Zügel greift.

Gegen vier Uhr nachmittags meldet der Schiffsjunge, der stundenlang im Takelwerk hängt wie die Spinne im Netz, eine Herde Delphine. Scheinbar schlafend ruhen die Tiere, zwanzig oder fünfundzwanzig an der Zahl, an der Oberfläche, die Rundung ihres schwarzglänzenden Leibes mit der großen Rückenflosse sonnend. Das heranrauschende Schiff bringt Unruhe in die Schar, mit gewaltigem Schwanzschlag schleudern sich die unförmigen Körper aus der Flut, silberweiße Bäuche blinken, Gischt quirlt auf, und haargenau kreuzen die spielenden Fische vor dem Bug.

Diese Delphinenherde ist übrigens, ein fliegender Fisch ausgenommen, den ich bei der Ile du Levant sah und von dem Jean-Marie bis zuletzt behauptete, dass es keiner gewesen, alles, was wir von Bord aus von den Wundern des Meeres zu Gesicht bekamen. Den Rest: Katzenhaie und Muränen, Einsiedlerkrebse, Tintenfische und Zitterrochen, sanft leuchtende Korallenhaine und schimmernde Gärten voll Meeranemonen, von blutroten Seesternen durchsetzt, das alles hatten uns auf dem festen Lande die Glaskästen des Aquariums von Monaco gezeigt.

Im Grunde verhielt es sich mit allem so. Mit der Romantik war’s aus und vorbei, sobald der Anker gelichtet, das stimmungsvolle Dekor blieb in den »Boîtes à Matelots« von Montparnasse und Saint-Raphaël zurück und niemand kommt es in den Sinn, jene Matrosenchöre, die wir in Paris nächtelang bei kreolischem Punsch aus grünen Zitronen gesungen, anzustimmen, jetzt, wo jenes

… Adieu misère, adieu Bordeaux!

Ho! Ho! Au Mexico! …

doch eher am Platze gewesen.

Wenn aber das Land das Leben des Seemanns unter einem poetisch-falschen Gesichtswinkel sieht, so hat der Matrose dafür eine eigene, nicht minder falsche Vorstellung des Festlandes, schon dadurch, dass er von jedem neuen Erdteil nur die Hafenstädte und von diesen wieder nur gewisse Quartiere kennenlernt, und so gewissermaßen nur durch ein Fenster ins Haus sieht. Wie trügerisch aber die Aspekte sein können, hatten wir bereits an der Riviera erfahren, die uns während der ganzen langen Küstenfahrt nur ausgewaschene, dünn bewaldete Berghänge zeigte und nichts ahnen ließ von dem schmalen Band voll Palmengefächel und Blütenüberschwang, und sollten es auch später wieder erkennen, als sich das öde, ausgebrannte Capraja nicht anders darbot als das glückliche Korsika.

Von fünf bis sieben stehe ich am Steuer. Aber jetzt weist nicht ein Riff oder Leuchtturm der Küste mehr den Weg, sondern die Magnetnadel, kleines, ewig unruhiges Insekt in der großen Kompassrose.

Vor dem Einnachten, während eines ungeschickten Manövers, zerreißt das Toppsegel und wird gleich beim Laternenschein geflickt. Jetzt, da wir endlich günstigen Wind haben, gilt es auf jeden Vorteil bedacht zu sein.

Von einer sturmverschonten Seefahrt ist nicht eben viel zu berichten, und doch kam keine Stunde Langeweile auf, und die paar Bände, die ich vorsorglich zuunterst in meinem Segeltuchsack verstaut, blieben unberührt bis zuletzt. Für Unterhaltung sorgt zuerst einmal die Arbeit. Arbeit auf Deck, am Steuerrad und wohlverteilte Wachtstunden. Arbeit in der Küche vor allem.

Oh, diese Schiffsküche des »Paul-Arsène«, wo fände man diese seltsame Mischung von Primitivität und letzter Verfeinerung wieder! Zwei eherne Töpfe als ganzes Kochgeschirr, Stockfisch und Kartoffeln als Fundamente fast jeglicher Mahlzeit. Aber daneben, sauber in Büchsen und Schächtelchen aufbewahrt, die verschiedensten Gewürze und Kräuter. Weißer Sonntags- und roter Werktagswein, sodann [mit dem Süßwasser muss sparsam umgegangen werden!] Arrak und Wermut und als letztes Raffinement ein riesiges Stück Korkeichenrinde, auf welchem die Bouillabaisse angerichtet wird, einzig um das Zerfallen der Fische in einem irdenen Geschirr zu verhüten.

Sodann gewöhnt sich das Auge langsam an den Anblick von Meer und Himmel, und der Blick wird geschärft für die unendlichen Lichterspiele der großen Bläue, die uns rings umfängt, und wenn das reine Firmament, die unbewegte Flut zuerst monoton erscheinen wollen, so entdeckt man schließlich mehr Abwechslung und Überraschung, als die bewegteste Landschaft zu bieten vermag.

So sitze ich, meine Pfeife rauchend, manche Stunde nach dem Abendbrot am Heck, im Angesicht der Sonne, die umschwärmt von rotglühenden Wolkenfischen sich zögernd in die Flut zu tauchen rüstet. Der Blick ist gefangen von dem unendlich wechselnden Schauspiel der Strudel und Wirbel des Kielwassers, der plötzlich auftauchenden und wieder zerfließenden Schaumkronen, in denen die violetten Schauer des großartigen Sonnenuntergangs einen kurzen Augenblick lang sich widerspiegeln. Und immer noch starre ich auf dieses kleine Wasserstück, auch wenn der Himmel aus seiner Rotglut allmählich in bleiches Lila und zartes Hechtgrau übergegangen, der Nachtwind schon kalt und unfreundlich bläst, die Handharmonika des Schiffsjungen längst verstummt und alle Lichter an Bord ausgelöscht bis auf die Hecklaternen und die zitternde Helle im Kompasshäuschen. Dann ist auf einmal nur noch der Himmel da, unendlich groß und flimmernd, vor dem die schwach leuchtenden Segel sich abzeichnen wie die Schwingen eines lautlos über die Flut streichenden, ungeheuren Vogels. [1932]

Zwischen dem Aufenthalt in Monemvasia und der Fahrt auf »Frankreichs letztem Segelschiff« liegen fast dreißig Jahre und keine Entwicklung. Sicherlich, die Umstände sind andere: hier der Jüngling, der aus Elternhaus und Schule ausbricht und in Südfrankreich vagabundiert, dort der Chefredakteur einer kulturellen Monatsschrift, der abgezählte Ferien in Griechenland verbringt. Dort die Kameraderie und hier ein Mann, der allein ist; einmal das Abenteuer als Unternehmungslust und einmal als Beschaulichkeit, und beide Male Knabenträume, die wahr werden, und beide Male ein Paradies, das sterblich ist. Wenn der Fünfzigjährige nach dem Preis des Paradieses fragt, ist die Frage und Erkenntnis keine Schlange. Der Moment genügt sich selber. Hier wurden nicht Jahre entwickelt, hier wurden Augenblicke gesammelt. Sagte man dies MG, er würde lachend Henry de Montherlant zitieren: »Mit fünfzehn ist die Partie gespielt.«

II.  D I E  Z A U B E R G Ä R T E N

Am Anfang war der Garten Eden. Wer Paradiese sucht, geht nicht achtlos an Gärten vorbei. Nicht bei Schrebergärten wird sich MG aufhalten. Kohl wurde erst nach der Vertreibung gezogen. Aber er wird haltmachen bei botanischen Gärten, wo selbst das Gras eine lateinische Inschrift trägt.

Die gute Stunde