image1
Logo

Heinrich Kunze

Psychisch krank in Deutschland

Plädoyer für ein zeitgemäßes Versorgungssystem

Mit Beiträgen von Rainer Höflacher, Heiner Melchinger, Renate Schepker, Beate Schmidt, Juan Valdés-Stauber und Bernward Vieten Mit einem Geleitwort von Peter Masuch, Präsident des Bundessozialgerichts

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-025995-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-025996-6

epub:    ISBN 978-3-17-025997-3

mobi:    ISBN 978-3-17-025998-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

  1. Geleitwort
  2. Peter Masuch (Präsident des Bundessozialgerichts)
  3. Danke
  4. Einführung – Wozu dieses Buch?
  5. 1 Psychiatrie-Enquête 1975 – Von der Anstalts- zur Gemeindepsychiatrie
  6. 1.1 Die historische Bedeutung
  7. 1.2 Das Bündnis zwischen Fachwelt und Politik
  8. 1.3 Die Verspätung der Psychiatriereform in Deutschland
  9. 1.4 Wirkungen der Enquête
  10. 1.5 Rückblick: Die psychiatrische Anstalt als Zentrum der Versorgung
  11. 1.6 Integration statt Ausgrenzung
  12. 1.7 Was uns heute beschäftigt
  13. 1.8 Personenzentrierter Ansatz – Kritik der »therapeutischen Kette«
  14. 2 Fragmentierung der psychiatrischen Versorgung – und Lösungen?
  15. 2.1 Entstehung und Folgen der Fragmentierung
  16. 2.2 Ökonomie und Zielhierarchien
  17. 2.3 Systemsteuerung nach dem St.-Florian-Prinzip
  18. 2.4 Der Populationsbezug – vom statischen zum dynamischen Konzept von Versorgung
  19. 2.5 Lösungen – Zielorientiert
  20. 2.5.1 Die Arbeitsebene und eine Lerngeschichte
  21. 2.5.2 Para digmenwechsel
  22. 2.5.3 Lösungen auf der Ebene von Organisationen
  23. 2.5.4 Lösungen: Leistungsrecht integrieren
  24. 2.5.5 Steuerung der Versorgung
  25. 2.5.6 Maßregelvollzug, Gefängnisse und Obdachlosigkeit – »End-Stationen« oder »Neustart« nach gescheiterter Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie?
  26. 2.6 Außerhalb der Psychiatrie: Versorgung von psychisch kranken Menschen
  27. 2.7 Populationsbasierte Versorgungsverpflichtung und Versorgungsforschung
  28. 3 Kranken(haus)behandlung
  29. 3.1 Orientierung für historisch gewachsene Unterscheidungen
  30. 3.1.1 Verwerfungen in der ambulanten psychiatrisch- psychotherapeutischen Versorgung
  31. Heiner Melchinger
  32. 3.2 Zwei Berichte: eine Behandlung im Krankenhaus und eine Behandlung ohne Krankenhausbett
  33. 3.2.1 Familien- und Gemeindeorientierung – Psychotherapie und mehr in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
  34. Bernward Vieten
  35. 3.2.2 Krise ohne Klinik – Wichtige Weichenstellung gelingt auch ohne Bett im Krankenhaus
  36. Beate Schmidt
  37. 3.3 Versorgungs- und Qualitätsziele für die Krankenhausbehandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen
  38. 3.4 Von der alten Psych-PV lernen
  39. 3.5 Entwicklung eines neuen Entgeltsystems: anfangs begrüßt – inzwischen einmütig abgelehnt
  40. 3.6 Die Ziele des BMG und der Selbstverwaltungspartner sind nicht transparent
  41. 3.7 Politische Steuerung: Lernt das »lernende System«?
  42. 3.8 Modellkliniken als Akteure im »lernenden System«
  43. 3.9 Budgetsteuerung – statt Festpreise
  44. 3.10 Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen: Gewinne statt Daseinsvorsorge
  45. 4 Gemeindepsychosomatik: »Ökumenische Praxis« mit der Gemeindepsychiatrie
  46. 4.1 »Ökumenische Praxis« oder »Psychiatrie light«?
  47. 4.2 Gemeindepsychosomatik: Der angestrebte Weg zu einer regionalen psychosomatischen Versorgung
  48. Juan Valdés-Stauber
  49. 4.2.1 Kulturhistorische Einleitung
  50. 4.2.2 Standortbestimmung der Psychosomatischen Medizin in Deutschland
  51. 4.2.3 Beschreibung der psychosomatischen Versorgung in der Region Ravensburg-Bodensee
  52. 4.2.4 Diskussion und Ausblick
  53. 5 Teilhabe: Rehabilitation und Eingliederung in Wohnen und Arbeiten
  54. 5.1 Ein Fallbeispiel zur Einstimmung
  55. 5.2 Teilhabereform: Mit welchem Nutzen für wen?
  56. 5.3 Realität: Unzureichende Teilhabe, insbesondere durch Armut
  57. 5.4 Vom statischen zum dynamischen Konzept von Behinderung
  58. 5.5 Reformen – Wer treibt sie praktisch voran?
  59. 5.6 Arbeit und Beschäftigung als zentraler Bereich von Teilhabe
  60. 5.7 Sozialraum: Differenzierung nach Zielgruppen und Leistungsbereichen zusammenführen
  61. 5.8 Umsetzung der Teilhabereform
  62. 6 Pflege – für Menschen mit Demenz und schweren Depressionen
  63. 6.1 Angehörige organisieren Pflege: Acht separierte Dienste kooperieren nicht
  64. 6.2 Hilfen zum Erhalt der Würde bis zum Lebensende
  65. 6.3 Beispiele für Alternativen zur Heimversorgung
  66. 6.4 Systeminduzierter Kurzschluss Krankenhaus – Heim
  67. 6.5 Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff im SGB XI
  68. 6.6 Ambulante und stationäre Leistungen im SGB XI integrieren
  69. 6.7 Die Deutsche Bank steuert
  70. 6.8 Die Realität verkehrt »ambulant vor stationär« ins Gegenteil
  71. 6.9 Fazit
  72. 7 Aus der Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie: eine Reise durch die Sozialgesetzgebung
  73. Renate Schepker
  74. 7.1 Die Psychiatrie-Enquête zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen
  75. 7.2 Opferentschädigung
  76. 7.3 Berufliche Perspektiven
  77. 7.4 Wege in die Erwachsenenpsychiatrie
  78. 7.5 Krankenhausbehandlung für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen nach SGB V
  79. 7.6 Kinderrehabilitation
  80. 7.7 Das Verhältnis zur Jugendhilfe und den Beratungsstellen
  81. 7.8 Was hat das SGB IX gebracht?
  82. 7.9 Kommt endlich die »große Lösung«?
  83. 7.10 Fazit
  84. 8 Erfahrungen eines Psychiatrie-Nutzers: Eine persönliche Zusammenfassung
  85. Rainer Höflacher
  86. 8.1 Zuerst ein paar Worte zu mir
  87. 8.2 Der Horrortrip – damit fing alles an
  88. 8.3 Exklusives Erfahrungswissen
  89. 8.4 Meine Erfahrungen mit dem psychiatrischen Hilfesystem
  90. 8.5 Die späte Wende zu meinem Lebensglück
  91. 9 Gefahr des Niedergangs – von den USA lernen
  92. Autorinnen und Autoren
  93. Literatur
  94. Stichwortverzeichnis

Geleitwort

Peter Masuch (Präsident des Bundessozialgerichts)

 

 

 

Als mich Heinrich Kunze nach meiner Bereitschaft fragte, diesem aus dem Blickwinkel Psychiatrie-Erfahrener verfassten Buch meine Sicht mit wenigen Worten voranzustellen, konnte ich nicht Nein sagen: Als Richter höre ich immer zuerst auf das Vorbringen des in seinen Rechten betroffenen Bürgers, der meist existenzielle Anliegen auf dem Herzen hat, wenn er mit dem Sozialrecht konfrontiert wird. Dieses »rechtliche Gehör« gerade dem Schwächsten, dem »am Rande der Gesellschaft Stehenden«, dem »Exkludierten« gegenüber hat durch den frischen Wind der Inklusion, von der wir spätestens seit der UN Behindertenrechtskonvention als Menschenrecht sprechen, weiter an Bedeutung gewonnen. Ein Zweites kommt hinzu: Was meint denn das vielfach gegriffene Schlagwort von der »Personenzentrierung«, das nun auch die überfällige Fortentwicklung des Rechts der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen erfasst hat, wenn nicht die Achtung vor der Würde des Menschen mit Behinderung und die Ermöglichung seiner Selbstbestimmung? Wie sollte dies gelingen, wenn nicht bereits die Initiative dieser Menschen gut geheißen wird?

Also mein uneingeschränktes »Ja« zum Geleit des hier dokumentierten Plädoyers für eine bessere Versorgung für Menschen mit psychischen Erkrankungen! Ihm kann man nur Erfolg wünschen angesichts der Herkulesaufgabe. Das Versorgungssystem ist mannigfach negativ konnotiert: Fragmentierung in der Behandlung, zerstückelte Sozialsysteme, überbordende Bürokratie, Geflecht von Partikularinteressen etc. Was ist zu tun? Vielleicht genügt es schon, den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen, um sie zum Tanzen, mithin zum Erfolg für die betroffenen Leistungsberechtigten zu bringen: Das System unserer sozialen Sicherheit ist nicht (womöglich nur) zur Freude der Verwalter gegliedert, vielmehr bildet die »Fragmentierung« die gesetzlich gewollte Vielfalt der Versorgungslandschaft ab. Die Struktur des staatlich organisierten Justizgewährleistungsanspruchs mit seinem individuell gesicherten Recht auf Schutz und Teilhabe entspricht den gesellschaftlichen Verhältnissen, denen es ein geschmeidiger, stabiler Rahmen von hoher Hand sein will. Nutzen Sie also diesen schwingenden Boden für Ihre Ziele, verurteilen Sie nicht vorschnell (nur scheinbar) versteinerte Strukturen! Die seit Jahren erhobene, berechtigte politische Forderung nach einem Gesamtkonzept, das die in diesem Bereich gebündelten Reformthemen psychiatrische Versorgung, Pflege, Jugendhilfe (»Große Lösung«) und Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (»Bundesteilhabegesetz«) bedarfsgerecht ausrichtet, weist einen richtigen Weg. Dazu steuern Ihre Analysen und Forderungen Bedeutsames bei. In der Tat gibt es keine Patentlösung. Eine alles umfassende Zentralverwaltung für Rehabilitation und Teilhabe können wir uns ebenso wenig wünschen wie eine Überantwortung dieses sensiblen Versorgungsbereichs auf einen an Wettbewerb ausgerichteten Markt von privaten Leistungserbringern.

Danke

 

 

 

 

 

Der Dank für die Erarbeitung der Inhalte dieses Buches gilt in erster Linie der Aktion Psychisch Kranke (APK), den Politikerinnen und Politikern sowie den Fachleuten im Vorstand und der Geschäftsstelle, den Projektgruppen, den APK-Mitgliedern, den Sympathisanten. Ihnen danke ich für unsere besondere Arbeitskultur: Primär am Nutzen für Menschen mit psychischen Erkrankungen und ihren Angehörigen orientiert, formulieren wir kreativ und kritisch große Ziele, und richten unsere Handlungsempfehlungen auf das politisch und praktisch Machbare aus, für die Bundespolitik, andere politische Gremien und Verbände.

Besonders viel verdanken wir den Vorsitzenden der APK, den beiden Gründungsvätern, dem Vorsitzenden Walter Picard (MdB CDU) und dem Stellv. Vorsitzenden Prof. Kulenkampff, mit denen ich noch eine kurze Zeit zusammenarbeiten konnte, dann folgten als Vorsitzende Bernhard Jagoda (MdB CDU), Volker Kauder (MdB CDU), Regina Schmidt-Zadel (MdB SPD) und jetzt Peter Weiß (MdB CDU).

Die beiden »Gründungsväter« haben großen Wert darauf gelegt, dass alle Bundestagsfraktionen im Vorstand vertreten sind mit dem Ziel, die besonderen Anliegen psychisch kranker Menschen unabhängig von sonstigen politischen Kontroversen fraktionsübergreifend zu diskutieren und einmütig zu vertreten. Dies Prinzip bestimmt bis heute die Zusammenarbeit im Vorstand der APK und der APK mit den Fraktionen. So wurden fraktionsübergreifende Initiativen möglich, sogar eine fraktionsübergreifende Entschließung im Bundestagswahlkampf (Antrag der Abgeordneten Regina Schmidt-Zadel u. a. »25 Jahre Psychiatrie-Reform – Verstetigung und Fortentwicklung«, Drucksache 14/9555, Zustimmung im Bundestag bei Enthaltung der FDP am 04.07.2002).

Danken möchte ich auch den Kooperationspartnern in zahlreichen Organisationen und Verbänden, mit denen uns gemeinsame Ziele verbinden. In den Dank schließe ich besonders das Bundesgesundheitsministerium ein als wichtigsten Förderer unserer Arbeit und als wichtigsten Adressaten unserer Arbeitsergebnisse.

In der APK – Vorstand, Arbeitsgruppen, Projekte, Stellungnahmen, informeller Austausch … – schärfen wir uns gegenseitig den Blick dafür, wie die bisher geltenden Regelungen umgestaltet werden müssten, damit sie die für psychisch erkrankte Bürgerinnen und Bürger und ihre Angehörigen wirksame Behandlung und Unterstützung fördern und die Fehlsteuerungen des Versorgungssystems reduzieren.

Die Inhalte dieses Buches sind also geistiges Eigentum auch all derer, die zur »Schwarmintelligenz« der APK beigetragen haben, siehe http://www.apk-ev.de.

Für die Arbeitsform in den Projekten finden Sie zwei Beispiele: Im APK-Tagungsband 29 »Teilhabe am Arbeitsleben« (APK et al. 2002b, S. 357, Fußnote 2); im APK-Projektbericht »Weiterentwicklung der psychiatrischen Krankenhausbehandlung« (2013, S. 40f.)

Die Inhalte des Buches sind geistiges Gemeinschaftseigentum, in Jahrzehnten akkumuliert. Für die Fehler im Buch bin ich allein zuständig.

Für die fruchtbare Zusammenarbeit über Jahrzehnte bis zu den vielen guten Vorschläge zur Verbesserung der Textentwürfe zu diesem Buch danke ich, stellvertretend auch für viele hier nicht genannte Personen:

Peter Auerbach, Richard Auernheimer, Dieter Banaski, Anja Esther Baumann, Thomas Becker, Karl Beine, Helmut Beutler, Raoul Borbé, Ralf Bremauer, Karl-Ernst Brill, Thomas Burmann, Andreas Crome, Arno Deister, Peter Denk, Roman Ernst, Jörg Fegert, Jürgen Fritze, Ralf Gebhardt, Petra Gromann, Dieter Grupp, Iris Hauth, Andreas Heinz, Holger Hoffmann, Jörg Holke, Rainer Hölzke, Joachim Hübner, Ludwig Kaltenbach, Heinz Katschnig, Peter Kern, Reinhold Kilbinger, Norbert Konrad, Gerd Kronenberger, Peter Kruckenberg, Ulrich Krüger, Rainer Kukla, Thomas Kunczik, Klaus Kupfer, Goeran Lehmann, Knut Lehmann, Michael Löhr, Erwin Lotter, Eberhard Luithlen, Hermann Mühlendyck, Winnie Öhrlich, Thomas Pollmächer, Niels Pörksen, Stefan Priebe, Matthias Rosemann, Wilhelm Rotthaus, Thomas Schillen, Paul-Otto Schmidt-Michel, Dieter Stahlkopf, Barbara Weibold, Sabine Wendt, Stefan Wöhrmann.

Walter Kistner (zu früh gestorben) und Julia Pohl, beide als Dipl.-Psychologen im Psychiatrischen Krankenhaus Merxhausen (heute Vitos-Kurhessen), verdankt der Autor den Hinweis auf den Zweizeiler von Watzlawick und die fruchtbare Zusammenarbeit entsprechend dem Prinzip »das Bekannte bezweifeln« seit 1984. Die Beiden haben die APK-Projekte BMG 1996 und Aktion Psychisch Kranke et al. 1998 maßgeblich gestaltet. Sie werden hier mit einigen weiteren Kolleginnen und Kollegen aus »Merxhausen« genannt, stellvertretend für andere mit ähnlicher Grundeinstellung: Helmut Frömmel, Birgit v. Hecker, Sabine Kress, Georg Oppermann, Ditmar Schott, Dieter Sommer, Burkhard Struwe.

Für die angenehme und sehr konstruktive Zusammenarbeit mit dem Lektorat des Kohlhammer Verlags danke ich Ruprecht Poensgen, Dominik Rose und Daniela Bach.

Meiner Frau Marianne Kunze-Turmann bin ich für ihre Geduld und Unterstützung besonders dankbar.

Heinrich Kunze

Einführung – Wozu dieses Buch?

 

»Kühner, als das Unbekannte zu erforschen,

kann es sein, das Bekannte zu bezweifeln«

(Watzlawick et al. 2001, S. 9).

 

 

Dieser Zweizeiler wirbt bei den Leserinnen und Lesern um eine Grundeinstellung, die Lösungen fördert. In der zweiten Zeile kann »das Bekannte« ersetzt werden durch das, was in diesem Buch »bezweifelt« wird: heute »die Fragmentierung der Finanzierung« und damals, als die Enquête erarbeitet wurde, »die Anstaltsversorgung«.

Warum ein kritisches Buch? Historisch gesehen geht es den Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland heute besser als je zuvor. Aber wenn wir die Zukunft der Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen für unser Land anhand der jetzigen Realität der USA vorhersehen könnten, dann wäre das sehr Besorgnis erregend. Die USA sind ja in Bezug auf manche gesellschaftlichen Entwicklungen die Vorreiter. Sie waren eines der Länder, das schon eine Generation früher als Deutschland eine ambitionierte Psychiatriereform auf den Weg brachte, von der es heute nur noch Ruinen gibt.

Die Psychiatriereform in Deutschland (West) seit Anfang der 1970er Jahre ist eine humanitäre Wende von historischer Bedeutung, die man gar nicht hoch genug bewerten kann angesichts der schlimmen Vergangenheit. Seit Generationen wurden die Menschen mit schwereren psychischen Erkrankungen und mit Behinderungen in entfernte, riesige Anstalten gebracht, weil sie vor Ort keine ausreichende Hilfe fanden. Während der Nazi-Herrschaft wurde ein großer Teil der Anstaltsinsassen als »lebensunwert« ermordet mit einem staatlichen Programm, das die Vorübung zum Genozid an der jüdischen Bevölkerung in Europa während des Zweiten Weltkrieges war.

Mit dem Zwischenbericht zur Psychiatrie-Enquête an den Deutschen Bundestag wurde 1973 erstmals das Tabu gebrochen: Die menschenverachtenden Missstände in der psychiatrischen Versorgung erreichten den Deutschen Bundestag. Dieser erhielt den umfangreichen Expertenbericht mit Bestandsaufnahme und Empfehlungen 1975. Damit begann eine grundlegend neue Ausrichtung der psychiatrischen Versorgung. Die Psychiatrie kommt zu den Menschen da, wo sie leben. Der lange Weg von der Anstalts- zur Gemeindepsychiatrie begann. Was seitdem erreicht wurde im Vergleich zur schlimmen Vergangenheit kommt im Ergebnis einer Revolution gleich, nur war es kein gewaltsamer Umsturz, sondern ein mühsamer Weg mit Umwegen über Jahrzehnte – bis heute.

Vieles ist aber nicht in Ordnung, weil die Umsetzung der Reformziele der Enquête unter den Rahmenbedingungen eines in hundert Jahren gewachsenen – oder gewucherten – Systems der sozialen Sicherung erfolgte, das auf allen Ebenen fragmentiert ist: Die Fragmentierungen führen zu Unterbrechungen in der Behandlung, der Rehabilitation und Eingliederung sowie der Pflege, auch bei der Behandlung und Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche, was die Ergebnisse der Versorgung erheblich beeinträchtigt. Die zerstückelten Sozialsysteme führen zu überbordender Bürokratie, die Ressourcen frisst, die dann für Patienten nicht zur Verfügung stehen. Manche Regionen und Gruppen von psychisch erkrankten Menschen sind unterversorgt, andere überversorgt. Oft ist der Mitteleinsatz umgekehrt proportional zum Bedarf: »Inverse Care Law«.

Einerseits werden in diesem Buch die Friktionen im Versorgungssystem und das Geflecht von Partikularinteressen im Konflikt mit ethischen und fachlichen Handlungsorientierungen analysiert, denen die in diesem Bereich Tätigen ausgesetzt sind. Andererseits werden die vielfältigen Anstrengungen beschrieben, die Probleme einer Lösung näherzubringen. Das ist bewusst vorsichtig formuliert, denn vor einfachen Patentlösungen muss gewarnt werden.

Der Deutsche Bundestag will sich in der 2013 begonnenen Legislaturperiode mit Reformen befassen, die (auch) für die Fortsetzung der Psychiatriereform von grundlegender Bedeutung sind. Es geht um ein neues Finanzierungssystem für Krankenhausbehandlung bei psychischen Erkrankungen, um Rehabilitation und Eingliederungshilfe für Menschen, auch mit psychischen und geistigen Behinderungen, sowie um einen neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit im SGB XI, der insbesondere die Benachteiligung von Menschen mit Pflegebedarf infolge von Demenz oder schweren Depressionen ausgleichen soll. Außerdem steht schon lange die »große Lösung« zur Verbesserung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen an.

In all diesen Bereichen spielen nicht nur das Geld und die Partikularinteressen von Kostenträgern, Einrichtungen und Berufsgruppen eine große Rolle, sondern auch der »personenzentrierte Ansatz«, den die Aktion Psychisch Kranke (APK) seit 1992 in verschiedenen Projekten im Auftrag des Gesundheitsministeriums entwickelt und in Folgeprojekten implementiert hat. Der Grundgedanke ist: Die Finanzierung und die Organisation von Versorgung richtet sich nach dem Bedarf der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen, statt den Bedarf der Menschen und ihre Versorgung den historisch gewachsenen Strukturen und Besitzständen von Leistungsträgern und Leistungserbringern anzupassen. Die Enquête hat vor über 40 Jahren diesen Perspektivwechsel eingeleitet: Die Psychiatrie kommt zu den Menschen, statt die Menschen in die ferne Anstalt. 1971 war die Aktion Psychisch Kranke e. V. von einer parteiübergreifenden Gruppe von Abgeordneten des Bundestages und Fachleuten aus der Psychiatrie gegründet worden mit dem Auftrag des Bundestags, die Sachverständigenkommission zur Erarbeitung der »Psychiatrie-Enquête« zu organisieren.

Mit Gesetzen in guter Absicht ist es nicht getan. Die Organisation von Verantwortung und die Konzepte in den Köpfen von Leitungen der versorgenden (»Leistungserbringer«) und der finanzierenden Institutionen (»Leistungsträger«) sowie die finanziellen Anreize für beide Seiten müssen entsprechend verändert werden. Wenn die Ziele und die Wege zu den Zielen zwischen den verschiedenen Beteiligten nicht zueinander passen, dann ist das Ergebnis Chaossteuerung, bei der die aufwändigsten Maßnahmen nach den Regeln der neuen Gesundheitswirtschaft sich durchsetzen. Aber gerade Menschen mit besonders komplexem Hilfebedarf werden dabei marginalisiert.

Wer psychisch erkrankt, wird zum Treibgut im Mainstream der Gesundheitswirtschaft?

Je schwerer Menschen psychisch krank sind, mit Beeinträchtigungen im privaten und beruflichen Umfeld, umso mehr sind sie vulnerabel für Vernachlässigung,

•  weil sie umso weniger ihre Behandlung selber einleiten und ggf. einfordern,

•  weil sie umso stärker von Stigmata betroffen werden, ihr »2. Leiden«,

•  und weil sie für die vielen Krankenkassen und Kliniken im Wettbewerb und für die Politik als Wähler nicht interessant sind.

Ein wesentliches Ergebnis der Psychiatriereform seit der Enquête war die Tendenz, diese Menschen als Bürgerinnen und Bürger in die kommunale Verantwortung zur Daseinsvorsorge einzubeziehen. Deren klassische Bereiche sind z. B. die Versorgung mit Wasser und Strom, Straßen und Schulen, Aufsicht über die Gesundheitsdienste. Aber dann begannen viele Kommunen, sich von diesen finanziellen Lasten zu befreien und argumentierten: Mit der Privatisierung solcher Bereiche würden die Leistungen besser und preiswerter für die Bürger. Das betrifft inzwischen auch Krankenhäuser, auch die für Psychiatrie und Psychosomatik. Aber die Zahl der Bürger nimmt zu, die den Ausverkauf der Daseinsvorsorge kritisch sehen und mancherorts als Wähler und mit Bürgerbegehren dagegen vorgehen.

Einerseits haben immer mehr gemeinwohlorientierte Leistungserbringer genauso kompetente Geschäftsführer wie die privaten Unternehmer. Andererseits wird bei vielen privatisierten Betrieben die Gewinnorientierung auf Kosten des Personals sowie des Patienten- und Gemeinwohls deutlich. Was wird in diesem Zielkonflikt aus der Versorgung von Bürgerinnen und Bürgern mit psychischen Erkrankungen?1

Dies Buch zur psychiatrischen Versorgung möchte neugierige Leser ansprechen, die manche Zusammenhänge besser verstehen wollen, als es ihnen ihre persönliche Erfahrung in diesem Bereich bisher ermöglicht hat. Darauf verweist der diesem Kapitel vorangestellte Zweizeiler von Watzlawick zur Kühnheit, das Bekannte zu bezweifeln. Zum Beispiel die Frage: Warum ist es in Deutschland so frustrierend mühsam, Versorgungsmodelle in die Regelversorgung einzuführen, die sich praktisch bewährt und international wissenschaftlich als wirksam erwiesen haben (Becker et al. 2008; DGPPN 2013; Heinz et al. 2015)?

Angesprochen sind also Leser, die in Diensten und Einrichtungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen ihrer Arbeit nachgehen oder die in Diensten und Einrichtungen tätig sind, die sich mit anderen Problemen befassen, die im Zusammenhang auch mit psychischen Erkrankungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auftreten wie: somatische Medizin, Familie, Schule und Berufsqualifikation, Wohnen und Versorgung im Alltag, Arbeit, Beschäftigung und Freizeit, Umgang mit Geld, öffentliche Sicherheit und Ordnung, Polizei, Gerichte und Justizvollzugsanstalt.

Das vorliegende Plädoyer wendet sich nicht nur an Therapeutinnen und Therapeuten2, sondern auch an traditionell separierte, ja konkurrierende Zielgruppen. Es möchte das Interesse verstärken, mit ähnlich Interessierten anderer Lager, über Gräben zwischen Interessengruppen, über Sektorengrenzen hinweg sich zu verständigen und gemeinsame Ziele und Wege zur Verbesserung der Versorgungsqualität für Patienten und ihre Angehörigen zu vereinbaren: Therapeuten, Selbsthilfe der Angehörigen und der Psychiatrie-Erfahrenen, Geschäftsführer und Verwaltungskräfte des Gesundheits- und Sozialsystems, insbesondere der »Leistungsträger«, Politiker und Fachleute der Kommunen, der Länder und des Bundes. Das Lagerdenken ist sehr verbreitet und erzeugt wechselseitige Vorurteile über »die Therapeuten«, »die Verwaltung«, »die Krankenkassen«, »die Politiker« usw. Aber in den Lagern der jeweils anderen kann man auch eigenständige Persönlichkeiten finden, die patientenorientiert über ihr Lager hinaus denken und Kontakte suchen. Wenn diese Schlüsselpersonen sich vernetzen, dann werden konstruktive Lösungen möglich. Das ist die Linie der Aktion Psychisch Kranke e. V. in Kooperation mit anderen Verbänden (zur APK Images Danke sowie Kap. 1.2)

Das in Deutschland erreichte Niveau der Versorgung darf nicht als gesichert und selbstverständlich angesehen werden. Im internationalen Vergleich gehören wir zur Spitzengruppe nach der Höhe der Ausgaben, aber weniger zu den führenden Ländern mit modernen, empirisch bewährten Formen der Behandlung und Versorgung von Personen mit psychischen Erkrankungen. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurde vom Deutschen Bundestag ratifiziert und ist so als normative Vorgabe für unser Sozialrecht zum individuellen Rechtsanspruch auf Teilhabe geworden (Schütte 2011). Sie hat das Ziel der Enquête bestätigt: Befähigung und Unterstützung zu einem möglichst selbstbestimmten Leben in einem selbst gewählten Sozialraum. Doch die Versorgungsrealität bleibt zum Teil noch erheblich dahinter zurück.

Es besteht die Gefahr, dass die Labilität des erreichten Niveaus unterschätzt wird. Ein besonders warnendes Beispiel ist in den USA der Zyklus von Aufbruch und Reform seit den 1950er Jahren sowie die dann folgenden Abwärtsspiralen seit den 1980er Jahren. Heute befinden sich in den USA viel mehr Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in Gefängnissen als in stationärer Behandlung von psychiatrischen Kliniken (Images Kap. 9). Sind historische Zyklen unvermeidlich (Allderidge 1979)?

1     Eine Leseempfehlung zum Thema Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge ist der Kriminalroman »Fremde Wasser. Denglers dritter Fall« von Wolfgang Schorlau. Politischer Hintergrund ist die Privatisierung der Wasserversorgung von Metropolen wie Berlin, Hamburg und London durch ein international agierendes Unternehmen und die beginnenden Gegenbewegungen von betroffenen Bürgerschaften sowie das Umdenken der Kommunalpolitik.

2     Wenn nur die männliche oder nur die weibliche Sprachform verwendet wird, ist immer die andere Seite mit gemeint. »Therapeutinnen und Therapeuten« wird hier für die verschiedenen Berufsgruppen inkl. Pflege und Ärzte verwendet, die in einem multiprofessionellen Team mit Patientinnen und Patienten arbeiten.

1         Psychiatrie-Enquête 1975 – Von der Anstalts- zur Gemeindepsychiatrie

 

 

 

 

 

Wer heute die Modernisierung der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen betreibt, tut gut daran zu verstehen, wie die Vergangenheit zur Gegenwart wurde. Es geht darum, einerseits die humanitären Errungenschaften zu erhalten und andererseits mit dem Nachdruck durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die Qualität der Versorgung weiter zu entwickeln und alte Fehler nicht zu wiederholen.

Für die Anstaltsversorgung im 19. Jahrhundert bis zur Psychiatrie-Enquête (1975) war konzeptionell von zentraler Bedeutung die Unterscheidung zwischen »heilbaren« und »unheilbaren« Patienten. Weil die »Unheilbaren« Jahrzehnte blieben, viele bis zum Lebensende und ihrem Begräbnis auf dem Anstaltsfriedhof, wurden die Anstalten immer größer.

Die Psychiatrie-Enquête leitete den Perspektivwechsel ein. Die schwer psychisch Kranken werden nicht mehr in die wohnortferne Anstalt ausgegliedert, sondern die Psychiatrie kommt zu den Menschen da, wo sie leben. Für ein überschaubares »Standardversorgungsgebiet« wurden all die Dienste und Einrichtungen konzipiert, die für die Menschen notwendig sind, um ohne ferne Anstalt in ihrem Standardversorgungsgebiet ausreichend versorgt zu werden und dort weiter leben zu können. Das bedeutete eine humanitäre Wende der Gesellschaft gegenüber ihren psychisch kranken Bürgerinnen und Bürgern. Aber die Konzepte gerieten unter die Finanzierung des seit 100 Jahren entwickelten Systems der sozialen Sicherung. Dieses stellt einerseits einen großen Fortschritt dar, aber die Fragmentierung des Systems auf vielen Ebenen erzeugt Fehlanreize, die den Absichten der Psychiatriereform entgegenwirken. Dieser strukturelle Konflikt beschäftigt uns seit der Enquête und besonders wieder in der Legislaturperiode des Bundestages seit der Wahl im Herbst 2013.

1.1        Die historische Bedeutung

Die Psychiatrie-Enquête war ein Jahrhundertwerk, das die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in Deutschland grundlegend neu ausrichtete und vier Grundprinzipien der Reform formulierte, die auch nach über 30 Jahren weiter Gültigkeit haben (Enquête 1975a, S. 203f., S. 408):

•  Gemeindenahe Versorgung

•  Bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten

•  Bedarfsgerechte Koordination aller Versorgungsdienste

•  Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken

Die Psychiatriereform war mehr als eine Umgestaltung des Versorgungssystems, sie bedeutete eine »tief greifende Wende zur Humanität gegenüber psychisch Kranken« (Häfner 2001, S. 72).

Denn die Enquête-Kommission und die Bundespolitik brachen mit einem Tabu, indem sie erstmals die Inhumanität der Anstaltspsychiatrie, die »elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umstände« und den Mangel an wohnortnahen therapeutischen Alternativen in der politischen Öffentlichkeit anklagten: Jahre-/Lebenslanger Anstaltsaufenthalt ohne Perspektive für viele Patienten, Überalterung der Bausubstanz der Anstalten, katastrophale Überfüllung, Unterbringung in Schlafsälen, unzumutbare sanitäre Verhältnisse, erniedrigende Prozeduren, keine Privatsphäre und persönlichen Rechte, schlechte medizinisch-psychiatrische Behandlung.

Das stand ausführlich auch schon im Enquête-Zwischenbericht (1973), den die Bundesregierung dem Bundestag zuleitete.

Mit den Massenmorden an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die im Nationalsozialismus staatlich legitimiert wurden als »Euthanasie«, hatte der Wert von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen den absoluten Tiefpunkt erreicht (Dörner et al. 1980; George et al. 2006; Schmauder et al. 2007; v. Cranach und Schneider 2010). Armbruster und Freyberger (2014) beschreiben am Beispiel der Region Strahlsund und Pommern – benachbart zu Danzig und Polen, wo der Zweite Weltkrieg begann – den Krieg nach innen gegen die psychisch Kranken als Vorbereitung für den Genozid an den europäischen Juden im Krieg nach außen. Nach der Beendigung des Mordens wurden ansonsten die Verhältnisse kaum besser. Das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland ging an den Insassen der Anstalten vorbei.

Die Inhumanität war nicht auf die Anstaltspsychiatrie begrenzt, wie der Bericht des Mannheimer Psychiatrieprofessors Heinz Häfner zeigt. Der Zeitzeuge blickte im Jahr 2000 beim Kongress der Aktion Psychisch Kranke zum 25-jährigen Jubiläum der Psychiatrie-Enquête als einer ihrer maßgeblichen Gestalter zurück:

»1949 war ich als Doktorand in die Psychiatrische Klinik der Universität München eingetreten. Als ich zum ersten Mal die unruhige Männerstation betrat, der ich zugeteilt war, konnte ich meine Erschütterung kaum verbergen. Männer jeglichen Alters lagen oder saßen mangels ausreichender Sitzgelegenheiten auf ihren Betten. Einige schrien laut, rüttelten an der Tür oder bedrängten den mich begleitenden Stationsarzt mit Entlassungswünschen. Schon die Aufnahmeprozedur war erniedrigend: Nach Abnahme von Kleidern, Geldbörse und Brille wurden die Kranken ins Bad gesteckt, von Pflegern gewaschen und danach in blau gestreifter Anstaltskleidung in den Bettensaal gebracht. Die Stimmung auf der Station schwankte zwischen Resignation und Aggression. Zeitweilig konnten die Pfleger den Saal nur mit vorgehaltener Matratze betreten. […]

Wer aus der Generation unserer Tage die freie Atmosphäre einer Tagesklinik, den offenen, mitunter persönlich engagierten Behandlungsstil eines Psychiatrischen Krankenhauses erlebt oder gar an der ungeschminkten Diskussion mit selbstsicheren Angehörigen oder Psychiatrieerfahrenen teilgenommen hat, wird kaum verstehen, wie es zu dem ganzen Ausmaß der Vernachlässigung von Bürgerinnen und Bürgern einer Kulturnation kommen konnte, nur weil diese Menschen psychisch erkrankt waren« (Häfner 2001, S. 72f.).

1.2        Das Bündnis zwischen Fachwelt und Politik

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hatte 1959 den »Aktionsausschuss zur Verbesserung der Hilfen für psychisch Kranke« gebildet, mit Prof. Walter Ritter von Baeyer, Heidelberg, als Vertreter der Psychiatrie. Von Baeyer bildete einen Arbeitskreis jüngerer Psychiater, die schon in den frühen 1960er Jahren Vorstellungen zur Psychiatriereform entwickelten, angeregt durch die Vorbilder im Ausland. Zu den Namen dieses Kreises gehörten C. Kulenkampff, H. Häfner und K.-P. Kisker (Häfner 2001). Die entscheidende Prämisse dieses Aktionskreises war die Distanzierung von der Therapiestrategie der Isolierung:

»Die Empfehlung, Satellitenkrankenhäuser bzw. entsprechende Abteilungen einzurichten, entspricht dem international anerkannten Bemühen, große Teile der klinischen Psychiatrie aus Gründen ungleich besserer Rehabilitationschancen in die Bevölkerungszentren selbst zu platzieren […] im Idealfalle sollte der Satellit auf dem Gelände des Städtischen Allgemeinen Krankenhauses stehen« (Kunze 2007b, S. 124; Images Kap. 1.5 Griesinger: »Stadtasyl«).

Unterstützt durch Medienberichte über skandalöse Verhältnisse und den Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit der Vergangenheit durch den »68er Zeitgeist« (Kersting 2001) erreichten eine kleine Gruppe von Psychiatern und Politikern gemeinsam das Bündnis zwischen Fachwelt und Politik: Prof. Caspar Kulenkampff (Universität Frankfurt) mit einigen gleich gesinnten Psychiatern (zu denen auch Heinz Häfner und Karl-Peter Kisker gehörten) und der CDU-Bundestagsabgeordnete Walter Picard (Offenbach, informiert und beraten durch seinen Neffen Manfred Bauer, Assistenzarzt in der Anstaltspsychiatrie) mit einigen gleich gesinnten MdBs anderer Fraktionen. Nach Sachverständigen-Anhörungen beschloss der Bundestag am 23. Juni 1971 den Auftrag, »eine Enquête3 über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland erstellen zu lassen« (Enquête-Zwischenbericht 1973, S. 2). Eine Sachverständigenkommission unter der Leitung von Kulenkampff wurde berufen und die Aktion Psychisch Kranke e. V. wurde gegründet mit Picard als Vorsitzendem und Kulenkampff als Stellvertretendem Vorsitzenden, »um mit politischen Mitteln auf eine grundlegende Reform der Versorgung psychisch Kranker in der Bundesrepublik hinzuwirken« (http://www.apk-ev.de, Zugriff am 21.04.2015). Das von Kulenkampff und Picard erreichte Bündnis von Fachwelt und Politik wurde damit institutionalisiert, finanziell gefördert durch das Bundesgesundheitsministerium. Seit damals bis heute arbeiten im Vorstand der APK die von den Bundestagsfraktionen benannten MdBs und die von den APK-Mitgliedern gewählten Fachleute vertrauensvoll zusammen – im Sinne des Gründungszwecks (Kulenkampff 2001; APK und Weiß 2012). Die Idee zur Aktion Psychisch Kranke hatte Wurzeln im Aktionsausschuss des Deutschen Vereins und weiter zurück in der »Action for Mental Health« in den USA.

1.3        Die Verspätung der Psychiatriereform in Deutschland

In anderen Ländern begann die Psychiatriereform schon um 1960. Die Psychiatrie in Deutschland hatte durch Emigration, Vertreibung und Ermordung eine ganze Generation der besten Köpfe verloren. Sie hatte sich von der internationalen »scientific community« isoliert, und diese Isolierung sowie der »brain drain« wurden erst im Lauf von Jahrzehnten allmählich überwunden. Die im Gewand der Wissenschaft verkleidete Ideologie der Nazi-Zeit, dass psychische Erkrankungen überwiegend genetisch determiniert seien, und die damit verbundene therapeutische Hoffnungslosigkeit und Entwertung von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen in einem kriegsbereiten Staat prägten noch Jahrzehnte die Vorstellungen von Psychiatern, Verwaltungen und der Bevölkerung in Deutschland (Kunze 2013).

Deshalb fehlten auch die Kenntnisse und persönlichen Erfahrungen mit besseren Versorgungsformen aus Ländern, die mit der Psychiatriereform früher begonnen hatten: England, die USA, die Niederlande und Skandinavien. In den USA zum Beispiel hieß die Grundlage für die Psychiatriereform »Action for Mental Health« (1961), erarbeitet von der »Joint Commission on Mental Illness and Health«, die 1961 ihren Abschlussbericht vorlegte. (Zu den Unterschieden in der etwa gleichzeitig begonnenen Psychiatriereform in England und den USA siehe K. Jones 1993; Pörksen 1974; Kunze 1977a; Kunze 1981a.)

Insbesondere fehlte die Erkenntnis, dass wesentliche Anteile der Beeinträchtigungen bei chronisch psychisch kranken Menschen nicht durch die Krankheit, sondern durch den jahrelangen Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt unter den früheren armseligen Bedingungen verursacht waren. Der Beitrag von Freudenberg (1962), einem in den 1930er Jahren nach England emigrierten deutschen Psychiater, zur Überwindung des »Anstaltssyndroms« blieb in Deutschland ohne Resonanz, mit Ausnahme des »Aktionsausschusses«.

Die Lehrbücher der Psychiatrie in Deutschland sahen die Ursachen für chronische Verläufe in der Krankheit, sprachen z. B. vom »endogenen Prozess«. Im Unterschied dazu thematisierte die psychiatrische Forschung in den angelsächsischen Ländern die Interaktion zwischen der erkrankten Person und ihrem Kontext schon Jahrzehnte früher. Inspirierend waren die soziologischen Untersuchungen des Lebens von Anstaltsinsassen unter dem Regime einer »totalen Institution« (Goffman 1961, deutsch 1973). Wing und Brown (1970) untersuchten in ihrer Drei-Krankenhaus-Studie den Zusammenhang zwischen Unterschieden der Beeinträchtigungen der Patienten und Unterschieden der therapeutischen Milieus in den psychiatrischen Anstalten, in denen sie Jahre und Jahrzehnte lebten. Die Beobachtungen erstreckten sich über acht Jahre. Sie prägten den Begriff Institutionalismus: Damit bezeichneten sie die Beeinträchtigungen der Patienten durch das jahrelange Alltagsleben unter den Anstaltsbedingungen: Keine Alltagskompetenz, keine Perspektiven, keine Klagen und keine Wünsche nach Veränderung, bei einem total fremdbestimmten Leben unter armseligen Verhältnissen. Der wichtigste Einzelfaktor, der schon einen Unterschied machte, war die Reduktion der untätig verbrachten Zeit (s. a. M. Jones 1952; Barton 1959; Cumming und Cumming 1979). Von Cranach und Finzen (1972) gaben eine Auswahl von Basistexten (übersetzt) heraus. Wing (1975) trug die angelsächsischen Erkenntnisse über institutionelle Einflüsse auf den Verlauf psychischer Erkrankungen in einem Beitrag im »Handbuch der Psychiatrie« zusammen. Er warnte vor der Illusion, dass mit der Abschaffung der alten Anstalten auch das Hospitalismus-Syndrom verschwinden würde, dieses könnten auch die Institutionen hervorrufen, die die Aufgaben der alten Anstalt übernommen haben. Die Rezeption der angelsächsischen Erfahrungen und Forschungsergebnisse in Deutschland (Häfner und Wing 1973) nahm erst nach der Psychiatrie-Enquête zunehmend Fahrt auf.

Für den deutschsprachigen Raum beschrieb Strotzka 1965 »Institutionalisierungskrankheiten« und prägte den erschreckenden Satz, »dass viele dieser Institutionen die Leiden erst schaffen, die sie heilen sollen« (S. 38). Eindrücklich beschrieb und analysierte Frank Fischer (1969) den Anstaltsalltag aus seiner fast einjährigen Tätigkeit als Hilfspfleger in Anstalten in Deutschland, England und Österreich. Er wollte sich mit den Verhältnissen in »Irrenhäusern« nicht abfinden, die er bei Besuchen eines Patienten aus seiner Familie erlebte. Sein Vorgehen ähnelt dem von Wallraff und Goffman. Kulenkampff (1970) würdigte das Buch differenziert mit Bezug auf den Reformbedarf in Deutschland. Kunze und Kunze-Turmann (1975) berichteten über eine Evaluation von zwölf »Nervenkrankenhäusern« im Auftrag der Klinik des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München im Herbst 1971. Die armseligen räumlichen Verhältnisse und besonders die Restriktivität des Alltags auf Station machten unsere Besuche in den Nervenkrankenhäusern zu einem prägenden Teil unserer psychiatrischen Weiterbildung. Wir verwendeten eine Checkliste, die wir aus der angelsächsischen Literatur und dem Buch von Frank Fischer extrahiert hatten.

Psychiatriereform in der DDR

Auch in der DDR gab es schon Anfang der 1960er Jahre einen Kreis von reformorientierten Psychiatern. Das bekannteste Ergebnis ihrer Beratungen waren die Rodewischer Thesen von 1963. Rege Kontakte wurden gepflegt, trotz »Eisernem Vorhang« zur Zeit des Kalten Krieges, insbesondere zwischen den Psychiatrie-Lehrstühlen in Leipzig und Hannover (Thom und Wulff 1990; Späte und Otto 2013; Weise 2014). Die Bemühungen, psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung zu verbessern, hatten es schwer, unter den politischen und materiellen Bedingungen in der DDR voranzukommen (APK 1991; Rieke et al. 2001; Waldmann 2001; Dörner 2014).

In der Schweiz gab es schon in der 1930er Jahren auch heute noch bemerkenswerte Literatur zur psychiatrischen Anstalt. Als Beispiel sei auf den 1936 erschienenen (1947 und 1980 verfilmten) Kriminalroman »Matto regiert« hingewiesen. In diesem wird der ärztliche Direktor im Keller eines Gebäudes seiner Anstalt ermordet aufgefunden. Der Autor, der durch eine Serie von Kriminalromanen um den Wachtmeister Studer bekannte Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser, war ein Psychiatrie-Erfahrener und Privatpatient von Prof. Max Müller, Direktor der Anstalt Münsingen. Müller hat in seinen Lebenserinnerungen (1982) Friedrich Glauser ein Kapitel gewidmet.

1.4        Wirkungen der Enquête

Die große Wirkung der Psychiatrie-Enquête war erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Bund eigentlich nur wenige für die Psychiatriereform relevante Zuständigkeiten hatte. Erst 1980 startete das fünfjährige Modellprogramm zur Umsetzung der Empfehlungen der Enquête. Aber schon der Beginn der Arbeit der Enquête-Kommission (z. B. der Zwischenbericht 1973) und dann die Enquête 1975 haben entscheidend zum breiten Bewusstseinswandel in der Öffentlichkeit beigetragen.

EbeneKritik am Ist-ZustandZiele

Tab. 1.1: Psychiatriereform: Ebenen der Veränderung und Ziele (nach Kunze 2001b, S. 104)

Images

Die Kommission mit weiteren Untergruppen war auch ein wirksames Programm zur Erweiterung des Horizontes von ca. 200 Führungskräften, von denen die meisten nur unzureichende Kenntnisse oder gar praktische Erfahrungen hatten, was damals schon vorbildlicher Stand der psychiatrischen Versorgung in einigen anderen Ländern war. Wer keine andere Realität kannte, stand in der Gefahr, diese für die einzig mögliche zu halten. Der Blick über die Grenzen nahm in der Enquête-Kommission breiten Raum ein (Kulenkampff 2001, siehe Enquête 1975b).

Die Führungskräfte aus der NS-Zeit schieden im Nachkriegsdeutschland erst nach und nach aus, jüngere auch sozialpsychiatrisch orientierte Psychiater und Psychiaterinnen übernahmen Direktorenstellen, z. B. Asmus Finzen in Wunstorf bei Hannover, Maria Rave-Schwank in Riedstadt bei Darmstadt, Klaus Dörner in Gütersloh, Niels Pörksen in Häcklingen bei Lüneburg, dann in Bethel/Bielefeld. Zu diesem Kreis gehörte auch Matthias Leipert (Langenfeld im Rheinland). Er bezeichnete die Psychiatrischen Krankenhäuser jener Zeit als »medizinische Armenhäuser«, deren »Psychiater [sich] hinter ihren Mauern zurückzogen und klaglos den Mangel und das Elend des therapeutischen Alltags verwalteten« (Leipert 1987, zit. n. Häfner 2001, S. 83f.).

Viele Länder, Städte und Kreise sowie die höheren Kommunalverbände erarbeiteten Psychiatriepläne und begannen, die Prinzipien und Empfehlungen in eigener Zuständigkeit umzusetzen. Die psychiatrische Versorgung wurde immer weniger eine Aufgabe nur der öffentlichen Hand. Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege und andere nicht staatliche Organisationen übernahmen Trägeraufgaben. Die Angehörigen von Menschen mit geistiger Behinderung waren die ersten, die als »Lebenshilfe« (regional sowie auf Landes- und Bundesebene) eine wirksame Lobby sowie eigene Trägervereine organisierten, von denen dann andere Selbsthilfeorganisationen viel lernten. Es entstanden (wieder) Hilfsvereine, die auch Träger gemeindepsychiatrischer Einrichtungen wurden, Selbsthilfegruppen fanden sich zusammen. Die Angehörigen (Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker [BApK], Alzheimergesellschaft) und dann auch die Psychiatrie-Erfahrenen organisierten sich und mischten sich ein (z. B.: http://www.lebenshilfe.de; www.psychiatrie.de/familienselbsthilfe; http://www.bpe-online.de; www.deutsche-alzheimer.de). Selbsthilfe von Alkoholkranken gab es schon seit Ende des 19. Jahrhunderts.

Was in den 1960er Jahren in kleinen Zirkeln begann, 1970 die breite Öffentlichkeit und die Bundespolitik erreichte, ist heute Angelegenheit aller staatlichen Ebenen, der Kosten-/Leistungsträger, der großen Verbände, Kirchen und kleinen Vereine, der Verbände der (Mit-)Betroffenen und von bürgerschaftlichem Engagement.

»Gemeindepsychiatrie« (Pörksen 1974) darf im Sinne der Enquête eine Versorgung nur heißen, die den Anspruch von Bürgerinnen und Bürgern mit psychischen Erkrankungen erfüllt: Sie erhalten die Behandlung und Unterstützung, die notwendig ist, damit sie in ihrem Sozialraum möglichst selbstbestimmt leben können. Das gilt nicht nur für die »Heilbaren«, sondern auch für die »Unheilbaren« in der Terminologie des 19. Jahrhunderts. Mit der UN-BRK (Borbé 2011) gilt nun auch in Deutschland der programmatische Begriff Inklusion: Damit erhält der Anspruch neue Schubkraft, die »Unheilbaren« nicht weiter zu exkludieren.

1.5        Rückblick: Die psychiatrische Anstalt als Zentrum der Versorgung

Ein Rückblick ist notwendig, um die Neuausrichtung der psychiatrischen Versorgung als Jahrhundertwerk und die tief greifende Wende zur Humanität zu verstehen.

Über einen Schweizer Kanton ohne psychiatrische Anstalt gibt es eine bemerkenswerte Feldstudie im Jahr 1875. Ernst (1983) berichtet, dass die Studie dazu diente, den Bedarf an stationärer Versorgung zum Zweck einer Anstaltsplanung des Schweizer Kantons Fribourg zu ermitteln. Fünf Monate durchkämmte ein prominenter »Irrenarzt« den agrarischen Kanton Gemeinde für Gemeinde. Er fand 164 psychisch Schwerkranke, die er genau beschrieb. Zu ihrer Versorgungssituation fasste Ernst die Befunde des Irrenarztes zusammen: Wenn akut psychotisches und bedrohlich wirkendes Verhalten die tägliche Arbeit und damit die Existenzgrundlage der Umgebungspersonen gefährde, dann bliebe als einzige Methode der Ruhigstellung die Fesselung (Ernst 2001, S. 25).

Solange psychische Krankheit noch kein Begriff war, der eine spezifische Versorgung begründete, bestimmten die sozialen Folgen die Zuständigkeit von Institutionen. So lange galt: Wer infolge psychischer Krankheit hilfebedürftig wurde, nicht arbeitete, umherwanderte oder Normen und Gesetze verletzte – mit dieser Person wurde ebenso verfahren wie mit anderen (aus anderen Gründen) auffälligen Personen: chronisch Kranken und Siechen, Arbeitsscheuen, Nichtsesshaften, Störenfrieden oder Gesetzesbrechern (K. Jones 1993; Kunze 1977a, 1981a). – In heutiger Sprache: Diese Menschen wurden damals der »selbstbestimmten« Verwahrlosung überlassen oder in private Irrenhäuser, Pflegeheime, Armen-, Arbeits- und Korrektionshäuser »exkludiert«, soweit ihnen nicht von mildtätigen und religiös motivierten Mitmenschen geholfen wurde.

Vor etwa 200 Jahren entstand die Überzeugung, dass unter den Außenseitern der Gesellschaft eine Teilgruppe heilbar sei, wozu man psychiatrische »Heilanstalten« zwischen der Medizin und der Armenfürsorge gründete, die von Ärzten geleitet wurden. Ein neues Fachgebiet entstand. Auf diesen optimistischen Anfang soll hier kurz hingewiesen werden, weil dieser oft vergessen wird angesichts der späteren unmenschlichen Verhältnisse in den psychiatrischen Anstalten und der völlig unzureichenden Versorgung außerhalb der Anstalten.