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Pia Recht, DublinerTinte

Displaced Flashback

Zur falschen Zeit am falschen Ort





BookRix GmbH & Co. KG
81675 München

Displaced Flashback 2.0

 

Zu Beginn erschien es wie eine richtig gute Idee, aber bevor es zu Ende war, wünschten sich alle Beteiligten, jemand hätte rechtzeitig die Reißleine gezogen. Mayday gerufen. Das Handtuch in den Ring geworfen. Time Out gebrüllt. Aber als die ganze Sache so richtig ins Rollen kam, war niemand mehr in der Lage, sie zu stoppen.

 

***

Nach dem Anruf der jungen Dame machte sich Carl Dominique von dem Büro aus auf den Weg in die Bowery. Der TV-Wetterfrosch hatte mit fröhlicher Miene Schnee und Sturm angesagt und recht behalten. Dom hastete im Laufschritt und mit gesenktem Kopf zu seinem Dodge, den er wie immer auf dem Parkplatz gegenüber abgestellt hatte. Auf dem Weg in die Bowery hatte er genug Zeit, sich über diese seltsame Sache ausführlicher Gedanken zu machen.

Dom war Ex-NEW YORK FINEST und immer eine Spur zu leger gekleidet für seinen Job in der Versicherung. Er trug Geschäftsanzüge, aber seine Hemden waren meist kurzärmelig oder zu bunt gemustert und er ließ immer eine Krawatte vermissen. In der Versicherung war er als Ermittler für unklare Fälle angestellt und hatte weitgehend freie Hand. Was er nebenbei noch privat anleierte und erledigte, interessierte niemanden, weil es häufig von seinen unkonventionellen Ermittlungsmethoden nicht zu unterscheiden war.

Wie gewöhnlich um diese Jahreszeit und um diese Uhrzeit fand er Hollis in der U-Bahn-Station Grand Street. Dort stand Hollis in einer viel zu dünnen Jacke, mit einer grünen Mütze über seinem roten Haar, rauchte seine selbst gedrehten und taxierte die vorbeiziehenden Passanten, die in regelmäßigen Schüben an ihm vorbeikamen.

Als er Dom erkannte, drehte er sich resignierend weg, trat die Überreste der Zigarette aus und tat so, als wolle er durch das Drehkreuz in die Station verschwinden.

„Hey“, rief Dom, „bleib schon stehen, ich hab keine Lust, dir nachzulaufen.“

„Was ist?“, sagte Hollis. Er blinzelte unsicher, stopfte die Hände in die Jackentaschen und zog die Schultern hoch.

„Was ist denn das da?“, fragte Dom und machte eine Geste mit einem Finger um sein rechtes Auge herum. Hollis hatte ein Parade-Hämatom im Gesicht, was nur von einer unfreundlichen Faust herrühren konnte.

„Ich bin im Dunkeln gegen eine Tür gerannt“, erwiderte Hollis, „das hat jedenfalls meine Mutter immer auf solche blöden Fragen geantwortet. Was ist los?“

„Du weißt doch genau, was los ist“, sagte Dom, „Rick hat sich nicht bei mir gemeldet. Und wenn ich gezwungen bin, hier aufzutauchen, hab ich schon Gott und die Welt in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden. Also, wo steckt er?“

„Er ist bestimmt bei Sophie.“

„Sie hat gesagt, er sei unterwegs. Hat sich nach Streit angehört.“

„Hab ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen“, sagte Hollis. Er nahm sich eine Zigarette, die Dom ihm aus seiner Packung entgegenhielt, und steckte sie sich in die Brusttasche seiner Jacke. Einer seiner Freunde stromerte an ihm vorbei, sie wechselten einen kurzen Blick und schlugen beiläufig die Knöchel zusammen.

„Erzähl mir doch nicht, dass er sich nicht bei dir gemeldet hat“, sagte Dom. Er war ein geduldiger Mensch, obwohl er wusste, dass sein Dodge draußen auf der Straße nicht wirklich in Sicherheit war, selbst wenn die Jungs in dieser Gegend ihn kannten.

„Ich könnte ihn ja suchen“, sagte Hollis, „aber dann gehen mir ein paar gute Jobs durch die Lappen.“

Dom wäre nie auf die Idee gekommen, Hollis die Geldscheine einfach so in die Hand zu drücken; er reichte ihm einen kleinen Umschlag und fügte hinzu, dass das reichen sollte, um seine sogenannten Jobs vergessen zu können. Dabei grinste er breit, weil es für Typen wie Hollis so etwas wie Jobs nicht gab. Legale Jobs.

Hollis nahm das Geld und betrachtete seine Schuhe. Er überlegte, was er Dom erzählen konnte und Dom schwieg geduldig, weil er wusste, dass Hollis dazu einige Minuten brauchte.

„Ist es was Wichtiges?“, fragte er aus purer Zeitschinderei.

„Hollis, sonst wäre ich nicht hier. Ja, es ist wichtig.“

Der eisige Wind trieb die Schneeflocken bis zu ihnen herüber, neue Passanten, auf dem Weg nach Hause, hasteten an ihnen vorbei. Endlich sagte Hollis: „Schon möglich, dass ich weiß, wo er hin wollte, aber ich kann ihn nicht zurückholen. Er ist erst eine Woche weg. Und selbst, wenn er sagt, er will nach Atlantic City, heißt das nicht, dass er auch wirklich dort gelandet ist.“

Sie beide kannten Rick lange und gut genug. Atlantic City war auch Doms erster Gedanke gewesen, aber es konnte auch sehr gut sein, dass er durch eine unvorhersehbare Fügung in Kalifornien gelandet war.

„Warum bist du nicht mit?“

„Bei dem Wetter?“, entgegnete Hollis.

Rick war gerne bei Sturm und Schnee unterwegs. Schlechtes Wetter, in dem man umkommen konnte, wenn man sich nicht vorsah, brachte ihn jedesmal dazu auszureißen. Dom glaubte zu wissen, worüber er sich mit Sophie gestritten hatte.

„Wie immer hat er nichts mitgenommen“, hatte sie gesagt, „nur seine hässliche Jacke und ein paar Geldscheine, die herumgelegen haben. Er wird behaupten, sie haben herumgelegen, selbst wenn ich weiß, dass er sie aus meiner Tasche genommen hat. Vermutlich muss er mal wieder überprüfen, ob irgendwo die Billardtische grüner sind als zu Hause.“

Sie habe andere Probleme im Moment, hatte sie gemeint, aber vermutlich würde Rick auf immer und ewig ihr Größtes bleiben.

„Kannst du mir ein paar Adressen in Atlantic City geben?“

Hollis legte den Kopf schief und sagte Nein. Er hatte Adressen, aber die gab er nicht raus.

„Dom“, sagte er und spielte ungeduldig, „ich muss wirklich los …“

„Bring mir Rick bis zum Ende der Woche zurück, damit ich mit ihm reden kann, und die Scheine im Umschlag sind erst die Anzahlung. Dann springt für dich noch mehr raus. Nimm es an oder lass es sein.“

„Ich brauch einen Wagen“, sagte Hollis prompt.

 ***

Im Albatros, Ricks irischem Stamm-Pub auf der Bowery, war das Radio so laut aufgedreht, dass man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte. Hier her verirrten sich fast nur Stammgäste, ein bunter Haufen streunender, verlorener Seelen, die den ganzen Abend und die ganze Nacht hier herumsitzen und trinken würden. Im Hintergrund dieses uralten Pubs standen zwei Billardtische und in der Ecke vor den Toilettenräumen ruhte ein alter Flipper, dessen Stecker aus der Wand gezogen war, denn niemand würde für eine Reparatur vorbeikommen.

Hollis und Mikey saßen an einem kleinen runden Tisch, warteten darauf, dass einer der Billardtische frei wurde, als Dom hereinkam.

Hollis hatte das Geld, was er von Dom bekommen hatte, längst auf den Kopf gehauen und hoffte, er würde ihm bei der Übergabe des Wagens noch ein paar Dollar aus den Rippen leiern können. Er schlenderte zum Telefon hinüber, tippte die Nummer eines Freundes in New Jersey ein und fragte nach Rick.

„Mach’s einfach“, sagte Hollis, „wenn du ihn siehst, sag ihm, hier ist jemand, bei dem er noch Schulden hat.“

Während er telefonierte, ging Mikey zum Billardtisch und sah den anderen beim Snooker zu, bis sich einer der großen Kerle zu ihm umdrehte und sagte: „Hör auf, mir über die Schulter zu starren. Das macht mich nervös.“

„Das ist dein Problem“, sagte Mikey.

„Hast du was gesagt, Frosch?“

Mikey hasste es, wenn die Jungs ihn so nannten, aber er konnte nicht abstreiten, dass er wie ein verhungerter Frosch aussah - an seinen schlechten Tagen, und er hatte meist schlechte Tage. Er drehte sich um, warf noch einmal einen Blick zurück und hockte sich wieder mit krummen Rücken an den Tisch, wartete darauf, dass Hollis zurückkam.

Dom stand an der Theke, hielt nur zwei Finger hoch und sagte „Stout“, Ian der Barmann nickte ihm entgegen und hielt die Gläser unter den Zapfhahn.

Hollis stand noch immer in der Ecke beim Telefon, hatte eine Hand in den Nacken gelegt und lehnte mit der Schulter an der Wand. Irgendwann fuhr er herum und starrte zu Dom hinüber.

Hollis und Rick hatten einiges gemeinsam. Sie hatten beide Augen im Hinterkopf.

Dom trug die Gläser durch den Pub, vorbei an Betrunkenen an klebrigen Tischen, an schlecht gelaunten Weibern und mindestens zwei Typen, die laut von sich behaupteten, sie seien berühmte Musiker, reichte Hollis das linke Glas und sagte: „Der Wagen steht draußen.“

„Du kannst noch ein paar Scheinchen dalassen“, sagte Hollis, „ich muss unterwegs tanken.“

Dom verzog nicht einmal das Gesicht, ein weiterer Umschlag wechselte den Besitzer und Hollis grinste zufrieden. Er leerte das Glas, ohne einmal abzusetzen.

„Wenn du das nicht trinkst“, sagte er, „ich übernehme das gerne.“ Hollis hatte kein Problem damit, sich nach zwei Gläsern stout hinter das Steuer zu setzen.

Mikey war sauer, weil er sich hintergangen fühlte, aber die Punkmusik, die Ian laut aufdrehte, übertönte sein Genöle, ebenso wie das Schnarchen des alten Mannes am Tisch neben ihnen, der über seinem Bier eingeschlafen war und mit dem Gesicht auf der Tischplatte lag. Unter seinem Atem kräuselte sich die Bierlache vor seinem Gesicht.

Was kann so wichtig sein? dachte Hollis, für gewöhnlich wartet er einfach ab, bis Rick von allein zurückkommt. Irgendwas ist im Busch.

 

Weil Hollis durchs Herumtelefonieren ziemlich genau erfuhr, wo Rick sich herumtrieb, fuhr er erst am nächsten Tag los, vollkommen zufrieden und glücklich mit dem Mittelklasseleihwagen, den er vollgetankt von Dom übernommen hatte.

„Bis Ende der Woche“, hatte Dom gesagt, „und wenn er fragt, was los ist, sag ihm einfach, es ist privat.“

Hollis nahm den Holland Tunnel nach Jersey City und folgte dort dem Highway Nr. 9, vermied die Mautstellen des Express Highways. Er genoss den Wagen, der trotz des üblen Wetters wie ein Kätzchen lief, hatte die Heizung voll hochgedreht und sang zu den Songs aus dem Radio. Der Sender spielte einen Song der Blues Brothers nach dem anderen und Hollis drehte jedes Mal etwas mehr auf. Vor einem Jahr hatte sich John Belushi mit einem Speedball umgebracht und sie machten so etwas wie einen Gedenktag für ihn.

Der ist wirklich komisch gewesen, dachte Hollis, schade um ihn.

Aber Belushi war nicht der Einzige, den es erwischt hatte.

An der Küstenstraße fegten Sturmböen den Schnee quer über die Straße, häufig musste Hollis gegenlenken und dachte daran, wie Rick und Mascot sich damals mit einem Wagen überschlagen hatten. Er selbst war nicht dabei gewesen, aber Mascot hatte es so oft erzählt, dass er die ganze Sache schon als einen eigenen Unfall betrachtete.

In Atlantic City war im Winter nicht viel los, dort mischten sich Spieler, Versager und Betrüger unter die Touristen, die Atlantic City sehen wollten und sich dann fragten, weshalb sie nicht nach Las Vegas geflogen waren.

In Atlantic City angekommen suchte Hollis zwei Stunden lang, dann fand er ihn in einem alten Spielkasino. In der Halle, in der noch im Sommer einarmige Banditen und andere slot machines gestanden hatten, war bis auf die spärliche Bestuhlung alles verschwunden. Überall lag Müll herum und es stank erbärmlich. Kleine Dealer und Zuhälter mit ihren Mädchen waren dort untergekommen, hofften auf besseres Wetter oder warteten auf die Nacht, um das Geschäft ihres Lebens zu machen. Rick hatte ihm erzählt, wie es dort mittlerweile aussah, es war für Hollis keine Überraschung und trotzdem dachte er: Jetzt geht’s hier wirklich bergab.

 

Hollis fand Rick in einem Nebenraum, wo er auf einer Holzkiste hockte, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und die Kapuze des Sweaters über den Kopf gezogen. Er erkannte Rick zunächst nur an den Klamotten und an den Schuhen, beugte sich zu seinem Kumpel herunter und entdeckte, dass er zwar schlafend wirkte, aber seine Augen halb geöffnet waren.

„Rick?“, flüsterte Hollis, „was machst du da?“

„Die sehen mich nicht, oder?“

Hollis war nicht zum Lachen zumute. Er rutschte ein Stück näher heran und sagte: „Es ist niemand hinter dir her. Das ist nur ein Flashback. Hörst du mich, buddy? Nur ein Flashback.“

Rick nickte sehr vorsichtig, versuchte zu kichern, aber die Töne blieben irgendwo in seinem Hals stecken.

„Scheiße“, sagte er, „mein Leben rutscht gerade irgendwie seitlich an mir vorbei.“

Hollis half ihm auf die Beine, klopfte ihm auf den Rücken und wartete, bis Rick in die Gegenwart zurückgekehrt war.

Rick hatte Mühe, seine Augen scharf zu stellen, misstraute seinen Ohren, weil er wusste, dass er in Atlantic City war (da war er sich sicher) und er zweifelte, dass es Hollis gewesen war, der ihn angesprochen und die Phantome verscheucht hatte. Hollis war in New York, bei schlechtem Wetter war er nicht unterwegs. Aber es war wirklich Hollis, der ihn nach draußen schleppte, ihm eine Zigarette zwischen die Zähne steckte und ihm sagte, er solle seine Jacke zumachen. Es schneite schon wieder.

„Dom ist aufgetaucht. Gehen wir an den Strand runter.“

Sie besorgten zwei Flaschen Black Label und testeten, wie lange sie es im Schneegestöber auf der Promenade aushielten. Die Kälte und der Alkohol brachten Rick wieder auf Touren, gemeinsam grübelten sie darüber nach, was so wichtig sein konnte, dass Dom ihn zurück in New York haben wollte.

„Ist Sophie in Ordnung?“

„Sie hat nichts damit zu tun. Dom will dich bis zum Ende der Woche sehen, das ist alles, was ich weiß.“

„Scheiße“, sagte Rick, „ich kann nicht mal für ein paar Stunden verschwinden …“

„Eine Woche“, sagte Hollis.

„… ohne dass er nach mir brüllt. Und wenn ich dann irgendeinen dämlichen Job für ihn erledige, sehe ich nicht mal anständig Kohle dafür.“

„Weil er weiß, dass wir die Kohle sofort auf den Kopf hauen.“

„Auf welcher Seite stehst du, Ginger?“

 

Hollis zeigte Rick den Wagen, sie drehten eine Runde von einem schlecht laufenden Casino bis zur nächsten Automatenspielhölle, und obwohl Rick noch längst nicht alles abgeklappert hatte, sagte er: „Lass uns nach Hause fahren.“

Es war kurz nach Mitternacht, Hollis saß am Steuer und Rick lag betrunken auf der Rückbank. Er hielt die halb leere Flasche Black Label im Arm, von der er behauptet hatte, er würde sie mit seinem Leben verteidigen. Auf der ganzen Strecke erzählte Rick alte Geschichten, die Hollis schon so oft gehört hatte oder selber anwesend gewesen war, die aber immer anders endeten, je nachdem, wie tief Rick in die Flasche geschaut hatte und in welcher Stimmung er war. Wenn er schlecht drauf war, starben am Ende alle.

„Wo soll ich dich absetzen?“, rief er nach hinten und bekam keine Antwort. Rick war eingeschlafen, hatte die Kapuze bis zur Nasenspitze hinuntergezogen.

Vermutlich besser so, dachte Hollis.

Er hatte sich in den Wagen verknallt und fuhr noch stundenlang durch New Jersey, bis er den Weg nach Hause einschlug. Er setzte Rick vor Sophies Wohnung in Bay Ridge, Brooklyn ab. Es war vier Uhr morgens, der Schnee lag etwa einen halben Meter hoch und Hollis ließ den Wagen eine ganze Weile im Leerlauf auf der Straße stehen, bis er Rick weckte.

„Soll ich mit hochkommen?“, fragte er.

„Wo sind wir?“ Rick erhob sich mühsam, starrte aus dem Fenster und erkannte die Fassade des alten Hauses.

„Oh“, machte er, „sie wird mir schon nicht den Kopf abreißen.“

In dem Mehrfamilienhaus mit Backsteinfassade, gemauertem Treppenaufgang, gusseisernen Geländern und winzigem Vorgarten lebte Sophie, seit sie aus New England nach New York gekommen war. Sie arbeitete in Manhattan in einer Werbeagentur und so etwas wie geregelte Arbeitszeiten kannte sie nicht. Es mochte sein, dass sie schlafend in ihrem Bett lag oder noch im Büro über irgendwelche Entwürfe brütete. Weil es nahezu unmöglich war, sich mit einem Auto durch den Berufsverkehr zu quälen, nahm sie den Zug, der Brooklyn mit Manhattan verband, danach die U-Bahn und bis auf einen Handtaschendiebstahl war ihr noch nie etwas passiert, wenn sie früh morgens oder nachts unterwegs war. Da Rick allerdings keiner geregelten Arbeit nachging, holte er sie häufig ab und begleitete sie nach Hause. So hatten sie sich wiedergesehen – nachts in einem Coffeeshop am Bahnhof, als sie dort einen letzten Kaffee trank und Rick nicht mehr wirklich sagen konnte, was ihn über die Queensboro Bridge verschlagen hatte.

„Hey Großer“, hatte sie gesagt, „du bist doch der, der mich auf der Collegeparty in den Pool geworfen hat.“

„Hey“, hatte er gut gelaunt geantwortet, „du bist doch die, die im Pool keinen Sex mit mir haben wollte, weil sie behauptet hat, das kalte Wasser hätte ihre Pflaume zusammengezogen.“

Danach hatten sie sich nie wieder aus den Augen verloren, wenn es auch lange gedauert hatte, bis Rick bei ihr eingezogen war.

Rick hatte für die Wohnung einen Schlüssel, aber er erinnerte sich undeutlich daran, ihn nicht eingesteckt zu haben. In der Haustür stehend, die nie abgeschlossen war, drehte er sich zu Hollis um und zeigte ihm die Faust. Es gab für ihn zwei Alternativen – Sophie zu wecken und sie richtig wütend zu machen (besonders nach ihrem Streit, bevor er abgehauen war) oder vor der Tür zu schlafen. Das waren Aussichten. Auf dem Weg nach oben in den zweiten Stock verfehlte er einige Stufen, dazu war er noch immer betrunken genug, schlug sich die Schienbeine an, fluchte und stolperte weiter. Er klopfte erst zaghaft, dann kräftig an die Wohnungstür, die Sophie Türkis gestrichen hatte. Nichts rührte sich, sie war nicht zu Hause. Rick hockte sich auf den Treppenabsatz, bemerkte erst jetzt, dass er die Flasche in Hollis Wagen vergessen hatte.

 „Ist ja ganz was Neues“, sagte Sophie, „dass du früher als angekündigt nach Hause kommst.“

Sie hockte vor ihm, zog die Kapuze von seinem Gesicht und grinste. Sie hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, weil sie drei Tage vor einem Abgabetermin standen und die Texte noch immer nicht saßen, kam total erschossen nach Hause und fand Rick schlafend vor ihrer Wohnungstür, zusammengerollt wie ein Igel. Er kämpfte sich hoch, humpelte auf seinem kaputten Fuß, wischte sich das lange Haar zurück und sagte: „Ich hab den Schlüssel vergessen.“

„Wenigstens hast du nicht die Tür eingetreten.“

Rick wartete, bis sie die Tür aufgeschlossen hatte.

„Selbst ich mache Fehler nur einmal.“

Sie linste ihn über ihre rechte Schulter an.

„Einige Fehler mache ich nur einmal.“

„Komm schon rein, bevor die Wohnung ganz kalt wird.“

Sie bewohnten eine groß geschnittene Wohnung mit Balkon und Schlafzimmer zur Innenhofseite, Küche und Wohnzimmer lagen nach vorne zur Straße. Sie hatten nur ein Schlafzimmer, denn der Voreigentümer hatte aus dem zweiten Schlafzimmer ein großes Bad gemacht, da es in diesem Haus ursprünglich nur Etagenklos gegeben hatte. Jeder behauptete, die Wohnung sei unter Standard, aber wenn Sophie erwiderte, wie viel sie dafür bezahlt hatte, als sie sich entschlossen hatte, sie zu kaufen, meckerte niemand mehr.

Sie warf ihren Mantel und Schal an die Garderobe, zog ihre Stiefel aus und beobachtete Rick bei seinem Ritual. Er schlenderte wie eine Katze einmal durch alle Räume, inspizierte, ob sich während seiner Abwesenheit etwas verändert hatte. Ganz offensichtlich hatte er vergessen, dass er gerade mal eine Woche weg gewesen war und nicht wie üblich einen Monat oder noch länger.

„Kaffee?“, rief sie aus der Küche.

„Nein“, sagte er, „ich geb mir Mühe, noch nicht nüchtern zu werden.“

Sophie trank ständig Kaffee. Es war ihr Wachmacher und ihre Schlafmedizin. Sie trank zu Hause nur eine ganz bestimmte Mischung und machte viel Aufhebens darum, als wäre es eine unersetzliche Droge. Dafür rauchte sie nicht. Sie schickte Rick jedes Mal auf den Balkon, wenn er es mit den Zigaretten übertrieb, allerdings war sie nicht abgeneigt, sich ab und zu einen Joint mit ihm zu teilen.

„Warum bist du so früh zurück?“, fragte sie. Sie hatte ihre Tasse Kaffee ins Schlafzimmer getragen, sich ausgezogen und ins Bett gelegt. Der Futon war ebenerdig, Rick setzte sich auf den Fußboden davor und streckte die Beine aus.

„Frag mich nicht. Hollis hat mich abgeholt, weil Dom mich sehen will.“

„Fährst du direkt zu ihm?“

„Den Teufel werde ich.“

„Dann komm ins Bett.“

„Ich bin besoffen und ich stinke.“

„Das lässt sich ändern.“

Sie duschten gemeinsam, hatten kurzen und heftigen Sex, den Sophie ganz passabel fand und Rick froh war, dass sein kleiner Freund doch noch auf Reize reagierte. Nicht, dass er sich deswegen den Kopf zerbrach, aber wenn er nach seinen Touren nach Hause kam, manchmal fünf oder zehn Kilo abgenommen hatte, nur wegen der türkisen Tür überhaupt die Wohnung wiederfand, hatte ihn sein kleiner Freund schon mal im Stich gelassen.

Sophie blieb eng an ihn gedrückt liegen, ihr Kinn auf seiner Brust, ihre müde Hand unter seinem Bauchnabel.

„Ich werde etwa elf Stunden schlafen“, murmelte sie, obwohl das eine Lüge war und sie es beide wussten, „bist du dann hier, wenn ich aufwache?“

„Ja, klar“, sagte Rick. Aber auch das war eine Lüge.

 

Gewöhnlich rief Rick Dom im Büro an und sie machten einen Treffpunkt aus, oder er ließ die alte Schreckschraube von Sekretärin wissen, wo Dom ihn erreichen konnte. Diesmal orderte Dom ihn in sein Büro. Es war ein hässliches altes Bürohaus im Schatten der modernen Glastürme und es war wohl nur eine Frage der Zeit, dass die Abrissbirnen kommen und für ein weiteres Hochhaus Platz machen würden.

Ricks Gesicht war in der Versicherungsgesellschaft nicht gerne gesehen, weil er schon einige Male aktiv Streit vom Zaun gebrochen hatte und nicht die üblichen Verhaltensregeln befolgte. Es war eine Katastrophe gewesen, als Dom versucht hatte, ihn offiziell als seinen Mitarbeiter zu führen und hatte es nach zwei Monaten wieder aufgegeben. Diese Verbindung war es auch gewesen, die Muriel Brennan auf Ricks Fährte gebracht hatte.

Rick hatte sein widerspenstiges Haar unter einer Wollmütze versteckt, trug an seinen schwarzen Chucks Schnee und Straßendreck in den Aufzug, den er dort mit kräftigen Tritten gegen die Wand los wurde. Auf der zehnten Etage angekommen, war er erleichtert, dass der Vorzimmerdrachen nicht auf seinem Platz saß, durchquerte das Großraumbüro und fand Dom am Wasserspender. Er schluckte mal wieder was gegen sein Sodbrennen.

„Hi“, sagte er.

Dom musterte ihn kurz und sagte: „Du hast ein bemerkenswertes Talent, Scanlon. Du verschwindest immer dann, wenn etwas passiert.“

„Ach ja? Was ist denn passiert?“

Dom deutete mit dem Kinn zu seinem Schreibtisch hinüber, wo er sich ein seinen Drehstuhl und Rick sich auf die Tischkante setzte. Mit seinem Hintern verschob er einen Stapel Ablagekörbe.

„Ich hatte einen seltsamen Anruf aus Florida.“

Rick reagierte nicht. Ebenso hätte Dom sagen können: Ich rechne damit, dass der Personalcomputer die ganze Welt verändern wird – es bedeutete Rick nichts.

Dom zog die Schublade des Aktenschrankes auf, entnahm eine schmale Mappe, auf der „Rick Scanlon“ geschrieben stand. Dom legte sie sehr sorgfältig vor sich auf den Schreibtisch, schob sie Rick entgegen.

„Es hat sich jemand über dich erkundigt. Auf mich sind sie wohl gekommen, weil dein Lohn über meine Bücher gelaufen ist.“

Wer sind sie?, dachte Rick, unschlüssig, ob er wütend werden sollte oder ob es an der Zeit war, sich Sorgen zu machen.

„Bislang habe ich diese Infos noch nicht weitergegeben und ich habe auch nicht verraten, dass wir befreundet sind. Ich möchte, dass du mir die Sache absegnest.“

Rick bewegte sich nicht, fragte: „Wer hat sich erkundigt?“, und Dom sagte: „Ich denke, dass Curtis dahintersteckt.“

Ricks Ausfall hielt sich in Grenzen, er wurde sehr laut und fluchte etwa fünf Minuten lang, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Er benutzte einige üble Worte in Verbindung mit Curtis und an ihn gerichtete Vorschläge, was er alles tun solle, wenn es nach ihm ging. Dom wartete einfach ab und sagte: „Dachte mir, dass du dich darüber freuen würdest. Hier sind ein paar Dinge, die ich über dich rausgesucht habe. Das gebe ich weiter, damit sie nicht tiefer graben.“

Rick packte sich die Mappe, legte sie sich auf die Knie und blätterte die Unterlagen durch. Es waren Kopien von Polizeiberichten, Mitschriften aus Gerichtsprozessen, eine verkürzte Version seiner Strafakte. Und Fotos.

Heilige Scheiße, dachte Rick, wo hat er diese ganzen Fotos her?

„Tu mir einen Gefallen“, sagte er, „jag die Fotos noch drei Mal durch den Kopierer, damit die Arschlöcher nichts darauf erkennen können. Und dann kopiere ich noch meinen nackten Hintern und lege die Bilder auch noch mit rein.“

“Willst du gar nicht wissen, was sie von dir wollen?“

Rick zeigte ihm den Finger, indem er so tat, als würde er ihn wie eine Überraschung aus seiner Jackentasche ziehen und Dom zeigen, was er da gefunden hatte. Er war bereits durch das Großraumbüro, als er sich umdrehte und rief: „Da scheiß ich drauf, Dom, da scheiß ich drauf.“

Wieder war es der Vorzimmerdrachen, der mit einer schneidenden Stimme um Ruhe bat.

„Kommst du mit einen Saufen, Honey?“, entgegnete Rick und wünschte sich, er würde die alte Tippsenkönigin nur einmal dazu bringen, ihn anzuschreien: Hat dein dummes Maul, Scanlon!

 

Er traf sich mit Hollis, organisierte was zu trinken und zu rauchen, in einer Nebenstraße knackten sie einen Wagen und fuhren, bis der Tank leer war.

„Was bist du so sauer?“, wollte Hollis wissen. Rick brummte etwas auf Spanisch, bedeckte sein linkes Auge mit der hohlen Hand, auf dem er nicht gut sah und das immer ein wenig lichtempfindlich war, bis der Scheinwerfer des anderen Wagens verschwunden war.

„Curtis hat seine Finger mit drin. Ich kann‘s echt nicht fassen.“

„Vielleicht ist irgendwas passiert.“

Rick stieg aus dem Wagen, trat gegen die Radkappe, schlug mit der Faust auf das Autodach. Sie standen an einem Pier, wurden von den vorbeifahrenden Hafenarbeitern ignoriert und würden den Wagen, einen Oldsmobile, einfach dort stehen lassen.

„Hollis“, sagte Rick, „es ist mir scheißegal, ob was passiert ist. Oder was sie Dom erzählt haben. Ich hab Curtis seit über zehn Jahren nicht gesehen und es interessiert mich nicht.“

Florida fiel ihm wieder ein, Dom hatte etwas von Florida gesagt. Das bestand nicht nur aus Miami, so viel war sicher, und wenn ein bestimmter guter Freund etwas von ihm gewollt hätte, wäre es nicht über Dom gelaufen. Von der Seite hatte er nichts zu befürchten.

Das Wetter dort soll besser sein, murmelte eine kleine Stimme in seinem Kopf.

Hollis warf einen Schneeball nach ihm – er war Meister darin, seine schlechte Laune und Wut zu ignorieren oder ohne ein Wort zu ertragen, schließlich kannten sie sich lange genug. Der Schneeball landete an seiner Schulter, Rick schrie: „Du bist ein toter Mann!“ und feuerte zurück.

Sie landeten lachend und durchnässt im Albatros, wo sie Mikey auf ein paar Biere einluden. Mikey erzählte, er sei mit Lt. Laurenson zusammengestoßen, worauf Rick verstummte und verschwand, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wo er hin wollte.

„War das jetzt nötig, Frosch?“, fragte Hollis und verpasste dem Frosch eine Kopfnuss.

 

Er hätte den Flieger nehmen können, aber Curtis hatte es vorgezogen, mit seinem Benz von Ft. Lauderdale nach New York zu fahren. Er mochte lange Autofahrten, und würde Übernachtungen einlegen, wo es ihm gefiel, würde sich ein paar besondere Plätze ansehen. Das war ein Stück Freiheit, die er sich nahm und außerdem vermied er dadurch, dass Muriel ihn begleitete. Ihr ging alles nicht schnell genug, aber sie war auch etwa zwanzig Jahre jünger als er und verstand die meisten seiner Beweggründe nicht.

Sie hatte ihm freudestrahlend verkündet, dass der Ex-Polizist, der als Ermittler für eine Versicherung in New York arbeitete, angerufen und gesagt habe, dass er bald wieder in der Stadt sei. Trotz allem war Curtis noch immer skeptisch gewesen. Seit einem halben Jahr war Muriel auf diesem Trip, ihren Halbbruder Rick zu finden, und es war ein Segen, dass sie nur ihn und nicht die gesamte Familie eingeweiht hatte.

Und glücklicherweise war sie darauf eingegangen, dass Curtis nach New York fuhr, um mit Rick Kontakt aufzunehmen und sie zu Hause bleiben würde. Das gab ihm die Möglichkeit, einfach zu behaupten, dass Rick keinerlei Interesse habe.

Sie weiß nicht, worauf sie sich einlässt, dachte er, man könnte meinen, sie wäre fünfzehn Jahre alt und hätte sich in den Kopf gesetzt, von nun an Wale zu retten oder Kängurus aus Zoos zu befreien.

Muriel war ein nettes, kluges Mädchen, aber sie verbiss sich gerne in die Dinge, die sie sich vorgenommen hatte.