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Seit seine geliebte Oma gestorben ist, geht bei Paolo alles schief. Und weil er seine Trauer und Wut an seinen Mitschülern auslässt, hat er bald keine Freunde mehr. Doch eine unerwartete Begegnung auf dem Friedhof, Schokoladenkuchen und die Suche nach geheimnisvollen Schätzen in Herrn Höfers Gerümpelscheune geben Paolo neue Hoffnung. Er erfährt, dass es einen gibt, der ihm seine Schuld und Sorgen abnehmen will – Jesus Christus, den Sohn Gottes. Als die wertvollsten Stücke des Gerümpelschatzes gestohlen werden, gerät Paolo unter Verdacht. Verzweifelt versucht er, seine Unschuld zu beweisen und den wahren Täter zu finden, doch es wird immer schlimmer. Ob ihm dieser Jesus wirklich helfen kann?

Anneli KlipphahnEs begann mit einem freiwilligen Jahr in einem christlichen Kinderheim. Seitdem liebt Anneli Klipphahn die Arbeit mit Kindern. Sie studierte Religionspädagogik und gibt heute unter anderem Religionsunterricht an Grundschulen. Außerdem ist sie selbst Mutter von vier Kindern und bereits zweifache Oma. Jesus Christus gibt ihrem Leben in guten wie in schlechten Tagen Grund, Halt und Richtung. Davon will und muss sie immer wieder erzählen. Und so schreibt sie auch regelmäßig Kindergeschichten, unter anderem für die christliche Familienzeitschrift ethos.

Paolo - Der GrümpelSchatzKlau

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Die Bibelzitate wurden entnommen: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984, Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,

© 1984 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Lektorat: Friedhelm von der Mark

Umschlag- und Innenillustrationen: Heike Schweinberger

Umschlaggestaltung und Satz: DTP-MEDIEN GmbH, Haiger

E-Book Erstellung: Stefan Böhringer, eWort

Paperback:

ISBN 978-3-942258-16-6

Art.-Nr. 176.816

eBook (ePub):

ISBN 978-3-942258-66-1

Art.-Nr. 176.866

Copyright © 2013 BOAS media e. V., Burbach

Alle Rechte vorbehalten

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1. Paolo

Wie eine Schlange schob sich Paolo in den großen, undurchdringlich erscheinenden Busch. Wieder einmal hatte er es geschafft, unbemerkt hier hereinzukommen. Er war der Räuberhauptmann und in diesem Versteck hatten sie ihn beim Räuber-und-Gendarm-Spielen noch nie entdeckt. Nur sein bester Freund Tim kannte diesen geheimen Schlupfwinkel.

Plötzlich raschelte es hinter ihm. Paolo fuhr herum.

„Ach du bist es, Tim“, flüsterte er und atmete auf.

„Deine Oma hat gerufen“, raunte Tim. „Sie hat für alle Waffeln gebacken.“

„Zu dumm“, seufzte Paolo. „Hab es mir hier doch gerade erst bequem gemacht. Die hätten mich nie gefunden. Aber was macht man nicht alles für die Waffeln meiner Oma ...“

Rasch kroch er aus dem Busch heraus. Er entfernte sich ein Stück von seinem Versteck, um es nicht zu verraten. Dann zog er die Trillerpfeife aus der Tasche und blies hinein. Sofort kamen alle Räuber aus ihren Schlupfwinkeln und trafen sich mit den Gendarmen auf der Terrasse.

Paolos Oma hatte dort den Tisch gedeckt. Getränke und ein großer Berg Waffeln standen bereit. Die sechs Räuber und fünf Gendarmen nahmen ihre Plätze ein und griffen zu.

Max schwärmte mit vollem Mund: „Hm, die Waffeln schmecken himmlisch!“

„Genau, die sind superlecker!“, lobte Tim und rückte an seiner Brille. „Deine Oma ist ’ne tolle Frau! Einfach mal so für so ’ne Menge Kinder Waffeln backen, das macht sonst niemand!“

„Meine Oma sagt, das ist so üblich auf dem Dorf“, antwortete Paolo stolz.

Tim schüttelte den Kopf. „Nee, das glaub‘ ich nicht. Ich kenne ’ne Menge Leute hier in Polenz, die so etwas nie machen würden.“

Paolo genoss die Anerkennung seiner Freunde, griff nach der nächsten Waffel und ... fuhr erschrocken hoch ...

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„Paolo Matuschek! Wenn du schlafen willst, leg dich ins Krankenzimmer!“, donnerte Herr Sommer, der Deutschlehrer. „Wir holen den Stoff dann gemeinsam nach dem Unterricht nach!“

„Hab nicht geschlafen“, log Paolo und machte ein trotziges Gesicht.

„Dann lies dort weiter, wo Richard aufgehört hat!“

Natürlich wusste Paolo nicht, wo Richard aufgehört hatte. Er schielte zu seinem Nachbarn, versuchte die Seite zu erkennen und blätterte im Buch.

„Das dauert mir zu lange“, schimpfte der Lehrer. „Du kommst nach dem Unterricht zu mir! – Tim, lies bitte weiter!“

Als nach der letzten Stunde die Schulglocke läutete, warf Paolo seine Sachen in die Tasche und wollte verschwinden.

Doch Herr Sommer trat ihm in den Weg. „Ich hatte gesagt, du kommst nachher zu mir!“

Trotzig die Hände in die Hosentaschen schiebend, blieb Paolo am Lehrerpult stehen.

Endlich, nachdem alle anderen den Klassenraum verlassen hatten, fragte der Lehrer: „Was ist nur los mit dir? Deine Leistungen werden immer schlechter. Du schläfst mitten im Unterricht ein. Und dein Verhalten deinen Klassenkameraden gegenüber lässt auch zu wünschen übrig.“

Paolo biss die Zähne zusammen und schaute zum Fenster hinaus.

„Sieh mich an, Paolo!“

Widerstrebend wandte sich Paolo dem Lehrer zu. Er zog die Brauen zusammen und machte einen Schmollmund.

„Was ist los, Junge? Sprich mit mir!“

„Nichts ist los.“

„Irgendetwas stimmt doch da nicht“, seufzte der Lehrer. „Es muss doch einen Grund geben, warum deine Leistungen so abgesackt sind. Hausaufgaben machst du auch nicht mehr und ...“

„Lassen Sie mich doch einfach in Ruhe, Mann!“ Paolo drehte sich weg und versuchte zu entkommen.

„Hiergeblieben!“ Herr Sommer hielt ihn am Arm fest. „Richte deiner Mutter aus, dass ich mit ihr sprechen möchte! So geht das nicht weiter!“

„Meine Mutter hat keine Zeit.“

„Die Zeit wird sie sich aber nehmen müssen. Gib mir dein Hausaufgabenheft!“

Paolo kramte im Ranzen und schüttelte dann den Kopf. „Hab ich nicht mit.“

Der Lehrer seufzte erneut, legte Paolo die Hand auf die Schulter und schaute ihn an. „Du kannst jederzeit mit mir reden, wenn du Probleme hast. Ich möchte dir doch nur helfen, Junge!“

„Wenn Sie mir helfen wollen, dann lassen Sie meine Mutter in Ruhe“, murmelte Paolo, schluckte und schaute zu Boden.

„Das geht leider nicht“, antwortete Herr Sommer.

„Und wenn ich mich bessere?“, bettelte Paolo. „Wenn ich mir Mühe gebe? – Bitte! Ich verspreche es.“

Der Lehrer überlegte eine Weile. Dann nickte er und sagte: „Gut. Wir versuchen es noch einmal. Mach deine Aufgaben, gib dir Mühe, lass deine Mitschüler in Ruhe.“

„Danke“, sagte Paolo und ging mit gesenktem Kopf zur Tür hinaus.

Vor der Schule schwang er sich auf sein Fahrrad und raste zur Stadt hinaus, Richtung Polenz.

Eigentlich war das Rad längst zu klein für ihn. Er hatte es zum Schulanfang bekommen. Papa hatte es damals ausgesucht. Jetzt ging Paolo in die 6. Klasse und fuhr immer noch damit.

Die anderen Jungen aus seiner Klasse hatten längst neue Räder. Paolo ließ sich vor ihnen natürlich nicht anmerken, dass er auch gerne ein neues hätte. Denn nie würde er ihnen verraten, dass Mama so wenig verdiente und deshalb an allen Ecken und Enden sparen musste.

Im Fernsehen wurden manchmal BMX-Stunts gezeigt. So ein BMX-Rad fand er besonders toll, aber er wusste, dass er nie eins bekommen würde. „Wenn schon ein neues Fahrrad, dann ein richtiges“, sagte Mama. Aber vorerst war überhaupt nicht daran zu denken. Er musste noch eine Weile mit dem alten zurechtkommen.

Wenn seine Klassenkameraden wieder einmal auf sein altes Rad zu sprechen kamen, spielte er den Überlegenen. „Pah, ein neues kaufen kann jeder! Mein Bike ist einmalig, das hat Charakter! So eins hat keiner!“

Eine Fernsehsendung hatte ihn auf die Idee gebracht, sein Bike aufzumotzen. Vom Sperrmüll hatte er sich nach und nach eine andere Gabel, einen Lenker und eine Stange zur Erhöhung des Sattels zusammen gesucht. Und sein letztes Taschengeld hatte er für breitere Reifen ausgegeben. Einmal war er sogar heimlich auf den Schrottplatz gegangen und hatte dort zwei kurze Rohre aus Aluminium gefunden. Die montierte er als Verlängerung der Achse außen an sein Hinterrad. Das nannte man Stunt Pegs. Manchmal standen auch Sprühdosen mit Farbresten beim Sperrmüll. Damit lackierte er den Rahmen von Zeit zu Zeit um. Jetzt musste er sich mit seinem Bike nicht mehr verstecken. Nun war es wirklich einmalig.

Paolo trat kräftig in die Pedale und radelte den Mittelweg entlang. Vor einem Haus stand ein kleines Mädchen und biss in ein Stück Kuchen. Paolos Magen krampfte sich zusammen, er hatte seit gestern Abend nichts Richtiges mehr gegessen.

Zu Hause stellte er sein Rad ab, klingelte und schloss die Augen. Gleich würde Oma die Tür öffnen und ihn ganz fest an sich drücken. „Willkommen daheim, mein Junge“, würde sie sagen. „Das Essen steht schon bereit! Rate mal, was es heute gibt!“ Doch nichts geschah.

Paolo drückte erneut auf den Klingelknopf, immer noch rührte sich nichts. Seine Oma öffnete nicht. Nie mehr würde sie ihm die Tür öffnen, nie mehr. Es war nur ein Traum, ein schöner Traum.

Seufzend kramte er in der Tasche, holte den Schlüssel heraus und schloss auf.

Im Haus war alles still. Langsam ging er in die Küche. Dort stapelte sich das schmutzige Geschirr. Paolo tappte über den klebrigen Fußboden zum Kühlschrank, öffnete ihn und nahm das letzte Stück Käse heraus. Brot gab es auch nicht mehr, nur eine aufgerissene Packung Knäckebrot. Heißhungrig stopfte er es zusammen mit dem Käse in den Mund, während er den Zettel las, der auf dem Küchentisch lag:

Komme heute später. Bitte wasch ab, räum auf und hole Jannik und Robin ab. Essen bringe ich mit. Danke, mein Großer! Mama

Paolo knüllte den Brief zusammen, warf ihn auf den Boden und trampelte wütend darauf herum. „Ich will nicht, ich will nicht, ich will das nicht mehr!“, schrie er. „Ich bin kein Großer, ich will leben, wie alle anderen Kinder auch!“

Dann rannte er aus dem Haus, in den Wald hinein. Er lief bis zum großen Felsen und blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Schnell kroch er in sein Versteck. Vor langer Zeit, als er mit seinen Freunden Räuber und Gendarm gespielt hatte, war er hinter einen dichten Busch gekrochen und hatte den Eingang einer kleinen Höhle entdeckt. Niemand hatte ihn jemals dort gefunden, keiner kannte seinen Zufluchtsort.

Diese Felshöhle war gerade groß genug, dass er darin sitzen oder ausgestreckt liegen konnte. Den Boden hatte er mit Stroh und Moos gepolstert. Er ließ sich darauf fallen und heulte und heulte.

Warum nur war alles so ungerecht? Warum ging es gerade ihm so schlecht, warum hatte er so viele Probleme? Warum musste seine liebe Oma sterben? Ausgerechnet sie, die allerbeste Oma der Welt! – Oma war tot und sie fehlte ihm jeden Tag.

 

Früher waren sie eine glückliche Familie. Wenn Paolo aus der Schule kam, empfing Oma ihn mit einem fröhlichen Lächeln. Sie hatte ein leckeres Mittagessen gekocht und schaute nach ihm, wenn er seine Hausaufgaben erledigte. Nebenbei kümmerte sie sich um seine jüngeren Brüder. Es gab immer genug zu essen, nie musste Paolo mit knurrendem Magen ins Bett gehen.

Und morgens weckte sie ihn wieder. Während er frühstückte, schmierte sie für ihn Pausenbrote und schnitt ihm Obst oder Gemüse zurecht. Jederzeit durfte er seine Freunde mitbringen. Sie hatte ein großes Herz für alle Kinder und verwöhnte sie mit ihren Leckereien. So, wie er es heute geträumt hatte, als er in der Schule eingeschlafen war.

Als Oma noch lebte, war er nie so müde. Mama kam rechtzeitig am Nachmittag von der Arbeit und Papa am Abend. Zu Hause war es sauber und ordentlich. Manchmal fuhren sie am Wochenende gemeinsam weg. Sehnsüchtig erinnerte sich Paolo an ihre Wanderungen mit Picknick, an gemeinsame Radtouren, lange Nachmittage in Schwimmbädern und das Judotraining, zu dem ihn Papa oft begleitet hatte.

Doch dann überstürzten sich die Ereignisse. Oma starb, und Mama schaffte die Hausarbeit nicht mehr, weil sie jetzt alles allein machen musste. Die Eltern fingen an zu streiten. Papa kam oft spät nach Hause. Und eines Tages zog er aus.

Seitdem musste sich Paolo selbst um sein Essen kümmern, wenn er aus der Schule kam. Zu Hause war es unordentlich und ungemütlich. Die Geschwister zankten sich und Paolo traute sich nicht mehr, seine Freunde einzuladen.

Um seiner Wut Luft zu machen, ärgerte er die anderen und verlor einen Freund nach dem anderen. Am schlimmsten war es, als seine Freundschaft mit Tim zerbrach.

Auch mit dem Judo-Training war es bald vorbei, weil Mama sparen musste. Dabei hätte er gern noch andere Kampfsportarten gelernt. Ein kostenloser Schnupperkurs für Kickboxen sollte der Einstieg sein. Aber auch damit war es nun endgültig vorbei.

Eines Tages fand er beim Sperrmüll einen alten Kartoffelsack und nahm ihn mit. Es war zwar ein großes Loch darin, aber das machte nichts. Er band es einfach zu und stopfte den Sack mit Stroh aus. Dann hängte er ihn in die Mitte des Kellers, wo genügend Platz war. Dagegen hatte Mama nichts einzuwenden. Der Kartoffelsack kostete nichts und im Keller störte er niemanden. So konnte er allein weitertrainieren.

Paolo probierte alles aus, was er beim Kickboxen gelernt hatte. Außerdem holte er sich aus der Bibliothek Bücher über Kampfsport und übte auch andere Techniken, die darin erklärt wurden.

Bald hatten alle Kinder Angst vor ihm, denn durch sein Kampfsporttraining war er stark und gewandt. Niemand ahnte, wie einsam er sich fühlte.

 

Paolo dachte an Herrn Sommer. Eigentlich mochte er den Lehrer. Aber Herr Sommer durfte auf keinen Fall die Wahrheit erfahren! Paolo hatte gehört, dass das Jugendamt Kinder ins Kinderheim steckte, wenn sie von den Eltern zu Hause nicht richtig versorgt wurden. Das durfte ihm und seinen Brüdern nicht passieren! Deshalb bemühte er sich, Mama zu helfen, so gut er konnte.

Er half auch, weil Mama ihm leid tat. Manchmal saß sie einfach nur da und weinte. Paolo war dann wütend auf Papa, der sie alle verlassen hatte. Und er war wütend auf den Tod, der ihm seine Oma genommen hatte.

An manchen Tagen arbeitete er wie verrückt, schaffte es aber trotzdem nicht, alles richtig in Ordnung zu halten. Dann war er auch noch wütend auf sich selbst und hielt sich für einen Versager.

Und wenn es ganz schlimm wurde, war er sogar wütend auf Mama. Dann schrie er sie an. Sie sollte endlich sein wie alle anderen Mütter auch. Er hatte keine Lust, ständig im Haushalt zu helfen. Er wünschte sich die Vergangenheit zurück und wusste doch, dass das nicht möglich war.

Paolo schniefte und kramte nach einem Taschentuch. Als er sich die Nase putzte, fiel sein Blick auf die Uhr. Es war schon nach vier. Er erschrak. Es war höchste Zeit, Jannik und Robin aus dem Kindergarten abzuholen.

Hastig kroch Paolo aus seinem Versteck, sprang auf und lief los.

2. Missgeschicke und Ärger

„Na, junger Mann, hast wohl die Zeit verpasst?“, empfing ihn die Erzieherin mit aufgebrachter Stimme. „Deine Brüder warten schon seit einer Stunde auf dich!“

Paolo wusste, dass das stark übertrieben war. Jannik und Robin bauten noch an ihrer Ritterburg und machten gar nicht den Eindruck, als hätten sie es eilig, nach Hause zu kommen.

Er verkniff sich eine patzige Antwort, schnappte sich seine Brüder und machte sich mit ihnen auf den Heimweg. Sie mussten eine größere Strecke laufen. Jannik, der erst zwei Jahre alt war, jammerte schon bald, weil ihm die Beine wehtaten. Der fünfjährige Robin dagegen flitzte voraus, warf Steine in die Polenz und freute sich, wenn es ordentlich platschte.

Paolo nahm Jannik bei der Hand. „Komm schnell zu Robin! Dann darfst du auch Steine ins Wasser schmeißen“, versprach er, um ihn anzuspornen.

Doch bevor sie dort ankamen, rutschte Robin aus und landete im Fluss. Paolo ließ Jannik los und rannte allein weiter, um seinem Bruder zu helfen. Jannik lief ihm nach, fiel hin und blieb plärrend liegen.

„Steh auf und komm her!“, rief Paolo, während er gleichzeitig den ebenfalls schreienden Robin aus dem Wasser zerrte.

In diesem Moment kam auch noch ein Auto. Glücklicherweise fuhr es langsam und hielt schließlich sogar an. Eine Frau stieg aus, half Jannik auf die Beine und redete auf ihn ein. Paolo sah, wie der Kleine mit dem Finger in seine Richtung deutete.

Die Frau nahm Jannik auf den Arm, kam auf Paolo zu und schimpfte: „Kannst du nicht auf deinen Bruder aufpassen? Um ein Haar hätte ich ihn überfahren. Was macht ihr überhaupt hier am Fluss? Eure Eltern sollten euch mal ordentlich die Ohren lang ziehen!“ Damit stellte sie Jannik wieder hin, ging zu ihrem Auto zurück und fuhr weiter.

Robin weinte noch immer und Jannik wollte Steine ins Wasser werfen.

„Nein!“, knurrte Paolo total genervt. „Wir müssen schnell nach Hause rennen, sonst wird Robin krank.“

Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, fing Jannik wieder an zu heulen.

Paolo verpasste beiden eine Ohrfeige und schrie: „Seid endlich still! Sonst kommt die Polizei und bringt euch ins Kinderheim.“

Tatsächlich verstummten sie auf der Stelle. Paolo atmete auf, nahm Jannik auf den Arm und lief mit Robin im Schlepptau los.

Als sie zu Hause ankamen, zitterte Robin wie verrückt und klapperte mit den Zähnen. Paolo ließ warmes Wasser in die Badewanne und half ihm beim Ausziehen. Die ganze Zeit quengelte Jannik, weil er Hunger hatte. Paolo gab ihm das restliche Knäckebrot.

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Endlich kam Mama nach Hause. Mit vollen Einkaufstüten stolperte sie in die Küche, schaute sich um und fing an zu schimpfen: „Hier sieht es ja immer noch schlampig aus, Paolo! Du solltest doch aufräumen, du Nichtsnutz!“

„Aber ich konnte nicht ...“, versuchte sich Paolo zu verteidigen.

Aber Mama ließ ihn nicht ausreden. „Was heißt du konntest nicht? Ich habe deine Ausreden satt! Ich muss mich auf dich verlassen können!“

„Robin ist ...“, versuchte es Paolo noch einmal.

In diesem Moment rief Robin aus dem Badezimmer: „Ich muss aufs Klo!“

Mama fuhr herum. „Was macht er im Badezimmer?“

„Er badet“, erklärte Paolo. „Robin ist in die Polenz gefallen, er hat ...“

„In die Polenz gefallen?“, schrie sie. „Schaffst du es nicht mal mehr, deine Geschwister ganz normal vom Kindergarten abzuholen? Wie konnte ...“

Jannik fing an zu heulen und Robin brüllte noch lauter: „Ich muss aufs Klo!“

„Ich geh schon!“ Paolo sprang schnell zur Tür hinaus, um Mama zu entkommen.

Im Badezimmer rubbelte er Robin wütend mit dem Handtuch ab und schimpfte: „Wegen dir ist Mama sauer auf mich! Ich habe das satt mit dir! Das nächste Mal darfst du nicht allein laufen. Dann bleibst du die ganze Zeit an meiner Hand, das sage ich dir!“

Er setzte ihn auf die Toilette, rannte dann in Robins Zimmer und holte trockene Kleidung.

Als er wieder ins Badezimmer kam, hob Mama Robin gerade erneut in die Wanne und ließ noch etwas warmes Wasser nachlaufen. „Besser, du wärmst dich noch etwas länger auf, mein Kleiner!“

Auf einmal polterte es in der Küche und gleich darauf ertönte Janniks Geschrei. Mama rannte hinaus.

Paolo warf Robins Sachen hin und zischte: „Bleib ja ruhig sitzen und mach keinen Quatsch! Sonst knallt‘s!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte er hinaus und in den Keller. Wütend schlug und trat er auf den alten Kartoffelsack ein, bis er Mama rufen hörte. Er konnte sie zwar nicht verstehen, aber es war klar, was sie wollte.

„Räum doch deine Küche alleine auf“, fauchte er und versetzte dem Sack einen harten Schlag.

Plötzlich stand Robin im Bademantel neben ihm. „Essen kommen!“

Obwohl Paolo spürte, wie sich sein Magen vor Hunger zusammenzog, schüttelte er den Kopf. „Sag Mama, ich bin satt von ihrem Gemecker.“

„Aber Mama hat Pfannkuchen gebacken!“

„Verschwinde!“ Er drehte sich wieder zu seinem Kartoffelsack um und trat so kräftig dagegen, dass er bis zur Decke flog.

Mit vor Schreck geweiteten Augen eilte Robin die Treppe hoch und Paolo war wieder allein. Er traktierte den Sack, bis er total erschöpft war.

Dann verließ er den Keller, stieg die enge, steile Kellertreppe hinauf und blieb lauschend im Hausflur stehen. Alles war ruhig. Wahrscheinlich saßen sie noch in der Küche und ließen es sich schmecken. Paolo schlich sich nach oben und huschte in sein Zimmer. Dort warf er sich aufs Bett und heulte.

Einige Zeit später hörte er, dass die Tür geöffnet wurde und Mama eintrat. Paolo drehte sich zur Wand und kniff die Augen zusammen.

Mama setzte sich auf die Bettkante und seufzte. „Du musst doch Hunger haben. Dein Lieblingsessen wartet auf dich.“

Paolo schwieg.

„Komm schon, mein Großer.“ Sie strich ihm durchs Haar.

Paolo schob ihre Hand weg, fuhr herum und äffte ihre Stimme nach: „Mein Großer! – Ich pfeif darauf! Robin fliegt ins Wasser und ich krieg die Schuld!“

Mama seufzte erneut. „Na ja, ich war eben sehr erschrocken. Bei dieser Kälte ... hoffentlich holt er sich keine Lungenentzündung.“

„Weißt du, wie nervig es ist, dass ich immer die Kleinen abholen muss? Jannik ist zu faul zum Laufen und heult ständig. Und Robin rennt davon.“ Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Die anderen Jungs aus meiner Klasse haben es alle besser als ich. Die gehen Fußballspielen oder sitzen an ihrem Computer. Und sie haben die besten und neuesten Handys. Ich habe nicht mal irgendein altes Handy. Und einen Computer haben wir auch nicht. Wir leben hier wie im Mittelalter!“

„Aber du weißt doch, dass wir nicht genug Geld haben.“ Mamas Stimme klang flehend. Sie saß da, knetete ihre Hände und sah ziemlich traurig aus. „Dass ich vorhin so heftig geschimpft habe, ... das ... das tut mir leid. Es war sehr gut, den Kleinen sofort in die Badewanne zu stecken! Obwohl du erst zwölf Jahre alt bist, hast du genau das Richtige getan.“

Aus dem Nebenzimmer erscholl Janniks Gebrüll. Schon wieder!

Seufzend stand Mama auf und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. „Nun geh schon essen!“

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Als er müde und satt im Bett lag, kam Mama noch einmal zu ihm.

„Also ... um die Küche kümmere ich mich dann selbst. – Aber ... wir müssen noch etwas besprechen, weil bald Ostern ist. Weißt du, ... immer die vielen Süßigkeiten. Das ist doch Unsinn.“ Sie räusperte sich. „Wir brauchen unser Geld für das tägliche Brot. Eine Kleinigkeit wird es schon geben. Aber nicht mehr so viel wie früher. Du bist schon groß, du verstehst das doch, oder?“

Er nickte.

Sie fuhr ihm durch das dunkle Strubbelhaar. „Schön, mein Großer! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Wir beide, wir schaffen das schon!“

Mama lächelte, aber sie konnte Paolo nicht täuschen. Er hatte die Tränen in ihren Augen gesehen. Bestimmt erinnerte auch sie sich an früher. An Oma, die aufgeräumte Wohnung und das leckere Essen, das sie immer gekocht hatte. Und an Papas fröhliche Begrüßung, wenn er zur Tür hereinkam. Und an all das Schöne, das sie miteinander erlebt hatten.

Das alles war vorbei. Und Mama musste sich nun ganz allein um ihn und seine Brüder kümmern. Sie tat ihm leid. Und er wollte alles tun, damit sie nicht noch trauriger wurde.

Nachdem sie gegangen war, stand er leise auf und tappte zu seinem Schreibtisch. Er öffnete das unterste Schubfach und kramte sein Judobuch hervor, ein Geschenk von Papa.

Als Paolo angefangen hatte, sich für diese Sportart zu interessieren, hatte Papa ihn zum Judotraining begleitet und die ersten Male zugesehen. Zu Hause probierten sie miteinander die verschiedenen Griffe und hatten viel Spaß dabei. Bei den Wettkämpfen war Papa immer dabei und feuerte ihn an.

Paolo blätterte in seinem Judobuch und fand irgendwo in der Mitte, was er suchte: Das Foto von Papa. Paolo nahm es mit ins Bett, schaute es an und flüsterte: „Du hast immer zu mir gesagt: Mein kleiner Schlawiner. Du bist mir am ähnlichsten. Die gleichen schwarzen Haare, die gleichen dunklen Augen. Schlank, sportlich und stark. – Ja, genau das hast du immer zu mir gesagt. Aber warum bist du weggegangen?“

Er schniefte. „Und außerdem hast du gesagt: Wir sind ein gutes Team. – Warum hast du uns verlassen, wenn wir ein gutes Team waren? Ein gutes Team verlässt man doch nicht. Oder bin ich schuld daran? Habe ich es verbockt? – Ach Papa, ich trau mich nicht, dich das zu fragen. Ich hab so viel verbockt, oft schimpft Mama über mich und nennt mich einen Nichtsnutz. Und wahrscheinlich hat sie recht. Ich bin ein Nichtsnutz. Ich habe nicht mal mehr einen Freund, nicht einen einzigen, Papa. Dabei hatte ich früher so viele Freunde. Aber das war früher, als Oma noch da war. Und als du noch bei uns warst.“

Paolo schluckte. Er versteckte das Foto wieder im Buch, stand auf und schob das Buch unter all den anderen Kram, den er in der untersten Schublade aufbewahrte. Auf keinen Fall sollte Mama das Foto finden.

Dann huschte er zurück ins Bett, vergrub das Gesicht im Kopfkissen und weinte. Er weinte, bis er einschlief.

3. Vor den Ferien

„Onkel Matthias kommt uns zu Ostern besuchen“, prahlte Tim am nächsten Tag in der Schule. „Er ist schon um die halbe Welt gereist. Aus jedem Land bringt er mir etwas voll Krasses mit! Mal sehen, was ich diesmal bekomme!“

„Und wir machen Familienurlaub auf Mallorca“, hielt Richard dagegen.

Seine Zwillingsschwester Thea nickte lachend. „Wir sind wieder in diesem coolen All-inclusive-Hotel direkt am Strand. Ich hoffe, die drei Mädchen aus Hamburg sind auch wieder da. Letztes Jahr haben wir so tolle Sachen zusammen gemacht.“

„Na und?“ Nadine sah sich selbstbewusst im Kreis um. „Mama hat mir ein Smartphone versprochen. Ich habe mir das neue Samsung Galaxy gewünscht. Bestimmt kauft sie mir das.“

„Du spinnst ja, das glaube ich dir nie und nimmer!“ Tim rückte seine Brille zurecht. „Das ist eins der besten Handys und kostet ein paar Hundert Euro. So ein krasses Geschenk kriegt doch keiner zu Ostern.“

Nadine warf ihre Haare zurück. „Wieso nicht? Mama hat gesagt, wenn schon, dann soll es etwas Richtiges sein. Etwas, das nicht morgen schon wieder überholt ist. Ihr werdet es dann schon sehen!“

Mein Onkelchen bringt mir was übelst Krasses mit.“ Paolo ahmte erst Tims, dann Nadines Stimme nach. „Ach, das ist doch gar nichts. Ich bekomme das neuste und beste Handy! Da staunst du, was, Timmilein? – Hey Leute, habt ihr heute noch mal ein anderes Thema? Das ist ja hier wie im Kindergarten!“

„Bist ja bloß neidisch, weil du nichts kriegst“, konterte Tim.

„Sag das noch mal!“ Mit einem Satz war Paolo bei ihm und drückte ihn an die Wand.

Es wurde still in der Klasse. Tim wand und wehrte sich, doch Paolo hatte die bessere Position. Und niemand kam Tim zu Hilfe.

In Paolos Kopf hallten Tims Worte nach: Bist ja bloß neidisch, weil du nichts kriegst. – Tim hatte recht. An Feiertagen spürte Paolo noch mehr als an normalen Tagen, wie sehr sich zu Hause alles verändert hatte. Ja, Tim hatte recht. Aber das konnte Paolo nie und nimmer vor den anderen zugeben.

Noch einmal stieß er Tim mit aller Kraft an die Wand und brüllte ihn an: „Sag das noch mal!“

Tim keuchte und wand sich, antwortete aber nicht.

„Du nimmst das sofort zurück!“

„Was?“, krächzte Tim.

„Na, was du gesagt hast.“ Zur Bekräftigung seiner Drohung trat Paolo Tim auf den Fuß und fragte noch einmal: „Nimmst du es zurück?“

Tim nickte schwach.

„Wir können dich nicht hören“, knurrte Paolo. „Was hast du gesagt?“

„Ja, ich nehme es zurück“, antwortete Tim mit heiserer Stimme.

„Na also, geht doch.“ Paolo ließ ihn los und schaute drohend in die Runde. „Hat noch jemand was zu sagen?“

Die anderen senkten die Köpfe oder wichen ein paar Schritte zurück.

„Dann ist es ja gut“, stellte Paolo fest und schlenderte zu seinem Platz.

„Hast dich ganz schön verändert“, murmelte Tim hinter ihm.

Paolo fuhr wieder herum. „Das geht dich gar nichts an!“, fauchte er. „Und deinen reichen Onkel kannst du dir sonst wohin stecken!“

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Während des Unterrichts beobachtete Paolo die anderen. Ob sie heimlich über ihn spotteten, weil er nicht so tolle Pläne für Ostern hatte?

Tim mit seinem blonden Igelschnitt, den lustigen blauen Augen und der Brille war früher sein bester Freund. Oft hatten sie im Spiel miteinander gekämpft und ihre Kräfte gemessen. Tim war sportlich, aber nicht so wendig und stark wie Paolo. Jetzt war Paolo froh, dass er Tim überlegen war. Denn Tim war der Einzige in der Klasse, der ihm ab und an widersprach und es wagte, sich mit ihm anzulegen.

Auch die Zwillinge Richard und Thea gehörten früher zu Paolos Freunden. Sie waren nicht solche Stubenhocker, die ständig vor dem Computer oder ihrer Spielkonsole saßen. Richard war zwar viel ruhiger als Paolo und Tim, hatte aber die besten Ideen für Spiele im Wald. Er interessierte sich für alles, was in längst vergangenen Zeiten passiert war und kannte sich supergut in Geschichte aus. Mal waren sie Raubritter, die in einer verfallenen Burg der Sächsischen Schweiz hausten und die Reichen überfielen, ein anderes Mal wieder waren sie die Armee Napoleons, die sich irgendwo verschanzte und einen neuen Angriff plante. Richards Schwester Thea machte immer bei allem mit, man konnte glatt vergessen, dass sie ein Mädchen war.

Hinter Richard saß der stotternde Sebastian. Der war so still, dass man ihn meist übersah. Es war, als wäre er gar nicht da. Manchmal hatte Paolo versucht, ihn zu ärgern, indem er sein Stottern nachahmte. Doch Sebastian schien das gar nicht zu stören. Paolo wusste nicht, was er von ihm halten sollte. Er fand ihn langweilig und komisch, und verschwendete selten einen Gedanken an ihn.

Sebastians Banknachbar Luca besaß einen Hund. Als sie noch jünger waren, hatten Tim und Paolo gelegentlich mit Luca gespielt.

Max wohnte mit seiner Familie am Markt. Er hatte fünf Geschwister und trug, genau wie Paolo, niemals Markenklamotten. Seine Eltern hatten nicht viel Geld, und Max musste daher die getragene Kleidung seiner älteren Brüder anziehen. Er beschwerte sich aber nie darüber, war meist gut gelaunt und hatte viele Freunde, die er jederzeit mit nach Hause bringen durfte. Paolo war früher mal zu Besuch bei Max’ Familie gewesen. Es hatte Pfannkuchen gegeben und Paolo durfte mitessen. Dann spielten sie mit der ganzen Familie Carcassone und die Zeit verging wie im Flug. Er hatte sich dort wohlgefühlt. – Ja, auch Max war sein Freund gewesen, bevor Paolos Oma starb und zu Hause alles anders wurde.

Ach ja, die Oma. Meine liebe Oma! Paolo stellte seine Ellenbogen auf die Bank und versteckte das Gesicht hinter den Händen. Oma wäre jetzt sicher dabei, das Haus gründlich zu putzen und zu backen. Paolo schloss die Augen und dachte daran, was sie gesagt hatte: Ostern ist ein wichtiges Fest, da wird alles neu. Es ist ein Fest der Freude und der Hoffnung. Der Winter ist vorbei. Alles grünt und blüht und erwacht zu neuem Leben.

„Bitte komm an die Tafel, Paolo“, rief Frau Ruschke, „und rechne uns diese Aufgabe vor!“

Schon während er nach vorn schlurfte, wusste Paolo, dass er sich wieder eine schlechte Zensur einfangen würde.

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An Karfreitag begannen endlich die Ferien. Mama war am Morgen mit Jannik und Robin zu einer Freundin gefahren. Sie hatte Paolo eine lange Aufgabenliste auf den Küchentisch gelegt. Er verschob die Arbeiten auf den Nachmittag und fuhr mit dem Rad in die Stadt.

Auf dem Sportplatz spielten einige seiner Klassenkameraden Fußball. Ohne lange zu fragen, lief Paolo aufs Spielfeld und mischte sich ein. Er schoss zwei Tore und verhalf damit seiner Mannschaft zum Sieg. Nach und nach verabschiedeten sich die anderen. Nur Tim und Max übten noch Elfmeterschießen.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Paolo. „Spielen wir zu dritt weiter oder habt ihr eine andere Idee?“

„Ja“, antwortete Tim. „Aber dazu brauchen wir dich nicht.“

„Willst du wieder Streit? Kannst du haben!“

Schneller als Tim gucken konnte, packte Paolo ihn, warf ihn auf den Boden und kniete sich auf ihn.

„Hör doch auf“, bettelte Max. „Auf diese Weise findest du nie Freunde!“

„Ich will euch nur zeigen, dass es dumm von euch ist, wenn ihr mich nicht mitmachen lasst.“

„Was willst du denn mitmachen?“, keuchte Tim. „Ich muss heim. Meine Mutti wartet mit dem Essen. Kannst ja versuchen, dich bei uns einzuladen. Ich glaube bloß nicht, dass meine Mutti das mitmacht.“

Langsam stand Paolo auf. Bei ihm zu Hause kochte heute niemand ein leckeres Essen. Stattdessen wartete eine Menge Arbeit auf ihn. Doch das wollte er den beiden auf keinen Fall erzählen.

„Ich brauche euer bescheuertes Essen nicht“, sagte er großspurig. „Bei uns gibt es Entenbraten mit Klößen. Und zum Nachtisch Eis.“

„Entenbraten am Karfreitag?“, wunderte sich Max.

Paolo reckte sich. „Klar. Wenn Mama frei hat, kocht sie immer was Besonderes. Und am Sonntag gehen wir in eine tolle Gaststätte. Mein Onkel hat uns eingeladen. – Tschüss denn, ich muss los.“ Damit schwang er sich auf sein Rad und brauste davon.

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Paolo hatte es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht, als Mama am Samstagabend endlich mit seinen Brüdern zurückkam. Sie brachte die Kleinen ins Bett und setzte sich dann zu ihm.

„Die Küche ist ja blitzblank wie lange nicht mehr! Das hast du gut gemacht, mein Großer. – Hast du was dagegen, wenn ich noch mal weggehe?“

„Du willst schon wieder weg?“, murrte Paolo. „Jetzt verstehe ich auch, warum du mich so lobst. Damit ich jetzt nicht meckere. Dabei bist du doch gerade erst wiedergekommen.“

„Na ja, das hat sich eben erst ergeben. Ein neuer Kollege hat angerufen. Er hat mich eingeladen.“

Paolo verdrehte die Augen und seufzte genervt. „Und ich soll wieder mal auf meine Brüder aufpassen.“

„Jannik und Robin schlafen wie die Murmeltiere.“

„Aber du kommst heute Nacht wieder!?“

„Versprochen.“ Sie lächelte ihn an.

„Morgen früh will ich weg. Wenn du dann nicht da bist, lasse ich die Kleinen einfach allein.“

„Komm schon, mein Großer. Droh mir nicht mit so etwas. Außerdem kannst du dich drauf verlassen. Ich komme noch heute Nacht nach Hause.“

Paolo sah sie an. „Und wie ist er so, dein neuer Kollege?“

„Ziemlich nett.“

„Mag er Kinder?“, erkundigte sich Paolo.

„Ich denke schon.“

„Bringst du ihn mal mit?“

„Vielleicht. Irgendwann einmal.“

„Oder wir machen mal was zusammen“, schlug Paolo vor. „Wir könnten doch zum Beispiel morgen zum Mittagessen alle zusammen mit deinem neuen Kollegen in eine Gaststätte gehen.“

Sie strubbelte Paolo durchs Haar. „So schnell geht das nun auch wieder nicht. Lass uns etwas Zeit.“

„Was gibt‘s morgen zum Mittagessen?“

„Hm, mal sehen. Ich muss mal in die Kühltruhe schauen. Irgendetwas wird sich schon finden. Jetzt muss ich aber los. Halt die Ohren steif, mein Großer. Wenn was ist, ruf mich auf dem Handy an.“

„Mam?“

„Ja?“

„Krieg ich irgendwann auch mal ein Handy? Fast alle aus meiner Klasse haben eins.“

„Hm. Diese Diskussion hatten wir doch schon mal.“ Mama atmete tief durch. „Vielleicht zum Geburtstag. Oder zu Weihnachten. Wenn es ein günstiges Angebot gibt. – Wir müssen doch an allen Ecken sparen, damit wir Omas Häuschen behalten können. Dafür müssen wir zwar keine Miete bezahlen, aber es muss instandgehalten werden, und das kostet auch Geld.“

Paolo dachte an den bröckelnden Putz an der Rückseite des Hauses und hielt es für besser, zu schweigen.

4. Alle sind eingeladen

Paolo wachte früh am Morgen auf und konnte nicht mehr einschlafen. Wieder einmal – wie fast jede Nacht – hatte er von seiner Oma geträumt.

Er stand auf und zog sich an. Leise öffnete er die Tür zu Mamas Schlafzimmer. Sie war wieder da, schlief aber noch fest. Auch von seinen Brüdern war noch nichts zu hören.

Unten zog Paolo seine Schuhe und die Jacke an und verließ das Haus. Auch draußen war noch alles still. Rasch holte er sein Bike aus dem Schuppen und fuhr in die Stadt zum Friedhof, der direkt neben der Kirche lag.

Das große Tor stand schon offen. Er stellte sein Rad ab und ging zum Grab seiner Oma. Dort hockte er sich hin und ließ seinen Tränen freien Lauf. Lange saß er da und weinte. Um diese Zeit war noch niemand hier. Er brauchte sich also nicht zu schämen.

Doch plötzlich hörte er Stimmen. Er stand auf und schaute sich um. Vor der Tür der Kirche standen Leute. Immer mehr kamen dazu. Auch Kinder waren dabei. Was machten die so früh am Morgen hier? Die Sonne war noch nicht mal aufgegangen und in der Kirche war es sicher stockdunkel.

Jetzt wurde die Tür geöffnet. Die Menschen gingen hinein. Neugierig folgte Paolo mit etwas Abstand. An der Tür bekam jeder eine Kerze. Der Pfarrer sagte etwas, die Leute antworteten. Jetzt wurde eine Kerze nach der anderen angezündet und alle setzten sich hin. Niemand schaltete das Licht ein, nur die Kerzen kämpften gegen die Finsternis an.

Paolo verkroch sich in die letzte Reihe. Hier fühlte er sich sicher, von hier aus konnte er alles beobachten. Aber leider verstand er nicht alles, was vorgelesen und gesprochen wurde. Dann begangen die Menschen zu singen. Auch die Lieder kannte er nicht. Doch langsam dämmerte ihm, dass sich die Leute hier trafen, weil Ostern war. Paolo konzentrierte sich auf die Worte des Pfarrers.

„Ostersonntag! Der Tag der Auferstehung Jesu. Der Sohn Gottes starb am Kreuz, weil er alle Menschen liebte. Aber der Tod war nicht das Letzte. Am frühen Ostermorgen gingen drei Frauen zum Grab Jesu und fanden es leer. Gott schickte ihnen einen Engel. Der sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. – Später begegnete ihnen Jesus selbst. Auch seinen Jüngern zeigte er sich.“

Paolo schaute nach vorn, zu dem großen Fenster. Die Sonne war aufgegangen und warf ihre hellen Strahlen in den Kirchenraum. Es wurde immer heller. Es war, als zöge mit dem Licht die Osterfreude in die Kirche ein. Nun sangen die Leute: „Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Halleluja, Halleluja!“

Zum Schluss lud der Pfarrer alle zum Osterfrühstück ins Gemeindehaus ein.