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Peter Godazgar, Kathrin Heinrichs, Carsten S. Henn,
Jürgen Kehrer, Ralf Kramp, Tatjana Kruse,
Sandra Lüpkes und Sabine Trinkaus

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Peter Godazgar, Kathrin Heinrichs,
Carsten S. Henn, Jürgen Kehrer,
Ralf Kramp, Tatjana Kruse, Sandra Lüpkes
und Sabine Trinkaus

8

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Inhalt

Vorab

Acht

Achtung Baby!

Angelacht

Wie Achterbahnfahren

Erster Verdacht

Schmacht

Bei näherer Betrachtung

Achtung Umnachtung

Ausgelacht

Münster bei Nacht

Die Wacht am Meer

Achtzehnuhrglocken

Beachtliches Tempo

Wolle hat was mitgebracht

Angemacht

Achtsam tiefergelegt

Jetzt mal sachte

Böse erwacht

Machtwechsel

Wie Schmuck am Nachthemd

Kerzen zum Nachtisch

Achtlos

Jetzt wird der Schluss gemacht

Weitergedacht

Die haben’s gemacht:

Vorab

Im äußersten Winkel der Uckermark, in einem winzigen Nest nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, steht eine prachtvoll renovierte Villa. Die Heimat ist fern, die Internetverbindung instabil, das Telefonnetz löchrig wie ein zerschossener Fluchtwagen. Genauso hatten wir es uns vorgestellt, genauso sollte es sein. Keine lockenden Vergnügungen in erreichbarer Nähe, kein Sightseeing, keine Feinschmeckerlokale – nur wir, das Haus und unser kühner Plan.

Wir sind Krimiautoren. Jeder von uns hat bereits eine stattliche Anzahl von Morden auf dem Kerbholz. Zusammen haben wir etwas mehr als hundert Kriminalromane verfasst. Multipliziert mit einem Leichenaufkommen von durchschnittlich drei pro Buch entsteht eine beachtliche Zahl, und ergänzt man dann noch das, was in unseren unzähligen Kurzkrimis so anfällt, wird die ganze Brutalität unseres bisherigen Schaffens nur allzu deutlich.

Was würde geschehen, wenn wir uns zusammenfänden, um unsere geballte kriminelle Energie zu bündeln – so fragten wir uns eines Tages. Könnte das gelingen? Ein einziger Roman, verfasst von acht experimentierfreudigen Autoren, in nur acht Tagen, mit dem Titel … na, nennen wir das Projekt mal »8«. Wir haben es getan.

Wir waren in unser Refugium gereist, ohne ein noch so dürftiges Konzept im Koffer zu haben. Fest stand nur der Titel, und fest stand auch, dass wir das Experiment am Ende möglicherweise als gescheitert würden erklären müssen. Aber schon beim ersten Brainstorming im Kaminzimmer wurden die Bruchstücke unserer Geschichte erkennbar. Und in den folgenden Tagen befeuerte ein kollektiver Dauerschreibrausch unseren Ehrgeiz.

Am Ende waren wir um eine großartige Erfahrung reicher. Wir waren uns selbst allabendlich beim Vortrag des Tagespensums die schärfsten Kritiker, wir haben viel voneinander gelernt und sind an der enormen Aufgabe gewachsen, unsere unterschiedlichen Schreibstile einander brauchbar anzupassen. Das alles – so viel steht unumstößlich fest – konnte nur gelingen, weil uns diese eine Zahl vorangetrieben hat. Lernen Sie sie auf den folgenden Seiten kennen!

Peter Godazgar, Kathrin Heinrichs,
Carsten Sebastian Henn, Jürgen Kehrer, Ralf Kramp,
Tatjana Kruse, Sandra Lüpkes und Sabine Trinkaus

Acht

Der Geruch ist betäubend. Eine süße, schwere Wolke, die an Schmeißfliegen denken lässt. Ich weiß nicht, ob das meine Übelkeit verursacht, oder ob es am Sekt liegt – dieser süßen, viel zu teuren Brühe, die ich vorhin hastig hinuntergestürzt habe, um die Angst zu überspielen.

Ich schlucke Gedanken und Brechreiz weg. Es spielt keine Rolle. Heute Abend ist alles egal.

Ich will nicht hier sein. An diesem Ort, an dem ich mich noch fremder fühle als überall sonst. Aber was ich will, zählt nicht mehr. Sie wollte, dass ich komme. Hat das passende Ambiente gewählt, um ihren Sieg zu feiern. Sich zu weiden an dem, was aus mir geworden ist. Ich tue, was sie will. Ich habe mich lange gewehrt. Jetzt weiß ich, dass es sinnlos ist. Der Kampf ist verloren. Den kläglichen Rest gebe ich ihr gern. Kaufe damit den Keim der Hoffnung, dass sie dann endlich genug hat.

Sie ist ganz in der Nähe. Ich höre ihre Stimme, aber ich verstehe nicht, was sie sagt, weil die dicke, stinkende Frau neben mir schrill kichert. Ein Mann betatscht ihren fleischigen Rücken, zieht dann weitere Jetons aus der Tasche und legt sie an den Platz, auf den sie gackernd zeigt. Verschleudert achtlos das, von dem alle hier offenbar im Überfluss haben. Die satten, selbstzufriedenen Ignoranten.

Als ich vorhin an den Tisch trat, haben sie mich misstrauisch beäugt. Jeder sieht, dass ich nicht passe, sogar die Großkotze hier, die von sich selbst besoffenen ist.

Es dauert nicht lange. Ein paar Minuten, dann nehmen sie mich nicht mehr zur Kenntnis. Das ist immer so. Früher oder später werde ich unsichtbar.

Das ist die Quelle. Ich habe lange geglaubt, dass es die Schuld ist, die sie auf sich geladen haben. Aber Schuld kann man vergeben. Schuld nährt nicht den Hass, der in mir gärt. Es ist die Beiläufigkeit, mit der sie in mein Leben eingegriffen, mich ein ums andere Mal aus dem Gleis gehoben und in die falsche Richtung katapultiert haben. Das hat die Wunden gerissen, die nicht heilen. Sie haben mir all das angetan und ein paar Minuten, Stunden, Tage danach vergessen, dass ich überhaupt da bin.

Ich weiß das seit jener Nacht, in der ich alles verstanden habe. Auch, dass sie letztlich nicht verantwortlich sind für das, was passiert ist. Sie steckt dahinter. Sie war es die ganze Zeit. Sie stellt die Weichen und sorgt dafür, dass es niemals besser wird. Sie hat von Anfang an verhindert, dass ich eine Chance bekomme.

Ich betrachtet die Jetons, die vor mir am Rande des Tisches liegen. Mehr Geld, als ich erwartet habe. Geld, das ich so dringend gebraucht hätte in den letzten Monaten. Aber der Schnösel in der Bank hat es mir vorenthalten. Sparvertrag, hat er gesagt, festgelegt, da könne man nichts machen, das tue ihm wirklich leid. Jetzt kann man etwas machen, aber jetzt ist es zu spät. Jetzt könnte ich davon höchstens ein paar Monate Aufschub kaufen. Die nächste Demütigung hinauszögern. Aber früher oder später muss ich doch hingehen. Zur Agentur für Arbeit, die alles hat, nur keine Arbeit. Nicht vermittelbar, werden sie mein Scheitern nennen, werden mich in die Reihe der Versager schicken, die dankbar sein müssen für die Krumen, die man ihnen zuwirft. Ob ich es morgen tue oder in ein paar Monaten spielt keine Rolle. Mir schien es sinnvoller, ihren Anweisungen zu folgen. Ich werde ihr dieses letzte Opfer bringen, bunte Jetons auf ihren Altar legen. Ich werde ihr all das Plastik in den gierigen Schlund stopfen, zusehen, wie sie es zerkaut und ausspuckt, so wie alles, was in meinem Leben je von Wert war. Vielleicht ist sie dann zufrieden. Vielleicht stimmt das Opfer sie milde. Vielleicht lässt sie dann endlich von mir ab.

Der Croupier sagt etwas. Hände schieben Jetons über grünen Filz. Jetzt kann er sie sehen.

Die Acht.

Eine Zahl, denken die Ignoranten. Alle hier halten sie einfach für eine Ziffer, ein abstraktes Konstrukt, auf das die Welt sich geeinigt hat. Ich weiß es besser. Sie hat sich mir offenbart, hat mir ihre Macht wieder und wieder gezeigt. Es hat eine Weile gedauert, aber in jener Nacht habe ich alles verstanden.

Ich sehe sie an, sie erwidert meinen Blick hämisch und kalt. Eine Schlange, die sich fortwährend neu erschafft, unendliche Qual und Demütigung, nur sie weiß, wo alles beginnt und endet. Sie ist so viel mehr als Zahl, ist Fluch, ist Geißel, mein Dämon und mein Untergang.

Ich hasse es, wenn sie mich auslacht. So wie jetzt.

Meine Hände schieben trotzdem, geben ihr alles. Ich ergebe mich, sagen die bunten Jetons, ich gebe auf.

Ihr spöttisches Lachen übertönt fast den Croupier, nichts geht mehr, sagt er, ahnt nicht, wie recht er hat. Das Rad beginnt zu kreisen, die Kugel wird geworfen, sucht klackernd ihren Platz.

Ich schließe die Augen. Warte auf den Moment. Das letzte Scheitern, von dem ich hoffe, dass es Befreiung birgt. Klackern und Sirren, Suchen und Finden, Sekunden, in denen die Kugel alles bestimmt. Jetzt ist es ganz still. Für eine Sekunde scheint die ganze Welt zu verstummen. Dann bricht die Hölle los.

Die Umstehenden kreischen, Hände klopfen auf meinen Rücken. Die stinkende Frau fällt mir um den Hals. Ich rieche Alkohol und Schweiß. Sie küsst mich auf die Wange. Ich schiebe sie weg, angewidert, überfordert, Kaskaden geheuchelter Freude, durchsetzt von Neid und Unverständnis. Worte prasseln unverständlich auf mein Trommelfell.

Ich kann sie nicht verstehen, ich kann auch nichts sagen. Ich kann nur auf das Rad starren. Auf sie, die Acht, die die Kugel an sich genommen hat.

Der Croupier schiebt mit seinem langen Stab buntes Plastik über den Tisch, schiebt alles zu mir, Berge von Jetons. Zwei Männer in Anzügen tauchen auf, schirmen mich diskret ab. Sie sind höflich, ihr Lächeln ist falsch. Sie fragen, ob ich weiterspielen möchte, mich einen Moment zurückziehen vielleicht.

Ich ignoriere sie. Konzentriere mich auf sie, die Acht, die zum ersten Mal ohne Häme lächelt. Es ist an der Zeit, sagt sie. Wir ändern die Regeln. Jetzt bist du an der Reihe, sagt sie. Jetzt spiele ich auf deiner Seite. Schau sie dir an, die Idioten. Sie denken, du hast mich gewählt.

Aber wir beide wissen, dass es umgekehrt ist.

Vertrau mir.

Ihre Stimme ist süß und schmeichelnd. Vertrau mir und ich mache alles wieder gut. Deine Zeit ist gekommen. Jetzt ist deine Zeit endlich gekommen.

Ich habe dich erwählt, sagt sie.

Die Aufregung um mich herum ist einer gespannten Stille gewichen. Alle starren mich an. Ich bin am Zug. Auf einmal kommt es auf mich an.

Ich lege die Hände auf die Jetons. Zögere nur eine Sekunde. Ich höre sie raunen. »Nein«, haucht die Dicke, »wollen Sie wirklich …«

Ich beachte sie nicht. Schiebe alles zurück.

Ich nehme die Acht beim Wort.

Nichts geht mehr. Das Rad setzt sich in Bewegung. Nichts geht mehr.

Erneut schließe ich die Augen.

Achtung Baby!

Die Frage war jeden Morgen um fünf Uhr die gleiche: Weckte ihn sein Funkwecker mit einem der besten Hits aus den achtziger, neunziger, nuller Jahren und von heute – oder sein verfressener Kater, der ihn hungrig in den Fuß biss. Heute war erfreulicherweise der Wecker schneller. U2 spielten Achtung Baby, der richtige Song. Es versprach ein guter Tag zu werden.

Andy wuchtete sich aus seinem ausladenden Bett – und wurde von seinem Kater in die Zehen gebissen.

»Morgen, Lamprecht. Willste lieber was Nahrhaftes?«

Bevor sich der Fünf-Kilo-Kater entscheiden konnte, ob Füße nahrhaft genug waren, ging Andreas in die Küche und öffnete eine Dose Sheba Thunfisch, deren Inhalt weitaus besser aussah als die drei Tage alten, kalten Ravioli, die er selbst löffelte. Direkt aus der Dose. Danach schlurfte er ins neongelb gekachelte Bad, putzte sich die Zähne, duschte sich – und bemerkte erst an der Wohnungstür, dass er vergessen hatte, sich zu rasieren. Egal, er arbeitete beim Radio, da fiel das keinem auf. Genauso wenig wie seine schluffigen Jeans oder der ausgebeulte Kapuzen-Sweater. Alles vielleicht ein bisschen zu jugendlich für einen Mann über vierzig, aber er würde niemals Anzug tragen, das hatte er sich geschworen.

Es war noch nicht viel los in Köln-Sülz. Die Pizzeria, die direkt unter seiner Wohnung lag und in der er niemals essen würde, weil er unfreiwillig Einblick in den Küchenhof des Gründerzeithauses hatte, war abgedunkelt und verriegelt. Er ging die zwanzig Meter hinüber zur Bahnhaltestelle am Gürtel, wo jeden Morgen dieselben Nasen warteten. Er lehnte sich gegen den Stromkasten und nickte ihnen zu. Geredet hatte er noch mit keinem von denen. Wenn man damit erst einmal anfing, musste man sich immer nebeneinandersetzen, und Andy wollte nichts anderes als seine Ruhe.

Quatschen musste er gleich eh noch genug. Bei Powerradio KKN. Köln Kult News von sechs bis neun Uhr. Super Laune und Spitzenmusik. Direkt gegenüber der Haltestelle war die Plakatwand großflächig tapeziert, das Bild zeigte einen lachenden Andy in Bermudashorts, der in einem Rettungsreifen in einer riesigen Tasse Kaffee trieb. Saudämliches Plakat. Hatte sich die neue Chefredakteurin einfallen lassen. Und nun musste er jeden Morgen, wenn er aus dem Haus trat, seiner eigenen Visage begegnen.

Seit fünfzehn Jahren war er bei dem Laden, er war die Stimme des Senders, er war der Star. Die Straßenbahn hielt am Mediapark, Andy ging Richtung Hochhaus Nummer 7, vorbei am Teich mit den Tretbooten, ein paar Tauben aufscheuchend, die sich auf dem Platz versammelt hatten. Die Strecke legte er wie in Trance und halb schlafend zurück, den Aufzugknopf der elften Etage drückte er, ohne hinschauen zu müssen. Er mochte die Ruhe des Morgens, keine Hektik, vor allem da ihm der Abend gestern im Heising & Adelmannimmer noch in den Knochen steckte – und zum Großteil in der Leber.

Die Aufzugtüren glitten auf, Andy trottete weiter – fast genau in Saskia Schmölln hinein.

»Guten Morgen, Herr Otto. In zehn, nein, warten Sie, neun Minuten gehen Sie auf Sendung. Da bleibt ja noch ordentlich Zeit zur Vorbereitung.«

Saskia Schmölln war die neue Chefredakteurin, seit gut zwei Monaten, und sie pisste an jeden Baum, um ihr Revier abzustecken. Sie war der harte Knüppel, den die Betreibergesellschaft geschickt hatte, um die Quoten nach oben zu prügeln. Die Morgen-Show war dabei die wichtigste Sendung. Unzählige ließen sich davon wecken, hörten sie beim Frühstück und auf dem Weg zur Arbeit. Entsprechend teuer und begehrt waren die Werbeplätze. Es gab sogar Vertragspartner, die Geld dafür zahlten, ihren neuen Film, ihr neues Album oder Buch in Andys Sendung zu präsentieren, dann musste er morgens mit unausgeschlafenen Studiogästen über Themen reden, die ihm am Arsch vorbeigingen: Teenagerschwangerschaften, die Rettung der Berggorillas oder die Plastikmucke eines Castingshowgewinners. Ob man sich da vorbereitete oder nicht, kam nach Andys Verständnis aufs Gleiche raus.

»Ich mach das spontan, wissen Sie doch. Das wirkt authentischer als dieser vorbereitete Kram.«

»Das wirkt nicht authentischer, das wirkt unvorbereitet! So etwas spürt der Hörer.«

»Unterzuckern Sie gerade?«

Saskia Schmölln war im Gegensatz zu ihm perfekt gekleidet, ihr silbergrauer Hosenanzug passte wie maßangefertigt, ihre messerscharf auf Kinnlänge geschnittenen, blonden Haare betonten ihre hohen Wangenknochen, ihre Lippen hatten ein sanftes, frisches Rosa. Sie war jünger, erfolgreicher und schicker als er. Aber mit ihrer Stimme würde sie es niemals vors Mikro schaffen, die klang nämlich, als wäre sie in dem Alter, in dem man lieber Gummitwist spielt, als andere herumzukommandieren.

»Bitte?«, fragte sie nach. »Habe ich das richtig gehört? Ob ich unterzuckere?« Jetzt wurde sie richtig laut. »Herr Otto, seien wir doch mal ehrlich: Sie machen seit Jahren dasselbe. Dieselben lahmen Sprüche, dieselben Anmoderationen, und Ihre Musikblenden sind lausig. Wissen Sie was? Ich bin es leid mit Ihnen.« Ich bin die Pippi Langstrumpf, hollahi holla ho holla hoppsasa – genau so klang sie gerade. Andy musste sich zusammenreißen, nicht gleich loszulachen. »Es gibt Dutzende, ach was Hunderte, die Ihren Sendeplatz wollen, die sich den Arsch aufreißen würden dafür.«

Ja, bestimmt der schöne Thorsten, dachte Andy, der würde dann das Mikro vollschleimen. Doch er sagte nichts. Die Sache zwischen der Schmölln und dem schönen Thorsten war nur Sendertratsch, und er wollte es heute Morgen nicht übertreiben.

»Wenn Sie nicht etwas Neues, sagen wir mal Frisches finden, dann war das Ihre letzte Schicht bei uns.«

»Sie können mich nicht feuern, Chefin.« Er grinste sie an. Andy hatte schon vier Chefredakteure kommen und gehen sehen. Auch die hier würde er locker überstehen. »Ich bin die Stimme des Senders. Und das Gesicht auf den Plakaten.«

»Zeit für eine Gesichtstransplantation.«

Mittlerweile hörten die Kollegen zu. Nicht, dass sie sich um sie versammelt hätten wie bei einem Duell in Gold Rush City, nein, sie taten so, als wären sie mit allem Möglichen beschäftigt – doch waren dabei so leise wie selten.

»Ich meine es völlig ernst, Herr Otto. Lassen Sie sich etwas einfallen. Und zwar heute. Überzeugen Sie mich, dass ein Mann Ihrer Klasse keine zwei Stunden Vorbereitung braucht wie alle anderen Kollegen. Ansonsten können Sie sich einen anderen Sender suchen, der Ihre Arbeitshaltung unterstützt.« Sie drehte sich zu den Kollegen an den Schreibtischen um. »Meine Damen und Herren, Sie können jetzt aufhören zu lauschen und weiterarbeiten.«

Andy ging ins Studio, vorbei an Carina, sie war morgens für die Verkehrslage im Sendegebiet zuständig – und abends für die in seinem Bett. Sie sah aus wie diese amerikanische Schauspielerin mit dem breiten Grinsen, die auf die Rolle des inzwischen erwachsen gewordenen Teenagerschwarms abonniert war, auch wenn Carina es hasste, mit ihr verglichen zu werden.

»Die Schmölln hat völlig recht, reiß dich mal am Riemen«, raunte sie ihm von ihrem Platz aus zu. »Du stehst auf der Abschussliste. Nimm das bloß nicht wieder auf die leichte Schulter.«

»Ach Quatsch!« Andy trat in die kleine Ecknische, welche Carina etwas übertrieben ihr Büro nannte. Sie erhob sich vom Stuhl. Ihre großen, braunen Augen verrieten Unruhe, und während sie ihm seine widerspenstigen Haarsträhnen hinter die Ohren legte und seinen Sweater geradezog, hatte sie schon fast etwas Mütterliches an sich. »Ich will hier doch noch länger mit dir zusammen arbeiten.« Und dann küsste sie ihn vor der versammelten Mannschaft auf den Mund. Was war denn hier los?

Andy ging ins Studio, schloss die Tür hinter sich, warf sich in den Drehsessel, setzte die Kopfhörer auf, hörte den ersten Track vor, mit dem die Sendung gleich beginnen würde, um die Stelle zu programmieren, an der er richtig Gas gab, stellte das Mikro ein und rief seine Spracheinstellung auf. Noch liefen die Nachrichten, die der Kollege im Studio zwei nebenan vorlas, gleich war er dran. Sein Finger schwebte über dem Knopf, mit dem er den Trailer seiner Sendung abfeuern konnte. Sein Puls zog an, Adrenalin rauschte durch seinen Körper, selten fühlte er sich so lebendig wie bei einer Livesendung. Jetzt war es so weit. Klick.

»Einen wun-der-schönen Guten Morgen ins Powerradio-KKN-Land. Die Sonne ist schon aus ihrem Bettchen gekrochen, hier ist Morgens um Andy, ich bin Andy Otto und hier kommt einer der Songs für die einsame Insel: Gotye und Somebody That I Used To Know

Er startete den Track.

Die erste Stunde seiner Sendung war mit einer vorproduzierten Comedynummer von Oliver Kalkofe, einem Telefoninterview mit einer Guerilla-Strickerin aus Bochum und einem Vorbericht zum ersten Iron Man in Schwerte gefüllt – und damit, dass Andy sich Gedanken machte, was er Saskia Schmölln bieten konnte. Zusätzlich vibrierte ständig das Handy. Klar, seine Mutter, die immer noch nicht kapiert hatte, dass sie während der Sendung nicht anrufen sollte. Er ging nicht ran. Sie stand im Seniorenheim immer mit den Hühnern auf und wusste vor dem Frühstück nichts mit sich anzufangen. Familie war leider nichts, was nur anderen Menschen widerfuhr.

Sein letzter Take, er musste die nächste Stunde anteasern, die Leute dazu bewegen, dass sie die öden Nachrichten überstanden und am Radio blieben.

»Kurz vor sieben, für alle, die nicht für den Iron Man trainieren, geht es hier gleich weiter und ich kann euch versprechen: Es wird sich lohnen. Gleich geh ich wie jeden Morgen runter zum Büdchen und hol mir bei meinem Kumpel Wolle einen Kaffee, in dem der Löffel stecken bleibt und – ihr ahnt es schon – den Witz des Tages!« Er ließ den nächsten Song schon mal anklingen. »Außerdem bring ich eine Überraschung mit, mit der ihr und vor allem meine bezaubernde neue Chefin Saskia Schmölln bestimmt nicht rechnet. Was ganz Neues! Was ganz Frisches! Also bis gleich!«

Als er aus dem Studio trat, stand Saskia Schmölln schon vor seiner Tür. Irgendwie wirkte sie größer als vorhin, vielleicht hatte sie noch hochhackigere Schuhe angezogen. »Was sollte das gerade?«, wollte sie wissen.

»War doch nett, oder? Klingt als wären wir eine große, glückliche Powerradio-KKN-Familie. Sie sind die Mutti, und ich …«

»… der Sohn, von dem sich herausstellt, dass er im Krankenhaus vertauscht wurde.«

»Sie können ja richtig witzig sein.«

Doch Saskia Schmölln lächelte nicht. »Da bin ich ja mal sehr gespannt auf Ihre große Überraschung.«

Das war Andy auch, denn er hatte keinen Schimmer, was sie sein sollte.

Draußen auf dem Platz war inzwischen etwas mehr Trubel. Für seinen täglichen Sieben-Uhr-Ausflug zu Wolle’s Büdchen brauchte er immer so um die zehn Minuten – war also knapp genug, das Ganze, und heute musste er auch noch irgendwas mitbringen, womit seine Chefin nicht rechnete.

Eine von den rotzfrechen Tauben? Und die dann live entfedern? Oder eine Ente vom Teich? Er könnte auch irgendeinen Passanten ansprechen und ihn hochschleifen. Doch ein Mensch von der Straße war jetzt auch nicht so wahnsinnig überraschend, und wenn der dann auch noch nichts zu sagen hätte, eine glatte Nullnummer. Es sei denn, der stellte sich als psychotischer Serienkiller heraus – aber so ein Glück würde Andy heute wohl kaum haben, auch wenn Köln mit seinem öffentlichen Personennahverkehr alles dafür tat, dass es mehr von der Sorte gab.

Wolle’s Büdchen lag am Ring. Schon von Weitem war die Schrift an der Seite zu erkennen: Wolle’s Powerradio-Büdchen – Jeden Tag frische Witze! Wolfgang Rademacher machte ein Geschäft draus – sollte er ruhig. Andy kannte ihn schon ewig, die zwei waren zusammen zur Schule gegangen. Wolle hatte allerdings nicht nur eine, sondern gleich zwei Ehrenrunden gedreht, sodass er nachher mit Andys kleinem Bruder den Schulabschluss gemacht und die Bundeswehrzeit absolviert hatte. Trotzdem, das Dorf, in dem sie aufgewachsen waren, war klein genug, dass man die Menschen, die man dort traf, ein Leben lang kannte.

Wolle wartete schon auf ihn, klar, er hörte ja auch Powerradio KKN. Andy flog immer von rechts an, jeden Morgen dieselbe Schleife, am selben Busch vorbei, immer genau gleich … Hey, was war das da? In diesem Busch kurz vor dem Zeitungsständer sollte nichts Rosafarbenes sein. Der war grün, alle Blätter, schon immer gewesen, seit Andy hier landete. Der hatte auch keine Früchte oder Blüten oder so. Der war ganzjährig langweilig grün. Und jetzt lag da etwas Rosafarbenes drunter, oder besser: Es war pink. Schreiend pink. Andy bückte sich, um es erkennen zu können. Ein Handy, Samsung Galaxy, neueste Generation mit Hello-Kitty-Abdeckung, noch ohne Kratzer. Er hob es auf.

»Morgen, du alte Kackbratze«, grüßte Wolle.

»Morgen du Gesichtsbaustelle«, antwortete Andy und reichte ihm die Hand zum Einschlagen. Wolle erinnerte Andy immer an diese Insekten, die wie ein Zweig aussahen. Er war hager, sehnig, und groß. Und seine Hautfarbe war Birke.

Andy zeigte ihm das Handy. »Weißt du zufällig, wem das gehören könnte? Habe ich da drüben im Busch gefunden. Hat vielleicht einer deiner Kunden eins vermisst?«

»Also, ein Kunde schon mal gar nicht, sondern eine Kundin. Guck dir das rosa Ding doch mal an.« Wolle dachte nach und kratzte sich dazu stilecht die Brustbehaarung. »Heute war noch nicht viel los. Vom Sender war bislang nur diese Sekretärin da. Du weißt schon, die mit den dicken ...«

»… Augen?«

»Genau die!«

Das musste Julia sein. Andy ließ das Handy in seine Sweatertasche gleiten, damit er die Hände frei hatte für Wolles Kaffee. Der war nicht anders als der Kaffee oben im Studio – schmeckte aber trotzdem besser, musste an der Umgebung liegen.

»Schwarz wie die Nacht?«

»Schwarz wie meine Seele«, antwortete Andy grienend. Jeden Tag dieselben Gags. Nicht lustig, aber irgendwie beruhigend. Man brauchte solche Traditionen und Stützpfeiler. Andy liebte sein Stammbüdchen, vor dem wie immer zwei Stehtische standen, und das Schild mit der Werbung für Langnese-Eis. Wolle hatte sogar noch ein Süßigkeitenregal, aus dem man sich selber ein Tütchen zusammenstellen und abwiegen konnte. Andy schaufelte sich fünf süße Mäuse, drei saure Pfirsiche und zwei lustige Schlümpfe zusammen. Immer dieselbe Mischung. Den einen Schlumpf würde er gleich Carina schenken, die wusste schon, warum.

»Immer zuerst den Kopf abbeißen«, sagte Wolle beim Wiegen. »Sonst verstößt du gegen das Tierschutzgesetz.«

»Spuck schon aus.«

»Den Witz des Tages?«

»Nee, dein Frühstück. Klar, den Witz des Tages, Mann.«

»Berühmte letzte Worte«, begann Wolle. »Diesmal: Privatdetektiv. Hörst du zu?«

Andy nickte und biss der weißen Maus den Schwanz ab.

»Berühmte letzte Worte des Privatdetektivs: ›Klarer Fall, Sie sind der Mörder!‹« Er lachte schallend.

Andy nicht. »Hm.«

»Du musst das richtig betonen, dann ist es lustig.«

Er legte ihm einsfuffzich für den Kaffee hin. »Was kriegste für die Nervennahrung?«

»Geht aufs Haus. Erwähn nur im Radio, dass es die bei mir auch gibt.«

»Raffinierte Sau.« Andy machte sich auf den Weg zurück zum Radio.

»Ich dich auch. Bis morgen!«

»Hoffen wir’s.«

Mist, er hatte nichts für die nächste Stunde, keine geniale Idee. Klar, Wunder gab es immer wieder, aber nicht morgens um sieben in Köln, an einem durch und durch unspektakulären Montag im August. Da waren die Wunder woanders.

Die Tür des Aufzugs surrte auf – keine Saskia Schmölln. War das jetzt ein gutes Zeichen? Keiner blickte auf, als Andy seinen Kaffee schlürfend vorbeiging. Die wichen seinem Blick aus, okay, er steckte also knietief in der Scheiße. Vielleicht reichte ihm die Suppe auch schon bis zum Hals. Er legte Carina den Gummischlumpf auf den Schreibtisch, das machte er immer, ja, er konnte auch romantisch sein.

Als er sich auf seinen Drehsessel setzte, stieß er mit dem Handy, das noch in seiner Tasche steckte, gegen die Lehne und friemelte es heraus. Shit, das musste er Julia gleich noch zurückgeben. 5,4,3,2,1 …

»Goooood Mooorning Vietnaaam … nee Quatsch, falscher Film. Good Morning ins Powerradio-KKN-Land. Am Mikrofon ist Andy Otto. Gleich gibt es den Witz des Tages, und hier kommt Frank Turner mit The Fisherking für alle Frauen mit tollen, großen, braunen Augen da draußen.«

Er startete den Track. Nur wenige Sekunden später klopfte Carina ans Studiofenster und zeigte ihm unmissverständlich, dass er ja wohl völlig bescheuert war. Aber sie lächelte dabei. Ein wenig.

Als er rausging, war sie aber schon wieder in den News-room des Senders verschwunden, deshalb ging er ohne Umschweife zu Julia und warf ihr das Handy auf den Schreibtisch.

»Hab ich beim Büdchen im Gebüsch gefunden.«

Sie blickte ihn an. Julia war so hager, dass sie jeden Gully weiträumig umgehen musste. »Und was soll ich damit?« Sie packte das Gerät mit langen Fingern an einer Ecke an und legte es beiseite.

»Telefonieren, simsen, Pornos gucken. Was alle damit machen.«

»Das mach ich lieber mit meinem eigenen.«

»Ich dachte, das sei deins.«

»Mit Hello Kitty? Bin ich acht? Na danke. Hier nimm’s wieder. Und an deiner Stelle würde ich schnell zurück in Studio, der Track ist gleich zu Ende.«

Sie hatte recht. Andy griff sich das Samsung und stürzte zurück, gerade rechtzeitig, um die neue Single von Lloyd Cole zu starten. Das Handy legte er aufs Studiopult. Und vergaß es, trotz der knalligen Farbe.

»Und hier der Witz des Tages, backfrisch von Wolle.« Auch wenn man besser betonte, wurde die Pointe nicht lustiger.

Noch zwei Tracks. Er hatte immer noch keine Idee.

Irgendwas würde ihm einfallen, oder? Irgendwas fiel ihm doch immer ein.

Carina kam rein. »Du denkst an unseren Wohnungsbesichtigungstermin heute Mittag, oder? In der Brabanter Straße.«

»Nachher, in der Brabanter Straße, klar.«, wiederholte Andy fast mechanisch. Es hätte genauso gut »Nashörner schielen rückwärts, wenn’s türkis ist« sein können.

»Versetz mich bloß nicht wieder wie beim letzten Mal!« Sie ließ die Tür hinter sich laut ins Schloss fallen.

»Nee. Niemals.« Er fuhr lässig die Blende auf die Waterboys und schlug zur Aktivierung der Hirnaktivität mit der Stirn auf den Tisch. Wobei er unglücklich das Handy traf. Kitty konnte verdammt wehtun.

Verdammtes Handy.

Verdammt, das Handy!

Noch zehn Sekunden. Andy nahm es in die Hand und schaltete es ein, dann ein kurzer Wisch – nicht mit Code gesichert. Genau das, was er brauchte.

Mike Scott stellte das Singen ein, Andy das Mikro an. »Hier ist Andy und Morgens um Andy ist die Welt noch in Ordnung. Aber nicht für alle im Powerradio-KKN-Land, das weiß ich ganz genau, denn eben habe ich an Wolle’s Büdchen was gefunden. Etwas, das jemand jetzt gerade total vermisst. Ruft an, wenn ihr etwas vermisst – oder sogar wisst, was ich gefunden habe.« Er nannte die übliche Nummer, mit der die Hörer direkt bei ihm in der Leitung landeten.

Mit den mal mehr, mal weniger spaßigen Anrufern füllte er die zweite Stunde. Nein, es war kein Ehering, mit dem jemand heute seinen Antrag machen wollte, ebenso kein hochgewürgtes Schnitzel von Mannis Bulettenbude an der Aachener, leider auch weder Madonnas Stringtanga noch das Bernsteinzimmer. Vor der Werbung feuerte er noch den Hinweis ab, dass es rosa sei und man es gerne in Socken stecke. Und nein, es sei nicht das rosafarbene, was die Red Hot Chili Peppers auf der Bühne früher in Socken gesteckt hätten. Jeder einzelne von ihnen. Es folgte passend Give It Away – manchmal hatte Andy wirklich geniale Ideen, zumindest, was die Musikauswahl betraf.

Nach den Nachrichten war es dann so weit, er lüftete das Geheimnis. »Es ist kurz nach acht hier bei Morgens um Andy, die Welt ist noch in Ordnung und vor mir liegt … ein rosafarbenes Hello-Kitty-Handy. Und nachdem Madonna mit Stringtanga, und Peter Maffay – hoffentlich ohne – gesungen haben, gucke ich mal rein in die wichtigsten Daten. Und ihr seid live dabei.«

Carina schaute herein. »Spinnst du? Du kannst doch nicht einfach ins Handy von einer Wildfremden gucken!«

»Mach ich ja nur, damit sie es zurückbekommt. Und das alles on air

»Willst ja nur gucken, ob sie ihren nackten Hintern fotografiert hat.«

»Ach, Hasenöhrchenschnuckiputz, du kennst mich so gut.« Er warf ihr einen Kuss zu, sie zeigte ihm den Mittelfinger. Andy entschied, doch keine zwei Tracks zu warten, sondern direkt nach Applaus, Applaus reinzugehen.

»Ich halt es nicht mehr aus, Leute. Ich muss da jetzt reingucken. Einmal gewischt … und … drin!« Er feuerte einen Tusch ab. »Also, wen haben wir da in der Kontaktliste? … D.U. ImwaldE.I. Felstern … sagt euch das was? Mir nicht! Mal bei den Fotos schauen … Ja, ich weiß, was ihr denkt: Schweinkram, am besten in Nahaufnahme … Mal gucken … nee, gar nix! Komisch, nicht ein Foto … Menno! Aber wartet, da kommt gerade eine SMS rein … ein Klick und …«

Ein Klick und … er sah die Nachricht. Da stand etwas, das er nicht vorlesen wollte, weil es irgendwie, na ja, merkwürdig klang, auf eine beunruhigende Weise ernst.

Hier stimmt was nicht. Hab ein ganz komisches Gefühl. Komm bitte sofort.

Andy entschied sich schnell. »Nach den nächsten beiden Songs verrate ich euch, was drin stand. Nur so viel: von wem immer diese SMS ist, es sieht schlecht aus.«

Radio war wie Sex. Heiß machen, etwas geben, aber nicht alles, lustvoll kitzeln, den Höhepunkt hinauszögern – und dann war es zum Schluss umso geiler für Moderator und Hörer.

Aber deshalb hatte er das Vorspiel diesmal nicht hinausgezögert. Er wollte diese SMS nicht vorlesen. Kurz entschlossen rief er die Nummer an, von der sie kam. Es tutete. Vier, fünf Mal, dann klackte es. »Hier ist die Mailbox von Christine Irene Osterling. Wenn ich nicht rangehe, bin ich sicher mit meinen Tausendfüßlern beschäftigt. Nachricht bitte nach dem Piepton.« Die Stimme klang streng, wie Fräulein Rottenmeier.

Andy legte auf. Tausendfüßler? Kölner Zoo? Die hatten doch im Terrarium auch Insekten. Er googelte auf dem Handy die Kombination Kölner Zoo und Christine Osterling. Nix. Einfach nur Christine Osterling? In Köln gab es mindestens vierzehn davon, noch mehr, wenn der Telefonbucheintrag unter ihrem Mann lief oder sich Christine hinter den unzähligen C. Osterling verbarg. Tausendfüßler und Christine Osterling?

Treffer.

AWO-Kindergarten Die Tausendfüßler in Hürth, Leitung: C. Osterling. Auf der Homepage ganz viele Kuscheltiere.

Und jetzt? Das Handy spuckte kaum Informationen aus. Die Eigene Rufnummer wurde angezeigt, sonst gab es nichts. Keine weitere SMS, kaum gespeicherte Nummern … Er machte einen Versuch, die Nummer des Geräts zu googeln, aber das lief ins Leere.

Shit, er musste wieder auf Sendung gehen, erzählte schnell, dass er was über komische Gefühle auf dem Display gelesen habe. Und dann setzte er etwas hinzu, das ihm ganz spontan einfiel, weil das Adrenalin mal wieder Raggamuffin in seinem Körper tanzte.

»Und wisst ihr was, ihr da draußen im Powerradio-KKN-Land? Ich weiß auch, wer das geschrieben hat und wo ich ihn oder sie finde. Und genau da fährt euer Andy jetzt hin. Morgen um Andy erzähle ich euch, wie die Sache gelaufen ist. Ich habe jetzt ein Date.«

Was für eine Mörder-Story!

Angelacht

Christine ging beim Aufschließen der Kita vieles durch den Kopf. Der muffige Geruch im Innern hielt ihr vor Augen, dass ihr Jahresurlaub nun endgültig vorbei war, andererseits wusste sie: Das war gar nicht so schlecht. Zu Hause saß Rainer, der noch acht Tage Urlaub hatte. Nach zwei gemeinsamen Wochen auf Ibiza war das ein Gedanke, der Christine geradezu in Panik versetzte. Ihr Mann war ihr fremd geworden, beinah unheimlich. Das Bild, wie er am vorletzten Urlaubstag im Appartement auf sie losgegangen war, ließ sie erschauern. Mit einem tiefen Durchatmen schob sie den Gedanken beiseite. Ab der nächsten Woche war wieder Alltag angesagt. Jede Menge Robins und Idas und Leos warteten auf sie, außerdem Mütter mit Erziehungsfragen, Kolleginnen mit gelben Krankenzetteln und der Kita-Träger mit neuen Verordnungen. Christines Arbeit wurde zunehmend komplex, aber sie machte ihr Spaß. Als sie bei ihrer Rückkehr einen Zettel im Briefkasten vorgefunden hatte, dass sie zur Kontrolle der Handwerksarbeiten trotz Urlaubs heute Morgen die Kita aufsuchen sollte, war sie nicht etwa empört, sondern geradezu erleichtert gewesen. So weit hatte Rainer es schon gebracht! Aber wenn sie ehrlich war, hatte es auch Thomas Wiemer so weit gebracht, der Vorsitzende des Elternbeirats. Er hatte gestern bei ihr angerufen, er hatte versprochen vorbeizukommen, als er gehört hatte, dass sie heute hier war – vielleicht konnte ihr das Leben ja doch noch etwas bieten! Jetzt aber hieß es, die Lage zu sichten, und für die gab es nach dem ersten Umschauen nur ein treffendes Wort: Chaos!

Die Handwerker hatten ihre Arbeit ordentlich erledigt, ordentlich aufgeräumt hatten sie nicht. Schon im Flur Materialreste und zwei Säcke mit Bauschutt. Die Möbel aus dem Mäusezimmer hatten sie vor den Eingang zum Turnraum gepackt und wild übereinandergestapelt. In Gedanken ging Christine durch, welche Firmen sie gleich telefonisch zusammenfalten würde. Wütend kämpfte sie sich zum ehemaligen Hasenzimmer durch, das in Zukunft als Ruheraum genutzt werden würde. Schon der erste Blick verschaffte ihr ein gutes Gefühl. Der Farbton, den sie zusammen mit Thomas ausgesucht hatte, war wunderschön. Ein mattes Lindgrün. »Beruhigend«, hatte Thomas gesagt und ihr dabei lange in die Augen geschaut. Das neue Fenster an der Ostseite sah gut aus, ebenso das Laminat. Trotzdem noch jede Menge Arbeit mit Putzen und Einräumen, Christine zog kurzerhand die Tür zu. Das Eulenzimmer hatte dagegen nur einen neuen Anstrich bekommen: ein sonniges Gelb. Das Inventar war in der Mitte zusammengestellt und mit einer Plane abgedeckt worden. In der Ecke stand noch die kitaeigene Leiter. Die Anstreicher hatten es offenbar nicht für nötig befunden, sie zurück in den Schuppen zu räumen. Vielleicht würde Thomas ihr gleich dabei helfen. Aufräumen dagegen konnte sie allein. Sie zog die Folie ab, verstaute sie im Flur und begann, das Chaos zu sortieren. Alles lag durcheinander: Die Stofftiere und Kissen, die in die Kuschelecke gehörten, außerdem alles, was an den Wänden gehangen hatte; ein Satz Stempeldruck-Bilder, eine selbst gebastelte Glitter-Girlande, Fotos vom Aufbau der Spielhäuschen. Sie nahm eine der Aufnahmen in die Hand. Thomas, der ausgelassen in die Kamera lachte. Der Mann hatte so viele Ideen: die Vater-Kind-Übernachtung, die Gründung des Fördervereins, der Alleinerziehenden-Stammtisch, der ihm natürlich besonders am Herzen lag. Seitdem er im Elternbeirat war, hatte Thomas unglaublich viel organisiert. Allein, dass er die Fotoshootings der Kinder selbst in die Hand genommen hatte, um bei den Eltern Geld für den Fotografen zu sparen, das wiederum dem Förderverein zugekommen war! Dieser Berufsfotograf war eine Pfeife gewesen, der die Kinder in Kitschpositionen mit Lolli, Stofftier oder Matrosenmütze abgelichtet hatte. Thomas dagegen hatte total lebendige Aufnahmen draußen im Garten gemacht. Christine hatte dem Fotografen deshalb eine Abfuhr erteilt.

Oder dann die Auseinandersetzung mit Hiltrud Klein! Die Erzieherin hatte den Kindern erzählt, Jungs müssten nicht in der Küche helfen, das wäre Frauenarbeit. Thomas hatte Christine bestmöglich unterstützt und wunderbar zwischen allen Fronten vermittelt. Christine war sehr wohl bewusst, dass Thomas das nicht allein für seinen Sohn tat. Er tat das auch für sie. Um mit ihr zusammen zu sein. Es kribbelte in ihrem Magen, wenn sie nur daran dachte. Kurzerhand entschloss sie sich, das Bild von Thomas auf jeden Fall wieder aufzuhängen, allein um ihn in allen Räumen bei sich zu haben. Sie schaltete das Radio ein und suchte nach dem Tesa, das wieder irgendwer verschusselt hatte. Ihre Finger wühlten sich durch die Inhalte der Schubladen. Es klapperte und raschelte. Bei Radio KKN war gerade der Moderator dabei, ein fremdes Handy zu durchschnüffeln. Sicher ein billiger NSA-Gag auf Kosten der Kanzlerin. Sie fand die Rolle und riss einen Streifen ab. Gerade als sie sich streckte, um das Bild an der Wand zu befestigen, hörte sie die Tür. Er kam – schon jetzt! Ihr Kribbeln wurde stärker. Sie hatten sich zwei Wochen lang nicht gesehen. Schon seine Stimme am Telefon hatte gestern so gut getan. Hektisch überlegte sie: Wie sah das aus, wenn er sie beim Anpinnen seines Bildes erwischte? Dann war sie plötzlich sicher, er würde sich freuen. Vielleicht war es endlich an der Zeit, sich zu offenbaren. Vielleicht war es endlich, endlich an der Zeit! Aufgeregt fuhr sie sich durchs Haar, schaute an sich hinunter, war drauf und dran, ihm entgegenzustürmen – im letzten Moment entschied sie sich dagegen. Sie wollte nicht ihn finden, sie wollte von ihm gefunden werden. Sich überraschen lassen. Sich ergeben. Sie hörte ihn im Flur, versagte sich, ihn zu rufen. Vielmehr streckte sie sich, um den Tesastreifen festzudrücken. Jetzt hörte sie ihn hinter sich im Raum. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie spürte förmlich, dass er sie beobachtete, dass er lächelte bei ihrem Anblick, dass er von ihr fasziniert war. Alles in ihr wollte sich umdrehen, ihm entgegenspringen. Gleichzeitig war der Moment zu schön, um ihn schon zu beenden.

Sportfreunde Stiller sangen im Hintergrund:

Applaus, Applaus,

Für Deine Art mich zu begeistern.

Hör niemals damit auf!

Ich wünsch’ mir so sehr,

Du hörst niemals damit auf.

Er kam näher, noch näher. Ihr Nackenhaar sträubte sich, als sie ihn direkt hinter sich spürte, und dann – endlich – war der Augenblick gekommen. Sie drehte sich um.

Wie Achterbahnfahren

Während Andy mit dem sendereigenen, knallroten Smart zum Tausendfüßler-Kindergarten unterwegs war, probte er für den Fall, dass er einem Fake erlegen war und hier nichts Außergewöhnliches vorfinden würde, ungefähr 264 verschiedene Gesprächseröffnungen.

»Guten Morgen, Andy Otto von Morgens um Andy« – kurze Pause, um dem Gegenüber Gelegenheit zum Verstehen und Staunen zu geben:

»Andy? Der Andy? Von Morgens um Andy? Gibt es doch gar nicht!« – »Doch, gibt es, hier bin ich. Und ich habe Ihre Kita – Ihre Kita! – für eine Reportage über U3-Betreuung ausgewählt.«

U3-Betreuung – das war für Andy bislang nur ein ödes Stichwort aus den Nachrichten gewesen, das ihm sagte: Pass auf, jetzt kommen schon die uninteressanten Themen, gleich danach bist du wieder auf Sendung. Ansonsten interessierte Andy sich kein Stück für die Sorgen doppelt belasteter Eltern, die ihre Säuglinge abgeben wollten, um wieder Zeit zum Geldverdienen zu haben, das sie dann wiederum in die sauteure Kita investieren mussten. Doch für den Auftritt hier in Hürth hatte er sein kleines bisschen U3-Betreuungs-Wissen zusammengekratzt, sonst nahm ihm das gleich keiner ab.

Er übte sich weiter als investigativer Journalist: »Was mich interessiert: Wie fühlt sich eine Erzieherin, jetzt da die Winzlinge immer winziger werden? Wie ist Ihr Windelwechsel-Rekord auf dreißig Minuten? Ab wie viel Dezibel träumen Sie davon, statt Kindergärtnerin lieber Friedhofsgärtnerin zu sein?«

Nein, nicht gut. Das war der Sound seiner Sendung, aber er war schließlich nicht on air, sondern hier, um etwas herauszufinden – etwas, das im besten Fall nicht angenehm werden würde. Und aus dem er eine gute Story herausschälen konnte.

Als er ausstieg, sank seine Zuversicht in den Keller. Tote Hose. Kein Geplärre und keine Käsehochs, die sich am Zaun drängelten, um zu fragen, was der fremde Onkel hier will. Wenn er richtig Pech hatte, machte diese Kita gerade Sommerferien, dann war kein Schwein da und er war völlig umsonst ins schnuckelige Hürth rausgefahren. Dass jemand sich einen Gag mit ihm erlaubte, schloss er aus. Schließlich war ihm die Idee mit der kleinen Exkursion ganz spontan gekommen.

Er warf zunächst einen Blick über den Zaun. Ein Kinderparadies mit Schneckenrutsche, Klettergerüsten und kleinen Häuschen, die wahrscheinlich von den sieben Zwergen persönlich erbaut worden waren. Hatte er früher in seiner Kindheit auch so ein Angebot gehabt? Nee, da hatte es nur den Wald bei der alten Fabrik gegeben, wo er durchs schmutzige Unterholz geschlichen war. Seine Höhlen waren zwar nicht so niedlich, aber dafür selbst gebaut gewesen. Hatte ihm auch nicht geschadet. Hier war alles unbespielt und unbeklettert. Mist! Andy suchte die Eingangstür – ein kunterbuntes Glasgebilde mit Tausenfüßlerornamenten. Da er schon fest damit gerechnet hatte, hier alles verschlossen vorzufinden, operierte er mit zu viel Schwung. Die Tür rammte böse gegen die Wand. Na ja, mit der Tür ins Haus zu fallen, war ja auch eine Gesprächseröffnung. Eigentlich sogar die, die er am besten beherrschte.

Im Flur stand Baukram herum. Also doch Sommerferien. Und wahrscheinlich wartete hier auf Andy ein einsamer Handwerker, der Kabel verlegt. Vielleicht wurden ja die Spielhäuschen im Garten mit Internet versorgt. Bei den heutigen Kids war alles möglich.

»Hallo?«

Keine Antwort. Andy quetschte sich an ein paar Müllsäcken vorbei und öffnete eine Tür. Spatzenzimmer stand außen dran, ach wie süß. Ein großer Raum mit Tischchen und Stühlchen in der Mitte, die sofort Mitleidsgefühle in Andy aufkommen ließen. Ein einziger Tag auf so einem Mini-Stuhl hätte bei untrainierten Erwachsenen wie ihm wahrscheinlich zwangsläufig einen Bandscheibenvorfall zur Folge. Die arme Christine Osterling!

Andy fiel auf, dass er noch nie zuvor in einem Kindergarten gewesen war. Seine Mutter hatte von solchen Einrichtungen nichts gehalten. Neugierig schaute er sich um. In einem Winkel gab es Kisten mit Bauklötzen und Lego, in einem anderen lag eine flauschige Decke mit Kissen, an der Wand hingen selbst gemalte Bilder von der Qualität, dass nur die eigenen Eltern darin etwas erkennen konnten. Er trat näher und sah sich eines davon an. Ein Mensch, der allerdings mehr wie eine Riesenmotte aussah. KIM war krakelig untendrunter geschrieben. Kim – war das ein Er oder eine Sie? Mussten solche Namen nicht ein Anhängsel haben? Kim-Dennis oder Kim-Jacqueline? Andy drehte ab. Ließ sich nicht klären und war auch egal.

»Hallo?«, versuchte er es im Flur ein weiteres Mal. Sollte hier wirklich jemand an der Arbeit sein, so schien er oder sie taub zu sein – oder war in der Pause, ohne den Laden abgesperrt zu haben. Er steuerte die nächsten Zimmer an. Meisenzimmer? Schwalbenzimmer? Piep piep piep, wir ham uns alle lieb? Falsch! Eulenzimmer stand auf einem Schildchen. Die Tür stand offen.

Er sah die Frau sofort. Sie lag am Fuße einer Leiter, ausgestreckt auf dem Rücken, die Augen geschlossen, neben ihrem Kopf breitete sich eine Lache von Blut auf dem bunten Laminat aus. Ringsherum ein einziges Chaos: verknickte Girlanden, Stofftiere, eine umgestürzte Holzkiste.

Mit wenigen Schritten war er bei ihr, schüttelte etwas unbeholfen ihren Körper, fühlte ihren Puls. Nichts. Dann setzte der Schock ein; Zittern und die Unfähigkeit, etwas zu tun. Andy brauchte gefühlte Ewigkeiten, bis er sich zur Ruhe zwingen und einen klaren Gedanken fassen konnte. Ein Rettungswagen, sofort!

Er brauchte eine halbe Minute, bis er mit bebenden Händen das Handy aus der Hosentasche gefischt hatte. Das Hello-KittyHier stimmt was nicht! Hab ein ganz komisches Gefühl