Helene Böhlau


Altweimarische Liebes- und Ehegeschichten

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-136-7


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Dritte Geschichte



Eine kuriose Geschichte


Zur Zeit, als die Kummerfelden schon bedenklich zu altern begann, wäre sie um ein Haar um ihren guten Ruf gekommen, den sie ihr Lebtag wie einen Augapfel zu hüten verstanden hatte; und das ist folgendermaßen zugegangen: "Herrjes!" sagte Röse Kirsten, die Tochter des Herrn Rat Kirsten (das eine "Ratsmädchen", zu ihrer Schwester Marie, dem andern "Ratsmädchen" aus der Wünschengasse"), "was ist denn da einmal wieder bei den Franzosen los!"

Sie saßen alle miteinander in der Nähschule der alten Schauspielerin, der Kummerfelden, in dem kleinen Haus am Entenfang, zur Zeit als die Pogwischs, die Adele Schopenhauer in den "Entenfang" gingen, um, statt nähen zu lernen, was ihnen allen recht not getan hätte, die gute Kummerfelden zu beobachten, weil die Originale schon dazumal im Aussterben begriffen waren, wie es hieß.

"Am Entenfang" wurde die Schule der Kummerfelden kurzweg genannt, eben weil sie am Entenfang lag. Der Entenfang war aber eine Schleuse, bis zu der die Enten von der Lottenmühle den Lottenbach hinüberschwimmen konnten und an der sie sich schnatternd und plaudernd unterhielten, wie es gewisse Leute in der Nähschule der Kummerfelden genau so zu tun liebten.

Unsre Geschichte beginnt, wie das junge Nähvolk in der großen Stube der Kummerfelden sitzt. Die Mädchen im unteren Raum und die Kummerfelden im Allerheiligsten, zu dem breite Stufen aus der eigentlichen Nähschule hinaufführen. Im Allerheiligsten steht ihr Bett. Über dem Bett hängt der Beutel mit Nachtproviant: ein paar Äpfel, ein Fläschchen mit sogenanntem Lebenselixir und das Gesangbuch. In dem Gesangbuch liegt eine dicke Schnur und zeigt die Sterbelieder an, denn die Kummerfelden wollte in ihrer Einsamkeit, bei bösem, schnellem Tod den letzten Trost der Religion bequem bei der Hand haben. Und daß die Lorbeerkränze aus den Ehrentagen, als die Kummerfelden noch Schauspielerin war, wie Erntekränze von der Decke herabhängen und die geblümten Kleider an den Wänden paradieren, und daß die Kummerfelden eine große Haube trägt, wie ihresgleichen in Weimar nie wieder zu finden ist, das alles will ich hier nur beiläufig erwähnen.

Aber sie selbst, die Kummerfelden, spielt in dieser Geschichte dennoch eine Hauptrolle, die alte Frau, auch ihr Haus am Entenfang, auch ihre Nähschule, ihre geblümten Kleider, ihre Lorbeerkränze und ihre guten, alten Freundinnen, die große, lustige Fabianen und die kleinen Muskulusen mit der Perücke.

Als das Ratsmädchen, die Röse, rief: "Herrjes! was ist denn da einmal wieder bei den Franzosen los!" saßen sie eben alle miteinander in hergebrachter Ordnung; die Kummerfelden auf ihrer Stufe thronend, die sie sich an einer Seite etwas hatte verbreitern und mit einem Lederkissen belegen lassen.

"Na," sagte Madame Kummerfelden, "das möchte ich doch wissen, was du nu wieder gehört hast."

"Was ist denn aber das?" flüsterte Adele Schopenhauer den Pogwischs zu, "ich denke, sie ist halb taub? Und da hört sie ganz vortrefflich!"

Das passierte der Kummerfelden selten, daß sie sich verschnappte. Sie hatte ihre Schülerinnen an ihre Schwerhörigkeit glauben machen wollen, damit diese alles, was sie unter sich zu bereden hatten, laut beredeten, ohne sich zu genieren, und damit sie selbst mit ihren scharfen Luchsohren alles hören konnte. Aber diesmal hatte sie sich wirklich verschnappt und ließ deshalb die Sache auf sich beruhen, damit es desto eher in Vergessenheit käme.

Die Ratsmädchen, Röse und Marie,. aber hatten die List der Kummerfelden längst durchschaut und lachten jetzt miteinander, als sie bemerkten, wie die Kummerfelden sich ärgerte, und sie ärgerte sich nicht nur darüber, daß sie sich verschnappt hatte, sondern über noch etwas andres, das war ihnen vollkommen klar, den beiden Krabaten. Und jetzt gab es wieder Lärm im Haus. Es trappte jemand die kleine, schmale Treppe, die zu den zwei Hinterzimmern im Entenfang führte, hinab, und die Haustür donnerte zu, daß die ganze Nähschule wackelte und auch die Haube der Kummerfelden; aber die bemerkte jetzt gar nichts mehr und hörte wieder gar nichts.

"Da hat es eben doch etwas gegeben, das war der Colonel, der hinausgetappt ist," sagte jetzt Röse wieder leise. "Ich weiß nicht, daß die Kummerfelden durchaus nicht zugeben will, daß ihre Mietsleute Spektakel machen, das ist wirklich närrisch. Wenn Beutlersch bei uns oben so wären, da möchte ich den Vater sehen; aber die Kummerfelden hat doch an dem verrückten Tier, dem Colonel, einen Narren gefressen."

"Na natürlich," meinte Marie.

Dieser Colonel war vor ungefähr einem Jahr mit seiner Frau, einer Dresdenerin, in Weimar aufgetaucht.

Wo er eigentlich herkam, das wußte man nicht; ob er Colonel war oder sich nur selbst so bezeichnete, war auch nicht mit Bestimmtheit festzustellen. Er erzählte, daß er lange in Deutschland gefangen gewesen, daß er da und dort herumgekommen sei und daß er auch damals in Weimar bei der Plünderung mit gewesen. Und damals mußte es ihm in Weimar ganz besonders behagt haben, denn er war jetzt zum zweiten mal wiedergekehrt, um sich mit seiner deutschen Frau daselbst niederzulassen.

Daß es damals mit der Plünderung wirklich seine Richtigkeit haben mochte, darauf schwuren Marie und Röse, denn wie sie den Colonel zum ersten mal zu Gesicht bekommen und gehört hatten, unter welchen Umständen er vor acht Jahren schon in Weimar gewesen war, da stand es bei beiden fest, daß niemand anders als gerade er damals die Schinken an den blauseidenen Schärpenbändern aus ihrer Mutter Speisekammer fortgetragen hatte. Das Gesicht, sagten sie, hätten sie beide nicht vergessen. Und so waren sie auf den Schinkendieb bis heute nicht gut zu sprechen und hatten die Kummerfelden auf das inständigste und freundschaftlichste gebeten, doch den Colonel nicht als Mieter in den Entenfang hineinzulassen.

Die Kummerfelden aber hatte über ihre dumme Schinkengeschichte gelacht und gesagt, sie sollten sich nicht solches Zeug einbilden, und dann hatte sie noch hinzugesetzt, um den Einwand der Ratsmädchen vollständig zu entkräften: "Und wenn er auch wirklich zu jener hochbeinigen Zeit die Schinken und die Schärpenbänder fortgetragen hätte, so wäre das seine Pflicht und Schuldigkeit gewesen, da ein Soldat eben zu plündern hat, ob er will oder nicht."

Diese Weisheit der Kummerfelden aber leuchtete diesmal den Ratsmädchen durchaus nicht ein, und als sie den Colonel zum ersten mal unten bei der Nähmeisterin trafen, konnten sie den Gedanken an die Schinken und die Schärpenbänder keinen Augenblick los werden.

Der Colonel sagte, daß er gekommen sei, weil in Weimar so viel bons gens wären und er mit de bons gens leben wollte. Da fuhr es dem jungen, lustigen Ding, der Röse, wie ein Blitz durch den Kopf, wie eine Erleuchtung, die sie der Mamsell Loisette, ihrer guten französischen Lehrerin in der Gassenmühle, zu verdanken hatte.

"Ja," sagte sie bedeutungsvoll, "es giebt viel gens bons in Weimar, viel jambons."

Der Colonel mochte schwerlich erraten, was das hübsche Mädchen mit dieser scharf betonten Umdrehung eigentlich wollte, und der Leser wird das auch nicht recht wissen. So einem guten weimarischen Gemüte ist das nämlich völlig gleichbedeutend: gens bons (gute Leute) oder jambon (Schinken). Röse aber hielt es für einen gar nicht mißzuverstehenden Witz, begriff sich selbst nicht, wie ihr so etwas Geistreiches und Gelehrtes hatte einfallen können, stieß ihre Schwester Marie an, um sie darauf aufmerksam zu machen, fand aber auch da kein Verständnis, denn Marie hatte keine Ahnung mehr, wie Schinken auf französisch hieß. Keine Menschenseele hatte etwas von der Herrlichkeit verstanden, aber das schadete nichts, Röse hatte doch empfunden, daß im Menschen ungeahnte geistige Kräfte schlummern. Auf dem Heimweg erklärte sie Marie auch noch ausführlich ihren vortrefflichen Einfall, und beide wunderten sich noch gehörig darüber, daß sie auch auf französisch Witze machen könnten.

"Und das sag' ich dir," meinte Röse, "er hat's doch verstanden, merktest du nicht, wie er so sonderbar auf die Seite schielte, als traute er sich nicht, mir in die Augen zu sehen?"

"Natürlich," meinte Marie, "da er ein Franzos ist, wird er's ja wohl verstanden haben. Übrigens, er soll ja ein Elsässer sein, Gott weiß, die sprechen's vielleicht wieder anders aus als wir."

Die Schinkengeschichte blieb in der Phantasie der Ratsmädchen an dem Colonel haften. Es ist sogar anzunehmen, daß, wenn sie sich ihn vorstellten, sie ihn beide immer mit den Schinken über der Schulter sahen. Und doch war er ein so charmanter Mann, wie die Kummerfelden sagte.

Die Ratsmädchen wußten auch, daß sich die Kummerfelden schon längst einen Mann ins Haus gewünscht hatte und nun steckte sogar ein Colonel im Entenfang. Das mochte ihr sehr recht sein. Sie sagte in der Nähschule auch, als der Colonel richtig eingezogen war: "Seht ihr, Mädchen, mein Lebtag hab' ich von den Mannsbildern nicht besonders viel gehalten, wenn auch einmal alle Jubeltausendjahre so einer mit darunter durchläuft wie der Geheimrat Goethe und seinerzeit unser Schiller und der alte Wieland und was sich so in Weimar zusammengefunden hat. Ihr müßt wissen, Mädchen, daß es jetzt hier in Weimar eine außerordentliche Rarität ist und daß an die tausend Jahr vergehen können, ehe wieder so etwas vorkommt, und vielleicht kommt's nie wieder vor, solang die Welt steht. Mannsbilder," sagte die Kummerfelden, "wird es natürlich immer geben, und sie werden auch immer glauben, daß sie Gottes Wunder was sind, werden von Jugend auf alle Weisheit, die es gibt, eingetrichtert bekommen, daß auch ein Esel daran zum Platzen gelehrt werden könnte, wenn man sich mit ihm die Mühe geben wollte, wie man sie sich mit den Mannsleuten gibt; aber etwas Vernünftiges, wie jetzt hier, werden sie ihr Lebtag nicht wieder zu stande bringen, und darauf leg' ich die Hand ins Feuer: Die haben sich für ein hübsches Weilchen ausgegeben," sagte die Kummerfelden mit Pathos. "Dicktun und aufgeblasen sein, das natürlich, das werden sie immer und ewig können. Sie werden aber auch, solang die Welt steht, nicht verstehen, sich einen Hemdenknopf anzunähen. Eine Schleife, das lernen sie auch nie zu binden, ihr Mädchen, und wenn sie im Zimmer was suchen, so werden sie immer und ewig wie die Blinden herumrennen und nichts sehen, wenn's ihnen vor der Nase liegt; und wenn gestritten wird, so werden sie ewig recht behalten; und wo's was zu saufen gibt, werden sie ewig dabei sein; und wenn sie den Schnupfen haben, werden sie sich entsetzlich gebärden; und wenn man auf Reinlichkeit hält, da werden sie immer und ewig ein Geschrei machen, daß man glauben sollte, man wollte sie berauben; und weil man ihnen mit Mühe und Qual durch lange Jahre etwas Lateinisch beigebracht hat, werden sie immer der Meinung sein, daß, weil schließlich etwas davon hängen geblieben ist, kein andres Geschöpf außer ihnen so etwas lernen kann, und wenn ein Frauenzimmer einmal ein paar lateinische Brocken aufgeschnappt hat, werden ihnen die Haare stets zu Berge stehen, wie bei einem ungeheuren Naturwunder; wenn dasselbe Frauenzimmer aber wie Wasser französisch und englisch und italienisch und meinetwegen türkisch spricht, da werden sie gar nix dabei finden, jetzt und in Ewigkeit nicht. Und wenn es heißt, ein schon bis zum äußersten unterjochtes Frauenzimmer noch ein bißchen mehr zu ducken, das werden sie unter allen Umständen für ein moralisches und vortreffliches Werk halten jetzt und in alle Ewigkeit; und wenn ein solch armes Frauenzimmer sich irgend etwas hat zu schulden kommen lassen, da werden jetzt und in alle Ewigkeit die ärgsten Sündenhunde über ihr zu Gericht sitzen; und wenn einer, was Gott verhüte, ein Mädchen verführt hat, wird er, ich meine schon solang die Welt noch lebt, ganz engelrein dastehen. Und wenn einer aus Eitelkeit platzt, wird er zu jeder Zeit den Mut haben, wie ein Schulmeister von der Eitelkeit der Weiber zu reden. Mein Gott," sagte die Kummerfelden, "da könnte man fortreden von jetzt bis in alle Ewigkeit in einer Tour, Männer sind einfach lächerlich, aber eines, das muß ich ihnen lassen, bei Gewittern sind sie gut im Haus zu haben. Seht ihr, Mädchen, das ist mir im Entenfang immer abgegangen, und jetzt hab' ich gottlob einen drin; für nächsten Sommer. Jetzt ist mein Haus versorgt. So ein Haus ganz ohne Mann ist eben nichts Fertiges. Damit will ich aber nicht etwa gesagt haben 'ohne Ehemann', durchaus nicht. Im Gegenteil," sagte die Kummerfelden eifrig, "wenn es nach mir ging' und ich die Gesetze als Frauenzimmer machen dürfte, da sollte ein Mann überhaupt einem Frauenzimmer nicht enger angekettet sein als zum Beispiel der Colonel mir. Ein jedes Frauenzimmer sollte das Recht haben, ihm kündigen zu können, wie ich als Hausherrin dem Colonel kündigen kann; dann würde die Geschichte ein andres Gesicht bekommen, ihr Mädchen," sagte die Kummerfelden listig.

Für unsre vortreffliche Zeit wären die Ansichten der Kummerfelden sonderbar genug, und so eine Nähschule, wo dergleichen verhandelt würde, könnte sich gefaßt machen, von Polizei wegen geschlossen zu werden.

Dafür aber sind wir auch ganz gehörig zurückgegangen in vielen Dingen. Unser Blut ist dick geworden, die lustigen, harmlosen Blutwellen, die damals durch die Adern der verstorbenen Weimaraner wie muntere Quellen rieselten, sind eingetrocknet.

Die Leute von damals ließen sich nicht so ohne weiteres verblüffen wie wir, hatten nicht so gewaltige Scheuleder wie wir vor den Augen, waren weniger gebildet und weniger verschroben und sprachen, wie der Schnabel ihnen gewachsen war, ohne viel Bedenken. Es war eine lustige, freie Zeit, damals, eine bessere Luft.

Und die Kummerfelden, die hatte noch etwas ganz Besonderes voraus. Sie stand bei aller Welt so unantastbar in Achtung, daß sie sagen konnte, was sie wollte, es wurde von der guten Seite genommen. Sie war durch Wasser und Feuer gegangen, das heißt, durch ein langes, vielbewegtes Leben, und dazu noch ein gehöriges Stück dieses Lebens über die Bretter, welche die Welt und zu jener Zeit noch dazu ein tüchtiges Stück Leichtfertigkeit bedeuteten, ohne daß man ihr irgend etwas Unrechtes hätte nachsagen können und das war ihr Stolz.

Die Kummerfelden sprach gern von ihrem Colonel, und die Mädchen in der Nähschule stellten Betrachtungen darüber an, daß es komisch von der Kummerfelden wäre, die Frau Colonel so vollständig totzuschweigen, wie die Kummerfelden in der Freude ihres Herzens, einen Mann im Hause zu haben, es in der Tat sich zu schulden kommen ließ, und sie erkundigten sich daher auf das ausführlichste stets nach Madame und nach Monsieur.

"Ja, mein Gott," sagte einmal die Kummerfelden, "wäre Madame auch Französin, dann sähe die Geschichte freilich anders aus, aber zwei so feindliche Völker unter einem Dach, das tut nicht gut, und all der Spektakel, der daraus natürlicherweise entstehen muß, den soll man aus christlicher Liebe gar nicht bemerken."

Deshalb sprach die Kummerfelden von Madame so wenig wie möglich.

Hätte sie von Madame gesprochen, so hätte sie sagen müssen, daß Madame in einem ununterbrochenen Entsetzen über das, was Monsieur tat, sprach oder nicht tat, sich befand, und daß es im Entenfang nicht immer so ruhig herging, wie es die Kummerfelden hätte vorgeben mögen.

In jenem schneereichen Winter waren die Colonels bei der Kummerfelden eingezogen, gerade um Weihnachten. Es war ein ganz unglaublicher Winter, und der Leser wird sich das kleine Weimar in seinem hohen, weichen Schneebett schwer vorstellen können. Die große Schneeeinsamkeit rings umher!

Jetzt gibt es die gar nicht mehr. Die Eisenbahn läßt solche Weltabgeschiedenheit nicht aufkommen.

Damals aber lag das warme kleine Nest wie mitten in einer Schneewüste, die Landstraßen hoch verschneit, meilenweit bis zur nächsten Stadt. Das Leben bekam so etwas Heimliches, Verschneites, Verborgenes wie in einem alten Märchen. Da war ein Fürstenhof mitten im hohen Schnee, und schöne Damen und Feste, und weise, hochberühmte Männer und lustige Straßenbuben, alles verschneit, alles im Schneenest, und warme, heimliche Stübchen und helle Feuer im Ofen, und alte Weiber am Spinnrade, und lustiges Volk und Komödie und Whistpartieen, und alles mitten im weiten hohen Schnee, vom Schneehimmel überwölbt, und ringsum nichts als Einsamkeit und Stille, Rabenflüge, ferne verschneite Dörfer, Weltabgeschiedenheit und weicher Flockenfall, weiche Schneeluft, die den Schall seit Wochen schon gedämpft hielt.

Und in diesem Winter sind viele sonderbare Dinge im Schneenest geschehen. Der große Winter hat den Leuten lange, lange noch nachdem vorgeschwebt. Gar manche haben ihn ihr Lebtag nicht vergessen. Die Liebschaften in jenem weichen, eingehüllten Winter waren so zart, so frisch, so glückselig, so weltverborgen und wie auf weichen Sohlen, die Träume mit wachen Augen in jenem Winter waren so ungestört, das Wandeln zwischen den hohen Schneewällen so köstlich, so versteckt, und wie gut ließ es sich grübeln, Gott weiß, was alles da geschah.

Ein jeder hatte den Trieb nach Geselligkeit, nicht nach rauschender, glänzender Gesellschaft, nach heimlichem Beieinanderhocken, wenn draußen der Schnee fiel.

So war es auch der Kummerfelden ergangen; die Abende mit der Fabianen und der Mamsell Muskulus und den Ratsmädchen, als sie das Damengärtchen bauten, hatten ihr so wohl behagt, daß sie meinte, es wäre hübsch, wenn ihre beiden alten Kameradinnen, die Fabianen und die Muskulusen, manchmal angetappt kämen und mit ihr zusammensäßen, und auch die beiden Rackersmädchen Röse und Marie sollten ihr willkommen sein, und daß sie allerlei auftischen wollte, das war selbstverständlich. Schüttchen hatte sie bei Orthelis einen Vorrat backen lassen, der gut den ganzen Winter durch reichen mußte, und Kaffee und für die Ratsmädel Nüsse und Schnurpsäpfel, an all dem sollte es nicht fehlen.

Der weiche, weiße Winter, der tiefhängende Schneehimmel, der gleichmäßige, wie ewig andauernde Mollton in der Natur, der über Stadt und Land lag, hatte es auch der Kummerfelden angetan. Wenn sie so allein im Entenfang saß, da kamen die Erinnerungen wie große, lautlose Vögel angeflogen, durch die Schneeluft hindurch, und sanken weich auf die alte Frau nieder, daß es ihr bang und weh um ihr lebensfrohes Herz wurde.

Die Erinnerungen bei stillem Schneewetter im einsamen Stübchen bei Dämmerlicht, das will durchgemacht sein. Da fragt einmal bei den alten Leuten an, die werden es euch sagen.

Wenn die längst verstorbenen Gestalten zur Tür hereinkommen, ohne sie erst öffnen zu müssen und ohne anzuklopfen, und die längst vergangenen Freuden im armen stillen Herzen erwachen und die liebe gute Jugend aufersteht, und von allem, was einst war, nur das verrunzelte Menschenkind noch da ist, ganz allein, alles andre wehmütige Schatten.

Die Stunde in der Schneedämmerung, wenn draußen die Flocken fallen und kein Ton ins Stübchen dringt, die brauchen die, welche jung sterben, nicht zu durchleben, wohl ihnen.


* * *


"Siehste," sagte die Kummerfelden mit einer etwas wackligen Altweiberstimme zur Fabianen und der Muskulusen, "laßt uns hübsch zusammenhalten. Wenn meine Nähstunde zu Ende ist, da kommt ihr eben die Woche ein paarmal herüber zu mir."


* * *


Und sie kamen durch den Schnee angetappt, die Muskulus im Veilchenhut und die Fabian im unzerreißbaren Christophorusmantel und im Lori und den riesenhaften Filzschuhkähnen.

Und wie die drei da bei einander saßen, war es, wie zu jeder Zeit, ganz behaglich im Entenfang. Was die Kummerfelden versprochen, das hielt sie redlich. Der Kaffee duftete im Ofenrohr und das Schüttchen lag, so lang und breit es war, auf dem Tisch zum allgemeinen Gebrauch, und die Schnurpsäpfel für die Ratsmädchen waren oben im Allerheiligsten in der Kommode, die als vierten Fuß einen Blumentopf hatte und an der eine Gabel an einer Schnur hing. Mit der Gabel verstand die Kummerfelden auf eine außerordentlich geschickte Weise die Fächer zu öffnen, die durch dieses Verfahren Stichflächen aufzuweisen hatten, wie sie der Zeigefinger einer fleißigen Näherin an sich trägt; wenn die beiden Mädchen kamen, brauchten sie sich nur zu holen, wonach ihr Herz begehrte.

Aber so wohlgeordnet und vortrefflich auch alles war, die rechte Stimmung wie am Abend, als sie das Damengärtchen miteinander bauten. wollte sich nicht einstellen. Nicht ein einziges Mal hatte die Rabenmutter gelacht, daß die Stube schütterte, und die Muskulusen war, wenn sie nicht durch andre ein wenig aus ihrer Demut gerissen wurde, so außerordentlich bescheiden, daß nie etwas Rechtes von ihr zu erwarten war.

Über der allzeit wohlgelaunten Kummerfelden lag es wie ein wehmütiger Schatten. Sie schenkte ihren beiden Kameradinnen mit so einer gewissen tragischen Geste, wie sich die Fabianen ausdrückte, den Kaffee ein und schnitt vom Schüttchen Fetzen herunter, wahrhaft vorsündflutliche, auf so eine Manier, als wollte sie damit sagen: "Mir ist nun schon alles eins."

"Ei, ei, ei, Kummerfelden," sagte die Fabianen, "was machst du denn? Was ist mer denn mit dir?"

Und die Fabianen, das Riesenweib, stützte ihren Kopf auf die großen Arme auf und schaute sich so ihre alte Kummerfelden in aller Gemütlichkeit an.

"Na, du bist auch wirklich, Fabianen, wenn du siehst, daß es einem nicht so ganz recht ist, da legt mer sich doch nicht so her und glotzt einem an wie ein Totenbeschauer."

"Herr Gott, nu hört sich aber alles auf!" rief die Fabianen, "wenn mer einem seine Teilnahme und Freundschaft bezeigt, da braucht er doch nicht gleich eklig zu werden. Nee, Muskulusen, siehste, wie die Kummerfelden jetzt is, das is schon arg!"

Damit wendete sich die Fabianen brummend an die Mamsell, die sich durch eine direkte Anrede der großen Frau immer geschmeichelt fühlte und beistimmend nickte.

"Na, so ohne weiteres abgemacht ist das aber auch noch nich, daß man nur dazu zu nicken braucht," fuhr die Fabianen die kleine Person mit der großen Perücke an. "Es gibt gewisse Dinge, an die trotz aller Freundschaft ein lediges Frauenzimmer nicht so ohne weiteres heran darf. Zum Beispiel, eine verehelichte Frau ist ewig himmelweit von ihr verschieden, so daß sie überhaupt kein Urteil hat über das, was nur eine verehelichte Frau angeht. Ich meine," fuhr die Fabianen heftig fort, "mit der Kummerfelden hat es etwas ganz Extra's auf sich, denn so ohne weiteres benimmt sie sich nicht wie eine Diva."

Da lachte die kleine Muskulusen, weil ihr das komisch vorkam.

"Da is gar nichts zu lachen!" fuhr die Fabianen sie von neuem an. "Siehste, Kummerfelden, wenn ich sagte, wie eine Diva, da wußte ich sehr wohl, was ich meinte, dir zur Ehre sei's wieder ausgesprochen, von der Komödiantin merkt mer dir wenig an; aber heite und die ganze Zeit, da muß ich immer denken, daß du eine Diva warst, Kummerfelden."

"Herr Jeses nee!" lachte die Kummerfelden leise, "wie kommst du denn auf so was? Un gerade Diva? Wie denn nur."

"Siehste, die Kränze oben über deinem Bette un so manches noch, was um dich und an dir ist, das macht mir dir so manchmal den Eindruck, als läge über dir und deinen Sachen eine Moderdecke."

"Pfui Teufel!" sagte die Kummerfelden.

"Nee, Kummerfelden," fuhr die Fabianen auf, "ich meine ja nur so poetisch ausgedrückt. Siehste, du tust mer manchmal eben leid! Da weiß ich gar nich, wie mer's is, alt muß unsereiner doch allemal werden un is auch alt; aber für so ne Schauspielerin muß es doch extra eklig sein, mit einem mal so der Vergessenheit anheimzufallen, so zu sagen bei lebendigem Leibe."

"Ja, Fabianen." Die Kummerfelden reichte der großen Frau über den Tisch herüber ihr bewegliches altes Händchen und schaute ihr so eigen in die Augen. "Wie du das so aussprichst, Fabianen."

Eine große Rührung trat in die Züge der Kummerfelden, und das alte kleine Weib in dem geblümten Kleide und mit der hohen Haube saß vor der braven Fabianen, die mit ihren runden Augen den Leuten bis ins Herz sehen konnte, wie vor ihrem Beichtvater.

Und es machte gar nichts, daß der Beichtvater ein gewaltiges Stück Schüttchen ganz unbeirrt in den Kaffee stippte und sich dann in den Mund schob und wohlgefällig kaute. Es war doch eine vertrauensvolle Stunde im Entenfang.

Auf dem armen Herzen der Kummerfelden lagen die Erinnerungen nicht mehr so schwer und weich, die ihr der tiefhängende Schneehimmel auf die Seele gedrückt hatte, aber sie war in großer Bewegung und sprach, wie sie es noch zu keiner Menschenseele getan hatte.

"Ja, Fabianen, da hast du ganz recht," sagte sie, und die alten Augen glänzten feucht. "Eine junge Seele und ein alter Leib, das ist des Teufels, Fabianen. Und hätte ich mir nicht sogleich, wie ich vom Theater gegangen war, die große Altweiberhaube angewöhnt" sie legte beide Hände mit einer flinken Bewegung auf ihre Haube "so hätte ich gewiß Gott weiß was für Streiche angerichtet, denn das muß ich sagen bis auf den heutigen Tag: alt mich fühlen, das tue ich nun einmal noch ganz und gar nicht. Das aber habe ich mir damals gleich gesagt: Kummerfelden, Kummerfelden! wenn du es nur anständig zuwege bringst, das Altwerden! Du mein Gott, man urteilt so hart über die armen Frauenzimmer, die nicht alt werden können, als ob das eine so leichte Sache wäre. Na, ich meine, ich hab' mir nichts zu schulden kommen lassen. Auch noch verschiedene Mal hätte ich ganz gute Engagements annehmen können, aber nee, nee! Wahrhaftig, das sag' ich: So was, Gott sei mir gnädig, kann sich nur ein Teufel ausgedacht haben, innen jung und außen verhuzelt."

"Das fühlt unsereins nu nich so gefährlich," sagte die Fabianen. "Hat unsereins acht Kinder gehabt, da macht mer keinerlei Ansprüche mehr, und in was for 'ner Art Sack das Herze steckt, das is schon alles eins. Mer is doch nur so 'n Popanz mehr, gar wann's an die Schwiegermutter geht, no da schon gar! Da hilft unsereins keine Schönheit mehr. Und das Herze ist mit den Kindern auch so abgerackert, daß es weiß Gott an Schnurrpfeifereien nicht mehr groß denkt. Freilich bei kinderlosen Weibern, un gar bei einer Künstlerin, da ist das anders, nadierlich, nadierlich!" Die Fabianen nickte heftig mit dem Kopfe. "Nee, Kummerfelden, ich versteh' dich ganz gut. Hast auch dein Teil durchmachen müssen, un brav, das muß dir dein Feind lassen, ehrenwert. Siehste, es muß dir gerade gehen, Kummerfelden, wie dem alten Regimentsgaul am Ackerpflug. Du mein Gott, wenn der mal die Trommel hören tät, das möcht' ihm nicht schlecht in die alten Knochen fahren, der armen Schindermähre."

"Fabianen, deine Bildnisse und Gleichnisse, das ist aber etwas Miserables!" rief die Kummerfelden.

"Na ja, nadierlich, das Kind beim rechten Namen nennen, das willst de nich, da soll immer so drum 'rum geredt werden." Die Fabianen goß sich von neuem Kaffee ein und schnitt sich ein gehöriges Stück Schüttchen ab, schob auch der Mamsell Muskulusen eins hin, ein ganz kleines und einige Krümel. "Da, da haste was, Grünschnabel," und tippte ihr auf die wollige Perücke mit einem ihrer großen, harten Finger. "Warm un weich, Muskulusen," sagte sie dazu. "Geh mer weg, wie kann mer nur sommers un winters un in der Stube so 'nen Fußsack tragen! Es glaubt dir's ja doch kein Mensch. Da lob' ich mir die Kummerfelden."

So saßen sie noch eine gute Weile bei ihrem Kaffee und dem Schüttchen, das vor der Fabianen ihrem Appetit dahinschmolz wie Butter in der Sonne, die grobe, gute Fabianen, "die stille vor sich hine" Mamsell Muskulus, wie sie in Weimar sagen, und die Kummerfelden. Und alle drei hatten keine Geheimnisse voreinander.

Die Fabianen, der das Wohl ihrer lieben Nächsten im Menschen- und Tierreich gar sehr am Herzen lag, sagte immer wieder: "Pass auf, Kummerfelden, wenn du's jetzt mit der Sehnsucht nach einer scheenen Vergangenheit zu tun hast, das laß mir nur gut sein, das krieg mer schon; nur sachtchen!" und die Fabianen rückte schließlich mit dem, was sie meinte, heraus.

Die Kummerfelden sollte ihnen ihre schönsten Rollen vorspielen, sie wären doch auch sozusagen Menschen, und wenn die Kummerfelden wünschte, da wollten sie auch mitspielen, und etwa Colonels und die Ratsmädchen könnten zuschauen. Ganz wie die Kummerfelden es bestimmen würde.

Und dieser Vorschlag gefiel der Kummerfelden. "Ja," meinte sie, "das wär' nicht übel." Und der Fabianen reichte sie die Hand und sagte: "Du treue Seele. Siehste, die Julia, die spielte ich gar zu gern noch einmal."

Die Julia hatte es der Kummerfelden angetan. Stücke daraus hatte sie ihren Nähschülerinnen hin und wieder vordeklamiert, und Julias Schuhe, welche die Kummerfelden zum letzten mal als Julia im Sarg angehabt hatte, die waren noch immer der höchste Preis für eine vortreffliche Nähleistung, und das Mädchen, das diese Schuhe zur Belohnung eine Stunde lang im Entenfang an den Füßen tragen durfte, war eine vielbeneidete Person. Die Schuhe der Julia waren der Orden, den die Kummerfelden für ihre Schule gestiftet hatte.

Und ihr altes liebes Gesicht leuchtete wahrhaft, als sie den Plan, die Julia noch einmal zu spielen, weiter mit der Fabianen besprach.

Ehe die Freundinnen an diesem Abend sich verabschiedeten, hatten sie noch ein längeres Ständchen mit dem Colonel und dessen Frau. Das Ehepaar kam, um sich nach dem Befinden ihrer Hausherrin zu erkundigen, und wurde sehr artig von der Kummerfelden bewillkommnet.

"Na, das is ja scheen," sagte die Fabianen, "daß Sie bei der Kummerfelden wohnen. Und Sie sind ja auch nicht zum ersten mal hier, mein Herr, Sie sollen ja schon damals mitgeplündert haben, wie ich von verschiedenen Seiten gehört habe. Ja, sehen Sie, unrecht Gut gedeiht nicht. Jetzt ist's gottlob anders."

"O, wie gottlob" unterbrach sie der Colonel eifrig. "Das sein nicht recht von Ihn su sagen. Deitschland wäre sehr glicklich unter die Franzosen. Schlimm, sehr schlimm für Deitschland! Sie werden sehen, wie es wird werden! Sie werden nich Freid haben daran, non, non, madame!"

"Ach, aber Pips, red doch nich so, was sollen denn die Leute von dir denken," sagte Madame, eine kleine, runde Dresdenerin.

"Monstre!" rief er und blitzte sie von der Seite an.