Buchcover

Anne-Marie Donslund und Inez Gavilanes

Das Magische Buch 3

„Voodoo“

Saga

Neue Welt

Ich konnte mir nie erklären, wozu Mathematik eigentlich gut sein sollte. Aber eigenartigerweise bin ausgerechnet ich nun ganz besessen von Zahlen. Seitdem ich nämlich in dem Magischen Buch gelesen habe, dass Zahlen uns viel mehr beeinflussen, als wir zunächst glauben. Nichts passiert zufällig.

Meine Mutter glaubt, Numerologie und Magie mit Zahlen sind reiner Aberglaube. Sie geht gerade einen halben Meter vor mir und erzählt von einer alten Freundin, die Hella hieß, sich dann aber plötzlich Maike-Dea nannte, weil sie glaubte, die Zahlen, die in ihrem Namen stecken, hätten Einfluss auf ihr Leben. Ich zähle währenddessen im Stillen die Striche auf dem Gehwegpflaster. 745, 746, 747...

Mama hat darauf bestanden, mich heute Morgen zu begleiten, weil Helena und Julie mich nicht abholen kommen. Das haben sie sonst gemacht, wenn wir in die Schule mussten, aber jetzt sind wir ja zerstritten.

„Bei dem schönen Wetter mache ich doch gerne einen kleinen Umweg auf dem Weg ins Amt“, hat sie gesagt und so geschah es. Jetzt bin ich dazu verdonnert, ihrem Gerede zuzuhören.

Hätte ich bloß nie etwas von den Zahlen gesagt. Würde sie doch einfach aufhören. 749, 750...

„Das gibt es ja nicht: Wie langsam du gehst.“ Mama hat sich umgedreht und ihr Parfüm dringt in meine Nase. Ich muss niesen.

„Als ich zur Schule ging, wollte man immer früh da sein. Hella und ich waren immer früh!“

„Maike-Dea“, murmle ich. Es ist, als wären meine Beine schwer wie Blei, so als wenn es überhaupt nicht das Richtige ist, sich der Schule zu nähern. Deshalb zähle ich auch. Ich muss wissen, ob ich tatsächlich reingehe oder besser draußen bleibe.

Es sind 762 Striche auf dem Gehweg von unserem Haus bis zur Schule.

Man muss Quersummen bilden und die Zahlen immer weiter zusammenziehen bis am Ende nur noch eine Ziffer übrig bleibt. Sieben plus Sechs plus Zwei. Das macht 15. Und Eins plus Fünf, das macht... zum Glück: Sechs!

Ich atme erleichtert auf. Sechs ist meine Glückszahl. Also wird heute vielleicht doch nicht alles so schlimm werden wie gedacht. Mama redet immer noch einfach drauflos. So als hätte sie einfach nicht verstanden, wie schwierig es in meinem Leben gerade ist.

„Da, wo der neue Gebäudeflügel jetzt ist“, sagt sie, „da war früher ein Schuppen in dem sich die Pärchen versteckt haben um zu küssen. Schade, dass sie den abgerissen haben, was?“ Sie zwinkert mir zu und stößt mir leicht ihren Ellenbogen in die Seite. Als hätte ich jemanden, den ich heimlich küssen könnte. Das hatte ich mal, also fast. Aber jetzt nicht mehr. Mein Hals schnürt sich sofort zu.

„Ja, wirklich schade. Tschüss dann“, sage ich und schlurfe rüber zur Tür. Meine Füße sind wieder schwer. Schwer wie Stein und Eisen. Ich bekomme kaum die Flipflops über die Türschwelle.

„Hallooo“, höre ich dann Mama von hinter mir mit beschwingter Stimme. Aus meinem Augenwinkel sehe ich Hinkeheiner. Er war beim Frisör und hat ein neues Hemd an. Komisch. Jetzt hatte er sieben Jahre die gleichen Sachen an und gerade heute, wo ich zu einer Art Eisenskulptur mutiert bin, ist auch er ganz anders.

Dann sind wir also zwei.

Nach den Sommerferien gibt es immer irgendetwas das neu und anders ist. Einer ist gewachsen, eine andere hat Brüste oder längere Haare bekommen und wieder andere tragen ein Armband aus irgendeinem exotischen Land. Aber Herr Hein ist normalerweise immer der Alte und ich freue mich normalerweise darauf, wieder in die Schule zu kommen. Aber nicht dieses Jahr.

Herr Hein ist stehen geblieben, um sich mit Mama zu unterhalten.

Aber im Ernst mal, nur weil wir auf seiner Nachtwanderung waren und Mama und er vor gefühlten 1oo Jahren zusammen zur Schule gegangen sind, müssen sie doch nicht gleich beste Freunde werden. Vielleicht reden sie auch über mich? Über meinen Streit mit Helena und Julie? Hauptsache, Mama fragt ihn nicht, ob er irgendwas machen kann, um es in Ordnung zu bringen, denn dann wird alles nur noch schlimmer.

Wenn es überhaupt noch schlimmer werden kann.

Aber ja, es geht immer schlimmer...

Ich sehe es sofort, als ich die Tür zum Klassenzimmer aufmache. Hier ist auch alles anders. Die U-Anordnung der Tische, in der wir jedes Schuljahr gesessen haben, wurde umgestellt. Jetzt sind es Bankreihen, in denen man jeweils zu zweit nebeneinander sitzt. Drüben am Fenster sitzen Julie und Helena beieinander. Beide in weißen Tops, mit sonnengebräunter Haut und gleichen Pferdeschwänzen. Hinter ihnen sitzen Hannes und Kasper. Alle haben schon einen Banknachbar, außer zwei. Der eine, der alleine sitzt, ist Sven, natürlich.

Die andere ist das neue Mädchen in der Klasse, Anna. Sie hat knallrote Haare, schwarze Augen, schwarze Klamotten, schwarzen Nagellack und kreidebleiche Haut. Sie hat außerdem ihre Kopfhörer drin und hört damit bestimmt irgendwelchen Metal von dem iPod vor ihr auf dem Tisch. Sie sieht jedenfalls so aus, als würde sie so etwas mögen.

Ich fühle mich noch tausendmal schwerer, als Sven bei meinem Anblick zu lächeln beginnt und seine Tasche vom Stuhl neben sich nimmt.

Alle starren mich an und warten auf die Entscheidung. Sven oder Anna?

Sechser

Wir hatten Anna vor zwei Wochen am Strand zum ersten Mal getroffen. Es war der Katastrophentag, der alles veränderte. An diesem Tag habe ich meine beiden besten Freundinnen, meine Liebespuppen und denjenigen, in den ich schon seit einem Jahr verliebt bin, verloren. Kasper und ich waren eigentlich gerade dabei... naja, vielleicht nicht direkt dabei, ein Paar zu werden, aber wir waren auf dem Weg dahin. Wir haben beinahe Händchen gehalten und uns geküsst.

Aber dann kamen Helena und Julie aus dem Urlaub zurück und haben die Liebespuppen in meiner Tasche gesehen und so herausgefunden, dass ich sie nicht kaputtgemacht habe, wie wir es uns eigentlich versprochen hatten.

Ich habe damals nicht mit Anna gesprochen. Niemand hatte es getan. Sie saß einfach nur da und sah mega-feindselig aus. Genau wie jetzt.

Sven dreht seinen Kopf leicht seitlich. Er macht mich Wahnsinnig mit seinen Hundeaugen. Ich verstehe jetzt so gut, warum meine Beine schon beim ersten Schritt in Richtung Schule so schwer waren. Mit meinem sechsten Sinn wusste ich, dass das neue Schuljahr genau so werden wird: ein Alptraum.

Vielleicht können mir die Zahlen helfen. Ich bin richtig gut im Kopfrechnen geworden, seitdem ich das Kapitel über Numerologie im Magischen Buch gefunden habe. Ich habe die Übersicht mit dem Alphabet und den dazugehörigen Zahlen abgeschrieben und mitgenommen. Ich ahnte wohl, es könnte nützlich sein. Ich ziehe den Zettel halb aus meiner Hosentasche und schiele unauffällig drauf.

Jeder Buchstabe hat eine Zahl.

Sven:

Sieben? Fuck, das kann nicht sein. Sieben! Genau wie bei meinem Namen. Von jetzt an kann ich nicht mehr Cille heißen! Ich habe keine Lust, die gleiche Zahl zu sein wie Sven! So ein Dreck aber auch! Von jetzt an muss ich mich Cecilie nennen, dann bin ich ein Zweier, wenn man die Zahlen der Buchstaben zusammen nimmt. Der ewige Zweier, für immer nur an zweiter Stelle. Helena ist natürlich ein Einser.

Aber Kasper ist ein Sechser. Deshalb ist Sechs auch meine Glückszahl. Anna ist... auch ein Sechser. Und es waren 762 Striche auf dem Gehweg, die werden auch zu einem Sechser.

Die Zahlen wollen mir etwas sagen. Ich spüre es. Und ich spüre auch Herr Heins Hand auf meiner Schulter.

„Hallo und herzlich willkommen zurück im Schulalltag, trotz der Sommerhitze!“, ruft er hinter mir und schließt die Tür. Ich gehe zum allerletzten Tisch und lasse mich neben Anna auf den Stuhl fallen. Sie riecht etwas nach Rauch. Helena und Julie trauen ihren Augen nicht. Die anderen aus der Klasse glotzen erst blöd zu mir und dann zu ihnen, während sie unruhig auf ihren Plätzen herumrutschen und zu tuscheln anfangen.

Helena richtet sich auf und guckt zu Herrn Hein.

„Wie gut Sie aussehen, Herr Hein“, sagt sie und alle haben ihre Aufmerksamkeit wieder bei ihm. Alle außer Anna. Sie guckt mich an und nimmt die Kopfhörer raus.

„Wie heißt du?“, fragt sie leise.

„Cecilie“, antworte ich. Von jetzt an ist es vorbei mit Cille!

„Ok, ich nenne dich dann Ce!“, sagt Anna.

„Ze?“

„C-E! Dann bist du ein Sechser.“

Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken runter. Ihre schwarzen Augen bohren sich einen kurzen Augenblick in meine. Dann schüttelt sie mit dem Kopf, steckt die Kopfhörer wieder in die Ohren und dreht die Musik so laut auf, dass es fast die ganze Klasse hören kann. Ce. Das ist wirklich sechs. Und sie versteht auch etwas von Numerologie. Das kann kein Zufall sein.

Meine Hand zittert, als ich meine Federtasche aus dem Rucksack nehme. Wie konnte sie überhaupt wissen, dass ich Zahlenmagie kenne? Vielleicht hatte sie meinen Zettel mit der Übersicht gesehen? Ich würde sie wirklich gerne fragen, aber ich traue mich nicht. Irgendetwas an ihr macht mich nervös. Vielleicht das ganze Schwarz.

Helenas und Julies Blicke treffen meinen flüchtig, dann brechen sie in Gelächter aus und stecken ihre Gesichter ganz dicht zusammen.

Alles ist neu. Ich bin ein Sechser. Aber irgendwie fühlt es sich trotzdem nicht gut an.

Scheißtag

So ein Scheißtag! Ich wusste ja, dass es nicht gut werden wird, aber es ist wirklich noch schlimmer geworden, als ich befürchtete.

Dieses Jahr fängt offensichtlich der Schul-Ernst an. Nachdem Herr Hein uns eine Million langweilige Bücher, Kopien und Übersichten ausgeteilt hatte, kam unsere neue Englischlehrerin. Ich wusste nicht einmal, dass wir wechseln sollten... Jetzt haben wir Frau Madsen. Karin Madsen. Sie ist streng und geht davon aus, wir alle wären perfekt in Englisch. Einige sind das vielleicht auch, aber ich gehöre nicht dazu.

Gleich zu Beginn sollten wir in zehn Minuten so viel über uns selbst aufschreiben, wie wir nur konnten – natürlich auf Englisch. Danach sollten wir es dann vorlesen. Frau Madsen sagte, damit sie uns etwas besser kennenlernen könnte. Julie und Helena haben rumgealbert, während sie schrieben, und auch Kasper und Hannes haben von der Bank hinter ihnen mitgemacht.

Es ist so, als würden die vier jetzt zusammengehören. Komisch, wenn man bedenkt, dass ich am Strand gesagt hatte, dass Julie die war, die Kaspers Shirt geklaut hatte. Das ist ihm dann wohl egal, oder aber Julie und Helena haben erzählt, dass es gar nicht stimmt. Vielleicht haben sie sogar gesagt, ich hätte es gemacht.

Jedenfalls hat Helena die ganze Zeit beim Schreiben mit Kasper geflirtet und er hat nicht einmal zu mir rübergesehen. Als die Zeit um war, fragte Frau Madsen, wer vorlesen möchte. Natürlich hat sich Helena gemeldet und als erste vorgelesen. Es ist auch nicht so, als hätte einer von uns anderen wirklich Lust gehabt vorzulesen und sich vor der ganzen Klasse zu blamieren.

Helena im Gegenteil war wie immer souverän. Sie ging mit wehendem Pferdeschwanz zur Tafel und las in ihrem fehlerfreien Englisch vor. Sie berichtete, wie hart die Modelbranche sei und wie schwer es ist, dünn zu bleiben, dass man dafür aber auch unvergessliche Erfahrungen machen könne. Wenn es gut liefe, könne man um die ganze Welt reisen und ein Vermögen machen, vorausgesetzt man hat den perfekten Körper und das hübscheste Gesicht.

Die ganze Klasse hat geklatscht, als Helena fertig war. Auch ich, aber nur ein bisschen. Anna hat als einzige nicht geklatscht. Frau Madsen hatte sie dazu verdonnert, ihren iPod wegzupacken, und als Helena fertig gelesen hatte, zog sie nur die Augenbrauen hoch und sah mich so an, als fände sie Helena fürchterlich platt.

Dann ist etwas passiert, mit dem ich wirklich nicht gerechnet hätte. Anna hat sich gemeldet! Ihr Englisch ist richtig gut, noch besser als Helenas eigentlich, und sie las ein ordentliches Stück vor. Es ging um ihre Einstellung zu sich selbst und gegenüber der ganzen Menschheit. Es hörte sich ziemlich intelligent an. Ich hatte mir vorher jedenfalls noch nicht solche Gedanken gemacht. Und ich hätte auch sicher nicht gedacht, jemand wie Anna würde das tun. Sie hat Sachen gesagt, die Helena irgendwie lächerlich machten. Es war fast so, als hätte Anna direkt an Helena geschrieben.

Sie sagte nämlich, sie fände es peinlich, wie Mädchen alles dafür tun würden ein bestimmtes Gewicht zu halten und einem falschen Schönheitsideal zu entsprechen, nur um in den Augen anderer zu gefallen. Sie hat auch gesagt, dass es falsch sei, sich so an Modetrends zu orientieren, wenn es doch genug Menschen gibt, die gar nichts zum Anziehen haben.

Als Anna fertig war, herrschte Totenstille in der Klasse und Helena glich einer riesigen Gewitterwolke.

Auf dem Weg in die Pause haben Helena und Julie mir den bösesten Blick überhaupt zugeworfen und als es wieder zum Reingehen geklingelt hat, gingen sie untergehakt ganz dicht an Annas und meinem Tisch vorbei. Julie hat „bitch“ zu Anna geflüstert, ohne sie anzusehen. Dann ließ sie ihren Blick über mich schweifen, ohne mich wirklich zu sehen.

„Na sowas, Cille... Da hast du ja jemanden gefunden, der zu dir passt! Sie ist genauso hinterhältig wie du!“

Ich habe fast keine Luft mehr bekommen und meine Augen füllten sich mit Tränen. Zum Glück konnte ich sie zurückhalten. Anna war vollkommen kalt. Sie guckte einfach nur völlig gleichgültig zu Julie und stöpselte sich wieder ihren iPod in die Ohren.


Der erste Schultag ist immer kurz, und als wir fertig waren, ließ ich mir einfach noch etwas Zeit im Klassenraum, damit ich bloß nicht gleichzeitig mit Helena und Julie rausmusste.

„Willst du nicht nach Hause?“, fragte Anna. Ich nickte nur, blieb aber sitzen. Dann ging sie auch. Am Ende war ich die letzte im Raum, aber als ich rauskam, stand Sven noch da und kramte in seinem Rucksack nach seinem Schlüssel. Er fand ihn irgendwann ganz unten.

„Ist dein Fahrrad kaputt?“, fragte er. Ich zuckte nur mit den Schultern und ging weiter. Ich war schon oben an der Kreuzung, bevor er mich einholte. Er fuhr den ganzen Weg langsam neben mir her und sagte, er würde sich schon um mein Fahrrad kümmern.

„Es ist nicht kaputt. Bis dann“, war das einzige, das ich sagte, bevor ich zu unserm Haus abbog.

Es geht einfach nicht. Ich kann einfach nicht neben diesem Nerd sitzen. Aber das muss ich, falls ich beabsichtige, mich jemals wieder mit Helena und Julie zu vertragen. Sie hassen Anna ganz offensichtlich und wenn sie glauben, dass wir jetzt Freundinnen sind, dann hassen sie mich auch. Nicht nur jetzt, sondern für immer.

Die Liebespuppen

Mama steckt den Kopf zu meiner Zimmertür rein.

„Du hast Besuch.“

„Besuch?“

„Vor der Tür steht ein rothaariges Mädchen und fragt nach dir.“

„Anna“, sage ich und schwinge mich aus dem Bett.

„Keine Ahnung, du solltest besser mal hingehen, aber denk dran, in einer halben Stunde musst du los zum Tanzen!“

Tanzen! Das klang ganz gut, als Mama es vorschlug. Vor allem, weil ich zurzeit niemanden habe, mit dem ich reden und zusammensein kann. Es wirkte beinahe irgendwie vernünftig, etwas Neues anzufangen. Aber schon jetzt ist mir klar, es war eine dämliche Idee. Besonders weil Mama zu den Leuten gehört, bei denen es kein Zurück gibt. Hat man sich einmal angemeldet, muss man auch das ganze Jahr dabeibleiben. Ganz gleich, ob man es mag oder nicht. Deshalb habe ich im letzten Schuljahr auch nichts gemacht. Man traut sich nämlich gar nicht, sich irgendwo anzumelden, wenn man keine Chance hat, es wieder zu lassen. Und wie soll man wissen, ob einem etwas Spaß macht, bevor man es ausprobiert hat?

Ich nehme einen Kaugummi aus der Packung von der Kommode und sehe mich in meinem Zimmer um. Das Magische Buch ist nirgends zu sehen, also könnte ich Anna reinlassen, falls es soweit kommen sollte. Niemand hat das Buch bis jetzt gesehen. Nicht einmal Malthe, obwohl man vor ihm sonst nichts geheim halten kann.

Durch das Küchenfenster kann ich sehen, wie Anna mit ihren Kopfhörern in Richtung Tür starrt. Sie hat einen angemalten Rucksack auf, der voll mit Sicherheitsnadeln und merkwürdigen Symbolen ist. Was sie wohl will?

„Hi“, sage ich und weiß nicht wirklich, ob ich lächeln soll oder besser nicht. Anna sieht selber ja immer so böse aus. Sie nimmt ihre Kopfhörer ab, während die Musik weiter lärmt. Sie ist wirklich laut. So als könne man davon schnell Tinnitus bekommen, würde Mama sicher behaupten.

„Ich dachte mir, du willst bestimmt deine Puppen zurück haben.“ Anna kramt in ihrem Rucksack und zieht meine Liebespuppen hervor.

„Vielleicht kannst du damit ja Voodoo machen oder so.“ Sie starrt mir direkt in die Augen und zum ersten Mal sehe ich fast so etwas wie ein Lächeln auf ihren Lippen.

Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was ich sagen soll, also nehme ich einfach die Puppen. Anna dreht sich um und geht weg, ohne Tschüss zu sagen oder noch einmal zurückzublicken.

Es ist einfach zu sonderbar. Warum hatte sie meine Puppen? Es kann ja nur von dem Tag am Strand sein. Hatte sie sie seitdem bei sich? Warum gibt sie sie mir dann erst jetzt? Und was meint sie eigentlich mit Voodoo?

„Anna!“, rufe ich.

Sie dreht sich sofort um und sieht mich fragend an. Dabei sieht sie immer noch nicht wirklich freundlich aus. Sie nannte mich auch kein einziges Mal Ce, obwohl sie mich so getauft hatte. Plötzlich sehne ich mich ganz furchtbar nach jemandem, der mich irgendwie nennt. Jemandem, der mein Freund sein will.

„Möchtest du nicht mit reinkommen und einen ...“, stammele ich. „Ja, vielleicht einen Tee haben? Trinkst du Tee?“

Hunger

Anna könnte genauso gut von einem anderen Planten kommen, wie sie so mit ihrem schwarzen Outfit und den roten Haaren auf meinem Bett sitzt und sich umsieht. Währenddessen kann ich Malthe vor der Tür hören. Ich möchte wetten, dass er durchs Schlüsselloch guckt, weil er sich nicht rein traut. Das wäre ihm nie passiert, wenn Julie und Helena zu Besuch wären. Da käme er einfach reingelaufen und hätte sich in ihre Arme geschmissen. Sie fanden ihn immer so niedlich.

Ja, so war das damals. Aber jetzt ist alles anders.

Annas Stirn ist ganz runzelig, wie sie sich so kritisch umsieht. Ich folge ihrem Blick und plötzlich sehe ich es auch ganz deutlich: Mein Zimmer ist total kindisch. Rosa-weiß mit vielen Blumen und albernen Postern. Sogar das neue mit dem sich küssenden Paar bei Sonnenuntergang wirkt jetzt lächerlich. Ich hatte es mir bei IKEA ausgesucht, weil der Junge auf dem Bild mich an Kasper erinnerte.

Anna pustet in die Teetasse und nimmt vorsichtig einen Schluck.

„Mmm, Kräutertee“, sagt sie. „Hast du auch was zu essen? Ich habe seit gestern nichts mehr gegessen.“

Ich nicke, halte den Zeigefinger vor meinen Mund und deute zur Tür. Anna setzt sich etwas im Bett auf; sie lächelt beinahe. Ich schleiche mich zur Tür und reiße sie mit einem Schlag auf. Malthe fällt in mein Zimmer.

„Gefangen! Jetzt wirst du abgekitzelt!“, rufe ich. Aber er windet sich aus meinen Armen und rennt davon. Anna sieht nicht wie jemand aus, der kleine Brüder auch nur im Geringsten süß findet. Ich nicke ihr zu:

„Na, dann komm, wir gucken mal in der Küche!“

Mir fällt auf, wie dünn Annas Arme und Finger sind, als sie sich drei Klappstullen mit Tomaten schmiert.

Sie sagt noch einmal, sie sei Vegetarierin. Keine toten Tiere für sie! Mama hält sich dezent im Hintergrund, aber ihr Blick streift uns ständig und überwacht uns, so als würde Anna gleich etwas klauen wollen. Aber es ist auch wirklich merkwürdig, wenn sie seit gestern nichts gegessen hat. Auch, dass sie ganz selbstverständlich das letzte Stück Brot genommen hat.... Aber wirklich mal, vielleicht hatte sie ja auch nur Angst davor, heute in der neuen Schule anzufangen. Schließlich isst sie keine Tiere und das muss doch bedeuten, sie kann niemandem etwas zu leide tun.

„Weißt du, wer auch Vegetarier war?“, fragt sie und drückt die Majo-Tube über den Broten leer.

„Nee... Also Helena isst auch nicht viel Fleisch, weil sie ja Model ist und man so aufgebläht wird, wenn...“

Anna starrt mich mit leerem Blick an. Ich sollte also offensichtlich besser nicht von Helena und Models reden.

„Hitler!“, sagt sie dann.

„Was?“ Sagt sie Hitler zu Helena? Das ist sonderbar, aber auch irgendwie lustig. Ich muss jedenfalls lachen. Helena ist schon eine Art Diktatorin. Eine Modediktatorin. Eine Freundschaftsdiktatorin. Eine Klassendiktatorin. Und sie ist definitiv bereit, hart gegen die vorzugehen, die gegen sie sind. So wie gegen Anna.

„Hitler war Vegetarier. Krass, was, Ce?“

Ich nicke, verstehe aber nicht ganz, inwiefern das krass sein soll. Dafür macht mein Herz trotzdem so etwas wie einen Purzelbaum: Sie hat mich Ce genannt.

„Hast du Geschwister?“, frage ich.

Anna hat sich eine halbe Stulle in den Mund geschoben. Sie kaut genüsslich und nickt.

„Kleine?“, ich zeige auf Malthe, der sich sofort wieder versteckt.

Anna schüttelt den Kopf und wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab. „Ich habe eine große Schwester. Bei der wohne ich auch.“

Tanzen

„5, 6, 7, 8!“, ruft die Tanzlehrerin, deren Name ich vergessen habe. Alle fangen an, eine Choreographie zu tanzen, die wir schon in den ersten 30 Minuten hätten lernen sollen.

Es ist auch gar keine Anfängergruppe, obwohl das im Flyer so versprochen wurde. Es haben sich einfach nicht genug Neue angemeldet.

„Die, die noch nicht da waren, versuchen einfach, so gut es geht mitzumachen, okay? Es sind 16 Steps, supereinfach. Ihr lernt das im Handumdrehen!“ So hat es die Tanzlehrerin zu Beginn der Stunde gesagt. Ich möchte behaupten, davon sollte sie nicht so einfach ausgehen.

Vor, drehen links, cha-che oder wie das heißt, drehen rechts... Ah, fuck. Ich rammle direkt in die neben mir. Ich kann sehen, was sie denkt: Trottel!

„Oh, entschuldige...“, sage ich, aber sie sieht nur konzentriert nach vorn, und der Schweiß perlt von ihrer sonnengebräunten Haut.

Im Spiegel sehe ich, wie käseweiß ich dagegen bin.