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Lothar C. Rilinger

Die Magie Der Jagd ...

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Für Svantje und Aggie

Lothar C. Rilinger

DIE MAGIE
DER JAGD ...

Erlebnisse und Begegnungen

Leopold Stocker Verlag

Graz – Stuttgart

Bildnachweis: Die Bilder im Textteil wurden freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt und stammen von Hubertus v. Blum (S. 82 l. u., S. 95, S. 146, S. 147) und aus dem Archiv des Autors.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7020-1280-9
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.
© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2010
Layout: werbegraphik-design Gernot Ziegler, 8054 Graz

Inhalt

Vorwort

Der Jäger Lenz aus dem Hüttwinkltal

Der „Adlerhorst“ auf der Lachkendlalm

Ein verlorenes Paradies

Der geforkelte Hirsch von der Wandlalm

Krank geschossen ... !

Der unerreichbare, ferne Hirsch

Tragik und Waidmannsheil zugleich

Der abgebrunftete Eissprossen zehner vom Erinnerungskreuz

Der Kleine Hahn vom Ritterkopf

Schnepfenstrich am Ebersberg

Drei Rehkrickeln in einem halben Jahrhundert

Entenstrich

Hasen und Fasanen zuhauf

Zwei Einladungen an einem Tag

Dîner mit Damen und eine Wildjagd

Abschiedsjagd

Eine Begegnung mit der Geschichte

Die Gamsgeiß vom Glockkaserkar

Kohlgams im Ritterkar

Die beinahe verwehte Gamsgeiß

Ein schwedisches Abenteuer

Winterliche Jagd auf Bilder

Vorwort

Dank der Großzügigkeit von befreundeten, verwandten und corpsbrüderlichen Jagdherren ist es mir vergönnt gewesen, jagdlich aus dem Vollen zu schöpfen. Ob es in dem einsamen Tal im Salzburgischen war, in den deutschen Mittelgebirgen oder in den Ebenen am Niederrhein und in Norddeutschland, immer fühlte ich mich als Teil der Natur. Auf starke Trophäen war ich dabei fast nie aus – nur zweimal, aber da hatte ich noch nicht einmal Anblick. Mir kam es immer auf das Erlebnis an, und diese haben sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt. Ein paar von diesen Erlebnissen habe ich niedergelegt und möchte sie nun der Öffentlichkeit übergeben, auch wenn in ihnen dicke Keiler, starke Hirsche oder sogar exotische Stücke keine Rolle spielen. Ich beschränkte mich immer auf den deutsch-österreichischen Kulturkreis, weil ich mich hier heimisch fühle und weil ich nur das Wild kenne, das in diesem Bereich auftritt oder auftreten könnte. Nur einmal überstieg ich diese selbstgezogene Grenze: Ein Onkel meiner Frau, ein Original, wie es nur noch wenige gibt, konnte mich überreden, ihn nach Schweden zu begleiten.

Der Zufall wollte es, dass wir uns im Hüttwinkltal, in der Goldberggruppe, niedergelassen haben. Und dieses Tal wurde mir zur eigentlichen jagdlichen Heimat. Zu Hause in Norddeutschland fehlt mir die Zeit, mich stundenlang auf einen Hochsitz zu setzen und zu warten oder die Zeit mit Pirschen vergehen zu lassen. Diese Zeit habe ich aber hier – hier im Tal tauche ich vollständig in die Welt der Jagd ein, nichts lenkt mich hier ab, hier wurde mir die Jagd zur Freude des Lebens – nicht zur alleinigen, aber doch zu einer großen Freude. Und diese Freude in dem kleinen Jagdhaus mit meiner Familie zu teilen, erhöht sie noch einmal.

Vielleicht kann ich mit diesem Buch auch dem Leser diese Freude, die mir durch die Begegnung mit der Jagd zuteil geworden ist, vermitteln, und wenn dadurch ein Band zwischen dem Autor und dem Leser geknüpft werden konnte, dann hätte sich die Intention dieses Buches verwirklicht.

Bucheben, im Frühjahr 2010 Lothar C. Rilinger

Der Jäger Lenz aus dem Hüttwinkltal

Wie lange ist es schon her, dass uns der Weg durch Zufall ins Hüttwinkltal führte und uns dieses Tal zur Heimat geworden ist. Vor über einem Vierteljahrhundert sahen wir es zum ersten Mal, und es war Liebe auf den ersten Blick – Liebe, die nicht nachgelassen hat.

Im Rahmen der lange zurückliegenden Erbauseinandersetzung mussten wir unser Heim in Arosa aufgeben und damit auch Teile unserer Vergangenheit, die unsere Kindheit und Jugend betrafen. In der Kuba-Krise, als ein Dritter Weltkrieg auszubrechen drohte, fassten meine Eltern einen Entschluss, der unser aller Leben ändern und prägen sollte. Zwei große Kriege hatten sie miterleben müssen, und einen weiteren wollten sie nur noch vom sicheren Ausland, nur noch aus der Entfernung gezwungen sein, anzusehen. Und da bot sich die Schweiz an, dieses neutrale Land mit seinen atombombensicheren Bunkern in jedem Hause, dieses Land, das sich sogar im letzten großen Krieg, obwohl die Welt um die Eidgenossenschaft herum brannte, aus dem Töten heraushalten konnte. Jedes Jahres verbrachten wir dann dort in den Bergen einige Monate. Im Winter liefen wir Ski, und im Sommer hielt uns nichts mehr im Tal. Tag für Tag wanderten wir dort in der Einsamkeit der Gipfelregionen. Ein kleines Zelt war mein Zuhause und ein Transistorradio die einzige Verbindung zum ganz Anderen, ja ..., und das Wild wurde mein Weggenosse.

Das war nun alles vorbei. Irgendwie gaukelten wir ziellos durch das Leben, der Bezugspunkt fehlte; das, was seit meiner frühesten Kindheit Inhalt meines Seins gewesen war, war mir abhanden gekommen. Wir sprachen hierüber mit einer österreichischen Freundin, und wenige Wochen später rief sie unvermittelt an und berichtete ganz begeistert, dass sie gerade in Thumersbach sei; sie habe sich einige Häuser für uns angeschaut, eines in einem ganz kleinen Tal, das sei besonders schön, das wäre bestimmt etwas für uns. Und da Pfingsten kurz bevorstand, setzten wir uns in die Eisenbahn und fuhren in das Tal, dessen Namen wir noch nie gehört hatten, in das Hüttwinkltal.

Nebel empfing uns dort und raubte jegliche Sicht. Mit dem Makler fuhren wir zu dem am Hang liegenden Haus, das der Eigentümer nur noch an Feriengäste vermietete. Junge Leute machten uns auf. Sie klagten über den fehlenden Fernsehempfang, schließlich hätten sie ein wichtiges Fußballspiel sehen wollen. Die Einrichtung war karg, teilweise selbst gezimmert, viele Spanplatten zu zweifelhaften Möbeln zusammengefügt – insgesamt ein wenig wohnlicher Eindruck. Doch der Salon reichte bis unter das Dach, und somit war die Enge dieses kleinen Hauses aufgehoben. Diesem war eine Großzügigkeit zu eigen, die für die geringe Größe des Gebäudes schon ungewöhnlich war. Und diese Andersartigkeit, dieser beinahe schon geniale Einfall des Architekten, ließ uns nicht mehr los. Wir schauten uns zwar noch einige andere Objekte an, doch nur noch mit halbem Herzen und aus dem Wunsch heraus, das Einladende des ersten Hauses noch klarer empfinden zu können.

Oberhalb des Grundstückes nahmen wir auch gleich in einem Bauernhaus Quartier, und als am nächsten Morgen ein blauer Himmel das enge Tal überwölbte und die schneebedeckten Dreitausender die Kulisse bildeten, die wir ersehnt hatten, da stand es fest: Dieser Ort wird uns zur Heimat.

Ein hanseatischer Freund aus dem Salzkammergut empfahl uns dem Jagdherrn des dortigen Jagdvereins, der in der Zwischenkriegszeit gegründet worden war. Beim Tee im traditionsreichen Jagdhaus lernten wir einander kennen, sprachen über Landwirtschaftspolitik, über gemeinsame Freunde und Bekannte, plauderten über die Berge und das Wild, und er lud mich ein, in seinem Revier zu jagen. „Der Oberförster macht das alles!“ – Das war sein Kommentar und der Beginn einer Verbundenheit, die mich zutiefst erfasst hat.

Damals ahnte ich nur, was es bedeutet, im Hochgebirge zu jagen, welche Schwierigkeiten, Entbehrungen und Leiden ein Jäger auf sich nehmen muss, um an das Wild heranzukommen und es dann auch noch zu bergen, ja, damals hatte ich bloß einige Geschichten gelesen, die nur zum Träumen verführten. Und dieses Träumen sollte nun Wirklichkeit werden. Mit unbändiger Freude sah ich der jagdlichen Zukunft entgegen und malte sie mir in den allerschönsten Farben aus.

Als wir im Winter zum Skilaufen kamen, rief ich beim Oberförster P. an und wir verabredeten das erste Treffen im Revier: die Besichtigung der Fütterung am Lechnerhäusl, die Talfütterung in dem großen Revier, die man bequem erreichen kann. P. holte uns ab und wir fuhren gemeinsam in Richtung Talschluss, dort, wo die Jagdhäuser stehen und auch das uralte, von der Sonne fast schwarz gebeizte Haus des Jägers Lenz, direkt gegenüber der Fütterung, sodass diese von dort beschickt werden konnte.

Als wir in das in den Hang gebaute, inzwischen doch etwas windschief gewordene Haus gingen, war es mir, als wenn wir ins vorletzte Jahrhundert versetzt worden wären, als wenn das Sterile, das Geschichtslose so mancher Berghäuser der Neuzeit nie zum dernier cri erkoren worden wäre. Aus den Bildern von alpenländischen Häusern, die vor der Zeit aufgenommen sind, in der die Touristen noch nicht die Almen überschwemmten und den Bergbewohnern einzureden versuchten, dass auch sie ihre Tradition hinter sich lassen sollten, um sich der Neuzeit, der Moderne mit ihrem Plastik und ihrer Sachlichkeit zu öffnen, aus diesen Bildern hatte ich eine Ahnung, wie alpenländische Häuser aussehen können. Und dies fand ich in dem Jägerhaus von Lenz wieder. Der Boden des Erdgeschosses, das ja den Keller bildete, bestand aus gestampftem Lehm, die Wände waren aus rohen Fichtenbalken zusammengefügt, die durch den Rauch des Feuers, auf dem die Geweihe ausgekocht wurden, eine wunderschöne tiefbraune Farbe angenommen hatten. Keine Kachel, keine Rigipswand wollte den Boden und die Wände glatt werden lassen, die alte Handwerkskunst zeigte sich, die Kunst, aus den Schätzen des Tales eine Wohnstatt erbauen zu können. Säcke mit Mais und Hafer standen dort; ein Paar Ski, um zu den oberen Fütterungen zu gelangen; aufgespannte Fuchsbälge hingen zum Trocknen an den Wänden; Handwerkszeug war fein säuberlich an Haken aufgehängt; Befestigungsringe ragten aus den Deckenbalken, um das Wild aufhängen zu können, und Brennholz war sorgfältig aufgeschichtet, viel kleingeschnittenes und gehacktes Holz.

Lenz begrüßte uns in diesem Raum, der sein Arbeitszimmer war. Es roch nach Raubwild, und er zeigte uns stolz einen starken Fuchs, den er in der vergangenen Nacht hatte erlegen können und den er gerade streifte. Gemeinsam gingen wir über eine altersschwache Treppe hoch in die Stube, die nur von einer einzigen, von der Decke hängenden Lampe in ein trübes Licht getaucht war. Weti, seine Frau, war geschäftig, alles war blitzsauber und auch in dieser Stube: die beinahe schwarz gewordenen Balken, aus denen dieses Haus gezimmert worden ist. Im Herrgottswinkel ein Kruzifix, geschmückt mit kleinen Zirbenzweigen, daneben Heiligenbilder, Rehkronen und Gamskrickeln, vom Rauch und von der Zeit nachgedunkelt, und ein starkes, weit ausladendes Hirschgeweih, das den Blickfang dieser Stube bildete. „Aufgesetzte Abwurfstangen ...!“ erklärte Lenz – auch um zu erläutern, wie ein solch starkes Geweih in seine Jägerstube gelangen konnte. „Solch ein Hirsch bleibt sonst den Jagdherren vorbehalten“, ergänzte er ehrfurchtsvoll in seinem harten Dialekt. Und dann berichtete er, nicht ohne ein bisschen Besitzerstolz anklingen zu lassen, von seiner umfangreichen Abwurfstangensammlung, die er in einem langen Jägerleben hat aufbauen können und in der so mancher Hirschstammbaum lückenlos nachgewiesen werden kann. Tisch und Stühle sahen so aus, wie sie seit alters her im Tal geschreinert werden – wie für die Ewigkeit gedacht –, und in der Mitte ein Herd, der Kochgelegenheit und Heizung zugleich war und der in seiner weißen Emaillierung wie ein Fremdkörper in dieser Stube wirkte, in der sonst alles aus dem Rohstoff des Tales, aus dem Holz hergestellt worden war.

Lenz legte noch ein Scheit Holz nach, da es recht frisch in der Stube war und seine Gäste andere Temperaturen gewöhnt waren. Wir sprachen gleich über die Jagd, über seine Liebe zur Natur und zum Wild und machten schon Pläne für das kommende Jahr. Der Oberförster hatte uns zuvor darauf hingewiesen, dass Lenz einen starken Dialekt spreche und dass er deshalb schwer zu verstehen sei. Doch wir waren ja einiges aus der Schweiz gewöhnt. Zuweilen musste ich zwar nachfragen, und dann verstand ich ihn, aber auch er hatte seine Schwierigkeiten, das Hochdeutsche zu verstehen. Das war ihm ungewohnt, und es war ihm wie eine Fremdsprache, obwohl er es doch im Radio manchmal hörte, wenn er für ein paar Stunden im Hause Rast machte, um dann wieder hoch ins Revier bis zu den höchsten Spitzen zu gehen. Autofahren könne er nicht, das sollte ich bedenken, gab mir P. zu verstehen, ich müsste schon selber mit dem Auto fahren oder aber stundenlange Anstiege einkalkulieren. Lenz lachte, er war ein richtiger Naturbursche, für den auch der Anmarsch zur Jagd gehörte.

Später setzten wir uns an das kleine Fenster. Der Abend senkte sich über das Tal, die letzten Gäste hatten das Lechnerhäusl verlassen, und wir warteten, dass das Wild auf die vor uns liegende Wiese ausziehen möge. Lange mussten wir nicht warten, pünktlich wie jeden Abend kamen sie aus dem uns umgebenden Wald, zogen auf die Hütte zu, die mitten auf der kleinen Blöße stand, und nahmen dort das Heu auf.

Ich konnte mich nicht satt sehen an dem Wild, starke Hirsche, schwache und junge, Kahlwild, und immer der Kampf um die besten Plätze. Als sie sich an dem Heu genug gütlich getan hatten, zog Lenz seine Jacke an, die festen Bergschuhe trug er auch im Haus, holte aus dem Keller das Kraftfutter und ging langsam den einen halben Meter tief ausgetretenen Weg durch den Schnee hin zu den Trögen, um sie mit Mais und Hafer zu füllen. Das Wild wich ein wenig zurück, nicht hastig, vielmehr vertraut, und wartete geduldig und gespannt darauf, dass die Krippen gefüllt würden. Am Waldesrand verhoffte es, immer zum Jäger äugend, und kaum hatte er alle Tröge gefüllt und dem Wild den Rücken gekehrt, da zog es auch schon wieder zum Futter, wobei die Hirsche, besonders die starken, doch jetzt heftiger ihr Recht auf sofortige und bevorzugte Aufnahme des Kraftfutters verteidigten. So manches Stück Kahlwild erhielt einen derben Hieb mit der Geweihstange, doch auch sie kamen an die Reihe, jedes Stück erhielt seine Ration, keines musste unverrichteter Dinge wieder abrücken.

Als ich so die starken, aber insbesondere die ganz jungen Hirsche sah, und ich mich mit offenen Augen in den nächsten Herbst hineinträumte, da erahnte ich, dass dieses Revier meine eigentliche jagdliche Heimat werden würde und dass ich hier zum hoffentlich hirschgerechten Jäger heranreifen könnte.

Als das Wild allmählich die leeren Tröge verlassen und auch das letzte Heu aufgenommen hatte, verabschiedeten wir uns von Lenz. Er sollte mich künftig immer führen, in seinem ihm zugewiesenen Revierteil sollte ich mein Glück versuchen. Wir verstanden uns von Anfang an und wollten viele Jahre zusammen jagen. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht, sie zerstob durch den viel zu frühen Tod von Lenz.

Im Herbst war es dann so weit. Wir wollten nun die im Winter genauer betrachteten Hirsche bejagen. Ende Oktober reiste ich an, und das war der Beginn einer nun schon ein Vierteljahrhundert andauernden Verbindung.

Das Revier ist groß, und damals war es sogar riesig. Das gesamte Tal war angepachtet, Jagdgrenzen waren so gut wie unbekannt, wohin wir auch kamen – an ein Ende war nicht zu denken. Und so konnten wir pirschen und ansitzen, wo wir auch wollten, das Revier war scheinbar grenzenlos. Vom Talboden bis zu den höchsten Spitzen reichte es, über viele Kilometer erstreckte es sich bis zum Talschluss. Mit dem kleinen angemieteten Auto kämpften wir uns hoch bis zu den Almen, oft mit auf Eis oder Schotter oder Schlamm durchdrehenden Reifen, aber Lenz meinte immer, den Weg wäre schon einmal ein Fahrzeug hochgeklettert, das würden wir auch noch schaffen.

Pirsch an Pirsch reihte sich aneinander, von Hochsitz zu Hochsitz zogen wir – bei jedem Wetter, ob bei Föhn oder bei Tiefschnee, unverdrossen ging es hinaus und unverdrossen mieden uns die Hirsche. Einmal, in einem eisigen Schneesturm, saßen wir unterhalb der Stanzalm an, um auf die herunterziehenden Hirsche zu warten. Nichts rührte sich, der Wind fegte uns die Eiskristalle ins Gesicht, und es bedurfte schon großer Selbstbeherrschung, um nicht vor Kälte mit den Zähnen schnattern zu müssen, als plötzlich, im wirbelnden Schneefall kaum auszumachen, ein kapitaler Hirsch hinten auf dem Schlag stand. Noch ehe Lenz das Spektiv richten konnte, entfuhr es ihm, wobei er die Enttäuschung kaum unterdrücken konnte: „Auf den hat es Fürst B. drei Wochen während der Brunft versucht, ihm sind nur die jungen Hirsche gekommen.“ Und zehn Minuten später wechselte ein weiterer starker Hirsch über den Schlag. Ein paar unverständliche Worte kamen aus Lenzens Munde, die wie eine Verwünschung klangen. Doch sofort bekreuzigte er sich und wie zur Entschuldigung sagte er reumütig: „Das ist der Hirsch, hinter dem Fürst C. zwei Wochen her war. Nur Dreier-Hirsche haben wir gesehen, und jetzt – zwei Wochen zu spät – kommen die starken Stücke, das ist schon ärgerlich!“ Und bei diesen beiden Hirschen sollte es in jenem Jahr verbleiben. Zehn Pirschen und sonst nichts gesehen. Aber wir waren jung, hatten noch genügend Zeit vor uns, und der nächste Herbst würde schon kommen.

Im nächsten Jahr war ich wieder im Tal. Anfang September, in der Feistzeit, versuchten wir unser Glück. Wieder zogen wir von Hochsitz zu Hochsitz, von Schlag zu Schlag, doch auf passendes Wild stießen wir nicht. War das Tal sonst so ruhig, so wurden wir in jenem Spätsommer von einem ständigen Hubschrauberlärm um unsere Ruhe gebracht. Das Observatorium oben auf dem Sonnblick feierte sein hundertjähriges Bestehen. Menschenmassen pilgerten nach oben, um daran teilzunehmen. Die sportlichen Wanderer nahmen den mühevollen Aufstieg auf sich, die Mitarbeiter der Wetterwarte wählten die nicht so gern gesehene Variante und ließen sich mit der Materialseilbahn nach oben befördern, und die prominenteren Gäste, die beinahe überall zugleich sein wollen, um möglichst viele Wähler einfangen zu können, sie nutzten die Möglichkeit, um mit dem Hubschrauber nach oben gebracht zu werden. Für zwei, drei Tage war unser Tal Mittelpunkt der Berichterstattung im Radio und Fernsehen, aber das konnte die Enttäuschung über den mangelnden Erfolg nur unvollständig übertünchen. So schwer und so mühsam hatte ich mir die Gebirgsjagd nicht vorgestellt.

Nach der Brunft versuchten wir es erneut. Und wiederum versank das Tal im Schnee. Abends nach der Ankunft kam ich noch den steilen Weg zum Haus hoch, doch am nächsten Morgen lag der Schnee so hoch, dass das Fahrzeug aufsetzte und nicht mehr zu bewegen war. Zum Glück kam P. vorbei, der Pächter des Raiffeisenmarktes, der in der Brunft Lenz und den anderen Jäger Sepp unterstützte. Er sah meinen Kampf mit dem Schnee, half mir, auf die Straße zu kommen, und spurte dann hoch zum Haus von Lenz. Dort legten wir die Ketten auf die Räder, wobei mir Seppi, der Sohn von Lenz, half. Doch da wir beide in diesem Geschäft ungeübt waren und auch keine Gebrauchsanweisung beilag, zogen und drückten wir und versuchten es immer wieder. Als wir es dann endlich geschafft hatten, da war uns die Zeit zwischen den vom Schnee gefühllos gewordenen Händen zerronnen und das erste Frühlicht kündigte sich schon an. Weit konnten wir deshalb dann nicht mehr fahren. Irgendwo unter einer Schirmfichte saßen wir an, Wild kam keines, und bei einem solchen Schneefall kommt auch keines mehr. Da steht es nur noch an den Fütterungen, und dann wird auch die Jagd eingestellt.

Im übernächsten Jahr fuhr ich wieder im Herbst ins Tal. Wiederum wollten wir uns auf den Hirsch versuchen. Einige Pirschen verliefen ergebnislos, kein Haar sahen wir. Eine leichte Schneedecke bedeckte die Erde, nicht so üppig wie in den Jahren zuvor, und wieder kämpften wir uns auf einem spiegelglatten Forstweg nach oben zur Stanzalm. Links und rechts beobachteten wir die Schläge, um vielleicht einen Zufallstreffer zu landen. Plötzlich rief Lenz: „Da! Da!“ Und tatsächlich: Da stand doch mitten auf dem Schlag, gut sichtbar im Schnee, ein Hirsch. Jung, Achter, genau passend. Doch wie jetzt an ihn herankommen? Im gleichen Tempo fuhren wir weiter. Zwei, drei Kurven später ließen wir den Wagen stehen und pirschten vorsichtig zurück. Im Glas sahen wir, dass der Hirsch immer noch auf dem schmalen Schlag äste. Von Baum zu Baum kamen wir näher, dann schoben wir uns, tief in den Schnee gedrückt, vor, bis wir den Hirsch frei vor uns hatten. Lenz bugsierte lautlos seinen Rucksack vor mich, damit ich eine gute Auflage hatte, und dann visierte ich den ersten Hirsch meines Lebens an. Da er uns noch nicht spitzbekommen hatte, sondern ganz ruhig äste, wartete ich noch etwas mit dem Schuss, der ja den jagdlichen Erfolg bringen, der aber auch den Zauber dieses winterlichen Herbstmorgens, den Frieden einer Berglandschaft, zerstören würde.

Genau schaute ich mir das Geweih an, den Körperbau, visierte das Haupt an, den Träger, das Blatt, die Keulen – alles wollte ich genau sehen, alles wollte ich mir für alle Zeiten einprägen und ... ich wollte die siebenundzwanzigste Pirsch auf diesen Hirsch, kaum dass sie begonnen hatte, nicht so schnell und abrupt enden lassen, die letzten Sekunden wollte ich noch auskosten. Lenz wurde schon ungeduldig, er wollte nicht, dass sich der Hirsch in ein Trugbild wandeln würde, er wollte endlich schlicht und einfach den Erfolg. „Noch ein paar Sekunden“, flüsterte ich, „noch ein paar Augenblicke“. Und als der Hirsch den Hang herunterwalgte, eine breite Schweißspur im Schnee hinterlassend, da war es geschafft. Lenz, sonst ganz zurückhaltend und immer Distanz wahrend, klopfte mir auf die Schulter, immer wieder, und wünschte mir, aus frohem Herzen kommend, Waidmannsheil. Er lachte und war wie befreit. So ausgelassen, so offen, ja, so fröhlich habe ich Lenz nur in diesen Augenblicken erlebt, nur in diesen Minuten, in denen wir beide den Hirsch geschossen hatten. Und mir wurde bewusst, dass nicht allein ich den jagdlichen Erfolg habe erzielen können; es war unser beider Erfolg, der des Jägers und des Gastes, beide stellen eine Einheit dar, und nur gemeinsam können sie das Waidmannsheil erreichen. Als mir dies bewusst wurde, da erschaute ich den tieferen Sinn der Jagd im Hochgebirge, diese Gemeinsamkeit, dieses Aufeinander-Angewiesen-Sein, diese gegenseitige Abhängigkeit, die sich nicht nur in der gemeinsamen Freude über ein erlegtes Stück offenbart, sondern die auch die Verpflichtung in sich birgt, jeweils dem anderen in der Gefahr zu helfen und aus Bergnot zu erretten.

Als wir beim Hirsch standen, bat mich Lenz, mich über den Hirsch zu legen. Dann holte er sein Messer aus der Tasche, sprach in einem wunderbar klingenden Hochdeutsch, das mich an das Burgtheaterdeutsch erinnerte, das ich als Schüler auf einer Klassenfahrt nach Wien erstmalig hörte, sprach also in einem für ihn doch ungewohnten Deutsch einen Segensspruch und schlug mich zum hirschgerechten Jäger. Bedächtig sprach er die tradierten Verse, es war wie eine heilige Handlung, wie eine Segnung, weihevoll und würdig zugleich, und es war mir, als wenn sich mir die uralte Mystik der Jagd geoffenbart hätte. Und ich gelobte, zukünftig hirschgerecht zu jagen, immer im Wild das Geschöpf Gottes zu sehen und nie zu vergessen, dass es auch leiden kann. Die Worte, die Lenz damals sprach, sind längst verweht, doch an seine Mahnung werde ich immer erinnert, wenn ich die Flanken der Berge unserer Heimat bezwinge. Die Achtung vor dem Wild – vielleicht der wichtigste Moment bei der Jagd –, sie ist mir in den damaligen feierlichen Momenten zur Richtschnur meines Jagens geworden.

Im nächsten Jahr versuchten wir es wieder auf einen Hirschen. Pirsch reihte sich an Pirsch, Wild sahen wir aber keines. Schon zweifelte ich den Wildstand an, doch der Oberförster tröstete mich. In der Brunft hätten sie genug Anblick gehabt, es werde schon kommen, wenn nicht in diesem Jahr, so aber im nächsten. Mit diesem Trost ging ich zur letzten Pirsch. Doch so sehr wir auch schauten, nichts rührte sich. Wie tot lag das Revier vor uns, wie ausgestorben. Und da wir ja Zeit hatten, schmiedeten wir Pläne für das nächste Jahr, da sollte es wieder klappen. Abends verabschiedete ich mich von ihm und seiner Frau, der Weti, vielleicht würden wir uns im Winter wiedersehen, wenn wir an seinem Hause mit den Skiern vorbeifahren würden. Damals konnten wir freilich nicht ahnen, dass es ein Abschied von Lenz für immer sein würde.

Silvester besuchte ich meine Familie für zwei Tage im Tale, und als ich schon wieder in Norddeutschland weilte, rief mich meine Frau abends an und berichtete von Lenzens Tod. Gerade käme sie von der Beerdigung zurück. Der Abschied sei beeindruckend gewesen. Lenz wäre im Hause von den Jägern abgeholt worden. In einer nicht enden wollenden Menschenschlange sei der Sarg auf einem Wagen, gezogen von den Pferden der Berge, eskortiert von den Berufsjägern mit Bergstock, Janker und wachelndem Gamsbart, hinauf zur Kirche geleitet worden, und dort, auf dem im Schatten des Kirchturmes liegenden Friedhof sei er unter den Klängen des Letzten Halali zu Grabe gelassen worden. Dort liegt er nun inmitten seiner über alles geliebten Berglandschaft, auf einem Felssporn, auf dem der Fürsterzbischof von Salzburg, Graf Colloredo, einen Pfarrhof hat bauen lassen, um ab und an dem Goldbergbau nahe sein zu können, da dieser schließlich sein Land finanzierte. Auf einer Erhöhung also liegt Lenz, wie auf einem Hochsitz, von dem aus er das Revier überblicken könnte.

Ostern suchte ich sein Grab auf und immer wieder, wenn wir zur Kirche gehen, schaue ich hier vorbei. Da steht der Grabstein mit seinem Foto, so wie er in jungen Jahren gewesen ist, hier hat er seine letzte Ruhe gefunden. Und jedesmal, wenn ich an seinem Grabstein stehe, ob allein oder mit meiner Familie, jedesmal höre ich seine Worte, mit denen er mich zum hirschgerechten Jäger schlug, nicht die Worte an sich, nur ihren Klang und ihre tiefe Symbolik, und jedesmal fühle ich mich diesem aufrechten Manne verbunden, der mir jagdlich so viel gegeben hat. Geschossen haben wir zwar nur ein einziges Stück Rotwild, doch er vermittelte mir eine Einstellung, die viel mehr zählt, und er pflanzte in mir den Keim zu einer Freundschaft, die jedes Jahr mehr wurde, zu einer Freundschaft mit unserem Tale.

Später gab mir Weti einen kräftigen Bergstock, den Lenz noch gefertigt hatte. Seit fast zwanzig Jahren gehe ich nun mit diesem Stock durch unser heimatliches Tal. Er steht über das Jahr neben der Tür, doch immer, wenn mich Günther, Lenzens Nachfolger, abholt, greife ich ihn, und in dem Moment, in dem ich ihn anfasse, steht Lenz wieder vor mir, so, wie wir damals immer losgezogen sind. Die Erinnerung ist wach, sie kann uns keiner nehmen, und in der Erinnerung leben wir noch einmal unser Leben. Und in ihr auferstehen all die, die uns begleitet, und die, mit denen wir unvergessliche Stunden verbracht haben. Auch wenn sie schon lange tot sind oder uns verlassen haben – die Erinnerung kennt keinen endgültigen Abschied, in ihr wird das Gestern zum Heute und in ihr haben wir das Gefühl, dass der Tod – zumindest scheinbar – überwunden werden kann und die Toten weiter unter uns leben können. Oft sprechen Günther und ich über Lenz, mit dem er schon als Kind in die Berge gezogen ist und der ihm so manches Geheimnis der Jagd anvertraut hat. Und so ist Lenz immer noch gegenwärtig, obwohl er nun auch schon seit fast zwanzig Jahren seine letzte Ruhestätte oben auf dem Kirchhof gefunden hat – er ist immer noch Teil unseres gemeinsamen Jagens.

Der „Adlerhorst“ auf der Lachkendlalm

Kennengelernt haben wir uns, der Jäger Sepp und ich, vor langer Zeit. Der Jagdherr, Baron H., hatte zum Tee eingeladen. Wir saßen auf der Terrasse seines Jagdhauses im Hüttwinkltal, die Sonne war schon längst hinter dem Ritterkopf verschwunden, und ein seidig-blauer Himmel überwölbte das Tal. Es war August, die Blattzeit war gerade vorüber, und noch schrien die Hirsche nicht. In der Abenddämmerung sprachen wir über die Jagd in dem uns umgebenden großen Revier, sprachen über die lange Tradition dieses Jagdvereins, der in der Zwischenkriegszeit gegründet worden ist, über längst verstorbene Mitglieder, die wir aus den in den Familien tradierten Histörchen kannten, und erörterten auch die vielen Möglichkeiten, die der Jäger in diesem Dorado vorfindet.

Gebannt hörte ich den Schilderungen dieses erfahrenen und bekannten Waidmannes zu, hatte er mich doch gerade eingeladen, auch in diesem Revier, in diesem Paradies des Wildes zu pirschen. III-er Hirsche wären immer frei, Kahlwild ohnedies und vom Gamswild ganz zu schweigen. Und wie wir Pläne für die kommende Saison schmiedeten, fuhr der Jäger Sepp mit dem Auto vor, um den Jagherrn zur Pirsch abzuholen. Gleich wurde mir der Jäger vorgestellt: „Sie werden noch so manchen Pirschgang mit ihm zusammen machen!“

Doch bis es so weit war, dauerte es noch einige Jahre. Das Revier war zwischen den Jagdherren in einzelne Bereiche aufgeteilt und die jeweiligen Jäger auch. Zuerst pirschten wir im mittleren Revier, hierfür war Sepp nicht zuständig, in diesem Teil führte der gute und treue Lenz. Doch nach seinem viel zu frühen Tod war seine Stelle verwaist, und deshalb zog ich dann mit Sepp los. Und mit diesem Jäger ging es in Revierteile, die ich noch nicht kannte, und wir suchten Ecken auf, die ich noch nicht einmal auf den herbstlichen Wanderungen gesehen hatte.

Sepps Elternhaus sehen wir immer, wenn wir hin zum Schareck schauen. Hinter einem Buckel versteckt liegt es, behäbig, ursprünglich, das alte Hüttwinkltal darstellend. Inzwischen gehört der Betrieb Sepps Bruder, der auch die Landwirtschaft weiter betreibt. Der alte Stall liegt auf einem Sporn und ist weithin sichtbar. Oft, wenn wir frühmorgens zur Pirsch fahren, ist dort schon Licht, ganz früh fängt der Hinterbichlbauer mit dem Tagwerk an, in der dunklen Jahreszeit sogar schon lange vor Sonnenaufgang, aber dafür kehrt dann auch früh am Abend Ruhe auf dem Hof ein.

An den Festtagen gehen die Frauen dieses Hofes in ihren üppigen, oftmals seit Generationen vererbten Festtagstrachten den langen Weg an unserem Heim hoch zur Kirche; und da auch die Frauen von den anderen weit auseinanderliegenden Höfen mit ihren Trachten und Bändern geschmückt zur Kirche gehen, sieht dieser Zug wie ein Pilgerzug aus und wie die Demonstration einer Frömmigkeit, die in den Städten schon längst vergessen worden ist.

Und was für ein Bild ist es immer wieder, wenn diese Frauen, eingezwängt in ihre starren Mieder, kerzengerade in den Kirchbänken sitzen, ein Seidentuch um die Schultern gewunden und im Haar einen flachen, schwarzen Hut mit der geraden Krempe, ja, was für ein Bild ist es immer wieder, diese Frauen anzuschauen, die das seit Generationen tradierte freie Bauerntum repräsentieren, selbstbewusst, auch ein wenig stolz, aber nicht hochfahrend, in ihrer Gläubigkeit eher zurückhaltend und demütig. Sie, die Frauen, die Tracht tragen, diese tradierte Tracht der Rauris, sie sitzen in den ersten Reihen unserer kleinen Barockkirche, immer geschieden von den Männern, denen die rechte Seite der Kirchenbänke vorbehalten ist. Und hinter diesen Frauen dann andere Frauen, auch sie in Tracht, aber nicht mehr in der tradierten Festtagstracht, die ja nicht jede Frau tragen darf, die nur den Frauen der Hofbesitzer vorbehalten ist. Jene Frauen schmücken sich mit Dirndln und Jankern im tradierten Pinzgauerstil oder auch in dem aus anderen Gegenden, und erst hinter diesen Frauen nehmen dann diejenigen weiblichen Wesen Platz, die mehr der Moderne und mehr dem städtischen Leben verpflichtet sind. Auf der anderen Seite sitzen die Männer – Bauern, Handwerker, alles gestandene, kräftige Mannsbilder, auch sie sind im Janker erschienen, alle mit Hut, den sie abnahmen, nachdem sie die Kirche betreten hatten. So mancher kam etwas später, aber gerade noch rechtzeitig zur Wandlung, damit die Messe zähle, wie wir vor vielen Jahren sagten, als wir als Ministranten die zu spät eintreffenden Gläubigen musterten. Zuvor hatten sie auf dem Kirchplatz noch ein wenig geplaudert, schließlich ist dies oft die einzige Freizeit, die sie sich nehmen können. Kurz nach der Messe hört man im Tal schon wieder das Tuckern der Schlepper und der landwirtschaftlichen Maschinen, und dann ist es vorbei mit der sonntäglichen Ruhe.

Aus diesem Haus also stammt Sepp, vom Hinterbichlhof, und die Herkunft als freier Bauer – auch wenn er als weichender Erbe den Hof verlassen musste – ist ihm anzumerken. Die eigene Scholle macht die Menschen freier, der Besitz von Land macht sie selbstsicherer. Stolz erzählte er mir auch gleich, dass er von diesem Hofe stamme und dass sein Bruder Mitbesitzer einer Alm wäre, auf der auch wir jagen würden und die von Anfang an vom Jagdverein gepachtet worden sei.

Auf der dieser Alm benachbarten Alm, der Lachkendlalm, wollten wir unser Waidmannsheil suchen. Früh in stockdunkler Nacht holte mich Sepp ab. Ein frischer Wind wehte, und das recht heftig, doch das sollte uns nicht abhalten, ganz oben, jenseits der Baumgrenze, zu pirschen. Hinter dem Haus seines Bruders passierten wir die Schranke, die errichtet werden musste, um zu verhindern, dass auf den Forstaufschließungswegen allzu viel Verkehr herrscht. Die Talbewohner, aber auch so manche Touristen, sind nur zu gerne mit dem Auto fast bis zu den Bergspitzen gefahren, um nicht den mühevollen und viele Schweißtropfen kostenden Aufstieg machen zu müssen.

In engen Serpentinen schwang sich der Weg durch die Wälder, ab und an flüchtete ein Waldhase aus dem Lichtkegel unseres Fahrzeuges, sogar Rotwild konnten wir nahe im Bestand ausmachen. „Anblick haben wir gehabt“, war unser gemeinsame Kommentar, und da konnte ja nichts mehr schief gehen. Kurz vor der Waldgrenze löschte Sepp das Fahrlicht, nur das schwache Standlicht zeigte ein wenig, und eher schemenhaft, den Weg und vor allem die geschlagenen Bäume, die oft auf den Weg ragten. Eine Eule glitt vor dem Auto durch die Luft, riesiggroß, und verschwand aus dem Licht, und als wir die letzten schützenden Bäume hinter uns gelassen hatten, schalteten wir auch das Standlicht aus. Langsam, sehr vorsichtig fuhren wir den Almweg weiter. Auf einer Kante, nicht weit entfernt, verhoffte Rotwild, nur der Glanz der Sterne ließ es uns als Schattenriss erkennen. Wild war also hier oben, doch wie jetzt an die Stücke herankommen?

Einige hundert Meter vor der Almhütte ließen wir das Fahrzeug stehen, und als wir die Türen öffneten, da pfiff ein scharfer, unangenehm kalter Wind durch das Auto. Da er aber talwärts ging, sollte er uns nicht stören, erfrieren würden wir schon nicht.

Nachdem ich die Büchse durchgeladen hatte – ein fürchterlich verräterischer Lärm, der trotz des Sturmes beinahe meilenweit zu vernehmen war – , schulterten wir die Rucksäcke, ergriffen die Bergstöcke, und dann ging es auf dem Almweg weiter hinauf zu den Hütten der Lachkendlalm. Wir waren mitten im Einstandsgebiet, überall könnte jetzt Wild vorkommen, doch wir hatten noch einen langen Weg hin zum „Adlerhorst“, wo wir den Morgen erwarten wollten. Nach einem viertelstündigen Marsch hatten wir die Almhäuser erreicht. Ganz flach, wie in die Erde geduckt, sind sie gebaut. Auf die mit Steinen beschwerten Schindeldächer konnten wir bequem schauen, die aus dicken Baumstämmen roh gezimmerten Wände schauten kaum aus der Erde heraus. Es roch nach Kuh und nach Schnee. Wir zwängten uns durch das schmale Tor, welches das Vieh abhalten und welches die kleine Terrasse, die vor der Hütte in den Berg gegraben worden ist, vor den allzu üppigen Hinterlassenschaften der Kühe schützen sollte.

Sepp bat um eine kleine Pause und verschwand dann hinter dem Haus. Auf den Bergstock gestützt, wartete ich und dabei hatte ich die Muße, über das weite und lange Tal zu schauen. Gleich neben der Hütte fiel der Hang doch recht steil ab, und so hatte ich die Illusion, wie auf einer Burg zu sein, die hoch über der Landschaft thront. Tief unter uns auf dem Talgrund waren vereinzelte Lichter zu sehen und in weiter Ferne die Kette der Dreitausender, die den Talschluss bilden. Ein seltsames Gefühl der Verlassenheit beschlich mich und auch eines der Verlorenheit. Dort oben auf den Almen leben im Herbst keine Sennen mehr, die Zivilisation hat mit Beginn der Hirschbrunft diese Höhe verlassen, dann herrscht dort nur noch Ruhe und Menschenleere. Dazu kommt noch die Weite des Blickes, in der Ferne die wenigen Lichter und um uns das Fauchen und Heulen des Windes, der die eisige Luft von den Spitzen der Berge und aus den lebensfeindlichen Regionen zu uns herabwehte. Dort oben, in den majestätischen Bergen wird uns so klar, so kristallklar, wie klein der Mensch in der Natur ist, wie verletzlich, wie unbedeutend, und wir erkennen, wie gewaltig zerstörerisch und brutal die Natur sein kann. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinab, aber es war nicht die Kälte, es war das Erschrecken. Solche Momente sind aber wichtig, um sich selbst einordnen zu können und um sich in der richtigen Relation zur Schöpfung zu sehen.

Bald ging es weiter, nun aber nicht mehr auf einem breiten Weg, sondern nur noch auf einem Steig. Vorsichtig setzten wir Fuß vor Fuß, um ja nicht zu stolpern und das vielleicht in der Nähe stehende Wild zu vergrämen. Schon längst sprachen wir kein Wort mehr miteinander, nur noch mit der Zeichensprache verständigten wir uns. Nach einigen hundert Metern verließen wir den Steig, um uns den Felsbrocken zu nähern, die auf der Alm lagen, kleine und große, Reste eines gewaltigen Felssturzes. Immer wieder verhofften wir, und Sepp versuchte trotz der Dunkelheit der Nacht, mit dem Glas die Flächen zu kontrollieren. Wild war jedoch zumindest in unmittelbarer Nähe nicht zu sehen. Nur die schwarzen Felstrümmer gaukelten uns zuweilen Trugbilder von Hirschen vor, uns wieder und wieder vor Augen führend, dass der Wunsch gerne der Vater der Gedanken wird, wenn die Sehnsucht das Reale übersteigt.

Endlich erreichten wir den zimmergroßen Felsen, der nun schon seit Generationen „Adlerhorst“ genannt und der ebenso lange als Deckung und als Ausgangspunkt der Pirschen genutzt wird. Er bot uns einen Windschatten, doch leider nur einen sehr kleinen. Eiskalt war es, und es schüttelte uns. Doch als Sepp seinen Hut absetzte und aus dem Rucksack eine Wollmütze herauskramte und aufsetzte, da war es auch bei mir vorbei mit der Pietät. Mit dicken Wollmützen geschützt, wartet es sich viel angenehmer auf das Wild. Aber dass wir diese Mützen trugen, war fast wie ein Sakrileg. Die Bauern des Tales tragen im Winter auch Wollmützen, doch nur ganz leichte, weil sie ja schließlich noch den Jagdhut über die Mütze aufsetzen müssen. Der Hut sitzt dann viel zu hoch, und der Kopf scheint verlängert zu sein. Und diese Kopfform ist für mich wie ein Zeichen, dass der Winter im Tal ausgebrochen ist. Der Bergler muss einen Hut tragen wie der Jäger, und wenn es unter dem Hut zu kalt wird, dann muss mit einer Mütze nachgeholfen werden, aber der Hut, der muss bleiben.

So standen wir also dort oben und warteten. Uns kamen Zweifel, ob es überhaupt sinnvoll wäre, bei diesem Wind, der zuweilen in einen Sturm ausartete, zu pirschen, schließlich gilt ja der Satz, dass, wenn der Wind jagt, der Jäger nicht zu jagen bräuchte. Aber meine Zeit war begrenzt, und im Übrigen glaube ich an den Satz, dass Wild immer vorkommen könnte. Und es kam. Noch war es dunkel, nahezu zappenduster, wie man so schön sagt, noch herrschte kein Büchsenlicht, und wir standen, ziemlich überraschend und vollkommen unverhofft, mitten in einem starken Rudel Rotwild. Der Wind kam scharf von links und von dort kam auch das Wild. Über und unter uns stand es und zog es, und wir wussten nicht, wo wir zuerst anfangen sollten zu schauen. Vor uns verhoffte ein stärkerer Hirsch, alt, wohl mit einer Krone, genau konnten wir das Stück nicht ansprechen, auch schwächere Hirsche waren dabei, doch nur am Körperbau als solche zu erkennen, und auch Kahlwild. Ganz nah waren sie, beinahe zum Greifen nahe, rühren durften wir uns nicht, da uns das Wild sonst sofort spitz bekommen hätte. Sepp hob ganz vorsichtig sein Glas, um die Hirsche doch noch ansprechen zu können, doch die Schwärze der noch immer herrschenden Nacht ließ dies nicht zu. Das Rudel zog in aller Ruhe weiter, ohne auch nur den leisesten Argwohn zu empfinden, vollkommen vertraut. Der ältere, stärkere Hirsch ärgerte ein wenig das Kahlwild mit ein paar Schlägen seines Geweihes, und dann waren sie fort.

Gespannt lauschten wir in die Dunkelheit, ob das Rudel abspringen würde. Doch wir hörten nichts, kein Schrecken, kein Poltern, nur das Wüten des Windes. Sie hatten uns offensichtlich nicht mitbekommen, und das erschien mir doch ein wenig unwirklich, zumal wir felsenfest davon ausgegangen waren, dass das Wild in unseren Wind würde kommen müssen. „Morgen ist auch noch ein Tag, die Stücke sind für uns nicht verloren“, vertröstete mich der Jäger. Vertritt man nicht das Wild, dann hat der Jäger noch ein zweite Chance, und diese wollten wir nutzen.

Freilich, noch war die Pirsch nicht vorbei, noch konnten wir mit Wild rechnen. Langsam wich die Dunkelheit, und allmählich breitete sich vor uns die uns umgebende Alm aus. Wir schauten hin und her, doch nichts bot sich unseren sehnsuchtsvoll suchenden Blicken. Nur das Graubraun der herbstlichen Almen sahen wir, nur das Grau der vereinzelt liegenden Felstrümmer, die wie unmotiviert aus dem Gras herausgewachsen zu sein schienen, nur die dahinfliegenden Wolken. Irgendwann wird es auch dem hartgesottensten Bergjäger zu viel, irgendwann kapituliert er vor den Unbilden der Witterung. Mit steifgefrorenen Fingern schälten wir uns aus den immer zu dünnen und zu winddurchlässigen Mänteln, um noch ein wenig zu pirschen und das Wild zu suchen.

Lange freilich mussten wir nicht gehen, vielleicht nur hundert Meter. Da stand, wie aus dem Erdboden gewachsen, direkt vor uns auf einer kleinen Erhöhung, herrlich zu sehen vor den den Hintergrund bildenden weit entfernten Felsen, ein Hirsch. Sepps Kommentar ließ mich frohlocken: „Der passt! Jung, Achter!“ Sofort nahm ich vorsichtig die Büchse von der Schulter, um stehend freihändig wie auf einer Druckjagd den Hirsch zu erlegen, weit entfernt verhoffte das Stück nicht. Doch damit war der Jäger nicht einverstanden. Und ich erinnerte mich, dass der Jagdleiter einmal gesagt hatte, Wild werde nur von einer Auflage aus geschossen, das gelte für die Jagdherren ebenso wie für die wenigen Gäste. Also ließen wir uns vorsichtig nieder und krochen zu einer kleinen Erhebung, um dort die notwendige Auflage zu finden. Der Hirsch äugte interessiert zu uns, ohne sich zu rühren. Ich konnte von meiner sehr tiefen Position sehen, wie die Lichter auf uns gerichtet waren und wie vollkommen arglos er auf das wartete, was da kommen möge. Er hatte noch keine bösen Erfahrungen gemacht, das Pfeifen der Kugeln war ihm noch unbekannt. Und da der Hirsch so ruhig vor uns verhoffte, war er für mich schon erlegt und sein Geweih schmückte schon die Wand in der fernen Heimat, der Platz war schon festgelegt, so sicher war ich mir. Doch als ich wieder einmal aufschaute, da war die Bühne leer. Unbedacht und unerfahren, das war der Hirsch, dumm aber offensichtlich nicht. Dumm schauten wir aus unseren Jankern. Zwei kriechende Jäger auf so kurze Entfernung ist nun einmal für jeden Hirsch zu viel, das hätten wir wissen müssen. Oder besser: das hätten wir beherzigen müssen, gewusst hatten wir es ja.

Aber auch solche Erlebnisse sind wichtig. Jagd ist nicht nur schießen, Jagd ist auch ein Kampf Mensch gegen Tier. Beide Seiten arbeiten mit Finten und mit Tricks, beide wollen gewinnen. Auch das Wild ...! Und dies zu erkennen und sich dieser Erkenntnis auch zu erinnern, ließ uns ruhig und demütig den Rückzug antreten. Morgen wollten wir es wieder dort oben versuchen, ein Stück hatten wir zwar vergrämt, andere aber nicht.

Tags drauf ging es wieder mit Sepp nach oben. Auch diesmal war der „Adlerhorst“ unser Ausgangspunkt. Der Sturm hatte sich gelegt, und eine hohe Wolkendecke verbarg den Glanz der Sterne, der uns den Weg beleuchten sollte. Mühsam krochen die ersten Lichtstrahlen über den Kamm der Berge, und als endlich Büchsenlicht erreicht war, glitten unsere Gläser über die Almen. Und auch diesmal waren sie nicht leer. Bestimmt vierhundert Meter entfernt konnten wir das gut getarnte Rudel Rotwild ausmachen. Kahlwild, ein stärkerer Hirsch, ein Spießer. Sie ästen in einem Steilhang, doch langsam, immer wieder verhoffend, zogen sie den Hang herunter.

„Wenn sie das flachere Stück erreicht haben, dann sind sie immer noch zu weit entfernt“, wog Sepp ab. „Also müssen wir näher ran, lassen Sie uns doch möglichst schnell dem Wild entgegengehen!“ drängte ich. Aber Sepp war noch unentschlossen, wohl auch deshalb, weil seine Hüftoperation noch nicht allzu lange zurücklag und das Klettern für ihn doch mühselig war. Lange widerstand er aber nicht meinem Drängen, dazu ist er zu passioniert. Schnell suchten wir den Weg, wie wir in Deckung an das Wild heranpirschen konnten. Beschwerlich war es, und im Nachhinein war es auch gefährlich und unverantwortlich, aber zu dem damaligen Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie mit einer neuen Hüfte umgegangen werden muss und wie leicht sie am Anfang noch herausspringen kann.

Hinter Steinen und Buckeln verborgen, schafften wir die Annäherung, teils geduckt schleichend, teils kriechend, teils robbend. Wir mussten uns schon ziemlich anstrengen und mir wurde dabei auch mächtig warm. Hinter einem weiteren großen Stein konnten wir uns schließlich verschanzen und dann hatten wir uns dem Wild so weit genähert, dass ein gerechter Schuss abgegeben werden könnte. Der Jäger sprach die Stücke durch das Spektiv an, beim Spießer verweilte er. „Der ist ja noch im Bast, der muss geschossen werden!“ Also richtete ich mich ein, ein wenig traurig darüber, dass wir den stärkeren Hirsch ziehen lassen wollten – „Einseitige Krone“, raunte mir Sepp, der den Hirschen ja mit dem Spektiv genau hatte ansprechen können, zu, und da war sofort jegliche Traurigkeit wie weggeblasen. Der Spießer walgte nach dem Schuss noch ein paar Meter den Steilhang hinunter, dann lag er. Das andere Wild war unschlüssig, es wusste nicht, woher die Störung kam, es verhoffte, machte einige Schritte und verhoffte wiederum. „Das Kalb rechts können wir auch noch schießen!“ – auch es lag im Feuer. Ein Teil des Rudels sprang nun nach dieser zweiten Störung ab, doch das Kälbertier verhoffte und äugte zu dem leblos liegenden Kalb. Und das versetzte mir einen Stich ins Herz. Trauerndes Wild berührt mich genauso wie trauernde Menschen. Doch viel Zeit dazu blieb nicht, „Das Alttier nehmen wir auch noch mit“, raunte mir Sepp zu, und auch dieses Stück walgte dann den Hang herunter, doch es war noch nicht verendet. Mit den Vorderläufen versuchte es hochzukommen, freilich, dem Tier fehlte hierzu die Kraft. Sofort nahm ich die Büchse wieder an die Backe, ganz ruhig stand der Zielstachel auf dem Träger, aber Sepp wehrte ab: „Nicht schießen, drei Schüsse sind genug, noch mehr würden zu stark stören.“ Und dann ließ ich die Büchse sinken, doch was dann geschah, ließ meine Abneigung gegen das Abfangen unumstößlich werden. Sepp ging von hinten an das Stück heran, nahm seinen Knicker und wollte das Stück abfangen. Doch so leicht kann man die kleine Stelle am Haupt nicht finden, das Stück klagte ganz erbärmlich, und dieser Laut, das Wehklagen einer gequälten Kreatur, hat mich seitdem nicht mehr verlassen. Später, immer dann, wenn der Jäger durch das nachgeahmte Mahnen einen Hirsch zum Verhoffen bringen möchte, musste ich an das Stück oben auf der Lachkendlalm und an seinen verzweifelten Todeskampf denken.

Drei Stücke hatten wir dort oben erbeutet. In unserer Jagdleidenschaft hatten wir freilich ganz vergessen, dass die Stücke auch geliefert werden mussten. Schließlich war Sepp nicht so ganz einsatzfähig, doch es ging. Sepp nahm das Kalb und den Spießer ins Schlepptau und ich das Alttier. Wir mussten kräftig ziehen. Ging es steil bergab, war es einfach, doch wenn die Stücke in den von den Kühen getretenen Querrillen verschwanden, dann war es schon mühsam, sie wieder herauszuholen. Wir mussten uns gegenseitig helfen, doch mit vereinten Kräften konnten wir auch diese Schwierigkeiten bewältigen.