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Inhalt

Die Welt ist ein Sumpf – und wir suhlen uns mittendrin

Ein alter Mann mit vielen Feinden

Putzi will nicht in den Zoo, und Nello ist der Schöpfer der Hühnernummer

Strafaktionen gegen Cäsar Knulp

Nellos Hüftschwung und ein Anwalt mit Verfolgungswahn

Wie der Käse laufen lernte

Kein Bock auf Plädoyers für Aschenputtel

Ein Geheimbund mit sieben Vorstandsmitgliedern

Ein »erlesenes Haus« und ein schlauer Fliegenpilz

Nichtraucher verschwinden nicht beim Zigarettenholen

Ein trauriger Vampir lügt nicht

Ein Foto für Mama Grappa

Richter Adam in neuer Besetzung

Die Hauptdarsteller betreten die Bühne

Ein schwarzer Kater und die Tochter des Zeus

Auch Studenten wollen ihren Spaß haben

Kein Ort zum Sterben

Tag der Tränen, Tag der Wehen

Das grelle Licht der Wahrheit

Es fehlen zwei Tage in Nellos Leben

Wild leben, reich werden und alt sterben

Nellos Witwe redet von einem Jahrhundertprojekt

Erinnerung an eine Nacht im Stadtpark

Ein Schönheitsbad und eine Spur

Ungebetener Besuch und kein Treppenwitz

Ikarus fliegt der Sonne entgegen

Zwischen Windeln und Wahnsinn

Drei Wünsche auf dem Anrufbeantworter

Männer, Moneten und Mandelhörnchen

Ohne Tricks und Gott befohlen

Spurensucher, Traumschiffer und Romantiker

Henna, Gurke, Quark und Tod machen mir die Wangen rot

Fünf Männer und keine Frau

Analphabeten kämpfen nicht für die Pressefreiheit

Der Wein als Vagabund im Mund

Willkommen im Klub der Ausbeuter und Scharlatane!

Der große Bluff und das blonde Fallbeil

»Die Geschichte von Adam und Eve« als Weltbestseller

Nachlassende Potenz und apfelförmige Brüste

Abschied von Möhrentorte und Kräutertee

Feudel hat Interesse und ich einen flauen Magen

Beutelmosers unheimlich leiser Abgang

»Putzi« mischt noch einmal mit

Viel Weichspüler für mein Gewissen

Eine Mappe mit schwarzen und roten Zahlen

Wer zündet die Lunte an?

Was wären wir ohne unsere Depressionen?

»Putzi« nimmt die Sache in die Hand

Wildwest, Wein und neue Wahrheiten

Trautes Heim mit Schönheitsfehlern

Die Wahrheit – schmucklos und profan

Keine Lust mehr auf Kultur

Ein Mädel zum Pferdestehlen

Wovon Nachtwächter träumen oder: »Putzi« kehrt zurück

Das »Paradoxon« als moralisches Problem des Menschen

Vorletzter Ausklang

Letzter Ausklang

Endgültig letztes Kapitel oder »Gott vergibt, Django nie!«

 

Knallig und knallharte Realität …

 

Theaterkritiker von Prätorius hat viele Feinde. Aber wer bringt im biederen Bierstadt einen Menschen nur wegen eines ätzenden Zeitungsartikels um? Welche Rolle spielt der Betroffenheitsdichter Lazarus Beutelmoser? Ziehen Möchtegern-Intendant Ralf-Maria Feudel und Leibwächter Putzi die Fäden in der geheimen ›Loge‹?

 

*

 

Zwischen Besuchen von Theaterpremieren und Dichterlesungen bekommt es Reporterin Maria Grappa mit gleich zwei Mordfällen zu tun – und mischt die Kulturschickeria mächtig auf.

 

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

(korrigiert nach den reformierten Regeln deutscher Rechtschreibung)

Originalausgabe © 1994 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-982-2

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa macht Theater

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar (siehe www.grafit.de/service/programm/krimireihen/).

www.gabriella-wollenhaupt.de

Für Fritz Michael

Bierstadt, die liebenswerte und weltoffene Metropole im Revier, ist auch eine Stadt mit Kultur. Sie wird aus öffentlichen Geldern subventioniert und nicht nur von Zeitungskritikern zur Kenntnis genommen. Auch der mündige Bürger besucht zu Silvester gern »Hoffmanns Erzählungen« oder den »Zigeunerbaron« und ergötzt sich an Schillers Klassiker »Die Räuber«.

Hinter den Kulissen jedoch tobt der Kampf um Macht und Moneten, Prestige und Pöstchen.

In diesem Roman sind Ähnlichkeiten mit lebenden Personen nicht beabsichtigt. Sie wären Ergebnis des Zufalls.

Die Personen

 

 

Boris Austerlitz mag Schauspielerinnen.

Lazarus Beutelmoser nervt Schulklassen.

Beate Elsermann möchte ins Fernsehen.

Ralf-Maria Feudel will Generalintendant werden.

Gallo Pinto schreibt heimlich.

Gregor Gottwald liebt »La Paloma«.

Maria Grappa stellt dreiste Fragen.

Jacques Höfnagel hält sich bedeckt.

Peter Jansen beherrscht die Partie.

Cäsar Knulp wird reingelegt.

Paul Pistor kann nicht nein sagen.

»Putzi« mag es lieber grob.

Anneliese von Prätorius will endlich leben.

Aristide von Prätorius will wild leben und jung sterben.

Nello von Prätorius lebt über seinen Tod hinaus.

Der Vorhang fällt, das Stück ist aus

Und Herrn und Damen gehn nach Haus.

 

Heinrich Heine

Die Welt ist ein Sumpf – und wir suhlen uns mittendrin

 

 

Langsam öffnete sich der rotweinfarbene Vorhang, stockte einige Sekunden, als wolle ein gnädiger Geist die Zuschauer vor dem Anblick, der sich gleich bieten würde, bewahren.

Meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das sanfte Licht gewöhnt hatten, doch dann sah ich, was nicht zu übersehen war: Die Bühne war mit dunklem Erdreich bedeckt. Zwischendrin mehrere Pfützen. Rundherum lagen Kleidungsstücke. Es roch nach feuchtem Moder mit einem Hauch von Pferdemist. Die Gefäße in der Kulisse waren mit prallen Würsten gefüllt, in den Regalen lagen Eier, in der Erde scharrten verwirrte lebende Hühner, die ganz offensichtlich an ihrem Verstand zweifelten. Ein klägliches Gackern schallte in den Zuschauerraum. Hier und da ein kleines Geflatter, weiße Federchen versanken im Morast. Hühner in Panik.

Obwohl ich tierlieb bin, versetzte mich das Federvieh in eine ziemlich schlechte Stimmung. Maria Grappa, fragte ich mich, was in aller Welt hat ausgerechnet dich ins Theater verschlagen? Und das, wo ich gerade heute hätte wählen können zwischen einem Klassentreffen beim Italiener, einem gemütlichen Fernsehabend mit 23 Programmen und einer Flasche Roten oder der Rezension eines Lesben-Krimis, den der Sappho-Frauenbuchverlag dringend von mir erwartete.

All das wäre sinnvoller gewesen als dieser Abend! Ich seufzte tief und drückte mich in den Theatersessel. Fehlentscheidungen müssen durchgestanden werden.

Tapfer blickte ich auf die Bühne. Meine Augen sahen ein großes Käserad, das an der Wand lehnte. Auf dem Tisch Spuren einer gerade gegessenen Mahlzeit. Speck, und schon wieder Käse. »Metapher« wurde so was wohl genannt. Klar, dachte ich, warum nicht, die Story spielt ja in Holland. Und Holland ist Käse. Das weiß jedes Kind.

Von der Bühnendecke baumelte ein dickes Tau, an dem eine Glocke hing. Alles hing genau über dem großen Schlammhaufen.

Ich war noch immer verwirrt. Im Textbuch stand etwas von einer Amtsstube. Das hier sah aus wie ein Schweinestall.

Ich blickte auf Nello von Prätorius, der – wie vom Donner gerührt – rechts vor mir saß. Er hatte mich in dieses Stück gelockt, von einem »kulturellen Ereignis« gesprochen. Nello war der Kulturkritiker des »Bierstädter Kulturechos«, gefürchtet wegen seiner scharfen Feder und geachtet wegen seines sicheren Urteils. Aber mit diesem Bühnenbild hatte selbst er nicht gerechnet, so schien es mir.

»Der zerbrochne Krug« von Heinrich von Kleist – so hieß das Stück heute Abend. Ein Klassiker, der vielen Menschen in den letzten 200 Jahren angeblich Freude gemacht haben soll. Die Geschichte von einem geilen alten Amtsrichter, der einer Jungfrau nächtens nachsteigt und dabei einen Krug zerdeppert.

Eine Story, die jeder versteht. Dem Bierstädter Theaterpublikum auf den Leib geschrieben. Das Haus war ausverkauft, denn alle wollten die erste Inszenierung des neuen Schauspieldirektors sehen. Sogar ich war darauf reingefallen und hatte mir eine Karte im Gegenwert von einem Abendessen gekauft.

Schade, dass Nello von Prätorius nicht direkt neben mir saß. Ich hätte gern ein paar passende Worte an ihn gerichtet. Aber vielleicht kam noch Schwung in die Sache.

Da! Bewegung auf der Bühne. Vom Seil rutschte ein Mann in Unterwäsche mitten in eine Pfütze und schrie auf. Es klang echt. Das musste der Dorfrichter Adam sein, denn ich erkannte Paul Pistor, den Kammerschauspieler der Bierstädter Bühnen. Sein kugelrunder Bauch war nicht mit den »Biergewächsen« anderer Herren zu verwechseln.

Paul Pistor war recht schwer und nicht mehr der Jüngste. Da saß er nun und hatte Mühe, sich aufzurappeln. Der Schlamm hatte seine blütenweißen Unterhosen ruiniert. Er schien sich wehgetan zu haben, denn er rieb sich Kopf und Bein. Aber das gehört vielleicht zur Rolle, fiel mir ein.

 

»Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam!

Was ist mit Euch geschehen, wie seht Ihr aus?«

 

Ein zweiter Mann war aufgetreten. Wohl der Schreiber des Richters, wie ich dem Programm entnehmen konnte.

 

»Wie seht ihr aus?«

 

wiederholte er. Eine gute Frage! Denn der Richter sah ziemlich verdreckt aus. Mit der linken Hand verscheuchte er ein Huhn, das sich hilfesuchend auf seinen Schoß geflüchtet hatte. Es gackerte empört auf und flog auf das Käserad.

 

»Ja, seht!«

 

sprach Paul Pistor mit einer tiefen melodischen Stimme.

 

»Zum Straucheln braucht‘s doch nichts als Füße.

Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier?

Gestrauchelt bin ich hier, denn jeder trägt

Den leid'gen Stein zum Anstoß in sich selbst.«

 

Der weitere Dialog der beiden drehte sich dann darum, auf welche Art und Weise und bei welcher Gelegenheit der Richter so ramponiert worden war.

Paul Pistor spielte brillant. Ihn schien der Dreck, in dem er sich bewegen musste, nicht zu stören. Nur die Hühner hatte er nicht im Griff, denn sie hatten einen Narren an ihm gefressen. Sie liefen ständig auf ihn zu, als sei er ihr Stiefvater. Er revanchierte sich mit Schlägen und Tritten, ohne seinen Text zu vergessen.

 

»Nun denn, so kommt, Gevatter«,

 

schleuderte Pistor seinem Schreiber entgegen.

 

»Folgt mir ein wenig zur Registratur;

Die Aktenstöße setz ich auf, denn die,

Die liegen wie der Turm zu Babylon.«

 

Der erste Auftritt war vorbei. Stille. Erst dann ein zögernder Applaus. Zu dem Applaus gesellten sich erste Buh-Rufe. Ich gehörte zu den Klatschenden. Immerhin hatte es viel Arbeit gekostet, den Schlamm in solchen Mengen auf die Bühne zu schaffen. Und die Idee mit dem Federvieh war wenigstens originell.

Ich blickte zu Nello von Prätorius. Der Kulturkritiker des »Bierstädter Kulturechos« saß regungslos auf seinem Platz und hatte die Hand vor die Augen gelegt. Er litt. Er hatte einen Schock. Sein Zustand war kritisch. Ich würde mich in der Pause um ihn kümmern müssen!

Gnadenlos schob sich der Vorhang wieder zur Seite. Richter Adam und sein Schreiber in Aufruhr. Ein Gerichtsrat aus Utrecht hatte sich zum Kontrollbesuch angesagt. Hektische Unruhe im Schlammhaufen, denn des Richters Perücke war verschwunden.

 

»Der Teufel soll mich holen!

Ich hatte die Perücke aufgehängt,

Auf einen Stuhl, da ich zu Bette ging,

Den Stuhl berühr' ich in der Nacht, sie fällt …«

 

»Drauf nimmt die Katze sie ins Maul …«

 

mischte sich der Schreiber ein,

 

»Und trägt sie unters Bett und jungt darin.«

 

Nello von Prätorius kauerte noch immer in seinem Sitz, schien sich aber – aus seiner Erstarrung erwacht – wieder dem Schauspiel zuzuwenden. Ich erkannte im Halbdunkel, dass er sich Notizen machte. Die Schauspieler selbst schienen keinen Spaß mehr an dem Schlammbad zu haben, denn sie leierten ihre Sätze rasch und lieblos und – wie ich fand – reichlich genervt herunter.

Im Theaterraum wurde es unruhig. Die Zuschauer tuschelten miteinander. Die ersten gingen bereits.

Paul Pistor, der alte Profi, versuchte, die Aufmerksamkeit wieder auf sich und seine Rolle zu lenken:

 

»Willkommen, gnäd'ger Herr, in unserm Huisum!«

 

dröhnte er in den Raum.

 

»Wer konnte, du gerechter Gott, wer konnte

So freudigen Besuches sich gewärt'gen.

Kein Traum, der heute früh Glock achte noch

Zu solchem Glücke sich versteigen durfte!«

 

Das Glück war ausgesprochen einseitig und fand nur im Textbuch statt. Immer mehr Zuschauer standen auf und drängelten durch die Reihen ins Freie. Paul Pistor blickte irritiert in das Dunkel des Zuschauerraums. Eine solche Massenflucht hatte selbst er, der seit 30 Jahren Leute bei Laune hielt, noch nicht erlebt.

Zurzeit lief erst der vierte Auftritt ab, bis zur Pause dürfte das Theater leer und der Skandal perfekt sein.

»Bleiben Sie bitte sitzen! Gehen Sie nicht auch noch!«, flüsterte es neben mir. Ich blickte zur Seite. Ich hatte gar nicht darauf geachtet, dass sich ein junger Mann neben mich gesetzt hatte.

»Keine Sorge«, beruhigte ich ihn, »ich bleibe bis zum bitteren Ende. Ich habe schließlich für das ganze Stück bezahlt. Wie finden Sie die Inszenierung denn?«

»Ich weiß nicht«, sagte er zögernd, »ich habe keine Ahnung vom Theater.«

»Das verbindet uns.«

Ich betrachtete ihn. Ungefähr mein Alter, vielleicht etwas jünger. Große schwarze Augen, die im Dunkeln wie heruntergebrannte Eierbriketts glommen. Schwarzes volles Haar, das wirr um den Kopf stand. Er krallte sich an der Vorderlehne fest, schien unter Strom zu stehen.

»Warum sind Sie denn hier, wenn Sie keine Ahnung vom Theater haben?«, wollte ich wissen.

»Die Eve ist meine Freundin«, sagte er wie abwesend, »sie tritt gleich auf. Sehen Sie, wie viele Leute schon gegangen sind! Wenn sie kommt und der Saal ist leer! Nein, das übersteht sie nicht! Da, jetzt kommt sie! Schauen Sie doch!«

Eine ältere Frau in Bauernkleidern stolperte durch den Morast auf den Richter und den Gerichtsrat zu. Sie lamentierte endlos über einen Krug, den ein Unbekannter in der Nacht zerdeppert hatte. Hinter ihr eine jüngere Frau und zwei Männer. Ich guckte mir die Eve näher an. Beate Elsermann, so hieß sie laut Programmheft. Eine junge Schauspielerin, die erst seit wenigen Monaten Mitglied des Bierstädter Ensembles war und zu den gewagtesten Hoffnungen Anlass gab.

»Ist sie nicht wunderbar?«, wollte mein Stuhlnachbar wissen.

»Bisher hat sie ja noch nichts gesagt!«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

 

»Du gehst zum Regimente jetzt, o Ruprecht, –

Wer weiß, wenn du erst die Muskete trägst,

Ob ich dich je im Leben wieder sehe.

Krieg ist's, bedenke, Krieg, in den du ziehst,

Willst du mit solchem Grolle von mir scheiden?«

 

Eve hatte in flehendem Ton zu ihrem Verlobten gesprochen. Der Mann neben mir hing an ihren Lippen und sprach lautlos die Worte mit. Sein Entzücken drang sogar durchs Halbdunkel zu mir.

Ich war gerührt. Wahre Liebe lässt mein Herz ganz hurtig schmelzen, da bin ich sentimental.

Die junge Schauspielerin war hochgewachsen und sehr schlank. Ob das Blondhaar echt war, konnte ich nicht erkennen. Sie bewegte sich betont langsam durchs Bühnenbild, ihre Stimme war tief und verführerisch. Ihr Schmerz über den Verlobten, der laut Kleist in den Krieg ziehen soll, kam nahe an eine Satire heran. Das Mädel war eine Fehlbesetzung für die Rolle einer ländlichen Naiven, das bekam sogar ich mit.

Als Fanny Hill oder Leutnant Tamara Jagelovsk auf dem Raumschiff Orion wäre sie ein Knaller gewesen.

Endlich! Das Licht ging aus, die Pause begann. Das Raunen, das durch die Zuschauerreihen strich, war alles andere als freundlich. Es klang genervt und rachsüchtig. Das Volk und seine Kulturtitanen würden noch heute Abend die Exekution von Schauspielchef Cäsar Knulp vorbereiten.

Ein alter Mann mit vielen Feinden

 

 

Bevor ich vor einigen Jahren Nello von Prätorius persönlich kennenlernte, hatte ich schon viel über ihn gehört. Sein Ruf in Künstlerkreisen war außergewöhnlich. Dass Journalisten, wenn sie andere kritisieren, nicht immer Jedermanns Lieblinge sind – davon konnte ich auch ein Lied singen. Doch der Hass, der ihm nach seinen Theaterkritiken entgegenschlug, war von besonderer Qualität.

Nello tat so, als bekäme er davon nichts mit. Er spürte nicht die Wut, die Schauspieler, Regisseure und Kulturbeamte mühsam zügeln mussten, wenn sie ihm begegneten.

»Irgendwann, mein Lieber«, hatte ich geweissagt, »wird Sie jemand tot aus dem Kanal fischen. Oder erstickt in Ihrem Bett finden. Im Mund eine zusammengeknüllte Theaterkritik. Richtig schön in den Hals gedreht, damit die Luft wegbleibt. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich Ihren Mörder finden werde!«

Nello hatte das nicht nachvollziehen können.

»Sie übertreiben wie üblich, Gnädigste! Warum sollte mich jemand umbringen? Einen alten Mann, der den Zenit seines Lebens schon längst hinter sich gelassen hat?«

»Sie haben zu viele Feinde! Seit Jahren schlachten Sie in Ihren Kritiken Schauspieler, Regisseure und Bühnenbildner. Vielleicht ja sogar zu Recht. Denken Sie zum Beispiel an Ihre letzte Konzertkritik. Sie haben dem Generalmusikdirektor geraten, bei einem Kur-Orchester als Trommler anzufangen, damit er lernt, wie ein korrekter Takt zu sitzen hat. Glauben Sie, dass er sich darüber gefreut hat?«

»Mittelmaß ist mir verhasst.« Das war seine Verteidigung. Er schüttelte sich vor Ekel und strich sein dickes weißes Haar zurück, nahm seine Rezitierhaltung ein, streckte die Bauchdecke nach vorn und pumpte seinen mächtigen Oberkörper voll Luft. Dann breitete er die Arme aus, als wolle er die neun Töchter des Zeus, die unter dem Begriff »Musen« bekannt sind, auf einmal umarmen.

»Das Theater ist eine Metapher des Ego im schlechten Verhältnis zu sich selbst. In der künstlerischen Verfremdung liegt die Wahrheit aller Wahrheiten.«

Um seinen Worten noch mehr Kraft zu verleihen, nahm er seinen Gehstock und klopfte im Rhythmus der Silben auf den Boden. Der Stock war aus schwarzem Ebenholz und hatte einen silbernen Entenkopf. Er half ihm beim Laufen, denn Nello von Prätorius hatte nicht nur einen Herzschaden, sondern auch noch ein künstliches Hüftgelenk. Doch das Humpeln passte zu ihm. Was wäre der Teufel ohne seinen Pferdefuß?

»Wieso kommt es«, fragte ich, »dass Ihr Kollege Gallo Pinto immer anderer Meinung ist als Sie?«

Das war seine schwache Stelle. Gallo Pinto trieb sich nämlich auch bei Theaterstücken und Konzerten herum und schrieb darüber in einer Zeitschrift namens »Melpomene«. Niemand in Bierstadt kannte seine Identität, was die Sache ungeheuer spannend machte – zumindest für die Leute, die sich für Kultur interessierten.

Wie gesagt, ich gehöre nicht dazu. Ich bin lieber dort, wo sich das wirkliche Leben abspielt. Große Gesten, edle Gefühle und schweinische Taten sind mir in natura lieber.

Trotzdem gelang es Nello, mir den Kleist aufzuschwatzen. Und da saß ich nun.

Putzi will nicht in den Zoo, und Nello ist der Schöpfer der Hühnernummer

 

 

Im Foyer sah ich Oberbürgermeister Gregor Gottwald, der sich in Richtung Garderobe bewegte. Er musste eine Weile auf seinen Mantel warten. Ich trat zu ihm.

»Hallo, OB«, sagte ich, »Grappa vom Tageblatt. Schön, Sie hier zu sehen. Sie gehen doch sonst nie freiwillig ins Theater. Hat es Ihnen denn gefallen?«

Er schaute mich an, als sei ich eine lästige Stubenfliege. Doch dann siegte sein Mitteilungsbedürfnis.

»Alles Käse!«, urteilte er kurz, knapp und laut. Ich hatte seine präzise Beobachtungsgabe immer geschätzt. Die Leute in seiner Nähe unterbrachen ihre Unterhaltungen.

»Alles Käse!«, wiederholte er. »Und damit meine ich nicht den Gouda auf der Bühne. Dieser Knulp ist wohl mit dem Klammerbeutel gepudert! Mit dem muss mal Tacheles geredet werden, und zwar gründlich!«

Gottwald war wütend und legte seine Worte noch weniger als sonst auf die Goldwaage des Opportunismus.

»Und die Freiheit der Kunst?«, wandte ich ein.

»Kunst? Papperlapapp! Käse, nichts als Käse!«

»Darf ich Sie zitieren?«

»Ihr Journalisten macht ja doch, was ihr wollt!«

Sprach es, zog seinen Mantel über und ließ mich stehen. Schön, dachte ich, das gibt zumindest eine saftige Lokalspitze. Das Honorar dafür könnte soeben meine Ausgaben für die Theaterkarte decken. Ich entschloss mich, noch weitere Stimmen zu sammeln, und mischte mich unter die Leute.

Dahinten stand Ralf-Maria Feudel, der Bierstädter Kulturmäzen und Entdecker des neuen Schauspieldirektors Cäsar Knulp. Er hielt sich im Foyer des Theaters an einem Glas Bier fest und sah überhaupt nicht zufrieden aus. Sein breites, flaches Gesicht wurde von einer flippigen Designer-Brille zusammengehalten, sonst wäre es auseinandergeflossen. Er schien ständig zu lächeln, denn seine Oberlippe war zu kurz. Durch den Schocker auf der Bühne war dieses Lächeln nun zu einer stummen Klage gefroren.

Neben Feudel feixte Kulturdezernent Jacques Höfnagel. Während Feudel mit einem dunkelblauen Maßanzug aufwartete und auf sein Äußeres achtete, hatte der Anzug des Kulturdezernenten schon bessere Zeiten gesehen, vor etwa 15 Jahren nämlich, als er noch neu war. Die Hose war zu kurz, dafür reichten die Ärmel bis zu den Mittelhandknochen. Ein Schulterpolster des Jacketts war wohl bei der letzten Reinigung verloren gegangen, so dass sein Oberkörper eine leichte Schieflage hatte.

Zwischen beiden langweilte sich Feudels Leibwächter, ein wirkliches Prachtexemplar der Gattung »Mann«, aber aus der Zeit, als der Hominide »Australopithecus« die Primärwälder nach Beute durchstreifte.

Kein höherer Gedanke hatte sich dieser Stirn je genähert, alle guten und schönen Anlagen im Mann hatten sich bei ihm in seinen Muskeln vereinigt. Die Betonstirn war breit, der Haaransatz tief, die Frisur dauergewellt.

Ich frage mich in solchen Augenblicken immer, ob die Spezies »Mann« nicht ein böser Fehler der Natur ist.

Als ich auf Feudel und Höfnagel zu trat, stellte sich der Dödel mitten in den Weg und guckte mich ganz böse an. Ich spielte Erschrecken.

»Troll dich, Putzi«, knurrte ich dann, »deine Mama wartet im Zoo mit dem Abendessen auf dich!«

»Putzi« fing an, darüber nachzudenken, ob er überhaupt eine Mama hatte. Ich nutzte die längere Pause und drückte mich an ihm vorbei.

»Hallo, die Herren«, flötete ich, »wie geht's, wie steht's?«

Der Kulturdezernent guckte mich mit müdem Lächeln an. Für ihn war ich der Prototyp einer Nervensäge.

»Das ist Frau Grappa«, erklärte er lahm in Richtung Feudel, »Reporterin, Wadenbeißerin, Emanze, mehr fällt mir im Moment nicht ein. Sie könnte ganz nett sein, wenn sie nicht die unangenehme Eigenschaft hätte, ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie überhaupt nichts angehen!«

»Ich bin doch jetzt Polizeireporterin«, stellte ich klar, »da kommen wir uns doch nicht ins Gehege, Höfnagel, oder? Es sei denn, Sie überfallen diese italienische Herrenboutique, von der ich Ihnen neulich erzählt habe. Die mit den tollen Anzügen, die auch aus Ihnen einen gutaussehenden Mann mit breiten Schultern und federndem Gang machen würden.«

»Liebe Frau Grappa«, grinste er, »Männer sind nicht nur willige Spielobjekte weiblicher Ästhetik. Es gibt auch Männer mit inneren Werten, und eins dieser Exemplare steht vor Ihnen!«

Er warf sich in die Brust und wurde zwei Zentimeter breiter. Ich musste lachen. Für einen Beamtenfuzzi war er manchmal erstaunlich schlagfertig.

»Ach, übrigens«, meinte er dann, »dieser Herr hier ist Ralf-Maria Feudel, Kulturmäzen und Unternehmer. Sie beide kennen sich wohl noch nicht.«

Ich reichte Feudel meine Hand. Er nahm sie und deutete eine Verbeugung an. Seine Hand war feucht und kalt.

Ich mimte Entzücken. »Wie schön, dass ich Sie kennenlernen darf«, plapperte ich. »Ich habe schon viel über Sie gehört. Wollen Sie nicht unser neuer Generalintendant werden?«

Ich legte in meine Stimme den ganzen Charme, zu dem ich fähig war, doch das reichte nicht aus, denn Feudels Miene verfinsterte sich. Sein Blick schabte an mir herunter, so, als wolle er sich meinen Anblick genau einprägen.

»Verstehst du, was ich meine, Ralf-Maria?«, fragte Höfnagel und zupfte sich die Krawatte zurecht. »Sie steckt ihre Nase in Dinge, von denen sie nicht die Bohne versteht. Plappert sensible Personaldinge in die schöne weite Welt. Mischt sich in alles ein und weiß immer alles besser. Und schreibt womöglich noch darüber, beseelt von journalistischem Größenwahn!«

»Jetzt reicht es aber«, murrte ich. Einen Angriff auf meinen hehren Berufsstand konnte ich nicht hinnehmen, »so geheim ist Herrn Feudels Interesse an dem Posten nun auch nicht mehr. Lesen Sie denn keine Fachzeitschriften? Außerdem, was kümmert's mich? Kultur ist nicht mein Thema. Ich wollte mich nur nett unterhalten. Warum gerade mit Ihnen, weiß ich allerdings nicht mehr! Ich versuch's halt noch mal. Wie hat Ihnen die Inszenierung bisher gefallen?«

Feudel schwieg weiter, doch Höfnagel legte los: »Eine saumäßige Zumutung ist das Ganze. Ich weiß nicht, was in den Knulp gefahren ist! Dieser ganze Dreck auf der Bühne, ekelhaft! Das wird Konsequenzen haben! Schuster, bleib bei deinen Leisten. Aber wenn ein Bauernlümmel schon mal in die Großstadt kommt! Oder sogar extra hierher geholt wird! Wäre er doch Chef dieser Freilichtbühne geblieben!«

Feudel zuckte zusammen. Das hörte er gar nicht gern, denn immerhin war Knulp seine Entdeckung. Er hatte Höfnagel ausgetrickst, der damals einen anderen Favoriten gehabt hatte. Doch Feudel traute sich jetzt nicht, Knulp zu verteidigen.

»Kommen Sie, Frau Grappa«, sagte Höfnagel mit zuckersüßer Stimme, »ich geb Ihnen ein Gläschen Sekt aus. Ich war eben ein bisschen hart zu Ihnen. Lassen Sie uns darauf trinken, dass Sie die Finger von der Sache lassen!«

Höfnagel ließ Feudel und seinen Wachhund stehen und schob mich in Richtung Sektbar. Er gab einem Kellner ein Zeichen, der flugs zweimal Schampus ranschleppte.

»Auf Ralf-Maria Feudel«, prostete mir Bierstadts höchster Kulturbeamter zu, »und darauf, dass er mit dem heutigen Abend nicht mehr die geringste Chance hat, Generalintendant zu werden! Mein Dank geht an Cäsar Knulp und an die Journalisten, die mitgeholfen haben. Und an das Bierstädter Publikum, das seinem Zorn heute Abend freien Lauf gelassen hat! Zum Wohl!«

So lief der Hase also! Und ich hatte gedacht, dass Höfnagel und Feudel das Kriegsbeil begraben hätten. In der Öffentlichkeit galten sie als gute Freunde.

»Sie verblüffen mich! Ich dachte, Feudel wäre Ihr Favorit für den Posten des Generals?«

»Ach was! Ein Nachtwächter als Intendant! Wo gibt es denn so was? Bierstadt will zwar in die Schlagzeilen mit seiner herausragenden Kulturpolitik, aber nicht auf die Witzseite!«

Er lachte, und der Schalk tobte in seinen Augen. Aus dem grauen Mann wurde ein Ausbund von Ausgelassenheit. Er hatte es faustdick hinter den Löffeln. Mir schwante in diesem Augenblick Ungeheuerliches. Und ich ging der Sache auf den Grund.

»Wer könnte Cäsar Knulp denn nur den Tipp mit dem Schlamm gegeben haben? Wer hat ihm die lebende Hühner-Nummer aufgeschwatzt? Und wer hatte die blendende Idee, den Dorfrichter in Unterbuxen zu stecken?«

»Grappa-Mäuschen, Sie sind ein cleveres Mädchen!« Höfnagel rieb sich vor Vergnügen die Hände. »Ich habe Cäsar Knulp ein paar gut gemeinte Tipps gegeben. Mehr nicht. Dass er sie so beherzigt, hätte ich niemals geglaubt, höchstens gehofft!«

»Beamteter Heuchler«, benotete ich seine Intrige, »der arme Knulp! Sie wollten Feudel treffen und opfern Knulp. Was passiert jetzt mit ihm?«

»Gar nichts. Der hat einen Drei-Jahres-Vertrag. Wenn wir ihn rausschmeißen, bekommt er sein Gehalt trotzdem. Das wird ziemlich teuer. Aber seine nächsten Stücke werden anders aussehen, das werde ich schon in der nächsten Ratssitzung versprechen können. Die Sache heute ist nur ein kleiner Ausrutscher.«

»Und was ist, wenn Knulp sich wehrt und auspackt?«

»Das tut er nicht. Und was sollte er auch zu sagen haben? Dass ich mit ihm über die ›Großstadt als Theaterraum‹ gesprochen habe?«

»Und wenn ein Journalist darüber schreibt oder eine Journalistin, die sich der Gerechtigkeit verschrieben hat?« Selbstverständlich dachte ich dabei an mich.

»Grappa-Mäuschen!«, säuselte er und versuchte einen Dackel-Blick. Das nächste »Mäuschen« hat Konsequenzen, dachte ich und blickte finster drein.

»Ich kenne Sie doch«, fuhr er fort, »Sie haben doch eine Menge Spaß an Intrigen auf hohem Niveau. Was haben Sie nicht schon für Geschichten angestellt!«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Diese Intrige hier hat acht Punkte auf der nach oben offenen Höfnagel-Skala. Was aber ist mit Nello von Prätorius? Falls er die Wahrheit herausfindet!«

»Er war immer gegen Knulp. Außerdem weiß unser überaus beliebter Kulturkritiker Bescheid. Der Tipp mit den Hühnern und dem Matsch stammt von ihm.«

Ich schüttelte den Kopf. Es verblüffte mich immer wieder, wie politische Intrigen in Bierstadt abliefen. Der Kampf mit dem offenen Visier war selten, lieber kungelte man auf geheimen Treffs mit ausgesuchten Teilnehmern Macht- und Personalfragen aus. Leider machten alle politischen Parteien das Spiel mit, und wir Journalisten ließen uns nur allzu oft einspannen.

Aber ich würde mich in den Theaterskandal nicht einmischen, obwohl ich jetzt die Wahrheit kannte. Oder sollte ich doch?

Ich kam nicht dazu, die Frage zu beantworten, denn ich wurde abgelenkt.

Am Ausgang des Schauspielhauses waren laute Stimmen zu hören. Wir stürzten hin.