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Inhalt

Fünfhundert Meter können sehr tief sein

Der Wellenchef hat eine Idee

Ein umfassender Begleiter und ein fassungsloser Leiter

Baumnymphe und Lorbeerbaum

Keine Lust auf tägliches Blutbad

Ein Gottesmann und ein Furientanz

Apollon, Knabenliebe, Retsina und Fleischbällchen

Sehnsucht und ein Nichtangriffspakt

Der Geruch der Pfefferminze

Ein antikes Disneyland mit religiösem Ambiente

Ein Mittagsmahl mit Giftbeimischung

Oregano, Thymian und eine unwirkliche Begegnung

Das allgegenwärtige Böse reist mit

Zeus überlebt, und Ajax vergisst das Stottern

Braune Augen und eine weiße Schale

Weiße Pappeln und rote Kirschen

Heilige Eiche und gemeine Ackerminze

Bis dass der Tod euch scheidet

Die Bürde der Geschichte und ein Befreiungsplan

Eine traurige Madonna und eine frischgebackene Witwe

Eine Leiche vor dem Frühstück

Hollandtomaten, Plastikstühle und eine Depression

Ein Telefonat und ein kleiner Einbruch

Der Unterschied zwischen Eigentum und Besitz

Begegnung in der Unterwelt

Die Strafe des Höllenhundes

Eine Harpune schult um

Am See der Stymphalischen Vögel

Lamm am Spieß und Läuse in Alkohol

Sonne, Salz und Sattheit

Regen unter den Säulen von Nemea

Die tiefere Philosophie des Plastikstuhls

Kein Auge auf der Stirn, aber eine neue Frau

Eine kalte Dusche mit Langzeitwirkung

Eine Sage von Blut, Mord und Rache

Ein hilfreicher Pater und ein trauriger Bruder

Oreganoduft und Thymianhonig

Ein voller Mond und Angst vor den Rachegöttinnen

Rache im Olivenhain

Ein Pascha im Bett und eine neue Idee

Abschied von den anderen

»Koronis gebar im steinigen Epidauros«

Eine Panne mit Joghurt und Honig

Der Vorteil einer klassischen Akustik

Arroganz, Stolz und ein Versprechen

Begegnung mit dem wahren Glück

Erster Ausklang

Letzter Ausklang

 

»Ich bin vergewaltigt worden!«

Es fiel mir schwer, die Worte zu begreifen. Ich dachte an Kondis und seine unausgelebte Melancholie.

»Wer?«

Sie schluchzte. »Ich habe keine Ahnung.«

 

*

 

Das »Klassische Hellas« ist Ziel der Bildungsreise, an der Maria Grappa teilnimmt. Unter der Sonne Griechenlands entbrennt die Reporterin nicht nur für die Schönheit der Landschaft und der steinernen Zeugen der Antike. Grappa fängt Feuer, während ein kaltblütiger Mörder Angst und Schrecken in der Reisegruppe verbreitet.

 

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

(korrigiert nach den reformierten Regeln deutscher Rechtschreibung)

Originalausgabe © 1995 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-984-6

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa fängt Feuer

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar (siehe www.grafit.de/service/programm/krimireihen/).

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

 

 

(in alphabetischer Reihenfolge):

Pater Benedikt hat kleine Geheimnisse.

Costas Christopoulos sieht aus wie Apollon.

Maria Grappa sucht nicht und findet trotzdem.

Dr. Jason Kondis kennt und macht Geschichte(n).

Daphne Laurenz leidet und schweigt.

Martha Maus himmelt die Götter an.

Alfred Traunich landet ganz unten.

Almuth Traunich rappelt sich auf.

Ajax Unbill hat eine Aufgabe.

Dr. Waldemar Agamemnon Unbill trägt seinen Namen zu Recht.

Gerlinde von Vischering begegnet einem Gott.

Ene, mene, muh

und raus bist du!

 

Letzter überlieferter Spruch des griechischen Helden Achilleus, gefallen vor Troja, etwa 1200 v. Chr.

Fünfhundert Meter können sehr tief sein

 

 

Es gibt viele Gründe, seine gewohnte Umgebung zu verlassen. Christoph Kolumbus segelte los, um die Indianer zu beglücken, Alexander von Humboldt bestieg den Chimborazo, um sein Herbarium zu vervollständigen, und Almuth Traunich verließ Bierstadt, weil sie ein Leben lang von einer Bildungsreise geträumt hatte. An dem Tag, an dem sie ihren Gatten Alfred mit einer graziösen Handbewegung ins Jenseits beförderte, wehte ein kühler Wind durch die Schlucht. Das war in der Nähe des nordgriechischen Dorfes Monodendrion. Alfred Traunich wollte sich gerade eine Zigarre anzünden. Er hatte sie noch zwischen den Lippen, als er in die Wacholdersträucher fiel, die fünfhundert Meter unter ihm das Flussbett säumten. Zu einem Waldbrand kam es zum Glück nicht, da eine Windböe das Streichholz ausgeblasen hatte, bevor der Brennstab glimmte.

 

Alfred Traunichs Tod passte nicht zu meinem Auftrag, obwohl ich Storys mit dramaturgisch exakt gesetzten Höhepunkten mag. Wie aber sollte ich Traunichs Abgang in ein 45-minütiges Hörfunk-Feature packen, das den griffigen Titel »Die Bildungsreise als intellektuelle Form des Massentourismus« trug?

Ich suchte die Kassette mit dem Interview heraus, das Traunich mir zum Beginn der Reise gegeben hatte.

 

Kassette 1. Bildungsreise. Interviews. So, jetzt geht's los. Sie heißen?

Alfred Traunich, 50 Jahre, Architekt.

Was bauen Sie?

Baumärkte, Hallen für Großveranstaltungen.

Und? Kann man davon leben?

Darauf können Sie Gift nehmen!

Haben Sie schon mal eine Bildungsreise gemacht?

Seh ich so aus? Ich bin nur hier, weil meine Frau sich die Reise zur Silberhochzeit gewünscht hat.

Sie interessieren sich also nicht für die griechische Antike?

Nicht die Bohne. Schon in der Schule hasste ich diesen Heldenkram.

Wo wären Sie denn lieber hingefahren?

Nach Österreich. Da haben wir ein Haus am See. Und ein Boot. Genau richtig zum Ausspannen. Aber die gnädige Frau hat ja so ihre Ambitionen. Hat sich kiloweise mit Büchern eingedeckt.

Meinen Sie Ihre Frau?

Sicher. Machen Sie das Interview mit der. Die kann die griechischen Götter inzwischen auswendig runterleiern. Ich wünschte, ich hätte die Reise schon hinter mir!

Der Wellenchef hat eine Idee

 

 

Nach dem plötzlichen Tod von Alfred Traunich saß unsere Reisegruppe ein paar Tage in den Bergen fest. Gelegenheit für mich, mein Material zu sichten und ein Konzept für das Feature zu entwerfen. Dabei kramte ich in meinen Erinnerungen.

Begonnen hatte alles mit einer Einladung zu einer Einweihungsfeier. Der Sender, für den ich hin und wieder arbeitete, hatte mal wieder seine Programmstruktur geändert, »optimiert«, wie es so schön heißt. So war das neue Reisemagazin geboren worden. Schlaue Planer hatten nämlich festgestellt, dass die Menschen in unserem von Arbeitslosigkeit gebeutelten Land immer mehr Geld für die Gestaltung ihrer Ferien ausgeben. Zwei Klassen von Pauschaltouristen hatten sich dabei gebildet. Die einen flogen nach Mallorca oder Lloret de Mar, um ihren Lieblingshobbys – Fressen, Vögeln, Saufen – nachzugehen, die anderen strebten danach, sich im Urlaub geistig zu erhöhen. Kurz gesagt: die Bildungsreisen boomten.

»Und Sie, Frau Grappa«, meinte der just gekürte »Wellenchef« gönnerhaft zu mir, »können das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden.«

Er war der Gastgeber an dem Abend, denn pünktlich zur Beförderung war seine Villa im Süden der Stadt fertig geworden. Die Bosse des Senders pflegten ihr gutes Verhältnis zu den von ihnen Abhängigen ab und zu mit einer privaten Einladung zu demonstrieren. Überall in dem neureichen Haus war Menschengebrumm zu hören. Frauen und Männer mit Gläsern und voll beladenen Tellern in der Hand rannten an mir vorbei, nicht ohne dem Gastgeber einen freundlichen Blick zuzuwerfen.

»Erzählen Sie mehr!«, bat ich.

Es folgte ein fünfminütiger Vortrag, in dessen Mittelpunkt die eigenen Erlebnisse auf Reisen an irgendwelche Orte standen.

»Also soll ich eine Bildungsreise antreten?«, interpretierte ich.

»Genau. Ich habe alles schon organisiert. In einer Woche fahren Sie.«

»Und wohin?«

»Ach, sagte ich das nicht? Natürlich nach Griechenland. Ein Bekannter von mir wird diese Reise leiten. Er hat vor Kurzem ein Reisebüro aufgemacht, das sich auf Bildungsfahrten spezialisiert hat.«

»Griechenland?«, maulte ich. »Ich will aber lieber nach Italien.«

»Das Land der klassischen Bildungsreise ist Griechenland«, beharrte er. »Mein Bekannter ist heute Abend auch hier. Ich werde ihn herholen. Dann können Sie die Einzelheiten mit ihm absprechen.«

Er ließ mich stehen und verschwand im Gewühl. Griechenland, dachte ich, warum nicht? Sonne und Landschaft, vielleicht baden. Es war Ende Mai. Die richtige Zeit also. Die Berge würden noch grün sein, die Oliven blühen, und die Aprikosen hätten bereits Früchte angesetzt.

Ich schlenderte gedankenverloren durch das Menschengewühl. Eigentlich hasste ich solche Feste. Zu viele Menschen, zu viel Lärm und kaum Gelegenheit, sich wirklich gut zu unterhalten. Doch der Wein war gut, und das Kalte Büfett konnte sich auch sehen lassen. Ich goss mir ein und hoffte auf die kommunikative Wirkung des Alkohols.

»Das ist Herr Kondis!« Es war der Wellenchef. Ich löste meinen Blick von den Lachsschnittchen und schaute auf.

»Guten Abend!«, meinte ich lahm. Der Mann, der Kondis hieß, guckte mürrisch und musterte mich bei der Gelegenheit. Er ließ offen, ob ihn mein Anblick schreckte.

»Ich lasse Sie beide jetzt allein«, drohte der Wellenchef, »Herr Kondis weiß, dass Sie die Gruppe begleiten werden. Also, viel Spaß noch!«

»Sollen wir uns irgendwo hinsetzen?«, versuchte ich den Dialog anzuheizen.

Er nickte nur kurz mit dem Kopf und hielt nach einer Lücke Ausschau. Dann stiefelte er auf eine Bank neben dem Gartenteich zu. Ich trottete hinterher. Das kann ja heiter werden, fluchte ich, der Mann ist ein geborener Entertainer.

Ich setzte mich neben ihn auf die feuchte Bank. »Wie war Ihr Name doch gleich?« Es war mein dritter Versuch. Einen vierten würde es nicht geben.

»Jason Kondis.« Seine Stimme war tief und samtig. Überrascht schaute ich hoch. Die Jalousie vor seinem Gesicht war noch immer herabgelassen. Er fing an, mich zu nerven.

»Plappern Sie immer so fröhlich drauflos?«, wollte ich wissen. »Sie lassen mich ja kaum zu Wort kommen.«

»Was wissen Sie über Griechenland?« Der Oberlehrer ließ grüßen.

»Sonne, Meer und Schafskäse und Retsina. Reicht das?«

Er zuckte verächtlich mit den Mundwinkeln und vertiefte sich in seine Lieblingsbeschäftigung, das Schweigen.

Ich erhob mich. Er war sichtlich erleichtert, mich loszuwerden, denn seine Gesichtszüge entspannten sich.

»Ich finde Sie genauso, wie Sie mich finden«, knurrte ich, »das hält mich aber nicht davon ab, Sie und Ihre Reisegruppe zu begleiten. Unser Gastgeber hat schließlich alles organisiert, und ich möchte meine Arbeit tun. Wann können wir also miteinander reden?«

Jason Kondis erhob sich von der Gartenbank. Er war nicht viel größer als ich, hatte dunkles Haar, das sich zu lichten begann, schwarze Augenbrauen und eine scharf geschnittene Nase, die mich an die marmornen Gesichter antiker Skulpturen erinnerte. Verachtung spielte um seinen Mund, als er eine knappe Verbeugung andeutete. Dann ließ mich der Kerl einfach im Grünen stehen und verschwand.

Ich kämpfte mich durch eine Gruppe von Gästen, die sich um einen Gartengrill versammelt hatten, auf dem das so genannte Grillgut seiner Vollendung entgegenschmorte. Der Wellenchef hatte sich brav in die Reihe der Wartenden eingereiht.

»Dieser Kondis ist der unfreundlichste Mensch, der mir in den letzten Monaten begegnet ist«, erzählte ich ihm. »Ich glaube, wir können das Feature vergessen. Ich würde sowieso viel lieber nach Italien fahren. Florenz, Siena, Lucca und die etruskischen Gräber in der Toskana. Oder Rom. Der klassische Ort für so was. Bildungsreisen gibt's überall hin. Warum soll ich mit diesem Kondis fahren? Er hat absolut keine Lust, mit mir zusammenzuarbeiten.«

»Lassen Sie mich nur machen!«, lächelte der Wellenchef. Sein quadratisches Sauriergesicht war neuerdings auf den Werbeplakaten des Senders abgebildet. Eine Idee der PR-Abteilung, die so neue Hörer gewinnen wollte.

»Dieser Kondis ist arrogant bis zum Abwinken«, fuhr ich fort, »wie will der bodenständigen Bierstädtern die griechische Kultur so erklären, dass sie ihm folgen können?«

»Die Gruppe, mit der Sie reisen werden, ist exklusiver als Sie denken«, lächelte mein Auftraggeber verschmitzt, »außerdem kann er es sich nicht aussuchen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Jason Kondis hat seine Reiseagentur erst vor Kurzem gegründet«, erzählte er, »Kondis ist promovierter Archäologe und genießt international den besten Ruf. Oder – sagen wir – er genoss den besten Ruf.«

»Und warum tingelt er dann mit Touristen durch die Gegend?«

Der Wellenchef hatte eine fast verkohlte Bratwurst ergattert und löste sich aus der Schlange vor dem Grill. Ich folgte ihm, denn er hatte mich neugierig gemacht. Dieser Kondis musste irgendwo einen dunklen Fleck auf seinem weißen Seidenhemd haben. Dunkle Flecken haben mich schon immer interessiert.

Beim Kartoffelsalat angekommen, wiederholte ich meine Frage. Mein Gastgeber biss mit Schmackes in die Wurst, sodass das Fett herausspritzte und meine Leinenjacke traf. Zweimal setzte er mit seinen Zähnen noch nach, dann war das Nitratprodukt verschlungen. Er erinnerte mich an einen Tyrannosaurus rex bei einer Häppchenorgie.

»Karriereknick!«, war die Antwort. Jetzt hatte er den Mund voll mit Kartoffelsalat. Ich rückte etwas ab, denn ich hatte keine Lust auf Mayonnaise an der Jacke.

»Dr. Kondis war Leiter des archäologischen Privatmuseums in der Landeshauptstadt, das eine der wichtigsten Antikensammlungen in Europa besitzt. Unter seiner Leitung kam es zu – na ja – Unregelmäßigkeiten.«

Ich war ganz Ohr und hakte nach.

»Nach und nach sind aus dem Museum wertvolle Fundstücke verschwunden. Einige von ihnen sind auf internationalen Auktionen wieder aufgetaucht. Lange Zeit hat niemand etwas bemerkt, bis das Kuratorium plötzlich eine Inventur angeordnet hat. Dann ist die Sache aufgeflogen«, kaute er.

»Kondis hat die alten Sachen geklaut und verscherbelt?« Ich war begeistert.

»Er hat es natürlich geleugnet. Das Kuratorium, das das Museum kontrollieren soll, wollte keine Schlagzeilen. Die Staatsanwaltschaft hat zwar ermittelt, doch es kam nichts dabei heraus. Kondis musste gehen. Damit er leben kann, hat er dieses Reisebüro aufgemacht.«

»Und warum unterstützen Sie einen Dieb?«, wollte ich wissen.

»Ich kenne ihn noch von der Universität. Außerdem halte ich ihn für unschuldig.«

Sehr überzeugend klingt das nicht, dachte ich.

»Das Startkapital für das Reisebüro hat er von mir. Ich konnte ihn doch nicht hängen lassen. Hoffentlich setzt er das Geld nicht in den Sand.«

»Deshalb soll es ausgerechnet diese Reise sein«, begriff ich, »wegen des Werbeeffektes nach meinem Bericht!«

»Nein«, widersprach der Wellenchef und versenkte eine Gewürzgurke in seinem Mund, »es könnte ja auch sein, dass Ihr Bericht negativ ausfällt. Ich will da gar nicht eingreifen. Kondis soll nur das Gefühl haben, dass ich weiter zu ihm stehe. Wir haben früher oft gemeinsam Urlaub in Griechenland gemacht, und ich war mit seiner Schwester befreundet. Sie verstehen?«

»Klar«, lächelte ich, »Männerfreundschaft.«

»Sie werden ihn mögen!«, weissagte er. »Er ist ein verdammt charmanter Bursche. Gebildet, witzig, stolz.«

»Ach tatsächlich? Ich halte ihn für arrogant und rüpelhaft. Außerdem ist er sehr einsilbig. Den meisten Männern steht es zwar gut, wenn sie den Mund halten, doch er übertreibt es.«

»Ich werde mit ihm reden«, versprach er. »Er fühlt sich überrumpelt. Er ist außerdem mitten drin in einer dicken Krise. Aber behalten Sie die Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, bitte für sich!«

Ich behauptete, schweigen zu können wie ein Grab. Nachdenklich schlenderte ich durch den Garten in Richtung Ausgang. Das konnte ja heiter werden. Die Vorstellung, zwei Wochen mit einem angeschossenen Macho, der mit der Welt hadert, durch die Gegend zu reisen, brachte meine Laune auf Tiefkühltemperatur. Ich hatte mehr als genug von der Party.

Bevor ich das Gartentor öffnete, fiel mein Blick auf Jason Kondis. Er stand wie verloren neben einer Kiefer und starrte die Nadeln an, so, als wolle er sich ihren Anblick genau einprägen. Er hatte mich nicht kommen sehen.

»Auf Wiedersehen, Herr Dr. Kondis!«, rief ich. »Schlimme Sache, in die Sie da geraten sind. Es bleibt übrigens dabei, dass wir in einer Woche zusammen verreisen!«

Er schreckte aus seinen Gedanken hoch. Sein Blick war eine Mischung aus Wut und verletztem Stolz.

Mein Lächeln war so süß, dass einen Diabetiker nur der Griff zur Insulinspritze gerettet hätte.

Ein umfassender Begleiter und ein fassungsloser Leiter

 

 

Langsam bekam ich Geschmack an der Sache. Zwei Wochen Urlaub, nur ab und zu unterbrochen durch ein paar Interviews, die mir die Reiseteilnehmer sicher nicht verweigern würden. Ins Radio zu kommen ist nämlich fast so schön wie den eigenen Kopf im Fernsehen zu betrachten. Ich kaufte mir einen Griechenlandreiseführer, der behauptete, ein »umfassender Begleiter zu den antiken Kultzentren der Griechen« zu sein, und eine Straßenkarte. Nichts beeindruckt die Hörer mehr als eine genaue Kenntnis der Umgebung, über die man berichtet.

Natürlich mussten neue Kleider her. Ich brachte die wenigen noch tragbaren Teile meiner Klamotten auf Vordermann, was stundenlanges Waschen und Bügeln bedeutete. Mitten in eine solche Glättarie schellte das Telefon. Es war Dr. Jason Kondis.

»Ich würde mich gern mit Ihnen treffen, um mit Ihnen über Ihre Arbeit zu reden«, sagte er kühl.

»Prima«, säuselte ich. »Ich freue mich, dass Sie Ihre Auffassung geändert haben. Und Ihr Benehmen. Ich hoffe, Sie quatschen mich nicht wieder tot. Wann und wo?«

»Können wir zusammen essen gehen?«

»Nein. Das kostet mich zu viel Zeit. Ich komme in Ihr Reisebüro. Welche Straße?«

Er zögerte. »Ich habe noch keine Firmenadresse«, kam es dann.

»Verstehe. Sie sind ein Heimarbeiter. Machen Sie einen Vorschlag!«

»Im Café bei Ihnen um die Ecke.«

»Dort? Woher kennen Sie meine Adresse?«

»Zufall. Sind Sie einverstanden?«

»Okay. In zwei Stunden. Noch etwas, Herr Kondis. Sie haben mich doch nicht freiwillig angerufen, oder?«

Er druckste herum. »Sie haben recht. Ich bin nach wie vor gegen eine journalistische Begleitung der Reise. Aber ich will meinem Freund einen Gefallen tun.«

»Er hat Ihnen doch auch geholfen, der Gute«, murmelte ich. »Enttäuschen Sie ihn also nicht. Es wäre doch schade, wenn er das viele Geld, das er in Ihr Unternehmen gesteckt hat, verlieren würde, oder?«

»Sie haben recht, Frau Grappa. Ich weiß, dass Sie meine Geschichte kennen. Vermutlich verachten Sie mich deshalb.« Der letzte Satz war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Verachten? Quatsch!«

»Hat es Sinn, Ihnen zu sagen, dass ich unschuldig bin?«

Ich lachte auf. »Was kümmert Sie meine Meinung? Selbst wenn Sie ein Dieb wären, würden Sie es mir sagen?«

»Nein. Sie sind eine harte Person. Sagen Sie eigentlich immer das, was Sie denken? Ohne Rücksicht auf die Gefühle Ihrer Mitmenschen?«

In seinem Ton flackerte aggressives Feuer. Noch ein bisschen Pusten, und ein Großbrand wäre angesagt.

»Lassen wir das doch«, versuchte ich die Situation zu entschärfen, »ich habe kein persönliches Interesse an Ihnen. Es ist mir egal, ob Sie ein Dieb sind. Jeder lebt sein eigenes Leben und ist selbst dafür verantwortlich. Bis gleich also! Ich werde pünktlich da sein.«

Baumnymphe und Lorbeerbaum

 

 

»Sind Sie Frau Grappa?«, sprach mich die junge Frau an. Ich wartete bereits zehn Minuten auf Kondis. Als ich auf die Frage mit einem Nicken antwortete, setzte sie sich zu mir an den Tisch.

»Herr Kondis ist leider verhindert«, entschuldigte sie ihn, »er musste zum Flughafen fahren. Ich soll alles mit Ihnen bereden.«

»Und wer sind Sie?«

»Entschuldigen Sie. Ich bin Daphne Laurenz. Ich bin die Mitarbeiterin von Herrn Dr. Kondis.«

»Was? Kein Büro und eine Mitarbeiterin?« Sie war Ende Zwanzig, attraktiv und hatte für eine echte Blondine entschieden zu dunkle Augen. Ihr olivgrünes Kostüm saß knapp, eine schwere goldene Kette zierte ihr Dekolleté. Die langen Haare reichten über die Schultern. Mehr konnte ich bei der ersten Überprüfung nicht erkennen.

»Ich studiere noch. Archäologie. Ich kenne Herrn Kondis von der Uni, er hielt dort Gastvorlesungen über griechische Mythologie. Er hat mich als zweite Reiseleiterin engagiert.«

»Daphne ist ein schöner Name«, stellte ich fest. »Er klingt so griechisch.«

»Daphne war die Tochter eines thessalischen Flussgottes. Apollon liebte und verfolgte sie, doch sie hatte Jungfräulichkeit geschworen. Als er sie vergewaltigen wollte, verwandelte sie sich in einen Lorbeerbaum.«

»Eine hübsche Geschichte«, stellte ich fest. »Zeugt von viel Fantasie und einem Gefühl für Dramatik. Kennen Sie Herrn Kondis schon länger? Was wissen Sie über ihn?«

Sie zögerte mit der Antwort, hatte vermutlich Angst, einer Journalistin Auskunft zu geben. Ihre dunklen Augen prüften mich. Es schien so, als vergliche sie das Bild, das ihr Kondis von mir gegeben hatte, mit der Wirklichkeit.

»Ich fresse nur kleine Kinder zum Frühstück«, witzelte ich, »keine ausgewachsenen Männer. Schon gar nicht welche mit Doktortitel. Also, warum ist er so schroff?«

»Sie fragen ziemlich direkt.«

»Ja. Berufskrankheit. Wollen Sie nicht antworten oder können Sie nicht?«

»Ich will nicht. Fragen Sie ihn selbst.« Die Abfuhr war nicht zu überhören.

»Wie Sie meinen. Dann lassen Sie uns zur Sache kommen.«

Ich erklärte ihr mein Projekt ausführlich und versprach, die Reisegäste beim Geschäft ihrer geistigen Erhöhung nicht allzu sehr zu belästigen. Im Gegenzug reichte sie mir eine Liste mit Namen und den Flugschein.

»Was sind das für Leute, mit denen wir es zu tun haben?«

»Irgendwelche Kunden. Kondis hat die Reise inseriert und auf Anmeldungen gewartet. Die da sind übrig geblieben.«

»Nur sieben Leute außer Kondis, Ihnen und mir?«

»Ja. Kondis bietet exklusive Bildungsreisen in Kleinstgruppen an. Nie über zehn. Dafür sind die zwei Wochen auch ziemlich teuer. Bei anderen Anbietern kostet eine ähnliche Reise etwa die Hälfte.«

»Ganz schön extravagant. Wie kam er auf die Idee mit dem Reisebüro?«

Sie zupfte ihre Bluse zurecht. Ihre Fingernägel waren mit rosa Nagellack bestrichen. Ich schaute auf meine Hände. Die Nägel kurz, die Finger verfärbt durch Filzstift, der Handrücken von Katzenkrallen verunziert. Daphne Laurenz, die Baumnymphe, winkte der Kellnerin und bestellte ein Mineralwasser. Was sonst, dachte ich, solche Mädchen trinken immer Mineralwasser, weil es keine Kalorien hat. Ich nutzte die Pause, um das Sahnehäubchen auf meiner heißen Schokolade mit dem Löffel wegzuschippen und zum Mund zu befördern.

»Als er die Leitung des Museums abgeben musste, verlor er auch seinen Lehrauftrag an der Universität. Er hat zwar einige Bücher geschrieben, die in der Fachwelt Aufsehen erregt haben, doch es reichte natürlich nicht, um zu leben. Ihr Chef brachte ihn auf die Idee, es mit gehobenen Bildungsreisen zu versuchen.«

»Sie mögen ihn, nicht wahr?«

Sie wurde rot. »Natürlich mag ich ihn. Er ist ein sensibler, verständnisvoller Mensch und ein guter Lehrer. Außerdem ist er mit meiner Mutter weitläufig verwandt.«

»Ihre Mutter ist Griechin?«

»Ja. Jason ist der Cousin der Schwägerin meiner Mutter.«

Ich sah mir die Liste der Reiseteilnehmer genauer an. Auf den ersten Blick nichts Auffallendes. Ein Ehepaar, Vater und Sohn, eine Rentnerin, eine Sekretärin und ein katholischer Pater.

»Alle ziemlich erwachsen«, stellte ich fest. »Nur der Sohn ist unter 40.«

»Das ist bei Bildungsreisen so«, erklärte Daphne Laurenz, »im Alter steigt das Interesse an diesen Exkursionen und … ein bisschen Geld ist ja auch nötig.«

»Muss ich sonst noch etwas wissen?«

»Eigentlich nicht. Die Anreise zum Flughafen organisiert jeder Reiseteilnehmer selbst. Die Route mit dem Reiseverlauf liegt bei Ihren Unterlagen.«

»Danke. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen. Schließlich sind wir die beiden Nesthäkchen in der Gruppe.«

Sie lachte. Der Klang war sympathisch. »Außer dem Sohn des Vaters natürlich.«

Keine Lust auf tägliches Blutbad

 

 

Nicht alle Männer sind ein Sammelsurium schlechter Angewohnheiten, aufgereihter Karriereknicke und endloser Krankheitsgeschichten. Da gibt es die Jäger und Sammler, die verzärtelten Muttersöhnchen, die bewusst praktizierenden Softies und die fundamentalen Machos. Den letzteren habe ich einen Teil meines nunmehr rund 40-jährigen Lebens gewidmet. Dabei habe ich Fertigkeiten entwickelt, die denen einer Kombizange nicht unähnlich sind. Einen Macho-Panzer zu knacken macht halt Spaß, und ich liebe Aufgaben, die mich mit Leib und Seele fordern. Apropos Leib: Reibung erzeugt Hitze; gegen die Brandblasen, die dabei entstehen, gibt es heutzutage gute Salben.

Für den Alltag sind diese Männer allerdings weniger zu gebrauchen. Ich mag keine täglichen Blutbäder in meinem Privatleben, keine Guerillakämpfe am Frühstückstisch oder einen Angriff aus dem Hinterhalt beim Abwasch. Eigentlich liebe ich die Harmonie und die Ruhe. Deshalb lebe ich allein.

Doch ab und zu überkommt mich die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Deshalb habe ich diesen Beruf gewählt. Als Journalistin bin ich immer unter Menschen, seien es nun Kollegen oder Klienten. Manchmal auch Kunden. Ich schreibe Artikel für Zeitungen oder produziere Beiträge fürs Radio und bekomme Geld dafür. Manchmal auch nur eine blutige Nase und eine neue Lebenserfahrung.

In den Tagen vor der Reise nach Griechenland vertiefte ich mich in einige Bücher, holte meine Kreditkarte aus dem Versteck und deckte mich mit Bargeld ein. Der Biofriseur bearbeitete meinen Kopf zwei Stunden mit Henna-Paste. Als das Zeug runter war, sah ich aus wie ein Feuermelder. In der Apotheke erstand ich ein starkes Sonnenschutzmittel. Leider werde ich nie so richtig braun; meine Haut produziert stattdessen Tausende von Sommersprossen an allen möglichen Stellen, um danach wieder vollends zu erblassen.

Jason Kondis sah ich erst am Flughafen wieder. Er stand mit Daphne Laurenz vor dem Counter, der vorher als Treffpunkt ausgemacht worden war. Neben den beiden erspähte ich eine ältere Frau, die schreiend bunt gekleidet war. Auf dem Kopf thronte ein breitkrempiger Strohhut, die Füße steckten in groben Wanderschuhen mit Profilsohle. Die weißen Söckchen schienen selbstgehäkelt.

»Hallo!«, sagte ich schlicht. Daphne Laurenz hielt mir freundlich ihre Hand hin, während Kondis schnell beide Hände in die Taschen seiner hellen Leinenhose steckte. Er trug eine Sonnenbrille, sodass ich seine Augen nicht erkennen konnte. Um seine Lippen lag ein mürrischer Zug.

»Lieber Herr Dr. Kondis«, flötete ich, »die Freude über mein Erscheinen steht Ihnen ins Gesicht geschrieben. Ich habe mir vorgenommen, Sie zu mögen. Es hat also keinen Sinn, sich zu sträuben. Wollen Sie mir die Dame nicht vorstellen?«

Er öffnete tatsächlich den Mund und sprach: »Das ist Frau Maus.«

Ich sagte: »Das war präzise. Klasse, wie Sie mit vier Worten ein Problem umfassend lösen können.«

Dann wandte ich mich der alten Dame zu, die dem Dialog gelauscht hatte. »Gute Tag, Frau Maus. Mein Name ist Maria Grappa. Ich werde diese Reise beobachten, denn ich bin Journalistin. Was ich genau vorhabe, werde ich erklären, wenn alle gekommen sind. Waren Sie schon mal in Griechenland?«

War sie nicht. Sie bot mir an, sie beim Vornamen zu nennen: Martha. Ich mochte sie.

»Ich habe für diesen Urlaub lange gespart«, erzählte sie, »schon als Kind habe ich die Heldensagen gerne gelesen, mit diesen vielen Göttern, die auch nicht anders sind als die Menschen. Hier – ich habe das Buch dabei!«

In ihrer Reisetasche lag ein abgegriffenes Büchlein griffbereit. Ich las: Sagen des griechischen Altertums.

»Schön, dass Sie sich so gut vorbereitet haben«, meinte ich.

Mein Blick fiel auf Kondis. Er hatte uns zugehört.

»Kennen Sie dieses Buch?«, fragte Martha Maus, die sein Lauschen für Interesse hielt. Sie ging auf Kondis zu und präsentierte stolz das Werk. »Hier steht alles drin, was Sie wissen müssen. Wenn Sie wollen, dann leihe ich es Ihnen, denn ich kann es fast auswendig. Es gibt auch Bilder von den Göttern und Helden. Schauen Sie!«

Sie hatte das Buch aufgeschlagen. »Das ist Odysseus auf seinen Irrfahrten nach dem Kampf um Troja.«

Sie meinte es lieb. Seine Lippen zuckten. Welche Gemeinheit würde er sich rausschrauben?

Er nahm die Sonnenbrille ab und sah die alte Frau an, die ihm noch immer das geöffnete Buch entgegenhielt. »Ein schönes Buch! Ich würde mich freuen, wenn Sie es mir leihen würden«, sagte er sanft und lächelte sie an. Es klang fast zärtlich. »Können Sie es wirklich entbehren?« Er legte seine Hand auf ihren Oberarm. Eine Geste der Freundschaft.

Sie strahlte und reichte ihm das Buch, als sei es eine Morgengabe. Er griff danach und verstaute es in seiner Aktentasche. Er bemerkte, dass ich zugehört hatte, nahm die Brille von der Stirn und tauchte seinen Blick wieder ins Dunkel.

»Sie können ja richtig nett sein«, zischte ich ihm wenig später zu. Martha Maus hatte sich fröhlich plappernd Daphne Laurenz zugewandt.

»Jeder bekommt das, was er verdient!«, gab er zurück.

»Und womit habe ich Ihren Unwillen erregt?«

»Sie sind Reporterin und wollen herumspionieren. Persönlich habe ich überhaupt nichts gegen Sie.«

»Danke!«, sagte ich ironisch und deutete eine devote Verbeugung an. »Haben Eure Gnaden noch ein paar Tipps auf Lager, um die Reise nicht zum Duell zwischen uns werden zu lassen?«

Er sah mir ins Gesicht und nahm wieder die Sonnenbrille ab. Es war das erste Mal, dass er mir in die Augen schaute. Seine waren dunkelbraun, und das Weiß des Augapfels schien wie frisch getüncht. Er hatte lange dunkle Wimpern, die bei Männern manchmal weibisch wirken. Zu ihm passten sie.

»Halten Sie sich zurück. Stören Sie den Verlauf der Reise nicht durch Ihre Recherchen und Interviews. Menschen sind nicht dazu da, gegen ein Honorar verwertet zu werden. Niemand soll Opfer einer Berichterstattung werden, die er nicht kontrollieren kann. Haben Sie verstanden, was ich meine?«

Er hatte meinen Unterarm gepackt und drückte ihn. Ich wollte ihn wegreißen, doch er spielte Schraubstock.

»Verdammt noch mal! Lassen Sie mich los! Ich mache nur meinen Job. Gerade Sie müssten doch wissen, wie schwer es sein kann, Geld zu verdienen. Befinden Sie sich nicht gerade selbst in dieser Lage?«

Er wurde bleich und ließ meinen Arm plötzlich los. Dann verbarg er den Blick wieder hinter der Brille. Nicht schnell genug, denn ich entdeckte Angst in seinen Augen.

»Es wäre vielleicht angebrachter, mich etwas netter zu behandeln«, schlug ich vor.

»Warum sollte ich das tun? Wollen Sie etwa irgendjemandem erzählen, dass ich …« Die Scham ließ ihn verstummen.

»Keine Angst«, beruhigte ich ihn, »das habe ich nicht nötig. Typen wie Sie habe ich noch immer aus der Hose gekippt. Ohne Netz und doppelten Boden.«

Ich bedachte ihn mit einem meiner diabolischen Grinser, die ich für Situationen wie diese immer parat habe, und ging zu Daphne Laurenz. Die Reisegruppe schien inzwischen fast komplett zu sein. Daphne sammelte die Flugscheine ein, um sie der Frau hinter dem Counter zu bringen. Ich gab ihr mein Ticket.

»Warum kann er mich nicht leiden?«, fragte ich sie und deutete mit meinem Kinn in Richtung Kondis.

»Nehmen Sie's nicht so tragisch. Er ist in einer schweren Krise«, erklärte sie, »er ist stolz und kann nicht begreifen, was mit ihm geschehen ist. Er glaubt, dass ihm jeder den Makel ansieht. Mit 46 Jahren steht er vor dem Nichts, muss sich eine neue Existenz aufbauen.«

»Na und? Was hat das mit mir zu tun?«

»Sie kennen seine Geschichte; er hat Angst, dass Sie darüber berichten. Außerdem reagiert er auf Frauen wie Sie … na ja, er ist halt Grieche und hat ein entsprechendes Frauenbild.«

»Das ist ganz allein sein Problem!«, rief ich aus. »Ich lasse mir die Reise nicht von ihm verderben. Hat er es eigentlich getan?«

»Was?«, fragte sie irritiert.

»Geklaut. Ist er ein Dieb?«

»Natürlich nicht!«

»Aber bewiesen ist das nicht, oder?«

Sie konnte nicht mehr antworten, denn die Frau hinter dem Schalter griff nach den Tickets.

»Für mich auf jeden Fall einen Nichtraucherplatz!«, bat ich.

Ein Gottesmann und ein Furientanz

 

 

Im Flugzeug zu essen ist fast so schlimm wie im Flugzeug zu schlafen. Die Sitze sind so eng gestellt, dass es unmöglich ist, Messer und Gabel in der für sie vorgesehenen Weise zu benutzen. Die Ellenbogen eng an den Körper gepresst, versuchte ich nur mit den Unterarmen und Händen ein angebliches Cordon bleu im Miniformat zu erlegen. Die Plastikgabel überstand meinen Wutanfall nicht, und ich stülpte den Aludeckel zurück auf die heiße Folie. – Dann schon lieber altersgerechtes »Essen auf Rädern«, das sieht nicht nur aus wie vorgekaut, sondern ist es vermutlich auch. – Die Stewardess räumte die Reste zum Glück schnell weg.

Während ich die Schlacht schon verloren gegeben hatte, kämpfte mein Nachbar tapfer weiter mit den Tücken moderner Verpackung. Zunächst verbrannte er sich die Hand beim Hochheben des Aludeckels, unter dem das Cordon-bleu-Plagiat schlummerte. Ein Teil der Soße hing noch am Deckel und kleckerte über die Hand. Als er nach der Papierserviette greifen wollte, stieß er sein Mineralwasser um, das sich über das Besteck und die Tüten mit Pfeffer und Salz ergoss. Er ignorierte den Schaden und versuchte vorsichtig, die Erbsen und Möhrchen auf seine Gabel zu schaufeln.

Auf dem Weg zum Mund passierte das nächste Unglück. Die schwachgrünen Erbsen waren noch nicht genug zerkocht, um nicht von der Gabel zu kullern. Fasziniert sah ich ihnen nach, wie sie sich zwischen seinen Beinen ein warmes Plätzchen suchten.

Dann kam die Stewardess mit der Kaffeekanne. Er reichte ihr sein Plastiktässchen und griff wieder danach, als es gefüllt war. Vorsichtig balancierte er den Kaffee an meinem Gesicht vorbei. Ich schloss vor Schreck die Augen und rechnete mit einer braunen Dusche. Doch nichts geschah. Langsam entspannte ich mich wieder.

Ich dachte über meine Arbeit nach. Jason Kondis' Abneigung gegen mich und meinen Job würde die Sache nicht gerade erleichtern. Aber es war zu früh, darüber nachzudenken. Ich nahm meinen Rekorder aus dem Handgepäck, stöpselte die Kopfhörer ein und schmiss eine Musikkassette rein. Entspannung war angesagt, und das gelingt mir am besten mit Klassik. Um mich auf die griechische Mythologie einzustimmen, entschied ich mich für Glucks Oper »Orpheus und Eurydike« mit der legendären Primadonna assoluta Maria Callas in der Partie des Orpheus. Gerade als meine Lieblingsarie begann – J'ai perdu mon Eurydice – zupfte mich jemand am Ärmel. Ich tat so, als würde ich nichts bemerken.

Doch der Zupfer ließ nicht locker. Unwillig öffnete ich die Augen. Es war der Mann, der neben mir saß. Er wollte aufs Klo.

Ich brauchte eine Weile, bis ich die Sachen beiseitegepackt hatte. Er quälte sich vom Fensterplatz auf den Gang. Als er sich mit den Händen an den Vordersitzen entlang hangelte, blieb er mit einem Finger im kunstvollen Lockendutt der Frau hängen, die vor ihm saß. Die fing sofort an zu trompeten. Er entschuldigte sich hastig. Dann versuchte der Unglücksrabe, die Locken wieder herzurichten. Die erboste Tussi kreischte und haute ihm auf die Finger.

Es war total komisch. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, bot ich an und reichte ihm meinen Arm. Endlich stand er schwer atmend neben mir auf dem engen Gang. Die Frau zeterte noch immer und sagte etwas wie »Tollpatsch«.

»Ist ja gut!«, zischte ich sie genervt an. »Er hat's doch nicht absichtlich getan. Ohne Dutt sehen Sie außerdem viel besser aus!«

Der Mann warf mir einen dankbaren Blick zu. Ich bemerkte erst jetzt, dass er um den Hals ein Holzkreuz an einem Lederriemen trug. Messerscharf schloss ich, dass er der Pater sein könnte, der sich für die Bildungsreise angemeldet hatte.

»Danke«, stammelte er. Seine Brillengläser hatten die Stärke von Glasbausteinen und waren durch die Dutt-Affäre beschlagen.

»Wollten Sie nicht aufs Klo?«, fragte ich. Er nickte und schlich davon.

Ich blieb auf dem Gang stehen. Meine Armbanduhr erzählte mir, dass wir Athen in zwei Stunden erreichen würden.

»Sie können ja richtig nett sein«, sagte eine Stimme in meiner Nähe. Es war Kondis, der die Aktion beobachtet hatte. Er saß in der Mitte des Fliegers in einer Viererreihe. Jetzt schaute er zwischen zwei Sitzen hindurch und lächelte. Die Sonnenbrille zierte noch immer sein klassisches Profil. Ich fühlte mich provoziert.

»Nehmen Sie endlich diese blöde Brille ab«, schnarrte ich ihn an, »haben Sie den bösen Blick, oder fürchten Sie meine weibliche Ausstrahlung?«

Sein Grinsen vertiefte sich.

Der Pater kam verrichteter Dinge zurück und verstellte die Sicht auf Kondis. Mutig trat er an die Sitzreihe heran. Er zögerte und guckte mich hilfesuchend an.

»Bringen Sie Ihre Frisur in Sicherheit«, bat ich die Frau, »sonst verpasst er Ihnen wieder ein neues Modell.« Sie gehorchte und ging auf Tauchstation.

Als er ohne nennenswerte Pannen auf seinem Po saß, fragte ich: »Sie sind der Pater, nehme ich an?«

»Ja«, fühlte er sich verstanden, »gehören Sie auch zu unserer Reisegruppe ›Klassisches Griechenland‹?«

Ich stellte mich vor und erklärte ihm meine Arbeit. Flugs vereinbarte ich einen Interviewtermin mit ihm für den Abend, wenn wir in unserem Hotel in Delphi eintreffen würden. Dann setzte ich mir die Kopfhörer aufs Haupt und lauschte Maria Callas.

Irgendwann zupfte wieder wer. Es war erneut der Gottesmann. »Tut mir leid, wenn ich Sie noch mal störe«, entschuldigte er sich, »aber Sie singen die Arien mit. Die Leute gucken schon komisch!«

»Pardon! Immer wenn mir Musik gefällt, muss ich mitsingen. Leider trifft mein Stil nicht jedermanns Geschmack. Die Seite ist aber gleich zu Ende.«

Es kam nur noch der »Tanz der Furien«, und da sang ohnehin niemand. Hätte ich versucht, die Blechbläser und die Becken nachzumachen, wäre die Maschine vermutlich abgestürzt.

Apollon, Knabenliebe, Retsina und Fleischbällchen

 

 

Der Bus kam pünktlich zum Flughafen, um uns abzuholen. Der Busfahrer war Grieche und hieß Aris Christopoulos. Seine Zähne hatten Lücken, die Haut war sonnengegerbt wie die einer Echse. Er bat uns, ihn Aris zu nennen. Das Schönste an ihm war sein Sohn Costas. Ich schätzte ihn auf 25 Jahre. Er hatte dunkle Augen, eine makellose leicht gebräunte Haut, eine knackige Jungenfigur, dunkle, gelockte Haare und war schön wie Apollon in seinen allerbesten Jahren.

Seine Augen überprüften in Windeseile die weiblichen Gäste, blieben eine kurze Weile an Daphne Laurenz hängen und stellten dann fest, dass außer ihr nichts Passendes dabei war, um Urlaubserinnerungen zu sammeln. Ich überlegte, in welchen Körperteil sich der Bengel die Kerben einritzte, um mit dem Zählen seiner Eroberungen nachzukommen.

Das kann ja heiter werden, dachte ich, wenn alle Männer hierzulande so gut aussehen, dann …

»Gefällt er Ihnen?«, fragte Kondis, der im Bus hinter mir saß.

»Und ob!«, gestand ich mit Enthusiasmus. »So müssen früher die griechischen Götter ausgesehen haben. Er hat bestimmt jenen hübschen strammen Po, dem antike Bildhauer ein ewiges Denkmal gesetzt haben.«

Costas blätterte derweil in dem Herrenmagazin, das er seinem Vater entrissen hatte.

»Wenigstens ist er nicht schwul«, sagte ich. »Das wäre schade für meine Geschlechtsgenossinnen.«

»Haben Sie etwas gegen homosexuelle Männer?«, wollte er wissen.

»Im Gegenteil. Sie behandeln Frauen zuvorkommend und höflich. Jeder, so wie er kann oder will oder muss.«