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Inhalt

Niemals schöne Bilder

Keine Leiche ohne Grappa

Versauter Sonntag

Zwei Königskinder

Der Fremde auf der Straße

Angst vor Fliegen?

Die alte Stradivari

Neutrale Tüte

Suche nach einem Geiger

Der »Rassesieger«

Hallo, Ihr Tiefflieger!

Amerikanischer Adel

Krummsäbel und Geige

Männer in Frauenberufen

Ein warmes Plätzchen

Saubere Fenster und slawische Seele

Besuch bei Lena

Fünf gezeichnete Porträts

Fünf Köpfe

Erwarte Connection

Alles Lüge, oder was?

Klima greift zu

Klima steigt aus, andere steigen ein

Ein wenig Sonnenschein

Die Geldübergabe

Lange Nacht, langer Morgen

Wer suchet, findet auch

Ausflug in die Vergangenheit

Im Reich der Fische

90 Kilo ohne Schuhe

Die Frauenstimme

Wunden und Träume

Kaffee, Wasser, Schwefel

Frauen, Kekse, Socken

Motiv in Sicht?

Eine alte Geschichte

Die Freiheit des Mörders

Durch den Wind

Tolle Überschrift

Ein Schnupperflug

Heimkehr

Entspannung

Männerträume

Modernes Management

Ein bunter Gruß

Ausklang in Gelb

 

»Es ist so schrecklich dunkel. Ich ... ich kann nicht mehr. Nein, was soll das? Lassen Sie mich doch ... Hilfe ... Ich kann nicht mehr atmen ... Hilfe!«

Durch das Funkgerät war jetzt nur noch Kossmanns Keuchen zu hören. Er schien keine Luft mehr zu kriegen.

»Oh Gott«, schrie ich. »Die bringen ihn um. Warum tut denn keiner was?«

 

*

 

Ein toter Teppichhändler in den Trümmern der gesprengten Bibliothek, ein Erpresserbrief an die Bierstädter Stadtspitze, eine verschwundene Straßenmalerin – die Journalistin Maria Grappa vermutet, dass die »Fantastischen Fünf« hinter allem stecken. Doch wer sind die »Fantastischen Fünf«?

 

 

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

(korrigiert nach den reformierten Regeln deutscher Rechtschreibung)

Originalausgabe © 1997 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-987-7

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa und die Fantastischen Fünf

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar (siehe www.grafit.de/service/programm/krimireihen/).

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

 

 

(in alphabetischer Reihenfolge)

Anton Brinkhoff verliert kurz den Überblick

Maria Grappa lässt sich reinlegen

Peter Jansen sehnt sich nach Ruhe

James Kossmann liebt Violinmusik

Dr. Hasso Klima schnüffelt am falschen Platz

Thilo May hebt einmal zu viel ab

Leon Pirelli ist zart besaitet

Lena Pirelli spielt nur eine Rolle

Mustafa »Solo« Rotberg ist sentimental

Ali Tabibi erreicht das Paradies

Mamoud Tabibi gibt Prozente

 

 

 

 

Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Jean Paul

Niemals schöne Bilder

 

 

Der Fotograf war ein kleiner, magerer Kerl mit Wieselgesicht, der giftig werden konnte. Er soff, rauchte wie ein Geisteskranker, hustete, wenn er Stress hatte, und war insgesamt ein in sich zerrissenes Stück Mann, das den Zeitpunkt für was auch immer verpasst hatte. Er wurde Solo genannt und machte geniale Pressefotos. Der Typ zauberte Sensibilität und Kreativität in die kleine schwarze Kiste, die um seinen unrasierten Hals baumelte, und verwandelte beides in hinreißende Bilder. Sie brachen das Herz oder drehten einem den Magen um. Seit einem Jahr arbeitete er nur noch für eine internationale Fotoagentur, die erstklassige Bilder in alle Welt verscherbelte. Solo konnte sich seine Termine aussuchen, und er wählte nur die interessantesten.

Ich kannte ihn seit seiner Volontärszeit beim Bierstädter Tageblatt. Das war lange Jahre her. Schon damals hatte mich sein ungewöhnlicher Blick fasziniert – er schoss niemals schöne Fotos. Seine waren unverschämt wahr, grausam entlarvend und unversöhnlich-unerbittlich. Solo hatte es schon als Berufsanfänger geschafft, bei IG-Bergbau-Jubilarehrungen, Goldenen Hochzeiten und Hundeschauen striktes Fotografierverbot zu bekommen. Seine Wahrheit wollten die Leute nicht sehen.

Mich wunderte, dass er sich heute Morgen für diesen Termin so früh aus dem Bett begeben hatte. Der Mann sah nach wenig Schlaf und viel Alkohol aus. Ich hob die Hand und winkte.

»Hallo, Grappa«, nuschelte Solo. »Immer noch bei dem Käseblatt?« Er war wirklich nicht ganz nüchtern.

»Sicher«, meinte ich knapp.

»Hat also nicht geklappt mit der großen Karriere bei Stern oder Spiegel?« Damit legte er den Finger in die Wunde aller Lokaljournalisten, die irgendwann ihre Träume vom Pulitzer-Preis abgehakt hatten.

»Man kann's sich nicht immer aussuchen«, sagte ich und bemerkte, wie die Unmutsfalte zwischen meinen Augenbrauen erschien. »Ich bin bei unserem Blatt für die Krawall-Geschichten zuständig. Alles, was viel Arbeit und wenig Ruhm einbringt.« Warum verteidigte ich mich eigentlich?

Solo grinste schief. Seine Zähne waren nikotingelb, das ehemals volle Haar schütter und stumpf. Blendend schien es ihm nicht zu gehen.

»Die Leser mögen das, was ich schreibe. Ich bekomme viele Zuschriften auf meine Artikel«, ergänzte ich wahrheitsgemäß.

»Ach? Morddrohungen oder Heiratsanträge?«

»Du hast dich nicht verändert. Noch immer der alte Zyniker. Für wen bist du eigentlich heute da? Welcher deiner weltberühmten Kunden interessiert sich für ein Ereignis in unserem beschaulichen Bierstadt?«

»Ich mach's nur für mich«, behauptete Solo. Er zerrte mit zitternden Fingern eine Filterlose aus der Schachtel. Sie brach in der Mitte durch und fiel zu Boden. Er hob eine Hälfte wieder auf, gab ihr Feuer, sog den Qualm ein und hustete. Es kam von tief unten.

»Also – sag schon!«, bohrte ich weiter. »Dich interessieren doch sonst nur Bilder von Menschen in außergewöhnlichen Lebenslagen.«

»Eben«, kam es knapp. »Aber es müssen nicht unbedingt Lebenslagen sein.«

Ich verstand nicht, was er meinte. Auch egal. Heute war sowieso alles anders. Normalerweise lag ich sonntags um halb sieben friedlich schlummernd im warmen Bett. Ein leichter Wind strich über das Pflaster. Es war Sommer, doch mich fröstelte.

Ich sah mich um. Auf dem Platz hatten sich inzwischen etwa zwanzig Journalisten versammelt, Schreiberlinge wie ich, Radioreporter und Fernsehteams. Polizisten überprüften die Presseausweise und sorgten dafür, dass neugierige Bürger hinter der Absperrung blieben. Ab und zu flatterten schlaftrunkene Tauben taumelnd aus der Fassade des großen Kaufhauses gegenüber, landeten auf der gepflasterten Fläche des Platzes und hielten nach Essbarem Ausschau.

Die Schaufenster der Geschäfte ringsum waren mit Pappe und Decken verhängt, Gaststätten und Bistros hatten ihre Tische und Stühle zusammengeräumt, der persische Teppichhändler hatte pünktlich zum Ereignis einen Sonderschlussverkauf mit bis zu 80 Prozent herabgesetzten Preisen plakatiert.

Ich betrachtete das große Gebäude, um das sich heute alles drehen sollte. Es lag wie ein gestrandetes Schiff auf Grund. Leergezogen, ausgekratzt, aufgegeben. Mehrere Wasserwerfer besprühten die Steine. Knapp vierzig Jahre lang war hier die städtische Bibliothek untergebracht gewesen. Sie lag im Herzen der Stadt auf einem Gelände, das das Interesse millionenschwerer Investoren geweckt hatte. Zunächst hatte das Gebäude erhalten werden sollen – immerhin war es unter Denkmalschutz gestellt worden – doch der Druck der Geldsäcke auf die ihnen hörigen Politiker war so stark gewesen, dass der Rat einen Abrissbeschluss fasste. Inzwischen waren zwar alle Investoren wieder abgesprungen – doch die Mehrheitsfraktion hielt den eigenen Gesichtsverlust für schädlicher als das Verschleudern von Steuergeldern.

»In dem Gebäude befinden sich 580 Bohrlöcher, die mit rund 70 Kilogramm Sprengstoff aufgefüllt wurden«, unterbrach der Sprengmeister meine Gedanken. »Um Punkt sieben wird im Mittelteil gezündet, einige Augenblicke später fallen die Seitenwände und stürzen in die Mitte. Das ist eigentlich alles!«

»Welche Art Sprengstoff benutzen Sie?«, fragte ein Kollege von der Konkurrenz.

»Ammonsalpeter«, gab der Sprengmeister bekannt. »In sechs Sekunden ist alles vorbei. Und jetzt treten Sie bitte zurück.«

Hinter der Absperrung, 150 Meter vom Sprengort entfernt, stand ich wieder neben Solo. Er saugte noch immer den Rauch aus seinem Brennstab.

»Vergiss nicht, einen Film einzulegen«, versuchte ich, den Dialog erneut in Schwung zu bringen.

Doch Solo schien mich nicht zu hören. Wie gebannt schaute er zu dem großen Haus, von dem in wenigen Augenblicken nur noch Bauschutt übrig sein würde.

Signale ertönten, dann zwei langgezogene Sirenentöne. Drei dumpfe Schläge kurz hintereinander. Die Mitte des Hauses stürzte ein. Dann brachen die Außenmauern nach innen weg. Die Steine schrien auf. Die Stadt bebte. Schließlich Stille und Staub. Neben mir surrte der Motor von Solos Kamera. Das Schauspiel machte mich beklommen. Es hatte den Geschmack von Zerstörung, als fälle jemand einen Urwaldriesen im brasilianischen Regenwald.

Ich atmete tief durch. Langsam wurde die Staubwolke dünner, im letzten Nebel erschien der Turm der Kirche gegenüber. Glockengeläut. Wie bestellt. Requiescat in pace.

»Das war's«, konstatierte Solo trocken. Ich sah, dass ihm eine Träne die Wange herunterlief.

»Was ist mit dir?«, fragte ich verdattert.

»Nichts«, behauptete er heiser, »ich hab ein bisschen Staub ins Auge gekriegt. Kommst du mit?«

»Wohin?«

»Die Trümmer angucken.«

»Ich weiß nicht ...« meinte ich unentschlossen. Mein Magen verlangte nach einem ausführlichen Frühstück. Schließlich musste ich mich fürs Frühaufstehen belohnen.

»Bitte, Grappa!«

Irgendwas hat er, dachte ich und sagte laut: »Na gut. Aber anschließend gehen wir frühstücken.«

Solo nickte abwesend und stiefelte los. Ich hatte Mühe, seinem Tempo zu folgen.

Schließlich erreichten wir den Zaun, hinter dem rund 30.000 Tonnen Schutt lagen. Einige Neugierige guckten durch die Luken des Bretterzaunes. Solo zog mich zur linken Seite des Holzverschlages. Ich sah eine Tür, die durch ein Vorhängeschloss gesichert war.

Solo griff in die Tasche seines Jacketts und holte einen Draht heraus. In Windeseile hatte er das Schloss geöffnet.

»Was soll das?« Ich hatte keine Lust, in Bauschutt herumzustapfen.

»Ich muss hier rein, Bilder machen.« Er guckte mich wütend an.

»Dann tu's doch. Aber ohne mich.«

»Hab Vertrauen zu mir.« Jetzt bettelte er.

»Vertrauen? Erst, wenn du tot bist.« Ich wollte mich gerade umdrehen und verschwinden, als ich einen eisernen Griff am Arm spürte. Solo drückte mich durch die Tür und schloss sie hinter uns.

Der Anblick, der sich uns bot, hatte ›Kriegsqualität‹: Graue, mannshohe Steine lagen verkeilt in- und aufeinander, zersplitterte Fassadenkacheln, schwere Mauerreste, verrostete Eisenstangen, einzelne Betonsteine, Unmengen von Staub und kieselgroßen Betonbrocken.

Solo lichtete das apokalyptische Chaos ab. Wie ein wilder Zwerg stieg er über dampfende Trümmer, hielt den Kopf in künstliche Höhlen, lehnte sich an zerrissene Mauerstücke, um den bestmöglichen Bildausschnitt zu bekommen. Besessen malträtierte er immer wieder den Auslöser des Fotoapparates, der geduldig klickte und den Film weiter transportierte.

»Ich brauche einen Kaffee«, nörgelte ich.

»Hier, schau mal!« Solos Stimme war hell und aufgeregt.

Ich stieg durch die Trümmerlandschaft.

»Da!« Mit dem Kinn deutete Solo zu einem Mauerstück hin, das an eine Betonsäule gekippt lag und so ein kleines Dach über einer Öffnung bildete. Aus ihr ragten zwei menschliche Füße. Sie steckten in schwarzen Herrenschuhen, die mit grauem Staub überpudert waren.

Entsetzt sah ich Solo an. Er trug ein zufriedenes Lächeln im Gesicht, als habe er das gefunden, was er gesucht hatte.

»Also doch«, sagte er leise.

Keine Leiche ohne Grappa

 

 

Der Tote im Schutt hieß Ali Tabibi. Er wurde 55 Jahre alt und hinterließ ein millionenschweres Imperium von über 50.000 Orientteppichen. Sein Teppichhaus lag gegenüber der gesprengten Bibliothek. Aber der Reihe nach:

Nach unserer Entdeckung hatte ich einen Polizeibeamten gerufen, der gerade dabei war, eine Straßenabsperrung wegzuräumen. Er bat mich zu bleiben, bis die Mordkommission angerückt war. Als ich zu der Lücke im Bretterzaun zurückging, war Solo verschwunden. Er hat gewusst, dass dort ein Toter liegt, dachte ich, und jetzt macht er sich aus dem Staub, ich hab die Sache am Hals, dieser verdammte Mistkerl ...

Stimmen durchbrachen meine Fluchwelle. Hauptkommissar Anton Brinkhoff war nicht überrascht, als er mich sah. Seit Jahren verband er meinen Anblick mit Katastrophen, Mordgeschichten und HorrorStorys.

»Sie schon wieder«, brummte Brinkhoff. »Keine Leiche ohne Grappa. Zeigen Sie mir den Fundort!«

Stumm ging ich voran. Der Hauptkommissar und zwei seiner Kollegen folgten mir. Die Füße des Toten ragten noch immer zwischen den grauen Trümmern hervor.

»Warum sind Sie hier eingedrungen?«, fragte Brinkhoff. »Wussten Sie, dass es hier was zu finden gab?« Es klang ziemlich genervt.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ein Kollege wollte die Trümmer fotografieren, und ich bin mitgegangen ...«

»Und wo ist dieser Kollege?«, tönte eine Stimme in meinem Rücken. Ich wandte mich um. Bevor ich den Mund öffnen konnte, sagte Brinkhoff: »Guten Morgen, Herr Oberstaatsanwalt. Dies ist die Zeugin, die die Leiche gefunden hat. Frau Grappa vom Bierstädter Tageblatt.«

Der Ermittler war Mitte Vierzig, hatte einen kahl geschorenen Kopf, abstehende Ohren, dunkle Augen, volle Lippen und trug einen langen, sandfarbenen Wildledermantel. Mit Cowboyhut hätte er in dem Italo-Western Spiel mir das Lied vom Tod mitmimen können.

»Sie sind doch diese Frau, die in allen möglichen Dingen herumschnüffelt und sich auch noch darüber verbreitet«, stellte der Oberstaatsanwalt fest. »Was – zum Teufel – haben Sie in diesem Bereich zu suchen?«

Ich überhörte die Frage. »In zivilisierten Gegenden nennt man solche Leute Journalisten«, wehrte ich den Angriff auf meinen hehren Berufsstand ab. »Und wer sind Sie? Ich kenne einige Staatsanwälte, aber Sie sind mir noch nicht über den Weg gelaufen.«

»Dr. Hasso Klima. Oberstaatsanwalt.« Es klang zackig. »Zuständig für Kapitalverbrechen. Seit genau vier Wochen.«

»Hasso ist ein prima Name«, lächelte ich. »War Ihr Vater ein Schäferhund?«

»Glauben Sie bloß nicht, dass Sie die Erste sind, die sich an einem originellen Witz über meinen Vornamen versucht«, behauptete Klima. »Und jetzt zur Sache. Wo ist der Fotograf, von dem Sie eben sprachen?«

»Weg.«

»Was soll das heißen?«

»Ich informierte die Polizei. Als ich zurückkam, hatte sich Solo vom Acker gemacht.«

»Solo?«

»Sein Spitzname. Er heißt Mustafa Rotberg.«

»Wieso Mustafa?«

»Seine Mutter ist Libanesin.«

»Interessant. Hat er die Leiche fotografiert?«, kam die nächste Frage.

»Klar. Job ist Job.«

»Sehr schön!« Klima stampfte ungehalten mit dem Fuß auf. »Für welches Blatt arbeitet er?«

»Mal für dieses, mal für jenes. Er ist ein Freier.«

»Wunderbar!!« Jetzt war Klima richtig schön sauer. »Kennen Sie seine Adresse? Ich werde die Bilder beschlagnahmen und ihn festsetzen lassen!«

»Die Adresse kenn ich nicht. Und selbst wenn ... schon mal was von Pressefreiheit gehört?«, fragte ich sanft.

»Ich brauche keine Belehrungen«, schnippte er. Klima gab die Fragerei auf und bewegte sich zum Fundort. Sein Mantel flatterte hinter ihm her wie eine Schleppe.

Die Polizeibeamten hatten die Mauerreste und Steine vorsichtig beiseitegeräumt. Da lag er. Der Tote war nicht groß, schlank, gut gekleidet in Hemd und Krawatte. Sein Haar war voll und grauschwarz meliert. Ich hatte ihn schon mal gesehen.

»Kennt jemand diesen Mann?«, fragte Klima in die Runde.

»Das ist Ali Tabibi«, antwortete ich. »Ihm gehört das Teppichhaus gegenüber. Er hat pünktlich zur Sprengung der Bibliothek seine Teppichpreise um bis zu 80 Prozent gesenkt. Sonderschlussverkauf. Eine Ära geht zu Ende ... so hieß der Werbeslogan, den er sich dazu hat einfallen lassen. Irgendwie passend – so wie der jetzt da liegt.«

»Frau Grappa hat recht«, mischte sich Brinkhoff ein. »Ich kenne den Mann auch. Wir haben vor einigen Monaten eine Hausdurchsuchung bei ihm gemacht und zahlreiche Akten beschlagnahmt. Verdacht des Betruges und der Steuerhinterziehung. Herr Tabibi ist erst vor sechs Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Gegen eine Kaution vom 800.000 Mark.«

»Eine Strafe hatte er schon abgesessen«, vervollständigte ich Brinkhoffs Bericht. »Dreieinhalb Jahre wegen Steuervergehens. Das war vor etwa zwei Jahren. Er hat jahrelang keine ordentliche Buchführung gemacht und keine Sozialabgaben für seine Angestellten gezahlt. Die Teppiche wurden zum Teil schwarz verkauft. Sechs Millionen will das Finanzamt von ihm haben. Da hat er seine Teppiche durch die Kommune versteigern lassen, um die Schulden zu bezahlen. Und jetzt ist er tot.«

»Scharfsinnige Bemerkung«, wertete Klima. Er wandte sich an den Polizeiarzt. »Können Sie schon etwas zur Todesursache sagen?«

»Er ist nicht von den Trümmern erschlagen worden oder durch die Explosion umgekommen«, meinte der Arzt. »Der Mörder hat ihm die Pulsadern geöffnet.«

»Und wo ist das Blut?«, fragte ich. »Ich sehe keins.«

»Der Fundort ist nicht der Tatort«, meinte der Arzt. »Der Mann ist woanders gestorben und hierher gelegt worden.«

»Aber wann?«, grübelte ich. »Die Sprengtechniker bringen seit Tagen die Bohrlöcher an. Irgendjemand muss was bemerkt haben. Ich muss unbedingt mit den Leuten reden.«

»Wer ist hier der Ermittler? Sie oder ich?«, brüllte Hasso Klima. Brinkhoff grinste.

»Bleiben Sie cool«, riet ich. »Ich mache meinen Job und Sie den Ihren. Ich wäre die letzte, die einen Staatsanwalt unterstützt. Und jetzt tschüss. Ich muss los.«

»Oberstaatsanwalt«, korrigierte Klima. »Und Sie bleiben! Ich brauche Ihre Aussage.«

»Das hat ja wohl noch Zeit«, winkte ich ab. »Morgen schau ich mal im Präsidium bei Herrn Brinkhoff vorbei und erzähle ihm alles. Schönen Tag noch, die Herren!«

Versauter Sonntag

 

 

»Erst gab's den Riesenbumms, es brach alles zusammen, und dann liegt noch eine männliche Leiche im Schutt. Wie findest du das?«

Ich hatte Peter Jansen, den Lokalchef des Bierstädter Tageblattes, am Telefon. Er hatte heute eigentlich keinen Dienst, aber dies war eine ungewöhnliche Situation, die Störungen rechtfertigte.

»Du meine Güte, Grappa«, stöhnte Jansen aus. »Willst du mich vernatzen? Gerda hat gerade das Knoblauchhühnchen in die Röhre bugsiert, ich bin beim Kartoffelschälen, und die Kinder pulen die Erbsen aus der Schale.«

»Tut mir leid, aber ich scherze nicht, wenn es um Leichen geht. Staatsanwaltschaft und Mordkommission ermitteln bereits.«

»Keine Leiche ohne Grappa ...«

»Sehr witzig! Aber das habe ich heute schon mal gehört. Ich kann nun wirklich nichts dafür, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der nackte Gewalt regiert und Mord zum sonntäglichen Zeitvertreib gehört.«

»Wieso Mord? Ich dachte, der Mann ist von den Trümmern erschlagen worden. Mangelnde Sicherheitsvorkehrungen, oder so«, rief Jansen aus.

»Denkste. Der Täter hat den Mann dort nur abgelegt. Vorher wurde er gemeuchelt.«

»Wer ist es, und was ist die Todesursache?« Endlich war Jansens professionelles Interesse geweckt.

»Ali Tabibi, der Teppichkönig. Er ist verblutet, nachdem man ihm die Pulsadern aufgeschlitzt hat.«

»Eine Ära geht zu Ende ...« zitierte Jansen jenen Werbespruch, der seit ein paar Wochen in den Schaufensterscheiben des Teppichparadieses aushing und in zahlreichen Zeitungsanzeigen verbreitet worden war. »Verdächtigt die Polizei schon jemanden?«

»Nicht, dass ich wüsste. Dazu ist es ein bisschen zu früh. Der Oberstaatsanwalt ist zudem nicht besonders pressefreundlich, und mit Hauptkommissar Brinkhoff konnte ich noch nicht ausführlich reden.«

»Wo bist du jetzt?«

»In der Redaktion. Gleich wird es eine offizielle Pressemitteilung per Fax geben.«

»In einer halben Stunde bin ich da.«

»Nicht doch«, winkte ich ab, »die Story ist kein Problem für mich. Schäle deine Erdäpfel zu Ende und lass Gerda nicht auf ihrem Flattermann sitzen. Die Geringschätzung weiblicher Kochkünste hat schon zu Ehedramen mit katastrophalem Ausgang geführt.«

»Du muss es ja wissen, Grappa! Ist dein Freund deshalb ausgewandert?«

»Weißt du eigentlich, was ich an dir mag?«, wechselte ich das Thema.

»Nein?«

»Gar nichts.«

Jansen lachte und kündigte an, mich so bald wie möglich bei der Arbeit beobachten zu wollen.

Ich hatte gerade den Hörer aufgelegt, als sich das Faxgerät rührte. Schnelle Arbeit, dachte ich. Der Wisch trug das Logo des Bierstädter Polizeipräsidiums.

Berichtszeitraum: 23. Juni. Gegen 7.25 Uhr wurde in den Trümmern eines gesprengten Gebäudes die Leiche des iranischen Kaufmanns Ali T., 55 Jahre, gefunden. Der Tote ist nach ersten Ermittlungen einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Eine Obduktion wurde angeordnet. Weitere Auskünfte gibt die Staatsanwaltschaft OStA Dr. Hasso Klima.

Das war alles. Mager und nichtssagend. Ich würde die Story noch etwas aufmotzen müssen. Nach fünf Minuten angestrengten Nachdenkens startete ich den PC.

Tot in staubigen Trümmern: Iranischer Teppichkönig wurde Opfer eines brutalen Verbrechens – Eine Ära ging zu Ende

Ich hatte gerade die Überschrift getöpfert, als der Fotograf des Tageblattes eintrudelte.

»Hast du schon gehört, Grappa?«, fragte er. »Im Schutt lag der Teppichfritze. Mausetot. Alle sind aus dem Häuschen.«

»Ich hab's mitbekommen. Hast du Bilder?«

»Die Bullen haben alles abgesperrt. Ich hab den Abtransport des Sarges auf dem Film. Dazu noch den Staatsanwalt, ein paar Kripoleute und was sonst noch so rumlief. Das Porträt des Toten hole ich dir aus dem Archiv.«

»Besser als nichts«, freute ich mich. »Für die Entfaltung der Fantasie unserer geneigten Leserschaft bin ich zuständig. Ich werd schon dafür sorgen, dass es schön gruselig wird. Dann mach dich mal an die Arbeit, Kleiner. Willst du einen Kaffee?«

Zwei Königskinder

 

 

Irgendwann war Abend, und ich hatte noch etwas Wichtiges vor. Ich erwischte Mustafa Rotberg in seiner Stammkneipe, die nicht gerade in der feinsten Gegend lag. Er hatte mich vor Jahren öfter mal hierher, in seine ›zweite Heimat‹, geschleppt, damals, als er noch beim Bierstädter Tageblatt als Lohnknipser angestellt war.

Heute hatte sich der Fotograf an die äußerste Ecke des Tresens gesetzt und schon einige Biere und Schnäpse vertilgt, als ich auftauchte.

»Wie hast du mich gefunden?«, lallte er.

»Solo, du bist ein konservativer Mensch! Unter deiner Privatnummer hab ich dich nicht erwischt. Du bist dem Alkohol genauso treu geblieben wie dieser Kaschemme. Ich versteh zwar nicht, wie du dich hier wohlfühlen kannst – noch nicht mal die Gläser sind sauber gespült, und draußen riecht's nach Männerpisse ...«

»Ich mag die Buden nicht, wo die frisch gefickten Sonnenbanktypen herumhängen und an ihrem Daiquiri nippen. Was willst du, Grappa?«

»Was wohl? Du haust ab, und ich hab die Bullen am Hals! Benimmt sich so ein Gentleman?«

»Sei nicht sauer«, bat er. Seine Augen waren glasig, die Zunge schwer. Er war blau – doch da war noch etwas anderes.

»Solo, was ist mit dir?«

»Ich bin fertig«, sagte er ernst. »Mein Leben ist verpfuscht.«

Ich sah Tränen auf seiner Wange. »Das geht jedem früher oder später so«, beschwichtigte ich. »Da kommt es meist auf die Uhrzeit an. Wenn ich eine halbe Pulle Chianti gekippt habe, krieg ich auch den Moralischen.«

»Mir fehlt ein Lebensinhalt.« Solos Hand bewegte sich wieder zum Glas hin.

»Kauf dir einen Pudel«, riet ich.

»Du bist ein zynisches Biest, Grappa!«

Ich nahm's als Kompliment. »Solo, bist du überhaupt noch ansprechbar?«

»Klar. Was willst du trinken?«

»Nichts. Ich muss mit dir reden.« Ich kletterte auf einen Barhocker. Der Wirt schlurfte heran und verwischte die feuchten Glasspuren auf dem Holz vor mir. »Ein Wasser, bitte!«, kam ich seiner Frage zuvor.

»Wer hat dir gesagt, dass in den Trümmern eine Leiche liegt?«, begann ich.

»Niemand«, log er. »Wie kommst du darauf?«

»Erzähl mir nichts«, forderte ich. »Du hast ganz gezielt nach etwas gesucht. Und ich sollte die Zeugin spielen. Also binde mir keinen Bären auf.«

»Lass mich zufrieden!«

»Du solltest mir dankbar sein. Ich habe dir den Staatsanwalt vom Hals gehalten. Er wollte deine Filme beschlagnahmen.«

»Das wäre auch egal«, entgegnete Solo. Er griff nach einem halbvollen Wasserglas Wodka und goss es hinunter. Er verschluckte sich und begann zu husten. Ich versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf den Rücken.

»Lass das«, keuchte er. »Du bringst mich um.«

»Also? Wer ist dein Auftraggeber?«

»Niemand. Ich habe nicht vor, die Fotos zu verkaufen.«

»Und warum warst du dann überhaupt da?« Ich verstand nichts.

»Das ist eine komische Geschichte. Willst du sie wirklich hören?«

»Sicher. Sonst wäre ich nicht hier. Also los – ich bin ganz Ohr.«

Solo legte den Kopf in die Hände. Er brauchte ein paar Augenblicke, um die richtigen Worte zu finden. »Vor einer Woche war ich zufällig auf einem Jahrmarkt. Ich hatte schon einige Gläser Schnaps getrunken, als ich plötzlich vor dem Wohnwagen einer Wahrsagerin stand. Ich bin reingegangen. Nur so aus Jux. Für 100 Mark wollte mir die Frau etwas über meine Vergangenheit und meine Zukunft sagen. Ich legte ihr den Hunderter auf den Tisch, und los ging's.«

»Tolle Geschichte«, sprach ich in seine Pause, »wenn sie wahr ist.«

»Warte ab«, riet Solo und orderte ein weiteres Glas Wodka. »Sie sagte mir auf den Kopf zu, dass ich ein künstlerisch veranlagter Mensch sei, der in seinem Beruf erfolgreich ist. Mein Gefühlsleben dagegen sei aus den Fugen geraten. Ich hätte die große Liebe meines Lebens verloren.«

Über Solos Wange rollten ein paar dicke Tränen. Ich konnte nicht einschätzen, ob es der Alkohol oder die Rührung über das eigene Schicksal war, was den Feuchtigkeitsschub ausgelöst hatte.

»Kannst du nicht etwas zügiger erzählen?«, fragte ich. »Ich möchte hier nicht übernachten.«

»Die Frau hatte recht. Sie hat mir auf den Kopf zugesagt, was mit mir los ist!«

»Quatsch!«, widersprach ich. »Wer dich ansieht, der weiß, dass du ein kaputter Typ bist. Dass du Knipser bist, wusste sie vermutlich deshalb, weil du deine Kamera um den Hals baumeln hattest. Und irgendwann hat jeder im Leben mal eine Liebe verloren – zumindest, wenn er über Vierzig ist. Alles Sachen, die ich auch hätte wahrsagen können.«

»Das war noch nicht alles. Sie kannte meine Geschichte – und ich hatte sie nie jemandem erzählt. Willst du sie hören?«

Solo wartete meine Antwort nicht ab. »Als ich vierundzwanzig war, arbeitete meine Mutter als Putzfrau bei einer reichen Familie. Das ist jetzt sechzehn Jahre her. Dort traf ich sie. Sie war die Tochter der Familie und erst vierzehn. Ich verliebte mich.«

»Warst du nicht ein bisschen alt für das Kind?«

»Ich habe mich eben verliebt. Sonst war da nichts. Es ist wirklich nichts passiert. Ich hätte sie niemals angerührt. Als ihre Eltern etwas merkten, bekam ich Hausverbot und ›Engelchen‹ wurde eingesperrt. Meine Mutter zog mit mir in eine andere Stadt. Ich habe Engelchen nie wiedergesehen. Und nie vergessen können.«

»Ist ja rührend«, ironisierte ich. »Wie die zwei Königskinder, die nicht zueinander finden können, weil das Wasser zwischen ihnen zu tief ist. Mensch, Solo! Das war Kinderkram damals. Und was, zum Teufel, hat das alles mit dem Toten im Schutt zu tun?«

»Hab Geduld.« Solo setzte das Glas an die Lippen. Ich betrachtete ihn. Er war beileibe keine Schönheit; Nikotin, Alkohol und unregelmäßiger Schlaf hatten Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er mit vierundzwanzig ausgesehen hatte und was eine erblühende Vierzehnjährige an ihm gefunden haben könnte.

Doch die Geschichte von der verlorenen Liebe rührte mich. Jeder ist einsam für sich allein, dachte ich, sogar Solo, der professionelle Zyniker.

»Ich fragte die Wahrsagerin nach meiner Zukunft«, fuhr er fort. »Sie schaute mich merkwürdig an und sagte wörtlich: ›Wenn du einen toten Mann in einem toten Haus findest, wirst du deine Liebe wiederfinden.‹ Als ich dann von der leeren Bibliothek erfuhr, war mir klar, was die Frau mit dem ›toten Haus‹ gemeint hatte. Und jetzt warte ich darauf, dass ich sie wiedersehe.«

»Das ist der Stoff, aus dem italienische Opern gestrickt sind«, rief ich aus. »Wartest du wirklich darauf, dass die Tür aufgeht, Engelchen in der Tür steht und dir um den Hals fällt?«

»Ja«, lautete die schlichte Antwort.

»Solo! Die Frau ist heute um die Dreißig, vermutlich verheiratet und mit ein paar Kindern gesegnet. Sie geht regelmäßig golfen oder vertreibt sich die Zeit mit der Lektüre von Frauenzeitschriften. Sie hat dich längst vergessen.«

»Hat sie nicht!«, schrie Solo. »Wir haben uns damals ewige Treue geschworen.«

»Reg dich nicht auf«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Ich will dir doch nur helfen.«

In diesem Augenblick ging die Kneipentür auf. Solo drehte den Kopf und sah wie gebannt Richtung Öffnung.

Nein, dachte ich, so was gibt es nicht im richtigen Leben. Ich sollte recht behalten: Engelchen war es nicht, die da eintrat. Durch die Tür schlenderte Hauptkommissar Anton Brinkhoff, sah sich um und steuerte schnurstracks auf uns zu.

»Herr Brinkhoff«, staunte ich, »wie haben Sie uns aufgespürt?«