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Inhalt

Liesel-Libussa

Nachts im Zimmer

Fünf Männer

Der Trend der Zeit

Besuch in einer anderen Welt

Doch lieber »Sie«

Date auf dem Dach

Dunkelrote Rosen

Libussa statt Liesel

Scham und Schärfe

Schaumbällchen

Endzeitgefühle

In Stein gemeißelt

Eine neue Idee

Mythos Eisprung

Notfälle

The same old story ...

Unbeweglich und verformt

Rosen und Reue

Ein Wiedersehen

Eine Stimme am Telefon

Einsam leiden

Infos für den Mörder

Zugedeckt lassen, ja?

Liebe und Lüge

Erotische Mangelwesen

Besuch bei Frank

Kein Zurück, kein Voran

Edle Gene, schaler Wein

Schonzeit

Schon wieder ein Ende

Jagdfieber

Im Film – im Leben

Ein lautes Tuut

Drei Adressen

Nicht wieder anfangen

Reise in die Morgenröte

Die Wahrheit?

In den Weltmeeren

Namen und Nummern

Kein Beweis

Mädchenmund

Schutz des Ungeborenen

Fast ein Ende

Unheimliche Begegnung

 

»Also hat er es doch getan?«, rief ich entsetzt aus.

»Es ist nicht so, wie Sie denken, Frau Grappa«, sagte der Arzt leise, »dieses Kind hat keinen biologischen Vater.«

Ich blickte in seine eisblauen Augen, die trotz des Halbdunkels zu funkeln schienen, und mir lief ein Schauer den Rücken hinunter.

 

*

 

Diese Geschichte geht selbst der hartgesottenen Journalistin Maria Grappa unter die Haut: Seit fünf Monaten liegt Kristin Faber im Koma, nun wird festgestellt, dass die Kranke im dritten Monat schwanger ist. Wer oder was steckt dahinter?

 

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

(korrigiert nach den reformierten Regeln deutscher Rechtschreibung)

Originalausgabe © 1998 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-988-4

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa-Baby

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar (siehe www.grafit.de/service/programm/krimireihen/).

www.gabriella-wollenhaupt.de

 

Die Hauptpersonen

 

 

(in alphabetischer Reihenfolge)

Prof. Dr. Frederik Berggrün ist ein herausragender Arzt

Anton Brinkhoff kommt im richtigen Augenblick

Dr. Hans Burger liebt seine Tochter und sich selbst

Brigitte Burger liebt ihre Tochter mehr als sich selbst

Dr. med. Henri Cornett hat ein Händchen für Gewagtes

Kristin Faber will in Würde sterben

Frank Faber wird das Herz gebrochen

Liesel (Libussa) Faber kennt keine Skrupel

Maria Grappa überwindet eine Krise

Peter Jansen bleibt sich selbst treu

Nik Kodil kann nicht widerstehen

Bruno Schlagholz kommt nicht zum Zuge

 

 

 

 

Ich bin die Wunde, bin der Stahl,

Ich bin der Streich und bin die Wange,

Ich bin das Glied und bin die Zange

Und bin der Quäler und die Qual!

 

Am eigenen Herzen muss ich saugen –

Bin von der Ausgestoßenen Schar,

die lachen müssen immerdar

Und niemals mehr zum Lächeln taugen!

 

Auszug aus dem Gedicht Der Heautontimorumenos von Charles Baudelaire

Liesel-Libussa

 

 

Auf dem Flur war Ruhe eingekehrt. Er sah sich um, wagte kaum Luft zu holen, versuchte, zwei, drei Sekunden in die Zukunft zu schauen, dann wüsste er, ob ihn jemand beobachten und später würde identifizieren können. Doch niemand war da. Er tat einen energischen Schritt vorwärts zur Tür, drückte sie auf. Die junge Frau lag allein im Zimmer. Die Nachttischlampe war abgedunkelt, die Fenster verhangen. Er trat näher. Sie gab keine Reaktion von sich, wie auch? Seine Hand griff nach der Bettdecke, zog sie zurück. Er atmete schwer, als er ihr Nachthemd hochschob.

 

»So kannst du das nicht schreiben«, meinte mein Freund Nik.

»Ich mag's nicht, wenn mir jemand beim Arbeiten über die Schulter guckt«, maulte ich.

»Da läuft einem ja der Grusel den Rücken runter«, setzte er nach.

»Du kannst die Leute nur noch packen, wenn du ihre niedrigsten oder hehrsten Gefühle erwischst«, dozierte ich. »Willst du, dass ich deinem Freund helfe, oder soll ich's lassen?«

»Okay«, lenkte Nik ein. »Du bist der Profi. Aber lass wenigstens den letzten Satz weg. Damit die Perversen sich nicht aufgeilen. Frank hat es ohnehin schwer genug.«

»Gut.« Ich löschte den letzten Satz wieder. »Ist Wein da?«

»Wein ist doch immer da.« Nik sprang auf und eilte in die Küche.

Sekunden später stand er mit einem gefüllten Glas wieder vor mir.

»Danke, Schatz«, gurrte ich. »Ich mag aufmerksame Männer, die genau wie ich dem Alkohol verfallen sind.«

»Sei ehrlich, Grappa-Baby«, grinste er, »du magst eigentlich nur Männer, die dich rund um die Uhr bedienen.«

»Kann sein.« Ich stellte den PC aus. »Doch für einen Butler bist du noch ein bisschen zu jung und zu wenig devot. Du gibst manchmal zu viele Widerworte. Da müssen wir noch ein bisschen was dran tun.«

»Jetzt gleich?«

Ich lachte. »Verlockende Vorstellung. Aber – lenk mich nicht ab. Wir essen eine Kleinigkeit, und dann muss ich wieder an die Arbeit.«

Nik deutete eine Verbeugung an. »Es ist bereits serviert, Madame!«

Ich tänzelte zum Esstisch, auf dem sich zahlreiche Köstlichkeiten aus dem Delikatessenladen tummelten. Nik hatte sie possierlich drapiert. Wir setzten uns.

Ich betrachtete ihn. Eigentlich wollte ich nie mit einem Mann zusammenleben. Doch bei ihm hatte ich nicht widerstehen können. Manchmal, nachts, wenn ich neben ihm lag und ihn atmen hörte, überlegte ich, wie lange ich wohl glücklich sein würde. Ein Jahr? Oder zwei? Bestimmt nicht länger.

»Wie werden eigentlich Koma-Patienten ernährt?« Nachdenklich schob ich mir ein mariniertes Artischockenherz zwischen die Zähne.

»Die kriegen irgendwelche Flüssigkeiten eingeflößt«, antwortete mein Freund, während er seinen Blick über die verschiedenen Salate schweifen ließ. »Mir wär's aber lieber, wir würden das Thema jetzt lassen.«

»Du hast mal wieder recht, Süßer«, seufzte ich. Ich griff nach der letzten frischen Feige, biss ein Stück ab und reichte sie Nik. »Iss, mein Schatz, du musst noch wachsen.«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Nik wollte aufstehen, doch ich hielt ihn zurück. »Lass uns erst mal hören, wer dran ist.«

Der Beantworter erzählte mit meiner Stimme, dass der Anrufer die Nummer von Maria Grappa und Nik Kodil gewählt hatte, dass beide nicht zu Hause seien und er eine Nachricht hinterlassen solle – nach dem Piepston.

»Hallo, Nik, hier ist Frank. Geh bitte dran, wenn du zu Hause bist! Bitte, es ist dringend.«

Nik hob den Hörer ab, lauschte und sagte dann: »Okay, bis gleich.«

»Kommt er her?«, fragte ich.

»Ja.«

»Na, dann ade, schöner Sonntagabend.«

»Grappa! Ich kann ihn nicht hängen lassen!«

»Weiß ich doch«, murmelte ich. »Du hast ein gutes Herz. Zu gut. Deshalb mag ich dich ja.«

Ich räumte ein paar Sachen vom Tisch, ließ nur Wein, Wasser, Brot und Oliven stehen.

Seit vier Wochen lebten Nik und ich zusammen, seit genau drei Wochen hatte er diesen Frank Faber an der Hacke. Ein Fall von Männerfreundschaft. Und seit genau drei Wochen war es mit unserem harmonisch-ruhigen Leben vorbei. Stundenlange Telefontherapie, Betreuungsabende, Aufarbeitungsgespräche. Klar, der Mann hatte viel mitgemacht: einen üblen Autounfall, an dem er schuldig war und bei dem seine Frau Kristin schwer verletzt wurde. Fünf Monate lag sie nun schon im Koma, und die Ärzte wussten nicht, ob sie jemals die Augen würde wieder aufmachen können.

Frank und Nik waren seit ihrer gemeinsamen Schulzeit Freunde. Sie hatten sich zwischendurch aus den Augen verloren, doch als Nik in Sachen Kristin Faber mit den Ermittlungen begann, wurde die Verbindung zwischen den beiden wieder enger. Zu meinem Nachteil.

Um den drohenden Jammerabend mit Langmut durchstehen zu können, kippte ich noch schnell ein Glas badischen Gutedel hinunter.

Und schon machte sich die Klingel an der Wohnungstür bemerkbar. Das musste dieser unerträgliche Frank sein. Ich zählte leise bis zehn, um ein freundliches Lächeln und einen mitleidumflorten Blick hinzukriegen. Dann ging ich in den Flur.

Nik hatte Frank bereits hineingelassen, doch da war noch wer. Ich blinzelte verdutzt. Die Frau war mindestens eins achtzig, blondbemähnt und schlank. Sie trug einen superkurzen schwarzen Lederrock, hochhackige Stöckel und eine rote Wickelbluse.

Sie übersah mich, schmiegte sich an Nik, küsste ihn auf die Wange und gurrte: »Hallo, Nikolaus. Wie schön, dich wiederzusehen.« Ihre Stimme war ebenfalls blond.

Niks Lächeln war eine Mischung aus Überraschung, Peinlichberührtsein und Dümmlichkeit. Aha, dachte ich, jetzt wird's spannend, mein Mann kommt ins Schwitzen.

»Hallo, Frank«, sagte ich leise und sehr deutlich. »Wen hast du uns denn da mitgebracht?«

»Grüß dich, Maria. Das ist Liesel, meine Schwester, aber sie nennt sich Libussa.«

»Guten Tag.« Noch war ich höflich, meine Sinne allerdings waren geschärft.

Sie hatte ihre Hand inzwischen um Niks Taille gelegt.

»Du duftest immer noch so gut«, gurrte sie und drückte ihren Riechkolben in Niks Halsbeuge – bei der Körpergröße kein Problem.

Was hat dieser Blondinenwitz an meinem Mann zu schnuppern, grollte ich.

Nik schubste sie schnell ins Wohnzimmer, Frank trottete hinterher, ich folgte als letzte.

Mein Freund guckte noch immer kariert, ich spürte, wie die Unmutsfalte zwischen meinen Augenbrauen Canyon-Ausmaße annahm.

»Hallo«, meinte Libussa. Schräggestellte, überschminkte Augen musterten mich. »Und Sie kümmern sich jetzt um Niki?«

Endlich brachte es Nikolaus Kodil, der Mann, den ich zu kennen glaubte, fertig, sich aus der Umklammerung ihrer langbenagelten Hand zu befreien. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

»Seit wann kennen Sie beide sich?«, versuchte ich Small talk.

»Das ist eine lange Geschichte«, hauchte sie und ließ den Blick nicht von meinem Nik. »Damals, da waren wir noch jung und ... unschuldig.« Ein heiseres Lachen folgte, Niks Gesicht hatte die Leuchtkraft einer roten Laterne.

»Unschuldig? Wie meinen Sie das?«

Nik warf mir einen gequälten Blick zu.

»Nun ja«, antwortete Libussa Faber und lächelte vielsagend. »Niki war unschuldig, ich weniger.«

»Liesel«, mischte sich Frank Faber ein, »musst du immer so eine verdammte Schau abziehen? Ich habe mit den beiden was zu besprechen. Entweder du hältst den Mund, oder du verschwindest.«

»Ist ja schon gut.« Libussa stöckelte schmollend zum Sofa und platzierte sich. Die langen Schenkel übereinandergeschlagen, einen Arm locker auf die Lehne gelegt, der andere spielte mit dem Blondhaar. Ihre Oberweite hatte Dolly-Buster-Format.

»Was machen Sie beruflich?«, fragte ich. Es wurde Zeit, sich der Herausforderung mutig zu stellen.

»Ich bin Model.«

»Interessanter Beruf«, behauptete ich. »Und für wen modeln Sie?«

»Können wir nicht über was anderes reden?«, schlug Nik vor. In seiner Stimme war Panik.

Ich warf ihm einen zuckersüßen Blick zu, der jeden Diabetiker zu Boden gestreckt hätte. »Wenn Frank seine liebe Schwester schon mal mitbringt, sollten wir sie in unsere Unterhaltung miteinbeziehen. Wir wollen doch höflich sein, oder?«

Ich setzte mich neben Libussa, ließ aber eine Lücke zwischen uns. »Komm, Nik«, sagte ich und klatschte mit der Hand auf das Sofa. »Setz dich doch mal in unsere Mitte. Sei ein braver Junge.«

Nik tat es mit finsterem Gesicht und bemühte sich, keiner von uns zu nahe zu kommen, was bei einem zweisitzigen Sofa eigentlich nicht ging, doch er schaffte es.

»Also, noch mal«, nahm ich den Faden wieder auf. »Für wen modeln Sie?«

»Für internationale Modehäuser, hauptsächlich Dessous und Bademoden. Außerdem bin ich Schauspielerin.«

»Ist ja toll«, sagte ich. »Kann man diese Filme im Kino sehen, oder werden sie nur unter dem Ladentisch vertickt?«

»Wie meinen Sie das?« Ich hatte Libussa erschreckt.

»Grappa!«, ächzte Nik. »Muss das sein?«

»Ich versuche nur nett zu sein«, log ich.

»Ich glaube, deine Freundin mag mich nicht«, jammerte Libussa, beugte sich nach vorn und schmiegte ihre prall gefüllte Wickelbluse an Niks Oberarm. Er zuckte zurück, als habe ihn ein 220-Volt-Stromschlag erwischt.

»Passen Sie auf, dass Ihnen die Ohren nicht aus der Mütze fallen, Liesel!«, warnte ich. »Ich mag keine Silikonflecken auf meinem Parkett.«

Nik sprang auf, war ziemlich sauer. »Ich habe keine Lust auf Weiber-Scharmützel«, sagte er unfreundlich. »Frank, sag endlich, was du willst! Und dann nimm deine verdammte Schwester und mach dich vom Acker.«

Ich hatte auch genug und ließ Liesel sitzen. Frank trottete zum Esstisch, Nik und ich folgten ihm.

»Tut mir leid«, meinte Niks Freund zerknirscht. »Liesel kam überraschend vorbei. Ich war schon auf dem Weg zu euch, als sie auftauchte. Eigentlich ist sie ganz nett, aber du hast sie wohl auf dem falschen Fuß erwischt. Sie kann mit Ironie nicht umgehen.« Der zweite Teil des Satzes galt mir.

»Ist ja auch eine Frage der Intelligenz«, räumte ich ein. »Vermutlich hat sie andere Qualitäten. Ganz andere!« Ich warf Nik einen wütenden Blick zu, er verzog schmerzlich das Gesicht.

»Heißt sie denn nun Liesel oder Libussa?«, fragte ich.

»Libussa ist ihr Künstlername«, erklärte Frank. »Mit Liesel kommt man in dem Metier nicht weit. Aber ich nenne sie normalerweise Liesel, ich kann mit dem dämlichen Namen Libussa nichts anfangen.«

»Vielleicht mag sie Grillparzer«, gab ich zu bedenken.

»Grillparzer?« Frank verstand nur Bahnhof.

»Lass gut sein«, sagte ich mild, »den Literaturkurs verpasse ich euch später.«

»Sag endlich, was anliegt«, versuchte Nik das Thema zu wechseln.

Nachts im Zimmer

 

 

Frank Fabers Frau lag nicht nur seit fünf Monaten im Koma, die Ärzte hatten vor vier Wochen festgestellt, dass sie im dritten Monat schwanger war. Nik, Hauptkommissar bei der Bierstädter Kripo, hatte die Ermittlungen aufgenommen. Die hilflose junge Frau war in der Klinik von einem Unbekannten vergewaltigt worden. Ein widerliches Verbrechen.

Auf Bitten von Frank und der Eltern von Kristin Faber war der Fall noch nicht publik geworden. Doch Frank hatte seine Meinung geändert, nachdem Kristins Eltern plötzlich Ansprüche auf das ungeborene Kind anmeldeten, obwohl sie zunächst einem Schwangerschaftsabbruch zugestimmt hatten.

»Jetzt hilft nur noch eine öffentliche Diskussion des Falles«, hatte Frank gesagt und mich gebeten, die Tat an seiner bewusstlosen Frau publik zu machen. Er hoffte, dass seine Schwiegereltern durch eine Veröffentlichung der Geschichte ihre Einstellung nochmals überdenken würden.

Mein erster Artikel zu dem Fall sollte noch in dieser Woche im Bierstädter Tageblatt erscheinen, ich wartete nur noch auf Franks Okay.

Da saßen wir drei also. Libussa störte nicht, sie hatte sich eine Zeitschrift geschnappt, tat so, als könnte sie lesen, warf ab und zu einen träumerischen Blick auf Nik, der zum Glück mit dem Rücken zu ihr saß.

»Das war heute in der Post!« Frank legte ein Blatt Papier auf den Tisch. »Mein Schwiegervater hat einen Gerichtsentscheid erwirkt, dass ich Kristin nicht mehr besuchen darf.«

Tatsächlich. Dr. Hans Burger hatte eine Einstweilige Anordnung gegen Frank durchgesetzt. Das Gericht untersagte dem Ehemann, sich seiner kranken Frau zu nähern, da er eine Gefahr für ihre körperliche Unversehrtheit darstelle.

»Nicht zu fassen«, entfuhr es mir. »Unterstellt man dir, dass du Kristin umbringen willst?«

»Genau das«, bestätigte Frank mit tonloser Stimme. »Meine Schwiegereltern haben eine eidesstattliche Versicherung abgegeben. Da steht drin, dass ich gedroht hätte, die Geburt des Kindes durch das Abschalten der lebenserhaltenden Apparate zu verhindern.«

»Und?«, fragte Nik. »Hast du so was geäußert?«

»Nein. Ich habe nur gesagt, dass ich die Geburt des Kindes verhindern werde. Und das ist auch mein gutes Recht!« Frank war laut und außer sich. »Versetzt euch mal in meine Lage!«, schrie er. »Kristin und ich hatten uns ein Kind gewünscht, doch dann kam dieser verfluchte Unfall. Ich wurde nur leicht verletzt, und Kristin schwebt noch immer zwischen Leben und Tod. Dann kommt irgend so ein Dreckschwein und vergeht sich an ihr. Könnt ihr euch ausmalen, was das bedeutet? Diese Vorstellung, immer habe ich dieses Bild vor mir, wie sich jemand in ihr Zimmer schleicht und ... Oh, Gott!« Franks Oberkörper wurde durch heftiges Weinen geschüttelt.

Nik und ich sahen uns hilflos an.

Plötzlich stand Libussa neben ihrem Bruder, nahm seinen Kopf, drückte ihn an sich und streichelte sein Haar.

»Wein dich nur aus«, sagte sie sanft. »Heul dir die Seele aus dem Leib, Bruderherz. Und danach überlegen wir vier, wie wir das Schwein an die Wand nageln.«

Fünf Männer

 

 

Es wurde ein langer Abend. Nik brachte seinen Freund auf den neuesten Stand der Ermittlungen, Liesel stellte ein paar Fragen, die gar nicht so dumm waren.

»Es gibt also fünf Männer, die Zugang zu Kristins Zimmer hatten«, fasste Nik zusammen. »Du, Frank, Kristins Vater, Dr. Cornett, der Oberarzt, Chefarzt Dr. Berggrün und dieser Pfleger ... wie heißt er doch gleich? ... Bruno Schlagholz. Wenn wir Frank und Kristins Vater ausklammern, bleiben noch drei. Ich habe alle drei vernommen, und was dabei rausgekommen ist, könnt ihr euch ja denken.«

Wir nickten in trauter Einigkeit.

»Das Krankenhaus hat viele Abteilungen. Es kann auch jemand gewesen sein, der nicht auf der Station arbeitet«, gab ich zu bedenken. »Jemand, der sich nachts mal hochschleicht, weil er weiß, dass dort eine hilflose Frau liegt. Und der weiß, dass die Nachtschwester in ihrem Zimmer sitzt und fernsieht.«

»Ein Fremder wäre ein zu großes Risiko eingegangen«, zweifelte Nik, »womit hätte er begründen können, dass er nachts auf der Station herumschleicht? Die Nachtschwestern haben zwar ihre festen Touren, doch wenn irgendein Patient geklingelt hätte, wäre der Kerl sicherlich erwischt oder zumindest gesehen worden.«

»Das muss nicht unbedingt sein«, mischte sich Frank ein. »Auf dem Flur gibt es genug Möglichkeiten, sich zu verstecken. Das Schwesternzimmer steht offen, und die Klingel ist im Flur zu hören. Hab ich selbst mal erlebt, als ich abends bei Kristin war. Das Schwein brauchte nur leise in ein anderes Zimmer zu schlüpfen und zu warten, bis die Luft wieder rein ist.« Frank hatte seinen Kummer mit Alkohol betäubt, die Zunge lag ihm schwer im Mund.

Ich ging in die Küche und holte eine neue Flasche Wein.

»Weißt du eigentlich, warum deine Schwiegereltern dieses Kind unbedingt haben wollen?«, fragte ich, als ich wieder im Wohnzimmer war.

»Brigitte, meine Schwiegermutter, ist nicht so scharf drauf, aber der Alte«, lallte Frank. »Er will, dass ein Stück seiner Tochter in dem Kind weiterlebt. Bla-bla-bla.«

»Und er hat nichts dagegen, dass seine Tochter zu einer Gebärmaschine degradiert wird? Hasst er den Verbrecher denn nicht, der seiner Tochter so was angetan hat?«

»Dr. Burger hat seine Tochter vergöttert. Frank war ihm nie gut genug«, sagte Liesel. »Jetzt hat er die Möglichkeit, Frank zu quälen und sich ein Spielzeug für sein Alter zu sichern. Dieses Balg nämlich.«

»Was macht Burger beruflich?«

»Er hat ein Pharma-Unternehmen. Ist mit dem Chefarzt der Abteilung per du, verkehrt in den besten Kreisen, hat Geld wie Heu«, antwortete Liesel. Sie schien die Lebensverhältnisse ihres Bruders und seiner angeheirateten Sippe bestens zu kennen.

»Sie scheinen ihn nicht besonders zu mögen«, mutmaßte ich.

»Ich war mal mit ihm allein im Raum. Das war an seinem sechzigsten Geburtstag. Er gab eine große Fete, und wir waren alle eingeladen.«

»Weil Kristin darauf bestanden hatte ...« warf Frank ein.

»Und?«, fragte ich. »Wo ist die Pointe?«

»Jedenfalls stand ich ein bisschen abseits und langweilte mich zu Tode. Den ganzen Nachmittag diese bürgerlichen Typen mit Fettbauch, grauen Schläfen und Goldrandbrille nebst ihren grausligen Gattinnen, die mich angafften und tuschelten. Da kam dieser Burger zu mir, trat hinter mich und flüsterte mir was Obszönes ins Ohr. Mich hat fast der Schlag getroffen. Ich hab ihm eine gelangt, und alle haben uns angestarrt.«

»Die Fete kam durch Liesel richtig in Schwung«, erinnerte sich der Bruder grinsend. »Hast du nicht noch ›Fick dich ins Knie, du Wichser‹ zu ihm gesagt?«

Frank kippte das volle Glas Wein runter. »Burger machte der Familie gegenüber nie einen Hehl daraus, dass er seine sexuellen Vergnügungen außer Haus suchte«, erzählte er dann weiter. »Kristin liebte ihren Vater zwar, doch in dieser Sache hat sie ihm manchmal ganz schön die Hölle heiß gemacht.«

»Und deine Schwiegermutter? Wie hat sie's verkraftet?«, wollte ich wissen.

»Alles, was ihr nicht gefällt, existiert nicht.«

»Was heißt das?«

»Sie wusste es, hat das Thema aber nie angeschnitten.«

»Ein klassischer Fall von Verdrängung«, bewertete Nik.

»Wie sollen wir jetzt vorgehen?«, kam ich wieder zum Punkt.

»Keine Ahnung«, sagte Nik. »Warten wir erst mal ab, welche Reaktionen Grappas Artikel hervorruft. Und du, Frank, solltest dich zunächst an das Besuchsverbot halten. Wirst du das?«

Frank blickte mit verschleierten Augen auf und nickte matt.

Ich schaute in die Runde. Wie ein professionelles Ermittlungsteam sahen wir nicht gerade aus. Franks Haare waren so blond wie die seiner Schwester und genauso gelockt. Er war eigentlich ein Sonnyboy, doch sein Leben war durch den Unfall völlig aus dem Lot geraten. Nur noch sporadisch ließ er sich in der Gärtnerei sehen, die er in den letzten fünf Jahren aufgebaut hatte. Er hatte seine Frau wirklich geliebt, liebte sie noch – auch wenn der Kontakt zwischen den beiden zurzeit durch den schrecklichen Unfall abgeschnitten war.

Von Nik wusste ich, dass die Ärzte Kristin so gut wie keine Chance gaben, wieder aufzuwachen. Und falls dieses Wunder wirklich geschehen würde, dann wären Hirnschäden die Folge. Kristin Faber war in Wirklichkeit schon tot, auch wenn ihre biologischen Funktionen noch künstlich am Leben erhalten wurden.

Und jetzt dieses Kind! Falls die Bewusstlose es austragen sollte und es zur Welt käme ... wer würde ihm später sagen können, welch unglücklichen Umständen es seine Existenz verdankte?

»Lasst uns Schluss machen«, gähnte ich. »Ich muss morgen früh raus.«

Gemächlich und schweigend erhoben wir uns. Ich taumelte vor Müdigkeit. Nik ermahnte Liesel, Frank auf keinen Fall mehr ans Steuer zu lassen.

Als Nik und ich eine halbe Stunde später nebeneinander lagen, fragte ich: »Was war zwischen dir und Liesel?«

»Willst du's wirklich wissen?«, stellte er die rein rhetorische Frage.

»Klar«, behauptete ich tapfer.

»Das kannst du dir doch denken, Grappa-Baby«, nuschelte er in meinem Arm. »Ich war fünfzehn und sie zwanzig. Franks große Schwester, die allen seinen Freunden den Kopf verdrehte. Jeder wollte mal mit ihr ausgehen. Eines Nachmittags wartete ich auf Frank in dessen Zimmer. Wir wollten ins Schwimmbad. Da kam Liesel rein und ging mir gleich an die Hose. Sie hat mich verführt.«

»Armer Junge«, sagte ich voller Mitleid. »Das war bestimmt ein Schock für dich.«

»Nicht direkt«, widersprach er. »Ich bekam gleich Geschmack an der Sache. Und der hat mich bis heute nicht verlassen.«

»Habt ihr es noch öfter gemacht?«

»Klar. An den unmöglichsten Orten. Am liebsten im Freien und immer auf dem Sprung. Irgendwann hatte sie mich dann satt«, murmelte er. »Sie nahm sich den nächsten. Warum willst du das eigentlich wissen? Immerhin liegt das alles zwanzig Jahre zurück.«

»Nur so.«

»Und ich dachte schon, du wärst eifersüchtig.«

»Eifersucht? Was ist das?«

Nik lächelte. »Dieses bittersüße Gefühl, das in deinem Magen grummelt und dich rot sehen lässt.«

»Kenn ich nicht«, meinte ich knapp.

»Als du ihr geraten hast, ihr Silikon in der Mütze zu behalten, hatte ich einen winzigen Augenblick das Gefühl ...« Er lachte auf.

»Eifersucht ist mir völlig fremd«, wiederholte ich. »So gut müsstest du mich doch inzwischen kennen.«

»Du hast recht. Wie konnte ich nur so was denken?«