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Inhalt

Rückentext

Die Autorin

Die Personen

Sonnenlicht und Sommermorgen

Der Rabe im Wind

Töttchen brutal

Ein kleines Stückchen Wahrheit

Krimi oder Kochbuch

Lilo ist müde

Hugin und Munin

Heldin auf dem Weg zum Ziel

Eisenhut und Küchentisch

Die Melencolia

Erotisch und pervers

Ein romantisches Millionenpaket

Jansen vor dem Nervenzusammenbruch

Nicht nur ein Abführmittel

Die lieben Kollegen

Gerda zweifelt

Weiße Mäuse in der Küche

Teufelswerk und Testament

Gift im Weinglas

Brand und Brause

Wein und Wasser

Hexen hexen

Die Minute und das Nichts

Das Passwort fällt

Die Baronin und der Hinkefuß

Irgendwas ist immer

Apfelsaft, Heroin und Sex

Vollmond und Nebelwiese

Katzenpech und Hexenwahn

dumm-und-blond.de

Viel Blut, viel Wut

Just in time

Schräge Typen

Rabe, Wolf und Traumtyp

Die Ente im Kühlschrank

Millionenstress und Trockengemüse

Zehn Millionen und dreißig Stiche

Immobilienbesitz und Unfreiheit

Bier und Brötchen

Lass dich überraschen!

Kopfgeister und Welteschen

Der verlegerische Glücksfall

Jagd auf Fleisch

Herr Hasewinkel kommt ins Spiel

Ein bisschen Nackenbeißer muss sein

Date mit Pfefferspray

Brückenflug

Die Königin der Blumen

Der Schlüssel zum Fall?

Rizin und Reisepass

Der verdeckte Ermittler und das harmlose Bergvolk

Dynamit im Schrank

Schlafende Hände

Der Dilettant vom BKA

Hexenlust und Bombenlaune

Trockener Wein und lebhaftes Gespräch

Der Hasewinkel ist nix

Fußkettchen in Aktion

Nie wieder Nackenbeißer

Nicht mehr bei den Guten

Zahn los

Ausklang

Letzter Ausklang: Das Grauen über mir

 

»Heute Abend möchte ich eine Erfolgsmeldung, Grappa.«

»Vielleicht ist die Frau ja auf Lesereise«, gab ich zu bedenken. »Oder sie lässt sich im schottischen Hochmoor von einer männlichen Muse küssen.«

»Klar. Sie könnte auch von Außerirdischen entführt oder von Mädchenhändlern verschleppt worden sein.« Jansen klang genervt.

»Aus dem Alter ist sie wohl raus«, entgegnete ich. »Vielleicht hat sie mich auch vor dem Haus gesehen und findet mich nicht sympathisch.«

»Nicht doch, Grappa: Dich zu sehen und richtig gern zu haben, hängt irgendwie zusammen.«

 

*

 

Lilo von Berghofen, die Königin der Kitschromane, liegt tot in ihrem Haus. Für die Polizei deuten die Zeichen auf Selbstmord, immerhin gibt es einen Abschiedsbrief. Die rothaarige Reporterin Maria Grappa dagegen tippt auf Mord. Hat ein Sprachästhet zugeschlagen, oder hängt die Tat mit Lilo von Berghofens Aktivitäten in der Magierszene zusammen?

 

*

 

Maria Grappa in der Welt der Kitschromane – da bleibt kein Auge trocken!

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

Originalausgabe © 2007 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto: G. Grams

eISBN 978-3-89425-996-9

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa und die Nackenbeißer

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund. Sie mag zauberhafte Situationen, unerhörte Begebenheiten und gefährliche Liebschaften.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar.

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

 

 

Lilo von Berghofen zaubert und zaudert

Emma Born behält Bodenhaftung

Anton Brinkhoff legt jeden Sumpf trocken

Maria Grappa sieht weiße Mäuse

Simon Harras bleibt gelassen

Herr Hasewinkel sichert andere ab

Peter Jansen muss sein Leben ändern

Wayne Pöppelbaum hat die Haare schön

Anneliese Schmitz lässt sich überraschen

Mike Schott hebt ab

Salomon Wachlin überschätzt das Spiel

Arno Wunsch unterschätzt die Lage

Sabine Wunsch lässt sich treiben

Die Raben

 

Über den schwarzen Winkel hasten

Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.

Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei

Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.

O wie sie die braune Stille stören,

In der ein Acker sich verzückt,

Wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt,

Und manchmal kann man sie keifen hören

Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,

Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug

Und schwinden wie ein Leichenzug

In Lüften, die von Wollust zittern.

 

Georg Trakl

Sonnenlicht und Sommermorgen

 

 

Seit er die schöne Fremde im Park des benachbarten Schlosses gesehen hatte, war Gero Graf Greiffenclau wie verzaubert. Jeden Morgen ritt er durch den Wald zu dem Hügel, von dem aus er den Park überblicken konnte, um mit klopfendem Herzen auf das Erscheinen der Schönen zu warten.

Graf Gero band sein Pferd fest und verbarg sich hinter einem dicken Baumstamm. Im selben Augenblick trat eine zierliche Gestalt durch die Terrassentür des Schlosses. Das Sonnenlicht ließ das blonde Haar wie gesponnene Seide schimmern. Das schlichte weiße Kleid betonte die Schönheit, das Mädchen sah aus wie eine Prinzessin. Graf Gero hob sein Fernglas an die Augen. Sein Herz pochte in einem unregelmäßigen Rhythmus. Die junge Frau lief die Treppe hinunter zum Park. Ihr Gang war leicht und sie schien zu schweben.

Graf Gero atmete tief durch und in seinem Herzen tanzte die Freude.

 

»Mir wird übel«, sagte ich und ließ das Buch sinken. »In seinem Herzen tanzte die Freude ... Ich lach mich schlapp. Wer zum Teufel liest denn so einen Mist?«

»Die Frau hat Millionenauflagen«, meinte Peter Jansen. »Sie verdient eine Menge Geld mit dem Mist und sie hat sich vor ein paar Monaten am Rand von Bierstadt ein Haus gekauft.«

»Was kann ich dafür?«, maulte ich.

»Grappa«, sagte mein Chef, »auch wenn es dir nicht passt: Ich habe für die Wochenendausgabe einen Bericht eingeplant. Von dir. Über Lilo von Berghofen, die Königin des Groschenromans. Ganz nah dran und ganz warm geschrieben. Sozusagen von Frau zu Frau.«

»Schick die Kultur-Tussi hin«, schlug ich vor. »Die glaubt noch an Märchenprinzen auf dem Schimmel.«

»Du etwa nicht?« Peter Jansen griff sich das Buch, das aufgeschlagen auf meinem Schreibtisch lag. »Ich weiß gar nicht, was du hast«, grinste er. »Ist doch wunderbar geschrieben. Hör mal zu: Rosalind trug ein verspieltes Sommerkleid aus weißer Seide mit großen blassblauen Blumen. Ihre Füße steckten in zierlichen weißen Schuhen. Ihr langes Haar war am Hinterkopf mit einem kornblumenblauen Samtband zusammengefasst und fiel in weichen Locken auf ihre Schultern. Sie war so reizend anzusehen, dass Graf Gero regungslos dasaß und den Blick nicht von ihr wenden konnte. Das ist doch großes Kino!«

»Die Kerle fallen auch immer auf den gleichen Typ rein«, stellte ich fest. »Blond, blauäugig und elfenhaft.«

»Wieso? Ist doch schön. Warum trägst du im Sommer nicht mal so ein schönes Kleid, Grappa? Mit blassblauen Blumen drauf. Würde dir bestimmt prima stehen – genauso wie die Schleife im Haar.«

»Mach ich gern«, entgegnete ich. »Aber erst, wenn du als Gero mit einem Gaul um die Ecke biegst.«

War ich wirklich schon so tief gesunken, Artikel für die bunten Seiten des Bierstädter Tageblattes produzieren zu müssen? Mit einer warm formulierten Homestory über eine Frau, die Bücher schrieb, von denen ich mich stets ferngehalten hatte: Groschenromanen. Die meisten glaubten ja, dass Groschenromane so hießen, weil sie – billig zusammengeheftet – nur ein paar Groschen kosteten. Doch die Erklärung war eine andere: Sie waren für die geschrieben, bei denen die Groschen normalerweise langsamer fielen.

Er sah die Tränen, die wie weiße Perlen über ihr Gesicht liefen und im Mieder versickerten. Graf Gero zog mit dem Finger die Spur der Tränen nach. »Nicht weinen«, sagte er, »bitte nicht weinen.«

»Also?«, hakte mein Chef nach.

Ich sagte nichts und schmollte.

 

Jansens Wunsch war klar und ich hatte keine andere Geschichte in Arbeit. Also ran, dachte ich, kein Job ist zu schmutzig und du kriegst schließlich Geld dafür. Reiße ich Lilo von Berghofen die hässliche Maske der Profitgier vom Gesicht und öffne den Leserinnen unserer Zeitung die Augen für die Wirklichkeiten dieser Welt, in der Graf Gero genauso wenig herumgaloppiert wie Rosalind schmachtet. Zeige ich der Menschheit, dass Bierstadt keine Ähnlichkeit mit benebelten Hügeln im schottischen Hochmoor hat.

Grimmig gab ich den Namen der Autorin in die Suchmaschine ein und erntete etwa hunderttausend Verweise auf Dokumente. Erschrocken klickte ich zurück auf die Homepage unserer Zeitung und ging in die Redaktionsküche, um mir erst mal einen Kaffee zu holen.

Dort brannte gerade ein Kaffeerest an der Glaskanne fest. Ich entschloss mich, das Verlagshaus vor einem verheerenden Großbrand zu retten, und schuf mit einem Lappen Ordnung.

»Grappa, du bist ja eine richtige Super-Hausfrau!«

Simon Harras, der Kollege vom Sport, litt ebenfalls unter Kaffeesucht. Er hatte mich wohl schon eine ganze Weile beobachtet.

»Verrat bloß keinem, dass ich so gut putzen kann.«

»Ist doch die wahre Bestimmung der Frau: hegen und pflegen.«

Ich lächelte. »Genau, Süßer. Möchtest du auch eine Tasse Kaffee?«

»Gerne.« Harras war sichtlich überrascht, weil ich seinen Machosatz ungestraft ließ. Ich startete die Kaffeemaschine.

»Ist das alles manchmal nicht ein bisschen öde für dich?«, fragte ich.

»Was?«

»Na ja, immer nur über Sport zu schreiben.«

Die Maschine gab gurgelnde Geräusche von sich.

»Ich weiß doch, dass du viele Interessen hast«, fuhr ich fort. »Du liest den politischen Teil unserer Zeitung, gehst ab und zu ins Kino und mit einem Buch habe ich dich auch schon gesehen.«

»Was willst du von mir?«

»Nichts«, log ich. »Aber ich mach mir halt ab und zu Gedanken über meine Mitmenschen.«

»Tatsächlich?« Harras wirkte misstrauisch. »Aber du hast ja irgendwie recht, Grappa. Immer nur Sport – mein ganzes Leben will ich das nicht machen.«

Der Kaffee war durchgelaufen.

»Ich finde, dass es nie zu spät ist, die Kurve zu kriegen. Und ich könnte dir helfen.«

Der Kaffee floss über die Milch.

»Aha. Was soll ich für dich tun?«

Ich reichte Harras den Becher.

»Für mich gar nichts. Für unsere Leser. Schreib ein Porträt über Lilo von Berghofen, die Bestsellerautorin.«

»Kochbücher oder Liebesromane?«

»Liebesromane. Schöne Menschen, spannende Landschaften und große Gefühle.«

»Nee, danke«, gab mir der Kollege eine Abfuhr.

»Die Schriftstellerin steht auf hübsche Männer«, behauptete ich. »Du findest bestimmt schnell Kontakt zu ihr. Das kann eine Freundschaft fürs Leben werden.«

»Und wenn sie mir die Kleider vom Leib reißt?«

»Aufregende Vorstellung. Ohne deine Knallkopfpullis siehst du bestimmt ganz lecker aus.«

»Du will nur deine Arbeit auf mich abwälzen! Deshalb das Gesülze.«

»Ich komme mit Frauen nun mal nicht so gut klar«, erinnerte ich ihn.

»Das geht dir mit Männern auch so«, stellte Harras fest. »Und ich habe keine Lust, mich von einer alten Schachtel vernaschen zu lassen.«

»Die ist nur fünf Jahre älter als ich«, sagte ich empört.

»Du hast den Zucker vergessen«, jammerte er und hielt mir anklagend seinen Kaffeebecher hin.

»Entschuldige.« Ich nahm die Tasse und schaufelte drei Löffel weißes Pulver hinein. »Ich rühre sogar für dich um«, sagte ich, tat es und hielt ihm den Becher wieder hin.

»Du bist nicht sauer auf mich?«, fragte er.

»Aber woher?«, antwortete ich und ging zur Tür. »Schönen Tag noch, Süßer.«

Als ich auf dem Flur stand, hörte ich ihn laut fluchen, dann noch lauter husten. »Du verdammtes Miststück! Das war kein Zucker, sondern Salz!«

 

Um den Auftrag kam ich wohl nicht herum. In meinem Zimmer schaute ich erneut in die Informationen über die Autorin.

Von Berghofens Romane waren in viele Sprachen übersetzt worden. Der Plot war immer gleich: Junge Frau sucht und findet die große Liebe. Und die Autorin schien Rosen zu mögen, ihre Heldinnen hießen Rosalind, Rosabell, Annerose oder Rosanne.

Die Mädels sahen aus, wie ich nie ausgesehen hatte: zart, filigran, blond, waren von »überirdischer Schönheit« und sie hatten Charaktereigenschaften, die mir ziemlich fremd waren: schüchtern, devot, nahe am Wasser gebaut und völlig humorfrei.

Im Netz gab es zu jedem der fünfzig Bücher Leseproben und mich beschlich der leise Verdacht, dass Lilo von Berghofen lediglich Orte, Tageszeiten und Namen änderte, bevor sie einen neuen Titel auf den Markt brachte. Aus Graf Gero wurde der junge, dynamische Chefarzt Dr. Frederic Hansen und Rosalind aus dem Schloss erlebte im nächsten Schmöker als vom Schicksal gebeutelte Lernschwester Rosemary ihre Wiedergeburt.

Ich beschloss, mich dem Werk der Autorin nicht weiter zu widmen, immerhin hatte Jansen ja eine Homestory verlangt und niemand konnte mich zwingen, mir die Lektüre anzutun.

Über das Leben der Schriftstellerin fand ich nur karge Informationen. Zwei für eine Homestory wichtige Punkte erfuhr ich jedoch: Lilo von Berghofen hieß in Wirklichkeit Gerlinde Bomballa und hatte in Bierstadt auf dem Gymnasium Abitur gemacht. Ehemänner, Kinder und anderes bürgerliches Beiwerk suchte ich vergebens.

Ich googelte weiter und stieß auf ein paar Fotos der Autorin. Für eine Endfünfzigerin hatte sie sich gut gehalten. Sie hatte dickes, rotbraunes Haar und blassblaue Augen, die überhaupt nicht romantisch wirkten. Die Frau erschien mir sympathischer, als ihre Produkte erwarten ließen.

Lilo von Berghofens beziehungsweise Gerlinde Bomballas Nummer war nicht im Telefonbuch verzeichnet und auch die Auskunft konnte nicht helfen.

Ich fragte beim Verlag nach, der die Groschenromane herausgab. Doch Telefonnummern von Autoren wurden grundsätzlich nicht herausgegeben.

»Sie müssen das verstehen«, sagte die Telefonistin. »Sonst kann Frau von Berghofen sich vor ihren Fans nicht retten. Aber ich verbinde Sie mal mit der zuständigen Lektorin, Frau Born.«

Kurz darauf versprach diese: »Ich werde Ihr Anliegen weiterleiten.«

»Wäre es nicht einfacher, mir Frau von Berghofens Telefonnummer zu geben?«, versuchte ich, die Sache abzukürzen. »Ich bin schließlich kein aufdringlicher Fan.«

»Einfacher schon«, räumte Frau Born ein. »Doch ich habe meine Vorschriften. Sie müssen sich also gedulden.«

Auch gut, dachte ich, dann kann Jansen die Homestory fürs kommende Wochenende vergessen.

Ich ging in Jansens Zimmer und berichtete ihm von meinem Misserfolg. Er schaute mich schräg an.

»Seit wann wartest du denn, bis dich jemand zurückruft?«, grinste er. »Bis vor Kurzem bist du den Leuten noch direkt auf die Bude gerückt – und zwar ungebeten.«

»Ich habe meine Sitten eben verfeinert«, erklärte ich. »Die wird mich hochkant rausschmeißen, wenn ich plötzlich vor der Tür stehe. Sie scheint ein bisschen komisch zu sein. Vielleicht ist sie auch krank oder mittendrin in einer klimakterischen Depression.«

»Dann hättet ihr ja sofort ein Gesprächsthema«, erwiderte mein Chef. »Nichts verbindet die Menschen mehr als gemeinsame Leiden.«

»Was hast du nur gegen mich?«, rief ich klagend aus. »Ich habe schon genug gelitten, indem ich diesen Schund gelesen habe. Ich werde die Geschichte ja irgendwann schreiben, nur nicht für diese Wochenendausgabe.«

»Du fährst heute Nachmittag zu Lilo von Berghofen, und damit basta.«

»Jetzt kehrst du auch noch den Chef raus«, beschwerte ich mich. »Ist das die Sache wert?«

»Ich kehre den Chef nicht raus«, antwortete Jansen. »Ich bin der Chef.« Er nahm einen Zettel zur Hand, beschrieb ihn mit einer sechsstelligen Zahl und einem Straßennamen.

»Das ist ihre Telefonnummer«, erläuterte er, mir das Papier reichend. »Aber sie geht nicht dran. Du musst also hinfahren. Die Adresse steht da. Kann ich dir sonst noch helfen?«

»Woher hast du denn die Nummer?« Ich war erstaunt.

»So was nennt man Recherche«, erklärte Jansen. »Eine durchaus übliche journalistische Technik. Du solltest dich bei Gelegenheit mal näher damit befassen, Grappa!«

 

Jansen hatte mir den Kopf gewaschen und recht damit gehabt. Früher war mein Jagdinstinkt besser ausgeprägt gewesen. Wie ein geprügelter Hund verzog ich mich zurück in mein Zimmer. Ich setzte mich in den Bürostuhl, haderte noch eine Weile mit mir und der bösen Welt und zückte dann Jansens Zettel. Er hatte die Telefonnummer einfach so daraufgekritzelt, ohne irgendwo nachsehen zu müssen. Er schien sie auswendig zu kennen.

Merkwürdig, dachte ich. Dass mein Chef über ein besonders gutes Zahlengedächtnis verfügte, war mir in den Jahren unserer Zusammenarbeit nie aufgefallen. Ganz im Gegenteil! Jansen vergaß oft die eigene Handynummer und musste erst in sein Notizbuch sehen. Wenn das jemand mitbekam, redete er sich gewöhnlich mit dem Satz »Ich ruf mich ja selbst nie an« heraus.

Ich las die sechs Zahlen. Na ja, sie waren wirklich einfach zu behalten: 41 51 41. Das hätte sogar ich geschafft.

Ich tippte die Ziffernfolge in den Apparat und wartete. Niemand hob ab. Warum sollte sich dieser Tag auch einfach gestalten?, dachte ich und seufzte.

Jetzt krieg endlich den Arsch hoch, Grappa, schalt ich mich und stellte den Computer ab. Eine kleine Tour an den Rand von Bierstadt hat noch niemanden umgebracht.

Der Rabe im Wind

 

 

Lilo von Berghofen hatte sich an der Grenze der Stadt niedergelassen, dort, wo es ein bisschen hügelig und fast noch dörflich war. Ich hatte auf dem Stadtplan nachgesehen und festgestellt, dass ihr Haus am äußersten Ende der Bebauung errichtet worden war, angrenzend an landwirtschaftliche Nutzflächen und einen aufgegebenen Steinbruch, der wegen seiner Vogel- und Amphibienwelt unter Naturschutz stand. In der Nähe musste sich auch eine Burgruine befinden – zumindest entdeckte ich im Stadtplan das Symbol dafür: ein Türmchen mit Fahne dran.

Burgruine! Das passte zu einer Frau, die sich literarisch gern im Hochadel tummelte. In unserer Gegend waren Burgen eine Rarität. Die meisten ›Burgen‹, die es in Bierstadt gab, gehörten Versicherungskonzernen, Energieriesen und Banken.

Zum Glück war das Wetter frühlingshaft warm, sogar die Linden blühten schon. Sie säumten die Ausfallstraße nach Berghofen und ihr Geruch wehte mir in die Nase. Plötzlich überkam mich ein wunderliches Gefühl von Freiheit und ich hätte immer weiterfahren mögen in den Süden – der Wärme, dem Licht und dem Mittelmeer entgegen.

Grappa, du bist zur Schreibtischtäterin mutiert, dachte ich, kaum schnupperst du frische Luft, kriegst du schon Urlaubsträume.

Nun musste ich links abbiegen. Die Straße wurde immer schmaler und steiler, links hatte ich einen freien Blick auf die Silhouette der Stadt: Der Hoesch-Gasometer schimmerte grünlich in der Sonne, der Florianturm streckte sich dem Himmel entgegen und hier und da spitzte sich ein Kirchturm in die Luft.

Die Bauweise der Häuser hatte sich geändert. Alte Bruchsteinhäuser, denen die Jahre der Emissionen durch die Stahlindustrie heftig zugesetzt hatten, lagen in den Hügeln verstreut – die Steine schwarzgrau gedunkelt.

Die Straße zum Haus der Schriftstellerin war eng und prompt kam mir ein Trecker entgegen. Obwohl er nach den tradierten Regeln der Straßenverkehrsordnung hätte ausweichen müssen, bewegte sich das Ungetüm direkt auf mich zu. Die Geste des Bauern auf dem Bock war unmissverständlich: Ich befand mich in einer Gegend, in der Männer grundsätzlich Vorfahrt hatten. Ich beugte mich der Diktatur des bäuerlichen Machismo und setzte mein Auto in eine Einfahrt, damit der Riese vorbeikonnte. Der Typ würdigte mich keines Blickes und konnte deshalb auch meinen ausgestreckten Mittelfinger nicht sehen.

 

Ich erreichte Lilo von Berghofens Adresse. Überrascht musterte ich das Gebäude. Ein solches Haus hatte ich noch nie gesehen: Es hatte die Form eines Tunnels, dessen Öffnungen verglast worden waren. Dunkle Holzbalken strukturierten die Glasfronten und gaben ihnen Stabilität. Das Dach war kein Dach, sondern eine grüne Landschaft aus dickem Gras.

Im Vorgarten blühten dunkelblaue Schwertlilien, lila Rhododendren und pinkfarbene Strauchrosen. Rechts und links vom Haus befanden sich riesige Steinquader, sodass es aussah, als würde das Hügelhaus zwischen den Blöcken herauswachsen. Das Gebäude schien wie eine Mischung aus Hexenhaus und Fuchsbau.

Ich parkte leicht verkehrsbehindernd und stieg aus. Hinter der Glasfront im Erdgeschoss versperrten weiße Gardinen die Sicht, oben war eine offene Galerie zu erkennen.

Ein grob gepflasterter Weg führte zur Tür. Auf einem Messingschild las ich die Initialen L. v. B., den Klingelknopf entdeckte ich direkt darunter. Ich drückte lange und hörte die Glocke durch das Haus schallen.

Keine Reaktion. Lilo von Berghofen war entweder nicht da oder sie legte auf Besucher keinen Wert.

In die Tür waren in tabellarischer Ordnung Zahlen geritzt worden:

 

16 – 3 – 2 – 13

5 – 10 – 11 – 8

9 – 6 – 7 – 12

4 – 15 – 14 – 1

 

Was das wohl zu bedeuten hatte? Egal.

Sollte ich eine Nachricht im Briefkasten hinterlassen? Meine Visitenkarte unter der Tür durchschieben? Oder später noch mal wiederkommen?

Ich holte mein Handy heraus, wählte von Berghofens Nummer und vernahm gleich darauf Telefongebimmel.

Neben dem Hügelhaus lag ein Feld mit Raps, der kurz vor der Blüte stand. Ein Maschendrahtzaun markierte die Grenze zwischen Feld und dem Garten der Schriftstellerin.

Ich stiefelte am Zaun entlang. So erhielt ich einen Blick auf die Rückfront des Hauses. Es musste viel Raum bieten, denn im Kellergeschoss waren weitere Zimmer, ebenerdig zum Garten. Das Schönste auf dem Anwesen aber war ein riesiger, weiß blühender Kirschbaum, dessen Krone hoch über das Grasdach ragte. Hunderttausende von Blütenblättern bedeckten die Terrasse und einen Holzbalkon, von dem aus eine Treppe in den Garten führte.

Der Garten hatte alles, was ein Bauerngarten haben musste: Äpfel, Birnen, Pflaumen, Rosen, Lavendel und Himbeeren.

Unter meinem Fuß zerbarst mit einen lauten Krachen ein Zweig. Aufgeschreckt erhob sich ein Schwarm schwarzer Vögel vom Feld und kreiste um das Haus. Ich verfolgte ihren Flug. Auf einmal gab es einen Knall und ich sah, wie aus der Höhe des Grasdaches ein dunkler Fleck herabfiel. Ein Vogel war gegen die Scheibe geprallt. Armes Tier.

Ich erreichte das Ende des Grundstücks. Neben einem Teich stand eine blau gestrichene Laube. In deren Nähe – durch quadratische Steine abgetrennt – erkannte ich einen Kräutergarten, in dem es das Übliche gab, das die bessere Hausfrau zum Kochen verwandte: Salbei, Minze, Rosmarin und Thymian. Von dem restlichen Grünzeug kannte ich die Namen nicht. Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, konnte aber weder im Haus noch sonst wo jemanden entdecken.

Ich stakste zurück, ruinierte meine Pumps und fluchte herzhaft. In Höhe des alten Kirschbaums sah ich ihn auf dem Zaun sitzen. Der schwarze Vogel hielt sich geduckt und glotzte mich mit schwarzen Augen an. Sein Gefieder glänzte, er schlug unkoordiniert mit den Flügeln und schüttelte den Kopf, als wollte er sich von etwas Lästigem befreien.

Ich begriff: Das war der Rabe, der gegen das Glas geprallt war. Zum Glück lebte er noch. Aus dem Nasenloch über dem gebogenen Schnabel rann frisches Blut.

Beruhigend sprach ich auf das Tier ein und bewegte mich dabei vorsichtig rückwärts. Ich wollte es nicht wieder in Panik verfallen lassen; nur mühsam gelang es dem Vogel, nicht vom Zaun zu fallen.

Er stirbt doch noch, dachte ich und mein Magen krampfte sich zusammen. Ich konnte keine Tiere sterben sehen und brachte in der Redaktion jede Spinne oder Wespe eigenhändig nach draußen, was dem Bestreben, mich zur komischen Alten abzustempeln, ausgesprochen förderlich war.

Wind kam über das Feld. Der Rabe schüttelte sich, wiegte den Kopf hin und her, atmete in den Luftstrom, und als eine kräftige Windböe aufbrauste, ließ er sich in sie hineinfallen und von ihr wegtragen.

Er taumelte erst tief über den Rapspflanzen, schraubte sich dann aber höher und schaffte es, im Wipfel eines Baumes zu landen. Vielfaches Rabengeschrei – seine Leute begrüßten ihn. Das ist ein Happy End, wie es nur die reale Welt beschert, dachte ich, und nicht so ein süßlicher Kitsch à la von Berghofen.

Ich näherte mich dem Zaun, auf dem der Vogel gesessen hatte. Im Draht hatte sich eine schmale schwarze Feder verfangen. Vorsichtig zog ich sie heraus. Das Schwarz glänzte in der Sonne mit einem blauen Schimmer. Der Kiel war weiß und seine Spitze blutig.

Ich umwickelte den unteren Teil mit einem Stück Papiertaschentuch und steckte die Feder ein.

Natürlich tat sich im Erdhaus noch immer nichts, was mir aber nicht ungelegen kam. Jansen würde zwar nicht erfreut sein, aber: keine Lilo, keine Story.

Zurück bei meinem Auto bemerkte ich eine Schramme an der Tür. Der Verursacher hatte sich aus dem Staub gemacht. Den Tag kannste vergessen, dachte ich, Pleiten auf der ganzen Linie. Wenigstens ist der Rabe nicht gestorben.

Die Mittagszeit war vorbei und mein Magen knurrte. In Berghofen gab es nur ein Frühstücksbistro und eine nicht besonders vertrauenerweckend wirkende Pizzeria – von den Dorfkneipen mit sogenannten Stammgerichten abgesehen. Meistens handelte es sich dabei um Kreationen mit westfälischem Einschlag, Roulade oder Schlackwurst, Bratkartoffeln und Kohlwurst – nicht mein Ding.

Bevor ich den Motor startete, rief ich Jansen an und berichtete von meiner glücklosen Recherche.

»Dann warte eine Stunde und versuch's noch mal«, riet er. »Irgendwann wird sie schon nach Hause kommen.«

»Ich habe Hunger.«

»Dann geh was essen.«

»Hier?«

»Warum nicht? In Berghofen gibt's genug Kneipen, die Mittagstisch anbieten.«

»Woher weißt du das?«, fragte ich meinen Chef.

»In jedem Vorort gibt es die. Heute Abend möchte ich eine Erfolgsmeldung, Grappa.«

»Vielleicht ist die Frau ja auf Lesereise«, gab ich zu bedenken. »Oder sie lässt sich im schottischen Hochmoor von einer männlichen Muse küssen.«

»Klar. Sie könnte auch von Außerirdischen entführt oder von Mädchenhändlern verschleppt worden sein.« Jansen klang genervt.

»Aus dem Alter ist sie wohl raus«, entgegnete ich. »Vielleicht hat sie mich auch vor dem Haus gesehen und findet mich nicht sympathisch.«

»Nicht doch, Grappa: Dich zu sehen und richtig gern zu haben, hängt doch zusammen«, frotzelte Jansen.

»Ich bin sogar ums Haus geschlichen«, berichtete ich. »Aber außer einem Schwarm Raben habe ich nichts Lebendiges entdeckt. Vielleicht ist sie ja tot – erstickt an ihren süßlichen Liebesklischees. Wäre doch ein schöner Tod für eine Nackenbeißerin.«

»Nackenbeißerin?«

»Ist ein Fachausdruck. Schundromane heißen in der Literaturwissenschaft auch Nackenbeißer. Und weißt du auch warum?«

»Keinen Schimmer.«

»Weil auf dem Cover meistens junge Frauen abgebildet sind, über die sich ein Kerl beugt – und zwar so, als würde er seine Zähne gleich in ihren Nacken schlagen wollen.«

»Du meinst Vampirromane!«

»Keineswegs. Vampire beißen in den Hals und nicht in den Nacken.«

Jansen lachte. Zufällig sah ich in dem Moment zum Erdhügelhaus hin und bemerkte, dass sich die helle Gardine bewegte.

»Augenblick, da ist was«, rief ich aus. »Es scheint doch jemand da zu sein, da bewegt sich was.«

»Oben auf der Galerie?«

»Nein, unten.«

»Wo unten?«

»Unten eben.«

»Deine Angaben sind ja wieder mal sehr präzise, Grappa. Was siehst du denn nun?«

»Die Gardine wackelt.«

»Dann versuch's noch mal«, sagte Jansen. »Und zwar pronto.«

Ich drückte das Gespräch weg, stieg wieder aus und ging zum Haus. Doch auf mein heftiges Klingeln reagierte erneut niemand. Ich klopfte sogar, rief meinen Namen und den der Zeitung – es blieb totenstill. Frustriert kehrte ich zum Auto zurück.

Auf dem Weg ins Dorf erinnerte ich mich an Jansens Satz mit der ›Galerie‹. Ja, in dem Haus gab es eine offene Galerie – ich hatte sie von außen gesehen. Woher aber wusste Peter Jansen das? Kannte er das Haus?

Töttchen brutal

 

 

Mysterien, Geheimnisse und Verborgenes hatten mich schon immer fasziniert. Mein Interesse an Lilo von Berghofen stieg. Jansen wusste mehr über die Schriftstellerin, als er mir gegenüber zugeben wollte. Zuerst hatte er ihre Telefonnummer im Kopf, dann wusste er, dass ihr Haus eine Galerie besaß.

Die Kneipe hieß Zur Steigerklause. Vor der Tür pries eine Schiefertafel westfälische Spezialitäten an.

Ich zog die Tür auf und musste mich durch einen Filzvorhang kämpfen. Ein Sänger sülzte Jenseits von Eden. Der Hit erinnerte mich an meine Volksschulzeit.

Vor dem Tresen saßen und standen einige Männer, hinter der Theke agierte der Wirt. Einer der Tresensitzer war der Bauer, der mir mit seinem Trecker so galant die Vorfahrt genommen hatte. Alle glotzten mich an.

»Tach, die Herren«, sagte ich.

»Tach auch. Und?«, knurrte der Wirt.

»Ich las, dass in diesem Etablissement westfälische Köstlichkeiten gegen einen kleinen Obolus abzugeben sind«, flötete ich.

»Wat is?«

»Essen, guter Mann! Was können Sie mir empfehlen?«

»Töttchen«, kam es aus des Wirtes Mund.

»Töttchen? Kenn ich nicht.«

»Ich hab aber nur noch Töttchen«, erklärte er und grinste.

»Gut, dann eben Töttchen.«

»Setzen Sie sich, junge Frau.« Der Wirt deutete auf einen blank gescheuerten Holztisch. »Pilsken dazu?«

»Nein, Wasser, bitte.« Ich ließ mich auf den Stuhl fallen, er war ungepolstert und kalt.

Der Trecker-Rowdy blies eine Zigarettenwolke in meine Richtung. Ich wedelte sie mit übertriebener Gestik weg.

Im Mineralwasser schwamm eine müde Zitronenscheibe. »Töttchen kommt gleich«, brummte der Wirt, als er es mir brachte.

»Was ist denn nun im Töttchen so drin?«

»Was drin is? Keine Ahnung. Is abba lecka.«

An der Wand gegenüber hingen die Köpfe von Rehen und Hirschen. Sie waren auf Bretter genagelt. Rechts von mir hatte der Tierpräparator einen Raben auf einen Ast gesetzt. Sein Gefieder war stumpf und staubig.

Ich erinnerte mich an den Raben auf dem Zaun und kramte die Feder aus meiner Handtasche. Das Blut am Kiel war schwarz nachgedunkelt und eingetrocknet, der blauschwarze Glanz noch erhalten.

Der Wirt trabte erneut an, in der Hand eine Terrine und einen Teller. Ich schob die Blumendekoration beiseite, um Platz für das westfälische Gebinde zu schaffen.

»Guten Appetit«, murmelte der Wirt.

»Danke«, antwortete ich. »Kennen Sie sich hier aus in der Gegend?«

Er hatte mir schon den Rücken zugedreht, wandte sich aber noch einmal um. »Klar. Was wollen Se denn wissen?«

»Das Haus oben auf dem Berg«, sagte ich. »Mit dem Grasdach. Steht das schon lange da?«

»Der Rabenhügel?«

»Wenn das Haus so heißt, dann der Rabenhügel.«

»Seit zehn Jahren isses da. Vorher war dort was anderes.«

»Was denn?«

»Auch ein Haus, kleine Hucke aus Stein.«

»Wieso heißt das Haus Rabenhügel?«

Er überlegte. »Das hieß schon immer so.«

»Und warum?«

»Weil in dem Haus davor, also nicht in dem da jetzt, eine Alte wohnte. Die hatte 'nen Raben.« Der Wirt deutete auf den Teller vor mir. »Essen Se mal, das wird nich wärmer.«

Das Töttchen war ein mittelbraunes Gemisch aus zerstampftem Gemüse und irgendwelchem Fleisch. Todesmutig häufte ich eine Kelle von der Masse auf den Teller und starrte sie an.

Der Wirt stellte eine Plastikflasche Senf neben die Blumendekoration und verschwand erneut. Oben an der Flasche war der Senf eingetrocknet und von einem appetitlichen Dunkelgelb.

Das Töttchen dampfte und der Geruch erschien mir gar nicht mal so übel. Ich nahm einen Löffel davon und schob ihn in den Mund. Ich schmeckte Fleisch, Lorbeerblatt, Zwiebeln und sogar einen Hauch von Nelken. Nicht schlecht. Meine Anspannung löste sich und ich haute rein.

»Und? Wie isses?«, rief der Wirt zu mir herüber.

»Lecka!«, strahlte ich. »Gut gewürzt. Was ist denn da nun drin?«

»Kalbskopf, Lunge und Herz, gekocht und klein geschnibbelt«, antwortete er. »Mehlschwitze mit dem Saft ablöschen, dann noch 'n paar Gewürze und fertig isses Töttchen.«

»Alles klar«, nickte ich und schob den Teller von mir.

Ich bezahlte und schaute auf die Uhr.

Fast eine Stunde war seit meinem letzten Besuch auf dem Rabenhügel vergangen. Zeit, noch mal bei Lilo von Berghofen vorbeizuschauen.

 

Beim Hügelhaus hatte sich nichts verändert, ich telefonierte, klopfte an die Tür und beobachtete wieder die Gardinen. Täuschte ich mich oder hatte sich der Faltenwurf inzwischen noch einmal verändert?

Frustriert stapfte ich am Zaun entlang, vielleicht entdeckte ich irgendwo eine Tür, durch die ich aufs Gelände kam. Mein Vorhaben hieß Hausfriedensbruch, aber der Zweck heiligt die Mittel.

Tatsächlich stieß ich auf eine Stelle im Zaun, an dem die Maschen beschädigt waren. Es war einfach, das Loch zu vergrößern, und ich drückte mich durch.

Prompt landete ich in den Himbeeren. Die Stacheln hielten den Stoff meiner Hose fest, doch ich konnte mich mit einem kräftigen Ruck befreien.

Beherzt stiefelte ich die Treppe zum Holzbalkon hinauf und erschrak. Im Schatten eines Lorbeerbaumes stand ein über zwei Meter langer Holzkerl, grob geschnitzt. Der Penis war übertrieben groß und auf dem Kopf saß ein Vogel mit mächtigem Schnabel, um die Unterschenkel der Skulptur ringelten sich Schlangen. Der Wächter des Hauses, dachte ich.

Vorsichtig näherte ich mich dem Fenster und blickte in die Küche: ein Holztisch, darauf eine Obstschale, Einbauschränke, Küchengeräte und ein Weinregal. Die Tür, die in den Flur führte, war geöffnet und ich konnte von hier aus den Hauseingang sehen.

Eine Bewegung im Flur ließ mich zurückschrecken.

Da war jemand! Ich versuchte, mich zu verstecken, doch dann siegte meine Neugier und ich spähte umso angestrengter in das Innere. Jemand öffnete die Haustür und verschwand nach draußen.

Die Gestalt war massig, bewegte sich flink, zog aber das Bein nach.

Ein kleines Stückchen Wahrheit

 

 

Ich quetschte mich zurück durch das Loch im Zaun und lief wieder zur Vorderfront des Hauses. Doch es war wie verhext: Die Straße war leer. Keine Menschenseele, kein Motorengeräusch, sondern nur Stille.

Ich schaute zurück zum Haus.

»Krah!«

Über mir hockte ein Rabe auf einem Ast und schaute mich an.

»Na, du Rabe. Immer noch leicht bedeppert?«

Der Vogel rührte sich nicht, aber ich bemerkte Spott in seinen schwarzen, glänzenden Augen.

»Hast du jemanden weglaufen sehen?«, fragte ich.

»Krah ...«, machte er.

»Danke, du Huhn«, murmelte ich und griff zum Handy.

»Ich weiß nicht mehr weiter«, sagte ich zu Peter Jansen. »Hier gehen merkwürdige Dinge vor.«

Ich gab ihm eine Kurzversion der jüngsten Ereignisse. »Und auf dem Baum sitzt ein Rabe und bewacht das Haus. Aber auch er will niemanden gesehen haben«, schloss ich.

»Du redest jetzt schon mit einem Vogel?«

»Ich hab's versucht, aber er antwortet mir nicht.«

»Bleib da, Grappa«, befahl Jansen. »Ich komme vorbei.«

»Ruf lieber gleich die Bullen«, riet ich. »Irgendwas ist hier oberfaul.«

 

Ich verzog mich in mein Auto und behielt den Rabenhügel im Auge.

Nach zwanzig Minuten parkte Jansen seinen Wagen hinter meinem. »Lass es uns noch mal versuchen«, meinte er und wir gingen wieder zum Haus.

»Wo ist er denn?«

»Wer?«

»Dein Vogel!«

»Jetzt ist er weg.« Ich deutete zu einem Walnussbaum. »Genau da oben saß er.«

Doch Jansen hatte längst die Tür erreicht, klingelte, klopfte, rannte auf und ab. »Da stimmt doch was nicht!«, rief er. »Und es ging wirklich ein Mann aus dem Haus?«

»Von einem Mann hab ich nichts gesagt. Ein großer hinkender Mensch war's«, sagte ich. »Und jetzt würde ich gern mal wissen, warum du hier so einen Veitstanz aufführst.«

Mein Chef antwortete nicht. Er nahm die Faust und polterte damit gegen die Tür. »Gerlinde! Lilo! Nun mach auf! Hier ist Peter!«

Meine Ohren hörten, aber mein Gehirn konnte die Worte nicht sofort einordnen. Gerlinde, Lilo, Peter. Das klang sehr vertraut.

Ich rechnete nach. Jansen und die Schriftstellerin waren etwa gleich alt und die Frau hatte in Bierstadt gelebt, hier Abitur gemacht und war jetzt wieder zurückgekehrt.

»Ich rufe die Polizei«, sagte er verzweifelt.

»Meine Rede«, meinte ich. »Und bis die Bullen aufmarschiert sind, erzählst du mir die ganze Wahrheit.«

 

Nachdem Jansen telefoniert hatte, ließ er sich neben mich auf den Beifahrersitz fallen. Sein Atem ging schwer.

»Rede endlich«, forderte ich ihn auf. »Ihr kennt euch von früher, richtig?«

Mein Chef nickte. »Ich hatte sie aber aus den Augen verloren. Wie das so ist im Leben.«

Ich wartete.

»In der Schule war sie eine Klasse unter mir. Gerlinde. Sie wollte aber Lilo genannt werden. Schon damals hatte sie ein Faible für Fantasienamen.«

»Warst du verknallt in sie?«

Er lächelte. »Das waren wir alle irgendwie. Sie hatte was Besonderes an sich. Cool – würde man heute sagen. Kapriziös – so hieß das früher. Jedenfalls war sie anders als die anderen Mädchen.«

»Wie ist sie zum Schreiben gekommen?«

»Lilo glänzte immer mit Geschichten. Konnte von jetzt auf gleich die tollsten Storys erfinden. Schon damals war ihr Berufsziel Schriftstellerin.«

»Das hat sie geschafft«, sagte ich. »Wenn sie auch nur Nackenbeißer produziert.«

»Nach dem Abitur verschwand sie an irgendeine Uni. Unsere Wege trennten sich.«