image

Rainer Schwochow
Workaholics

Rainer Schwochow

Workaholics

Wenn Arbeit zur Sucht wird

image

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 1997)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von © jogyx - Fotolia.com
Satz: Ch. Links Verlag, Berlin

ISBN: 978-3-86284-217-9

Inhalt

Einleitung

Besessen von Arbeit

Der Suchtbegriff

Ungelebtes Leben

Vielarbeiter und Arbeitssüchtige

Immer unter Hochdruck

Gefährdung oder Sucht? Ein Selbsttest

Die Suche nach Anerkennung und Lebenssinn

Arbeitssucht – eine Männerkrankheit?

Der Preis der Unabhängigkeit

Wege in die Arbeitssucht

Die Last erfolgreicher Eltern

Individuelle Ursachen der Arbeitssucht

Die ausgebliebene Belohnung

Phasen der Arbeitssucht und Typen von Arbeitssüchtigen

Irrfahrt auf der Suche nach sich selbst

Klinische Therapie und Selbsthilfe

Keine Zeit für Gefühle

Die suchtfördernde Organisation

Unsanftes Erwachen aus dem Rausch

Körpereigene Drogen

Der Glaube, unersetzbar zu sein

Arbeitssucht und Freizeit

Flucht vor Enttäuschungen

Gesellschaftliche Dimensionen der Arbeitssucht

Nachbemerkung

Literaturverzeichnis

Kontaktadressen

Danksagung

Für Heide

Einleitung

Hamburg, 20 Uhr, ARD-Tagesschau: Ein langjähriges Mitglied der Bundesregierung erklärt vor laufender Kamera, er sei suchtkrank. In seinem Gesicht keine Spur von reuevoller Leidensmiene, nein, lachend, geradezu in Siegerpose, sendet er seine Nachricht in die deutschen Wohnstuben. –

Der Mann ist erledigt. Postwendend befördert man ihn in den Ruhestand, eine dürre Pressemitteilung der Regierung teilt am folgenden Tag etwas von gesundheitlichen Problemen mit. Das Regierungslager bemüht sich hektisch, den Vorfall und die Person aus dem öffentlichen Gedächtnis zu streichen.

Natürlich hat diese Szene so nie stattgefunden. Es ist zwar ein offenes Geheimnis, daß eine Reihe der im Parlament sitzenden Volksvertreter durchaus ihre Probleme mit Alkohol, Nikotin oder anderen Suchtmitteln hat. Dies aber öffentlich und ohne Reue zuzugeben, das hieße politischen Selbstmord zu begehen.

Wie aber steht es mit der Arbeitssucht? Vom heutigen Bundesbauminister Töpfer wird berichtet, daß er die Bezeichnung »workaholic« nicht ohne Stolz für sich in Anspruch nimmt. Edzard Reuter, der abgelöste Daimler-Benz-Chef, verstand es als einen Ausdruck von Tugend, als man ihm dieses Etikett anklebte. Das Manager Magazin schrieb im März 1994: »Tag und Nacht ist Friedrich Hennemann (57) im Einsatz. Seinen Mitarbeitern auf der Chefetage der Bremer Vulkan Verbund AG verlangt er dasselbe Pensum ab. Sein Verschleiß an Chefsekretärinnen ist so hoch, daß er im Hause kaum noch Freiwillige findet. Krankheit und Urlaub kennt er kaum. Als es seiner Frau im vergangenen Jahr endlich einmal gelungen war, ihn auf eine zweiwöchige Kreuzfahrt mit der ›Queen Elizabeth 2‹ zu locken, kam er so bleich zurück, wie er in See gestochen war. Mit Faxgerät und Telephon hatte er sich unter Deck eingenistet. Doch der Lenker des zweitgrößten europäischen Werkverbunds ist nicht nur ein Workaholic, sondern auch ein Genie.« Ob das wirtschaftliche Desaster des Werftenverbundes im Jahr 1996 auch das Arbeitsergebnis eines Mannes ist, der schlicht die Kontrolle über seine Arbeit verloren hat, kann hier nicht geklärt werden. Ganz deutlich aber weist dieser Artikel, der Hennemann als einen der erfolgreichsten Manager des Jahres 1994 preist, auf den höchst fragwürdigen Gebrauch eines Modewortes hin.

Das aus dem Amerikanischen stammende Wort »workaholic« wird heute in der deutschen Übersetzung mit »Arbeitssüchtiger« wiedergegeben. Eine sehr ungenaue Übertragung, denn der »alkoholic« – Alkoholiker – ist darin nicht mehr zu finden. Daß Sucht eine Krankheit ist, darüber sind sich Mediziner, Psychologen und selbst Politiker heute weitgehend einig. Wenngleich es in der öffentlichen Wahrnehmung und Bewertung der Süchte gravierende Unterschiede gibt, so setzt sich heute mehr und mehr die Erkenntnis durch, daß Arbeitssucht für die betroffenen Menschen eine ernste Gefahr ist, die durchaus tödlich enden kann. Doch es geht nicht darum, Menschen, die unter Arbeitssucht leiden, als »krankhafte, abnorme Fälle« zu betrachten. Es sind ganz normale Menschen, die fast jeder in seinem alltäglichen Umfeld finden wird.

Gerade in einer Zeit, in der immer mehr Menschen froh sind, wenn sie überhaupt Arbeit haben, drohen das Nachdenken und die kritische Reflexion des Wertes von Arbeit zum Luxus ausgewählter Wissenschaftler zu werden. Aber weil bezahlte und bezahlbare Arbeit bereits heute zur gesellschaftlichen Mangelware geworden ist, wäre ein blindes Weiterarbeiten bis zum Umfallen nicht nur von vielleicht tödlicher Konsequenz für den einzelnen, sondern letztlich für die ganze Gesellschaft. Es geht bei der Darstellung von »süchtigen Karrieren« nicht um die Stigmatisierung dieser Menschen, sondern um Sensibilisierung im eigenen Umgang mit Arbeit.

Besessen von Arbeit

Es war Silvester, in der Nacht der guten Vorsätze: Dieses Jahr, ganz bestimmt, werde ich mindestens drei meiner Freunde besuchen. Ein bis zwei Jahre ist es her, seit wir uns das letztemal gesehen haben. So kann man keine Freundschaft pflegen. Wir müssen endlich mal wieder reden.

Inzwischen ist November. Es blieb beim guten Vorsatz. Irgendwie paßte es nie. Immer kam etwas dazwischen: eine wichtige Reise, ein wichtiger Termin, eine ganz wichtige Arbeit. Und dann, als ich mir endlich ein Wochenende freigehalten hatte, da war der eine im Kurzurlaub, der nächste mußte arbeiten, und der dritte war zu einem Wochenendseminar. Die Umstände sind eben so. Sehen wir uns halt später.

Unsere Telefonate ähneln sich. Wieder soviel Arbeit, immer dieser Streß, es ist grausam und so weiter, na, du weißt ja. Am Ende der Spruch: Man kann ja froh sein! Besser zuviel Arbeit als gar keine! Manchmal nervt mich diese Floskel. Wer bestimmt eigentlich, wieviel wir arbeiten? Sind es immer äußere Zwänge? Oder sind es Zwänge, die wir uns selbst schaffen? Unvermeidbar lande ich bei dem Schlagwort »Workaholic«. Ein Modewort. Klingt schick.

Bin ich einer? Sind es meine Freunde? Sind wir auf dem Weg, eine Gesellschaft freiwilliger oder erzwungener Workaholics zu werden? Ich suche Literatur, die ich zu dem Thema finden kann. Keine große Ausbeute. Die Bücher beschreiben die Arbeitssucht als Phänomen. Ich erfahre kaum etwas über die Menschen, ich bekomme »Fallbeispiele« vorgeführt. Damit rückt das Problem weit weg von mir und meinem Alltag. Wo ist die Grenze? Wer ist schon arbeitssüchtig? Wer noch nicht? Ich will arbeitswütige Menschen kennenlernen und ihre Geschichte, ihre Erfahrungen und ihre Sicht auf das eigene Leben.

Am Beginn steht die Frage: Wie finde ich Menschen, die arbeitssüchtig sind? Ungern möchte ich zuerst Freunde und Bekannte analysieren. Zu groß ist die Gefahr, eigene Beobachtungen nur bestätigen zu wollen. Ich frage eine befreundete Psychologin. Suchtpatienten hat sie einige, aber Arbeitssüchtige? Nein. Sämtliche Anfragen bei den bekannten Suchtberatungsstellen bleiben ohne Erfolg. Im besten Fall hat man dort von Arbeitssucht gehört. Aber sich selbst damit beschäftigt oder gar Ratsuchende kennengelernt? Fehlanzeige. Bei meiner Recherche finde ich in einer alten Tageszeitung den Hinweis auf eine Selbsthilfegruppe in Bremen. Die Kontaktaufnahme ist schwierig. Unter der betreffenden Telefonnummer meldet sich Peter. Ich trage mein Anliegen vor. Das Mißtrauen ist groß, die Anonymität strengstes Gebot der Selbsthilfegruppen. Peter verweist mich an eine zentrale Kontaktadresse. Dort soll ich meinen Wunsch schriftlich vortragen, gegebenenfalls werde man mir Gesprächspartner vermitteln. Nach wenigen Tagen erhalte ich Antwort. In zwei Wochen findet ein Bundestreffen der Selbsthilfegruppen statt. Sofern die Vorbereitungsgruppe des Treffens einverstanden sei, könne ich dort zu einem offenen Informationsmeeting kommen.

Neugierig geworden registriere ich, daß die strengen Regeln der Anonymität in einem krassen Widerspruch zum Verhalten der Menschen stehen, die sich öffentlich als Workaholics präsentieren.

Was hat es damit auf sich?

Endlich sind alle Hürden genommen. Ich fahre nach Böblingen bei Stuttgart. Das Treffen findet unauffällig in Kirchenräumen statt. Etwa 50 Personen aus ganz Deutschland sind zu dem Erfahrungsaustausch gekommen. Frauen und Männer zwischen 25 und 55 Jahren. Sie tragen Jeans, karierte Hemden, legere Pullover. Offensichtlich ist keiner jener Menschen angereist, die, mit Handy, Laptop und Designerbrille ausgestattet, unentwegt durchs Fernsehen in unsere Wohnzimmer hineinlächeln und ihre Geschäftigkeit demonstrieren. Sie prägten das Bild, das ich bisher von einem Arbeitssüchtigen hatte: der vielbeschäftigte Manager oder Jungbanker, der morgens um 6 Uhr in Hamburg aufsteht, um 9 Uhr in Berlin in einer Konferenz sitzt, zwischendurch mit einem Geschäftspartner in Übersee telefoniert und nebenbei noch Anweisungen für die Sekretärin in das Diktiergerät spricht. Einer, der mittags nach London fliegt, auf einer Pressekonferenz die unerwarteten Umsatzsteigerungen seines Unternehmens verkündet und abends an einem Geschäftsessen in München teilnimmt. Erst später, im Verlauf meiner Recherchen, erfahre ich, warum diese Erfolgsmenschen in Selbsthilfegruppen nicht zu finden sind.

Hier jedenfalls sitzen ganz »normale« Leute: Angestellte aus Behörden, Selbständige, Ingenieure, Hausfrauen, Studenten. Einige geben mir ihre Adressen. Sie sind gern zu einem Gespräch bereit. Andere lehnen ab: Sie haben Angst vor beruflichen Nachteilen, wenn ihre Sucht öffentlich wird. Zum Beispiel Harald, der als leitender Angestellter in der Verwaltung einer süddeutschen Kleinstadt arbeitet. Oder Gerhard, ein selbständiger Handwerker. Er hat ein besonderes Problem, von dem seine Kunden nichts erfahren sollen: Bevor er wie ein Besessener zu arbeiten begann, war er vom Alkohol abhängig. Er kämpfte gegen seine Alkoholsucht, indem er sich in Arbeit stürzte. Aus Angst vor der Flasche arbeitet er jetzt abends so lange, bis ihm die Augen zufallen. Dann geht er sofort schlafen. Ein Herzinfarkt vor einem halben Jahr hat ihn aufgeschreckt. Er ist 39 Jahre alt und weiß, daß er so nicht weitermachen kann.

Wenige Tage später fahre ich in eine westdeutsche Großstadt. Hier bin ich mit Wolfram verabredet. Außer seinem Vornamen weiß ich nichts über ihn. Wir treffen uns dort, wo die Selbsthilfegruppe ihre wöchentlichen Meetings abhält. Das war die Bedingung für das Treffen: Keine Nachnamen, keine Privatadressen sollen öffentlich werden.

Wolfram (44) beginnt zu erzählen:

»Ich war vor zwei Jahren wegen psychischer Schwierigkeiten, wegen starker Versagensängste, in einer psychosomatischen Klinik. Dort hat man bei mir Arbeitssucht diagnostiziert. Ich wußte mit dem Begriff nichts anzufangen. Ich hab das als etwas Positives angesehen. Ich hab mich auch besser gefühlt als die anderen Patienten mit einem anderen Krankheitsbild. Ich dachte, das ist ja bei mir alles gar nicht so schlimm. Bis wir in der Therapie auf Ursachen zu sprechen gekommen sind. Da ist mir klargeworden, daß es keine bessere und keine schlechtere Sucht gibt. Aber, vielleicht beginne ich lieber von vorn.

Mein Vater war Friedhofsgärtner, meine Mutter Reinemachefrau. Mein Bruder hatte mit eineinhalb Jahren nach einer Krankheit das Gehör verloren. Weil wir finanziell nicht so gut gestellt waren – wir hatten ein Haus gebaut –, mußten wir die oberste Etage vermieten. Außerdem lebten Großmutter und ein Vetter noch bei uns. Der war auch behindert, schwer kriegsverletzt. Es war manchmal unerträglich bei uns zu Hause. Phasenweise haben meine Eltern versucht, ihre Schwierigkeiten mit Alkohol zu betäuben. Sie haben sehr darunter gelitten, daß mein Bruder behindert war. Und ich hab den Eindruck gehabt, als Jugendlicher und in der Schule, daß meine Eltern von mir erwarten, daß ich das, was mein Bruder aufgrund seiner Behinderung nicht schaffen konnte, irgendwie wettmache. Der oberste Satz zu Hause war: Mach uns keine Schande, und: Du sollst es besser haben als wir. Sieh zu, daß keiner was Negatives über dich sagen kann. Autoritäten, die waren das Größte, und die hatten immer recht, da hat man sich zu beugen, so hab ich das gelernt. Ich hab irgendwie den Eindruck gewonnen, wenn ich Leistung bringe, daß ich dann auch ein guter Mensch bin. Ich hab dann in allen möglichen Bereichen immer versucht, der Beste zu sein. In der Schule, beim Sport, ich hab auch verschiedene Musikinstrumente erlernt. Also meine Eltern haben mir suggeriert, es wäre ganz schön, wenn ich das machen würde. Und dann hab ich Querflöte, Posaune und Akkordeon gelernt. Als ich meinen Beruf gelernt habe – ich bin Beamter –, da hab ich in der Verwaltungsschule einen extremen Ehrgeiz an den Tag gelegt, um möglichst gut abzuschneiden. Ich hatte immer Angst, daß ich es vielleicht nicht schaffen würde, überhaupt die Schule zu absolvieren. Die erste Prüfung hab ich als Bester meines Lehrgangs geschafft und hatte dann den Ansporn, den zweiten Lehrgang genausogut zu machen. Hab da schon ’ne unheimliche Arbeitsintensität entwickelt, um meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Ich war sogar Klassenbester, habe aber, kurz bevor ich die Prüfung gemacht habe, mit anderen Kollegen zusammen einen Betrugsversuch unternommen, um an die Prüfungsthemen zu kommen. Deshalb bin ich der Schule verwiesen worden, konnte die Prüfung aber später nachholen. Nach dem Abschluß hab ich auch gleich eine Arbeit gefunden, als Verwaltungsbeamter. Die ersten zwei Jahre war ich unheimlich glücklich und hab gedacht, ich sei ohne jegliche Probleme. Bis mein damaliger Vorgesetzter gestorben ist und ich dessen Funktion übernommen habe, die Amtsleitung vom Sozialamt. Ich hab darüber nicht groß nachgedacht, als Beamter ist das der normale Weg, und so wie es meine Eltern mir beigebracht hatten, sei strebsam und fleißig, dann wirst du es besser haben als wir, so lief das. Nach einiger Zeit hab ich dort starke Ängste bekommen, konnte sie aber nicht festmachen an konkreten Dingen. Bis ich daraufgekommen bin, daß vielleicht der Umgang mit viel Geld der Grund ist und mein Zweifel, ob ich gerecht bin gegenüber den Leuten, den Hilfesuchenden, ob ich diesen Ansprüchen genügen kann, daß da meine Ängste und Zweifel herkommen. Ich hab mich dann versetzen lassen zu einem anderen Amt, die Probleme sind aber nicht erledigt gewesen, sondern mehr geworden. Die Angst wurde immer größer, mein Selbstbewußtsein immer geringer, und ich hab versucht, das mit Arbeit auszugleichen. Also, normale 38- oder damals 40-Stunden-Woche hat für mich nicht existiert. Ich hab auch am Wochenende gearbeitet, weil ich einfach das Gefühl brauchte, ich tu alles, was ich kann, mehr kann ich nicht tun. Und das muß doch wohl reichen, um da jetzt irgendwie den Ansprüchen gerecht zu werden. Und rein formal, von außen her gesehen, bin ich wohl auch den Ansprüchen gerecht geworden, aber nie den Ansprüchen, die ich an mich selbst gestellt habe. Ich habe hervorragende Beurteilungen bekommen, aber ich war mit mir selbst nie zufrieden und hatte das Gefühl, ich hab die Leute, die mich beurteilt haben, im Prinzip getäuscht. Die wissen gar nicht, was mit mir los ist. Ich verkaufe mich zwar nach außen gut, in Wirklichkeit aber hab ich ganz viele Mängel. Die Angst, daß diese Mängel an den Tag treten, hat sich dann so gesteigert, daß ich es irgendwann nicht mehr ausgehalten habe. Das ging einher mit schlimmen körperlichen Beschwerden. Ich hatte in der linken Körperhälfte kein Gefühl mehr, es war so, als ob die mir gar nicht gehörte. Meine Koordinationsfähigkeit für die linke Seite war total gestört. Da hab ich Angst bekommen und bin sofort zum normalen Hausarzt, EKG und so weiter, doch alles war in Ordnung. Der hat mich zu einer Neurologin geschickt, und die hat mir zuerst mal Beruhigungstabletten verschrieben und Psychopharmaka. Aber es ist nicht besser geworden. Irgendwann war die Angst so groß, daß ich sie einfach nicht ertragen wollte, und ich hab gedacht, ja, jetzt mußt du in die Klinik gehen, dann kommst du als gesunder Mensch wieder raus. Aber das war nicht so. Ich war auf ’ner Insel der Glückseligen. Und nachher, als ich wieder in die Realität kam, war alles wie vorher. Weil der Rahmen zu geschützt war, also der Raum in der Klinik, der w a r w i e eine Käseglocke. Ich war so behütet. Draußen ist es halt anders.

In der Klinik fand vor allem Gruppentherapie statt. Und die Arbeit im sogenannten 12-Schritte-Programm. Dort waren alle möglichen Selbsthilfegruppen, die nach diesem Programm gearbeitet haben. Ich hab das so empfunden: Jeder hat ein Etikett bekommen. Du bist eßsüchtig, du bist arbeitssüchtig, du bist beziehungssüchtig. Es gab keine spezielle Gruppe nur für Arbeitssüchtige oder nur für Alkoholiker oder nur für Eßsüchtige, sondern es war bunt durcheinandergemischt. Nur in den Meetings der Selbsthilfegruppen, die auch in der Klinik stattfanden und von der Klinikleitung sehr unterstützt wurden, dort war man unter sich. Also unter den gleichartig Betroffenen. Ob das immer gut war, da hab ich heute meine Zweifel.

Ich hatte so sehr den Wunsch, gesund zu werden, daß ich alles gemacht habe, wovon ich dachte, daß es meiner Gesundung förderlich ist. Ich bin morgens in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, bin gejoggt, anschließend geschwommen, ich hab jede Veranstaltung, jede Gruppe, die es überhaupt gab in der Klinik, mitgemacht. Das war ein volles Programm von morgens halb sechs bis abends um zehn. Bis ich körperlich total erschöpft war. Wenn ich Freizeit hatte, dann bin ich wandern gegangen. Ich hab das ganz exzessiv gemacht. Ich hab gedacht, du mußt jetzt alles tun, das ist vielleicht die einzige Gelegenheit im Leben, die du noch hast, um wieder gesund zu werden. Dabei hab ich den größten Fehler gemacht, denn ich hätte mir besser Ruhe gönnen und mal in mich reinhören sollen. Aber ich hab es nicht gemacht, und den Ärzten ist es wohl nicht aufgefallen. Mir ist es erst klargeworden, als ich draußen war, aber da war es zu spät.

Ich gehe jetzt regelmäßig zur Psychotherapeutin und außerdem hier in die Selbsthilfegruppe. Aber es geht nur sehr langsam voran bei mir, wenn überhaupt. Ich hab heute noch ständig mit diesen Ängsten zu kämpfen. Und als ich aus der Klinik kam, ist mir mein Tätigkeitsdrang aufgefallen, nicht nur, was die Arbeit angeht, sondern auch zu Hause. Ich kann zu Hause oder konnte bis vor kurzem auch am Wochenende nicht einfach mal so ’ne Stunde nur so dasitzen. Ich mußte immer etwas – ich sag mal in Anführungsstrichen – Vernünftiges, etwas Sinnvolles tun. Ich hab zum Beispiel gelesen, aber keine Romane mehr, wie früher, sondern ich hab Fachbücher gelesen, und wenn ich Sport gemacht habe, dann immer unter dem Aspekt, ich muß etwas für meinen Körper tun, weil ich mich sowieso überarbeite, da muß ich zumindest dafür sorgen, daß mein Körper weiter funktioniert. Alles hab ich irgendwie funktional gesehen. Heute kann ich etwas besser damit umgehen, aber ich bin lange nicht soweit, wie ich sein möchte. Einfach jetzt nur mal so Blödsinn machen oder etwas Lustiges oder so, das – ja, das ist nicht meins. Ich glaube, für meine Ehe ist das auch nicht so gut. Das ist mir aber auch erst nach der Klinik aufgegangen. Da dachte ich, nur gut, daß wir keine Kinder haben. Meine Frau ist zwar mehrmals schwanger gewesen, sie konnte die Kinder allerdings nicht austragen. Und ich war letztlich im nachhinein froh, daß es nicht zu einer Geburt gekommen ist. Schon während ihrer Schwangerschaft hatte ich Angst, kein guter Vater zu sein, und vor allen Dingen fürchtete ich, daß ich diese Angst, die so von mir Besitz ergriffen hatte, daß ich die auf die Kinder übertrage. Und das wäre für mich etwas ganz Schreckliches, wenn ich wüßte, daß ein Kind so wird wie ich.

Mein normaler Alltag sieht in der Regel so aus, daß ich morgens relativ spät im Büro beginne, so gegen 8 Uhr. Das Ende ist dann unter Umständen abends offen. Das hängt auch damit zusammen, daß ich oft zu Sitzungen gehe, und da kann es ohne weiteres sein, daß ich bis 22 Uhr oder darüber hinaus arbeiten muß. Ich bleibe so lange, bis alle Aufgaben erledigt sind, das Dienstende spielt keine Rolle. Es gibt ja auch Dinge, die müssen termingebunden erledigt werden. Dann ist für mich das Ziel, den Termin auf jeden Fall einzuhalten und die Sache perfekt zu erledigen. Damit mir ja keiner irgendwie was am Zeug flicken kann. Wahnsinnig große Angst hab ich vor unseren Kommunalpolitikern. Da in den Sitzungen irgendwie vorgeführt zu werden, wenn hinten Zuhörer sitzen, blöd dazustehen oder auf Fehler hingewiesen zu werden, davor hab ich enorme Angst. Da sitze ich grundsätzlich bis unmittelbar vor der Sitzung an der Vorbereitung.

Es kommt auch häufig vor, daß ich keine Mittagspause mache, nichts esse, von morgens bis abends durchmache. Auch in dem Bewußtsein, daß das völliger Blödsinn ist, daß es schädlich ist und daß es viel sinnvoller wäre, eine Pause einzulegen, weil sich dann auch Körper und Geist regenerieren können und ich vielleicht auch ’ne gewisse Kreativität wieder reinkriege. Aber ich arbeite dann so zwanghaft, daß ich einfach keine Pause machen kann. Ich hab das versucht, ich hab mir einen Wecker gekauft – hört sich gut an für einen Beamten –, habe den Wecker gestellt, damit ich Mittagspause mache, der Wecker ist abgelaufen, und ich hab jedesmal eine Erklärung gefunden, warum ich weiterarbeite. Heute mach ich mir den Streß nicht mehr. Wenn es so ist, dann ist es so, dann arbeite ich eben durch. Seit einiger Zeit hab ich eine Vereinbarung mit einem Kollegen, daß wir zusammen mittags essen gehen. Aber wenn ich richtig unter Druck bin, wenn ich ’ne Sache fertighaben will, geh ich natürlich auch nicht mit. Dabei kommt der Druck oft gar nicht von außen, der Druck kommt aus mir selber. Ich kann machen, was ich will, ich bin nie gut genug. Und das ist schrecklich. Wenn ich ein ganz schlechtes Gewissen hab, dann nehme ich mir die Arbeit mit nach Hause und arbeite samstags. Ich warte, bis meine Frau – die ist auch berufstätig – das Haus verlassen hat, denn sonst bekomme ich großen Ärger mit ihr, und in dem Augenblick, wo sie weg ist, packe ich die Sachen aus und fange an zu arbeiten, bis sie wiederkommt. Das beruhigt mich irgendwie, es gibt mir das Gefühl, ich tue wenigstens alles, was ich kann, um zu genügen.

Wenn ich am Abend nach Hause komme, bin ich in der Regel körperlich erschöpft. Zu irgendwelchen Freizeitaktivitäten oder irgendwie noch was mit meiner Frau zu unternehmen, dazu fehlt mir die Lust. Wir gehen dann höchstens noch mal in unserem Dorf ein bißchen spazieren, und dann versuche ich so schnell wie möglich ins Bett zu kommen, damit ich mich ausruhen kann und am nächsten Tag wieder fit bin. Fernsehen interessiert mich nicht, und ganz selten trinken wir in der Gaststätte mal ein Bier. Schon wenn ich an den nächsten Tag denke und daß ich dann womöglich nicht gut drauf bin, dann gehe ich lieber gleich nach Hause.

Meine Frau hat bis vor kurzem versucht, mit aller Vehemenz zu verhindern, daß ich mich selbst kaputtmache. Mittlerweile hat sie eingesehen, daß sie es nicht verhindern kann. Von daher ist es ihr mehr oder weniger auch egal, wenn ich samstags arbeite. Sie schüttelt nur noch den Kopf und sagt, mußt du selber wissen. Früher gab es da massiven Ärger, sie hat dann gesagt, das bringt dir nichts, laß es doch sein, es wäre viel sinnvoller, wenn du mal nichts tun würdest, dann kannst du am Montag wieder viel besser arbeiten. Aber das geht nicht in mich rein, obwohl – das ist das Schlimme –, vom Verstand her ist es klar, und trotzdem ist es irgendwie ein richtiger Zwang. Ich kann mir vorstellen, beim Alkoholiker ist es genauso. Ich muß irgendwas machen, sonst hab ich ein furchtbar schlechtes Gewissen. Augenblicklich bin ich krank geschrieben für zwei Tage, und ich konnte nur mit Mühe und Not zu Hause bleiben. Das ist für mich viel, viel schlimmer, als auf der Arbeitsstelle zu sein. Ich denke, so krank kann ich gar nicht sein, daß ich nicht arbeite. Man kann immer irgendwie arbeiten, und was da liegenbleibt, muß ich sowieso nachholen. Das sind dann so unheimliche Gedankengänge, die da ablaufen. Manchmal hab ich Alpträume, daß ich die Arbeit nicht mehr schaffe. Zum Glück kann ich als Beamter ja nicht entlassen werden, aber wenn die Krankheit – also die Arbeitssucht – zur Frühpensionierung führen würde, das wäre unerträglich. Ich weiß, irgendwann, wenn nicht eine Therapie greift oder wenn der Herrgott mir nicht hilft, bin ich am Ende. Und das macht mir wahnsinnig angst. Erstens in finanzieller Hinsicht, zweitens, was mach ich mit der ganzen Zeit, wenn ich zu Hause bin, und drittens, was sagen die anderen über mich? Bevor ich in die Klinik gegangen bin vor zwei Jahren, war ich einen Monat krank geschrieben. Ich wohne in einem ganz kleinen Ort, wir haben nur ein paar hundert Einwohner. Ich hab mich nicht getraut, auf die Straße zu gehen in der Zeit, als ich krank geschrieben war, weil ich ja nichts Körperliches hatte, wo man auf Anhieb sieht, der ist krank. Wenn ich zum Beispiel das Bein gebrochen hätte, dann hätte ich ja auch für mich persönlich eine Entschuldigung gehabt, und das ist für die Leute auch plausibel. Aber wenn ich psychisch krank bin, dann ist es für mich ein Makel, und ich denke mal, für die Leute ist es auch ein Makel. Es war für mich ganz, ganz schlimm, als ich auf der Dienststelle sagen mußte, daß ich in eine psychosomatische Klinik gehe. Seit 1977 leide ich unter diesen Versagensängsten, und ich konnte nie mit jemandem darüber reden, außer mit einem Therapeuten und mit meiner Frau. Auch meine Eltern wußten es nicht, es wußte keiner aus der Verwandtschaft, und es wußte keiner auf der Dienststelle, bis auf einen einzigen Kollegen, der homosexuell ist. Der konnte nichts sagen über mich, weil er nicht wollte, daß seine Homosexualität bekannt wurde. Im nachhinein hat sich da allerdings ein Vertrauensverhältnis entwickelt, und ich habe keine Befürchtungen mehr, daß der irgendwas über mich sagt. Denn dieses Versteckspiel, das kostet unheimlich viel Kraft. Obendrein war der Klinikaufenthalt auch ’ne sehr teure Geschichte. Ich bin privat krankenversichert, rund die Hälfte der Behandlungskosten übernimmt bei Beamten der Arbeitgeber. Da ich aber nicht wollte, daß das bei uns bekannt wird, hab ich meine Therapien aus eigener Tasche bezahlt. Obwohl es mir wie gesagt unheimlich schwerfiel zuzugeben, daß ich psychisch krank bin und in eine Klinik muß, war es auf der anderen Seite auch eine Entlastung. Die Erleichterung ist eingetreten, nachdem ich mit meiner Kollegin darüber geredet habe. Die sagte dann, das heißt, Sie gehen in eine Lala-Klinik? Und das hab ich gemeistert, ich hab gesagt, ja, wenn Sie das so sehen und so bezeichnen, dann ist das wohl so. Ich hab gedacht, schlimmer kann es nicht mehr werden. Die Sache war natürlich sofort rum im ganzen Amt, aber direkt negative Auswirkungen habe ich danach nicht gespürt. Was die Leute über mich denken und sagen, das erfahre ich natürlich mit Sicherheit als letzter, das ist immer so. Ich weiß von Kollegen, daß Mitarbeiter sagen, ich wäre verrückt und würde sie unheimlich unter Druck setzen und daß das mit mir nicht gut gehen wird auf Dauer. Damit kann ich heute leben, denn teilweise haben sie recht. Ich nerve sie ständig durch meine Kontrollen, durch Nachfragen: Ist dies schon erledigt? Ist das schon erledigt? Zum Beispiel kann ich sehr schwer etwas ungeprüft unterschreiben. In den letzten Jahren ist trotzdem keiner meiner acht Mitarbeiter aus der Dienststelle weggegangen. Es hat auch einen Vorteil, wenn man so einen Vorgesetzten hat wie mich. Früher hab ich alles an mich rangezogen, und wenn einer was nicht erledigen wollte, der brauchte nur zweimal zu mir zu kommen und sagen, hören Sie mal, ich weiß nicht genau, wie das geht, können Sie nicht mal gucken, da hab ich gesagt: Ja, lassen Sie’s hier, ich mach das schon. Das ist für einen Mitarbeiter, wenn er den Dreh raus hat, auch eine schöne Sache. Mittlerweile hab ich das erkannt und mach das nicht mehr. In vielen Dingen bin ich Mitarbeitern gegenüber verständnisvoller als mir selbst gegenüber. Wenn andere Fehler machen, das kann ich eher tolerieren, als wenn ich selbst einen Fehler mache. Ich würde keinen zusammenscheißen, nur weil er etwas falsch gemacht hat. Gut, begeistert bin ich nicht davon. Aber ich sage, ist passiert, kann man nichts mehr dran ändern, müssen wir sehen, wie wir das ausbügeln und daß es beim nächsten Mal nicht mehr passiert. Bei mir selber gehe ich ganz anders damit um, da sage ich: Mensch, das durfte nicht passieren, wie kann das sein? Siehste, so geht das los, das wird immer schlimmer mit dir, du bist wirklich ein Versager, einem anderen wäre das nicht passiert. Ich mache mich dann total runter. So mies, wie ich mit mir umgehe, gehe ich mit keinem Mitarbeiter um, das wäre auch nicht auszuhalten für die. Ich möchte selber auch nicht so behandelt werden von anderen. Ich sage es ihnen manchmal auch, daß ich es nicht persönlich meine, wenn ich sie angehe, und daß ich mit mir eher noch strenger bin, nur ich kann einfach nicht über meinen Schatten springen, noch nicht. Ich hoffe, daß ich es irgendwann kann.

Früher konnte ich zu Hause alles meiner Frau überlassen. Ich war heilfroh, wenn die sich gekümmert hat und ich nichts zu machen brauchte – bis auf Schriftkram, den ich halt erledigen mußte, Steuererklärung und so. Alle sonstigen Dinge hat meine Frau übernommen. Aber sie macht das jetzt nicht mehr, und ich bin schon ein bißchen sauer darüber. Denn ich muß mich jetzt auch zu Hause um vieles kümmern. Das führt dazu, daß ich mich noch mehr unter Druck setze. Ich möchte keine Abstriche machen an der beruflichen Tätigkeit, und auf der anderen Seite will ich auch die Aufträge meiner Frau ausführen, damit es da keinen Ärger gibt, also wird die Hetze noch größer. Meine Frau macht keinen Hehl daraus, daß das auf Dauer in unserer Beziehung so nicht funktionieren kann. Trotzdem würde es mich wahrscheinlich total umhauen, wenn meine Frau mich verließe, weil sie der einzige Mensch ist, der mich jemals richtig gern gehabt hat und der mich voll und ganz verstanden hat, auch in all meinen negativen Dingen. Aber meine Arbeitssucht ist im Prinzip nur der Ausfluß der Angst, nicht alles im Griff halten zu können.

Auch so ein Thema wie Urlaub ist für mich mit Angstgefühlen besetzt, so unglaublich das für einen Fremden klingen muß. Obwohl sich da schon einiges verändert hat. Während des Urlaubs kann ich heute gut abschalten und es auch angenehm finden, nicht zu arbeiten. Aber der Arbeitsbeginn nach dem Urlaub ist für mich mit unheimlichen Problemen verbunden, und dann ist meine Versagensangst besonders stark. Ich brauche dann mindestens immer eine Woche, bevor ich wieder im Geschirr laufe, wie ich das auszudrücken pflege. Und vor dieser Woche hab ich eine gottserbärmliche Angst. Von daher ist Urlaub nicht so unbedingt das erstrebenswerteste. Ich überlasse das zum großen Teil meiner Frau, und ich plane heute auch nicht mehr so sehr, was ich im Urlaub mache. Früher war das unvorstellbar. Da war praktisch jeder Tag verplant. Ich bin mal mit meiner Frau eine Woche in Venedig gewesen. Da hab ich anhand verschiedener Reiseführer vorher für jeden Tag Besichtigungsprogramme aufgestellt, und das hab ich ganz exzessiv gemacht. Abends dann im Bett hab ich noch meine Frau gefragt, wo sind wir gewesen, wiederhol mal, und die sagt, bist du eigentlich bekloppt? Wir sind doch im Urlaub, nee, und so lasse ich nicht mit mir umgehen. Ich hab auch schon mal einen Strandurlaub gemacht, das war ganz schrecklich. Also zwei Tage am Strand liegen, das kann ich noch. Aber längere Zeit nichts tun, das hat mich unheimlich in die Bredouille gebracht. Und deshalb hab ich das ganz schnell sein lassen und habe lieber wieder Bildungsreisen gemacht. Morgens in den Bus rein, Besichtigungen, abends raus und nachlesen im Reiseführer. Ich mußte mir sagen können, ja, du bildest dich weiter, man kann nie genug tun in dieser Richtung, und kulturell hast du sowieso nicht soviel drauf, da hast du zu Hause nichts mitgekriegt, und fremde Länder kennenlernen ist auch schön, und das hatte alles seinen Sinn. Mittlerweile, nachdem ich in der Klinik war, hab ich solche Urlaube nicht mehr gemacht, weil ich auch gemerkt habe, ich bin körperlich dazu nicht mehr in der Lage. Und mir gelingt es jetzt auch ganz gut, mal so zwei Wochen relativ wenig zu tun. Ich hab jetzt gerade einen Bergwanderurlaub hinter mir. Da war ich sehr zufrieden mit mir, weil da alles im Rahmen geblieben ist. Ich hab keine extremen Sachen unternommen. Mit meiner Frau gemeinsam drei, vier Stunden gewandert, aber nicht mit Power, nicht der Druck, ich muß das jetzt schaffen, und ich muß jetzt den Berg rauf und dann wieder runter und am nächsten Tag den nächsten und so weiter.

Ganz neu ist auch, daß ich Freunde habe. Das sind alles Leute, die mit mir zusammen in der Klinik waren. Mit denen kann ich über alles reden. Was in mir drin ist, auch über unangenehme Dinge, die mich sehr beschämt machen. Wo ich keine gute Figur abgebe. Vor dem Klinikaufenthalt wäre ich nie auf die Idee gekommen, mit solchen Leuten überhaupt Kontakt zu haben. Das sind ehemalige Alkoholiker. Also früher naß, heute trocken. Mit denen hätte ich früher nie was zu tun haben wollen, weil ich immer gedacht hab, ich wäre was Besseres. Ich bin keinen Deut besser.«

Der Suchtbegriff

»Ist nicht die Arbeit das Erbteil des Menschen? Und welche Arbeit ist in der Gegenwart freudig und nicht schmerzlich? Arbeit und Mühe ist die Unterbrechung jener Ruhe und Bequemlichkeit, welche der Mensch törichterweise als sein Glück betrachtet, und dennoch wäre ohne Arbeit keine Bequemlichkeit, keine Ruhe auch nur denkbar.«

Thomas Carlyle

Der Begriff der Sucht ist umgangssprachlich inflationiert. Besonders in den Medien, die eine kräftige Sprache lieben, wird er schnell und gern verwendet, um eine extreme Verhaltensweise zu beschreiben. Aber nicht jede extreme Verhaltensweise ist eine Sucht, selbst wenn sie über einen längeren Zeitraum bei einem Menschen zu beobachten ist. Einen süchtigen Menschen erkennt man nicht daran, was er tut, sondern daran, was er nicht lassen kann. Das gilt für stoffgebundene Süchte – zum Beispiel Alkohol-, Drogen-, Nikotin- und Eßsucht – wie für stoffungebundene Süchte – Spiel- und Arbeitssucht.

Das entscheidende Kriterium für Suchtverhalten ist immer die physische und psychische Abhängigkeit. Ein Mensch, der allein durch einen Willensakt sein Verhalten ändern, von der extremen Verhaltensweise ablassen kann, ist nicht süchtig.

Das Problem besteht darin, daß ein Beobachter genau diesen Grenzpunkt, wo eine Umkehr noch möglich ist, nicht mit Sicherheit feststellen kann. Selbst für den Betroffenen ist das kaum möglich. Zumal es geradezu charakteristisch für jeden Süchtigen ist, daß er lange Zeit der festen Überzeugung ist, sein Verhalten sofort umstellen zu können, wenn er nur will. Genauso charakteristisch ist es, daß der Süchtige sein Verhalten nicht verändern will. Nur um es einem anderen zu beweisen? Davon ist er nun wirklich nicht abhängig.

Alkoholsucht, Drogensucht, Nikotinsucht – dies sind die klassischen, lange bekannten Süchte. Spielsucht, Eßsucht und in ersten Ansätzen Arbeitssucht sind ebenfalls in der Suchtforschung untersucht worden. Da tatsächlich fast jede Verhaltensweise süchtig entgleisen kann, scheint die Zahl der Süchte ohne Ende: Fernsehsucht, Beziehungssucht, Sexsucht, Kaufsucht, Ruhmsucht, Prunksucht... Der Phantasie beim Erfinden und Auffinden neuer Süchte ist keine Grenze gesetzt. Doch die umgangssprachliche Verwendung führt zwangsläufig zu einer Aufweichung des Begriffs. Bei allen Süchten – mit Ausnahme der Drogensucht, eventuell noch der Alkoholsucht – wird diese erst im weit fortgeschrittenen Stadium ernst genommen. Beim Alkohol beispielsweise ist die Grenze zwischen Genuß und Gewöhnung kaum eindeutig zu ziehen. Und schließt denn die Gewöhnung den Genuß aus? Ist nicht die Gewöhnung bereits der Mißbrauch? Sind diese Begriffe bei Genußmitteln nicht eine sehr freundliche Umschreibung der frühen Suchtphase? Gerade der Begriff des Mißbrauchs ist so lange völlig vage, als nicht die Maßstäbe und Kriterien eindeutig sind. Diese sind aber in starkem Maße geprägt von gesellschaftlichen, religiösen, medizinischen, moralischen und nicht zuletzt juristischen Auffassungen, die keinen unmittelbaren Bezug aufeinander nehmen oder sich sogar widersprechen. Den Verdrängungsmechanismen wird mit dem Anspruch wissenschaftlicher Definitionen eher ein roter Teppich ausgerollt. Aus diesem Grunde ist der Streit, ob ein Mensch denn nun schon arbeitssüchtig ist oder nicht, relativ bedeutungslos. Damit mag sich die Wissenschaft befassen. Für den Menschen ist nicht das Prädikat, das ihm verliehen wird, entscheidend, sondern ein auffälliges Verhalten, das vielleicht seine Mitarbeiter, Freunde oder Familienangehörigen belastet. Sei es in Form von Vernachlässigung oder Überforderung. Dann sollten die Betroffenen bereits ein Signal geben. Umkehr fällt am leichtesten, wenn man den Weg in die gefährliche Richtung noch nicht gar zu weit gegangen ist. Hat sich ein Mensch aber daran gewöhnt, mit diesem Risiko zu leben, oder schlimmer noch, hat er es noch gar nicht bemerkt, dann wird eine Umkehr nur mit fremder Hilfe möglich sein.

Ungelebtes Leben

In Bad Zwesten, einem kleinen Ort in Nordhessen, liegt inmitten einer hügeligen Landschaft mit Feldern und kleinen Waldflecken die Hardtwaldklinik II. Sie ist eine der wenigen Kurkliniken, in der Patienten heute mit der Diagnose Arbeitssucht konfrontiert werden.

Mitte der 70er Jahre war es der damalige ärztliche Direktor, Dr. Gerhardt Mentzel, der als erster in Deutschland von Arbeitssucht sprach. In einem Rundfunkinterview äußerte er: »Ich hatte davon (der Arbeitssucht, R. S.) vorher nie gehört. Ich hatte einen Pfarrer als Patienten, und während der mir seine Vorgeschichte erzählt, lese ich den Fragebogen eines Alkoholikers, der vor ihm bei mir gewesen ist. Und auf einmal vergleiche ich, was der Pastor mir erzählt, mit den Fragen für Alkoholiker. Mir fiel auf, immer, wenn man statt Alkohol Arbeit sagen würde, dann erzählte der Pastor die Geschichte einer Sucht.«1 Bis zu diesem Zeitpunkt gab es lediglich in den USA erste Veröffentlichungen zu dem Thema. In den folgenden Jahren beschäftigte sich Dr. Mentzel systematisch mit der Beobachtung von Patienten unter dem Aspekt der Arbeitssucht. Heute ist Peter Berger, Diplom-Psychologe und Stationsleiter in der Hardtwaldklinik II, der Therapeut, der sich in Diagnose und Therapie auf Mentzels Untersuchungen stützt. In der Regel kommen keine Patienten mit der Diagnose Arbeitssucht in die Klinik. Vielmehr sind es Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schlaflosigkeit, vielleicht sogar Arbeitsstörungen oder depressive Verstimmungen, unter denen die Patienten leiden. Etwa hundertmal im Jahr stellt der Psychologe die Diagnose Arbeitssucht. Diese Zahl ist – wie so viele Aspekte bei diesem Phänomen – mit großer Vorsicht zu behandeln. Andere Kollegen würden die Symptome der Patienten möglicherweise anders beurteilen.

Ich treffe eine Patientin aus der Hardtwaldklinik. Als ich komme, drückt sie hastig die soeben angerauchte Zigarette in den Aschenbecher. Barbara (59) ist eine vitale Frau, sportlich gekleidet, ihre Bewegungen sind kurz und fahrig. Ein wenig aufgeregt sei sie schon, gesteht sie. Doch sie beginnt ohne Scheu zu erzählen. Mitunter verliert sie den Faden, fragt unsicher, ob mich das überhaupt interessiere. Dann sprudelt ihre Geschichte weiter aus ihr heraus.

»Herr Berger, der ist für mich ’ne Autorität, weil er mein Therapeut ist. In der Gruppe fand es eine Patientin toll, daß ich mit 41 noch mal richtig angefangen hab. Da hab ich mir ein Auto gekauft. Während Herr Berger sagte: Was ist da toll dran, wenn eine Frau mit 41, die im Berufsleben steht, sich ein Auto kauft? Da hat er ja recht.

Das ist natürlich toll, daß da jemand so von außen draufguckt. Bei Herrn Berger komme ich auch immer ganz euphorisch aus der therapeutischen Sitzung raus. Na ja, das letztemal nicht, da hab ich mich unheimlich geärgert über mich. Ganz am Schluß der Stunde bin ich wieder in die Rolle der 15jährigen Tochter geschlüpft, hab ihn als Vater und Autorität genommen, da hatte ich ’nen totalen Rückfall.