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Philipp Tholey

Myceleon

Erster Teil - Wie alles begann - (Science Fiction)





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

Das Lebewesen existierte seit Äonen. Im Lauf der Zeit hatte es auf seinem Planeten gigantische Naturkatastrophen und gewaltige Umwälzungen des Klimas gegeben. Doch keines dieser Ereignisse hatte jemals vermocht, es in seiner nahezu grenzenlosen Vitalität zu beeinträchtigen. Jedwede Verletzung seines Körpers, war sie auch noch so schwerwiegend, konnte durch das Wesen selbst geheilt werden.

Im Gegenteil war es nach jeder größeren Verletzung stärker geworden, denn es hatte Zeit … unendlich viel Zeit. Es gab keine Feinde, die ihm gefährlich werden konnten. Nichts auf diesem Planeten, keine Pflanze und auch kein Tier, war dazu imstande, seine Existenz zu gefährden.

Aus diesem Grund dämmerte es über einen Zeitraum von Hunderttausenden Planetenumläufen wie in einem Tagtraum dahin, denn es kannte keine andere Aufgabe, als einfach nur zu leben.

Legte man rein menschliche Maßstäbe an, so dachte und reagierte das Wesen während dieser Zeit ungeheuer langsam. Doch im Lauf der Zeit entwickelte es die Fähigkeit, Beeinträchtigungen seines Wohlbefindens – die stets von Beschädigungen seines Körpers verursacht worden waren – sehr schnell zu lokalisieren und zu bewerten.

Zunächst allerdings beschränkte es sich jedes Mal darauf, zerstörte Bereiche seines Körpers von der Wasser- und Nährstoffzufuhr abzuschneiden. So vermied es instinktiv den Verlust wertvoller Ressourcen, die es für die nachfolgende Regeneration dringend benötigte.

Später lenkte es Körpersäfte dorthin, wo sie dazu beitrugen, den verletzten Körperabschnitt, stärker als er vorher gewesen war, wieder herzustellen. Im Lauf der Zeit begannen die Zellen seines riesigen Körpers, komplexe Strukturen zu bilden. Netzknoten begannen sich zu entwickeln, die ein kompliziertes Nervensystem steuerten.

Allmählich entwickelte sich in dem Wesen auch ein Bewusstsein. Und das begann trotz seiner anfänglichen Einfachheit zu verstehen, dass es zwei Arten von Wahrnehmungen gab: Die eine Art war von angenehmen Gefühlen begleitet. Sie betraf das, was das Wesen in seinem Inneren empfand. Es war eine Art von Zufriedenheit, die stets den Zustand der Unversehrtheit begleitete.

Doch es gab auch noch die andere Art von Gefühlen: Diese Gefühle wurden von etwas verursacht, das seinen Ursprung nicht im Körper des Wesens hatte. Es waren Impulse aus verschiedenen Regionen des Körpers, die es sehr oft als unangenehm empfand. Sie übermittelten die Information von Verletzungen, des Fehlens bestimmter, meist sehr kleiner Körperabschnitte.

Wenn das Wesen Körpersäfte und Nährstoffe dorthin leitete, wo die unangenehmen Gefühle ihren Ursprung hatten, kehrte irgendwann das Gefühl der Zufriedenheit und damit  der Unversehrtheit zurück – bis zur nächsten größeren Verletzung seines Körpers.

Unendlich lange Zeit nahm es das Wesen als gegeben hin, sich immer wieder unvollkommen zu fühlen. Stets wartete es geduldig darauf, bis sein Körper das wiederhergestellt hatte, was zerstört worden war. Doch irgendwann in seinem langen Leben begann es sich zu fragen, wodurch dieses Gefühl der Unvollkommenheit verursacht wurde.

Zwar bereitete es ihm zumeist keine all zu große Mühe, die ausgefallenen Bereiche zu regenerieren, doch es empfand jedes Mal so etwas wie Ärger, wenn Teile seines Körpers wiederherzustellen waren. Zehntausende von Planetenumläufen beschäftigte es sich mit diesem Problem. Dabei kam es irgendwann zu dem Schluss, dass es neben seinem eigenen Körper noch etwas Anderes geben musste. Und dieses Andere musste sich irgendwo ausserhalb seines Körpers befinden.

Diese vollkommen neue Erkenntnis, der es sich fortan nicht mehr verschließen konnte, war mehr als befremdlich für das Wesen. Es hatte sich nämlich lange Zeit vorgestellt, das „Außerhalb“ müsste doch irgendwo innerhalb seines Körpers liegen, sodass es nur lange genug suchen musste, um es schließlich zu finden.

Und genau dieses „Außerhalb“, oder zumindest ein Teil davon, so schloss das Wesen nach intensiven Überlegungen, die nochmals Tausende von Planetenumläufen dauerten, war dafür verantwortlich, dass sein Wohlbefinden zeitweilig immer wieder gestört wurde.

Die größte Schwierigkeit bei der Analyse seiner Situation bestand darin, dass es zunächst einfach nicht imstande war, sich vorzustellen, dass es außerhalb des eigenen Körpers noch etwas geben sollte. Seine Welt war sein eigener Körper, der mittlerweile so gewaltig geworden war, dass er tatsächlich eine Welt für sich darstellte. In dieser Lebensphase hatte das Wesen nämlich noch keinerlei Sinne entwickelt, die ihm Informationen über die Umgebung, in der es lebte, hätten übermitteln können.

Enthielt das Milieu, in welchem es lebte, ausreichend Feuchtigkeit und Nahrung, so waren seine Empfindungen von angenehmer Art, sofern sein Körper unbeschädigt blieb. Aber es hatte keinerlei Möglichkeit zu erkennen, dass die Ursache für die angenehmen Gefühle außerhalb seines eigenen Körpers zu finden war.

Wurde es dagegen verletzt oder fehlten irgendwo in seinem Körper Wasser und Nährstoffe, empfand es diese Situation als äußerst unangenehm, war jedoch nicht in der Lage, diesem Zustand eine äußere Ursache zuzuordnen. Lange Zeit war es nicht fähig, die verschiedenartigen unangenehmen Empfindungen definitiv voneinander zu unterscheiden.

Nur allmählich, im Verlauf ungezählter weiterer Planetenumläufe, entwickelte es das Gefühl für Feuchtigkeit, also Wasser, welches sein Lebenselixier war. Auch die Gefühle für Wärme, Kälte und Verletzungen oder Zerstörungen seines Körpers lernte es im Lauf der Zeit kennen.

Und eines Tages begehrte es zu wissen, weshalb immer wieder eng abgegrenzte, in selteneren Fällen auch weitläufige Bereiche seines Körpers zunächst unangenehme Gefühle übermittelten, um danach oftmals vollständig auszufallen. Es stellte die für seine weitere Existenz entscheidende Frage, die, in menschliches Vokabular übersetzt, am treffendsten mit der Frage „warum?“ umschrieben wäre. 

 

Schrill heulend raste die riesige Landefähre durch die dunstige Atmosphäre des Planeten, der seine gelbe Sonne wie ein türkisfarbener Edelstein umkreiste. In dieser Farbe erschien er wegen der Farbe seiner Vegetation. Auf seiner Oberfläche gab es keine Ozeane. Größere Mengen freies Wasser enthielten lediglich die schmalen Meeresarme, die Flüsse und die riesigen Seen, die über die Landfläche des gigantischen Kontinents verteilt waren, der nahezu den gesamten Planeten umspannte.

Noch nie zuvor hatten die auf dem Kontinent lebenden Tiere das Geräusch einer landenden Raumfähre gehört. Manche erschraken und stoben in wilder Flucht davon. Andere wieder hoben nur kurz den Kopf, um zu lauschen. Ungerührt fuhren sie danach fort, das allgegenwärtige, türkisfarbene Gras oder die saftigen blauen Blätter der Stengelpflanzen auf der Hochebene abzuweiden.

Die automatische Steuerung brachte das Landefahrzeug punktgenau an sein Ziel. Ein ausgedehntes Hochplateau im Zentrum des Kontinents sollte den Brückenkopf der ersten menschlichen Besiedlung beherbergen. Joe Forrester, der Leiter der Mission, starrte gebannt auf den Monitor. Die weißen Flecken inmitten allgegenwärtigen Türkis erwiesen sich bei näherer Betrachtung als einheimische Tiere, die sich an der üppigen Vegetation gütlich taten. Unruhig begann Joe mit den Füßen zu scharren, denn er konnte es kaum erwarten, endlich den Fuß auf den Planeten zu setzen.

 

Eineinhalb Jahrzehnte lang hatte man den Planeten, nach seiner Entdeckung im Jahr 3970 irdischer Zeitrechnung, genau beobachtet. Klima und Wetter, Boden, Fauna und Flora, Geologie, Hydrologie und auch die Gesetzmäßigkeiten der Ökologie hatte man intensiv studiert. Zunächst hatten Sonden im Orbit den Planeten bis ins Kleinste untersucht und vermessen. Genaueste Kartenunterlagen waren angefertigt worden. Später waren allenthalben unbemannte Robotsonden gelandet und hatten die vorab gewonnenen Ergebnisse vertieft und ergänzt.

Erst als weitere zehn Jahre vergangen waren und als zweifelsfrei feststand, dass der Planet keine Organismen beherbergte, die Menschen und Haustieren schaden konnten, waren die ersten dauerhaften Forschungsstationen auf der Planetenoberfläche errichtet worden. Der erste Versuchsanbau irdischer, genetisch an den Planeten angepasster Nutzpflanzen war äußerst erfolgreich verlaufen. Kein Schädling, keine Pflanzenkrankheit war aufgetreten. Im Gegenteil hatten die getesteten Pflanzen im fruchtbaren Boden des Planeten schwindelerregend hohe Erträge gebracht. 

Stolz hatte die NWF, die so genannte New World Foundation, schließlich berichten können, dass der neue Planet nunmehr wesentlich besser erforscht war als die Erde im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert. Erst jetzt, nach umfangreichen Konsultationen mit der Raumbehörde, hatte das Präsidium der NWF das riskante Projekt genehmigt, die erste menschliche Kolonie auf der Planetenoberfläche zu errichten.

In der Anfangsphase sollten es nicht mehr als dreitausend Siedler sein, welche, anfänglich noch weitgehend abhängig vom Nachschub von außerhalb, die Voraussetzungen für die zukünftige autarke Versorgung der Kolonie schaffen sollten.

Im Lauf der kommenden Jahre sollten, so war es geplant, Zug um Zug weitere fünftausend Kolonisten folgen. Sie würden über die geeignete Ausrüstung und Qualifikation verfügen, um den Planeten weiter zu erschließen und für die Ankunft größerer Zahlen von Siedlern vorzubereiten.

Nach frühestens dreißig Jahren, falls die Kolonie bis dahin frei von bisher unbekannten Krankheiten, einheimischen Parasiten oder sonstigen Beeinträchtigungen geblieben war, würden die ersten Kinder auf dem Planeten geboren werden. Zwar würde den allerersten Siedlern diese Freude noch verwehrt bleiben, doch hegten weder Frauen noch Männer der Vorausmannschaft deswegen den geringsten Groll. War es doch ein in seiner Tragweite nicht einmal abzuschätzendes Privileg, zu den Auserwählten zu gehören, denen es vergönnt war, der mit fünfzehn Milliarden Menschen hoffnungslos übervölkerten Erde für immer den Rücken zu kehren.

Dabei waren es keinesfalls schlechte Lebensbedingungen, welche die Pioniere zur Auswanderung trieben. Hunger, Kriege, Seuchen, all dies gehörte der Vergangenheit an. Jeder Mensch konnte, wenn er es wollte, einen festen Platz in einer stabilen Gesellschaft bekommen. Doch hatte er diesen Platz erst einmal eingenommen, war es ihm so gut wie unmöglich, aus diesem System auszubrechen, um einen Richtungswechsel in der Lebensplanung zu vollziehen. Zu viel hatte die Gesellschaft in die Erziehung und Ausbildung der Individuen investiert, als dass sie es sich erlauben konnte, das geschaffene Potential zu verschwenden.

Ein Wechsel des Berufs etwa oder gar die Übersiedlung in ein anderes Land ohne dringende Notwendigkeit war schlichtweg unmöglich. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen akzeptierte diese Einschränkung der persönlichen Freiheit, bot diese doch im Gegenzug Arbeit, materielle Sicherheit, Gesundheits- und Altersversorgung und einen gesicherten Platz in der menschlichen Gesellschaft.

Doch immer wieder wurden Menschen geboren, die mit dieser stabilen, doch in sich selbst stagnierenden Gesellschaftsform nichts anzufangen wussten. Diese Menschen wollten permanent Neues entdecken und Neues schaffen. Allein um des Entdeckens willen waren sie dazu bereit, große persönliche Risiken einzugehen, ja dafür sogar ihr eigenes Leben einzusetzen.

So geartete Menschen waren jahrhundertelang als renitente, asoziale Störenfriede betrachtet worden. Man hatte sie häufig interniert und in unwirtlichen Regionen der Erde zur Zwangsarbeit eingeteilt. Vermutlich wäre das auf Dauer so geblieben, hätte nicht eines Tages ein junger Psychologe eine der Bergbaukolonien in der Antarktis besucht.

Tony Manson, so war sein Name, hatte länger als drei Jahre lang warten müssen, bis er die Genehmigung erhalten hatte, die Station aufzusuchen. „Sie müssen verstehen, Mr. Manson, dass unsere Mittel knapp sind. Es gibt Wissenschaftler, die seit Jahrzehnten auf eine solche Chance warten. Auch wenn Sie Absolvent der legendären Harvard-Universität sind, kann ich Ihnen beim besten Willen keinen Vorrang gewähren.“ Das hatte ihm Albert Miller, Präsident der internationalen Koordinationsstelle für überregionale Forschungsprojekte, seinerzeit bedauernd mitgeteilt. Doch Manson hatte nicht nachgelassen, Regierungsstellen, Universitäten und anderen wissenschaftlichen Instituten sein Forschungsvorhaben darzulegen.

Während seiner hartnäckigen Suche nach Fördermöglichkeiten war er schließlich auf die New World Foundation gestoßen. Als er dort sein Projekt vorgelegt und einem Kreis von hochrangigen Wissenschaftlern erläutert hatte, waren ihm urplötzlich sämtliche Türen offen gestanden.

Unbegrenzte finanzielle Mittel, jegliche nur denkbare logistische und personelle Unterstützung hatte man Tony Manson seinerzeit zur Verfügung gestellt. Bereits einen Monat später hatte Manson ein geräumiges Büro in der Bergbaukolonie Topas im Herzen des antarktischen Kontinents beziehen können. Seitdem waren beinahe fünfhundert Jahre vergangen.

Doch die Manson-Theorie, die der junge Wissenschaftler später auf der Basis seines ersten eigenen Forschungsprojekts entwickelt hatte, war lebendig wie eh und je. Sie war seither die Grundlage, ja die unabdingbare Voraussetzung geworden für die Erforschung der Galaxis durch Menschen mit Pioniergeist.

Menschen mit dieser Eigenschaft verkümmerten entweder in der stagnierenden Gesellschaftsordung der Erde, oder sie wurden zu oftmals asozialen Störenfrieden oder gar Kriminellen. Auf den Kolonieplaneten aber blühten sie förmlich auf und wurden zu äußerst wertvollen Mitgleideren der menschlichen Gesellschaft.

Manson hatte ein Auswahlverfahren entwickelt, um Menschen mit dem "Kolonisten-Gen", wie er es selbst scherzhaft genannt hatte, in der Masse der Menschen aufzuspüren. Und zu aller Überraschung wurde man am allerhäufigsten in der Gruppe der vorstehend genannten Außenseiter der Gesellschaft fündig.

So schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Erde wurde einen großen Teil ihrer Störenfriede los. Auf der anderen Seite erhielten die jungen Kolonien Menschen, die sich von Problemen nicht leicht aus der Spur werfen ließen und unbeirrbar, uneigennützig und mit großem Engagement ihre Ziele verfolgten.

 

Das Dröhnen der Triebwerke der Landefähre wurde leiser. „Aufsetzen auf Zielkoordinaten in einer Minute, dreißig Sekunden“, quäkte die Stimme des Bordcomputers.