Arthur Conan Doyle


Napoleon Bonaparte

Aufzeichnungen eines französischen Edelmannes




historischer Roman

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-191-6


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Inhalt




Kapitel 1 - Die französische Küste

Kapitel 2 - Das Moorland

Kapitel 3 - Das verfallene Haus

Kapitel 4 - Die Männer der Finsternis

Kapitel 5 - Abgefaßt

Kapitel 6 - Der geheime Gang

Kapitel 7 - Der Besitzer von Grobois

Kapitel 8 - Sibylle

Kapitel 9 - Das Lager bei Boulogne

Kapitel 10 - Vor der Audienz

Kapitel 11 - Napoleons Privatsekretär

Kapitel 12 - Napoleon an der Arbeit

Kapitel 13 - Napoleons Zukunftsträume

Kapitel 14 - Josephine

Kapitel 15 - Empfang bei der Kaiserin

Kapitel 16 - Die Bibliothek auf Grobois

Kapitel 17 - Wie mein Abenteuer endete

 

 

 

Kapitel 17 - Wie mein Abenteuer endete



General Savary ritt geradeswegs nach Tour de Briques, um dem Kaiser Bericht zu erstatten, während Gerard mich nach Boulogne begleitete, um eine Flasche Wein mit mir zu trinken. Ich hatte erwartet, meine Cousine Sibylle hier zu treffen. Sie war aber nicht da, und was mich noch mehr wunderte, sie hatte auch keine Nachricht darüber zurückgelassen, wo sie zu treffen sei.

Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch weckte mich ein Abgesandter Napoleons aus dem Schlafe.

"Der Kaiser wünscht Sie zu sehen, Monsieur de Laval."

"Wohin soll ich kommen?"

"Nach Tour de Briques."

Ich wußte, dass Napoleon in erster Linie rasche Erfüllung seiner Befehle von seinen Untergebenen verlangte. In zehn Minuten saß ich daher im Sattel, um nach einer weiteren halben Stunde im Schlosse einzutreffen. Man führte mich die Treppe hinauf in ein Zimmer, wo sich der Kaiser und seine Gattin befanden. Josephine, in einem reizenden, blaßroten, mit Spitzen besetzten Negligé, lag auf der Chaiselongue; Napoleon aber ging in gewohnter Weise mit festen Schritten im Zimmer auf und ab. Er hatte das sonderbare Kostüm an, das er in den Morgenstunden zu tragen liebte, ehe seine offizielle Tätigkeit begann, weißen Schlafrock, rote türkische Pantoffeln und ein weißes, um den Kopf gewundenes Seidentuch. Das Ganze verlieh ihm das Aussehen eines Westindischen Pflanzers. Der starke Geruch von Eau de Cologne verriet, dass er eben aus dem Bade kam. Er war in bester Laune, und Josephines Miene spiegelte wie gewöhnlich seine Stimmung wider. Beide empfingen mich mit freundlichem Lächeln.

"Sie haben sich bei mir ausgezeichnet eingeführt," sagte der Kaiser. "Savary hat mir alles erzählt, was sich zugetragen hat, und ich wüßte wirklich nicht, wie man geschickter hätte vorgehen können. Ich selbst habe ja wenig Zeit, an derlei Dinge zu denken; meine Frau aber wird ruhiger schlafen, da sie Toussac tot weiß."

"Ja, wirklich," rief die Kaiserin aus, "Er war ein schrecklicher Mensch. Er nicht minder als Cadoudal."

"Mich leitet mein Stern, Josephine," sagte Napoleon, ihr den Kopf streichelnd. "Die Bahn ist mir vorgezeichnet, wie ein offenes Buch liegt die Zukunft vor mir. Nichts kann mir widerfahren, ehe ich mein Werk vollendet habe. Ich glaube an Bestimmung, meine Teure."

"Warum schmiedest du dann Pläne, Napoleon, wenn ohnehin alles vorausbestimmt sein soll?"

"Weil auch das Bestimmung ist, dass ich Pläne schmieden muß, du kleiner Dummkopf. Ist es denn nicht auch Bestimmung, dass mein Hirn fähig ist, so große Gedanken zu fassen? Wie hinter einer Wand richte ich das Gebäude meiner Zukunftspläne auf, und niemand sieht, was ich baue, ehe ich meine Arbeit vollendet habe. Ich denke nie weiter als zwei Jahre voraus, Monsieur de Laval; den ganzen heutigen Morgen habe ich dazu verwendet, um über meine Pläne für den Herbst und Winter des Jahres 1807 schlüssig zu werden. Was ich übrigens sagen wollte: Ihre Cousine hat sich sehr geschickt erwiesen. Es wäre schade, wenn sich das prächtige Mädchen an diese feige Kreatur von einem Lucien Lesage wegwerfen würde, der seit einer Woche um Gnade winselt. Meinen Sie nicht auch, dass es schade wäre?"

Das mußte ich zugeben.

"So geht es immer mit solchen verträumten, ideal angelegten Frauen; ihre Grillen und Einbildungen führen sie irre. Sie kommen mir vor wie die Orientalen, die nicht glauben wollten, dass ich ein größerer Feldherr sei als Kléber, weil ihnen meine äußere Erscheinung weniger imponierte als der Friseurkopf und die Hausknechtfigur meines Generals. Genau so machen die Weiber aus diesem Lucien Lesage einen Helden, nur weil er ein feingeschnittenes Gesicht und große Kalbsaugen hat. Sein Äußeres hat Sibylle bestochen, und den Rest dichtet sie hinzu. Glauben Sie übrigens, dass sie von Lesage ablassen würde, wenn sie seinen Charakter im wahren Lichte sähe?"

"Davon bin ich überzeugt, Sire. Nach dem wenigen, was ich von meiner Cousine weiß, verachtet niemand Feigheit mehr als sie."

"Sie sprechen in warmem Ton von ihr, Monsieur de Laval. Hat sie es vielleicht auch Ihnen ein wenig angetan, diese hübsche Cousine?"

"Sire, ich sagte bereits ..."

"Ach was, die ist drüben über dem Wasser; und die Dinge haben sich geändert ..."

Konstant trat ins Zimmer. "Er ist hier, Sire."

"Gut, wir wollen ins Nebenzimmer gehen. Kommen Sie mit, Josephine, die Angelegenheit geht mehr Sie an als mich,"

Wir traten in ein langes, schmales Zimmer. Es hatte seitlich zwei große Fenster; doch waren die Vorhänge an denselben so stark zusammengezogen, dass ein geheimnisvolles Halbdunkel im Raume herrschte. An der zweiten uns gegenüberliegenden Tür hielt Roustem, der Mameluck, Wache, und neben ihm stand mit gekreuzten Armen und gesenktem Haupt Lucien Lesage, das Bild der Demut und Zerknirschung. Als wir eintraten, zuckte er zusammen. Der Kaiser ging einige Schritte auf ihn zu; dann blieb er mit gespreizten Beinen und über dem Rücken verschränkten Armen vor ihm stehen und sah ihn forschend an.

"Nun, Sie sauberer Junge," sagte er endlich, "Sie haben sich ordentlich die Finger verbrannt; nun werden Sie es wohl aufgeben, mit dem Feuer zu spielen. Oder wollen Sie Ihrem Beruf als Politiker auch fernerhin treu bleiben?"

"Wenn Eure Majestät mir nur das eine Mal vergeben wollten," stammelte Lesage, "so verspreche ich feierlich, bis zu meinem Tode Eurer Majestät ergebenster Diener zu bleiben."

Napoleon nahm eine Prise, wobei er, wie gewöhnlich, seinen weißen Schlafrock mit Tabak überschüttete, "Nun," sagte er, "ich wäre nicht abgeneigt, Ihren Worten Glauben zu schenken. Die treuesten Diener sind es, welche die Furcht an den Herrn fesselt. Ich verlange jedoch blinden Gehorsam in allen Dingen."

"Jede Arbeit will ich verrichten, die Majestät von mir fordern. Alles will ich tun, alles ... wenn Sie mir nur vergeben."

"Nun, gleich ein Beispiel," sagte bei Kaiser. "Es ist eine meiner Grillen, dass ich jeden jungen Mann, der in meine Dienste tritt, ganz nach meinem Gutdünken verheirate, wann und an wen ich will. Sind Sie damit einverstanden?"

Die nervösen Handbewegungen und Gesichtszuckungen Luciens ließen erkennen, dass er innerlich mit sich kämpfte.

"Darf ich fragen, Sire . . ."

"Sie haben gar nichts zu fragen."

"Es gibt doch Fälle, Sire . . ."

"Nun habe ich es bald satt," schrie der Kaiser scharf und drehte sich auf dem Absatz um. "Ich streite nicht; ich befehle. Ich suche für Mademoiselle de Bergerot einen Gatten. Wollen Sie sie heiraten, oder wollen Sie zurück ins Gefängnis?"

Wieder kam der innere Kampf des geängstigten Jünglings in seinen Mienen zum Ausdruck. Verlegen drehte und wand er sich; aber er schwieg.

"Nun genug," schrie der Kaiser. "Roustem, rufe die Wache!"

"Um Gottes willen, Sire, senden Sie mich nicht ins Gefängnis zurück!"

"Die Wache, Roustem."

"Ich will ja alles tun, ich will ja auch die heiraten, die Eure Majestät mir bestimmen."

"Elender," schrie eine Stimme.

Die Vorhänge des einen Fensters wurden auseinandergerissen, und zwischen ihnen erschien wie in einem Rahmen Sibylles hohe, schlanke Gestalt. In ihrer leidenschaftlichen Erregung neigte sie den Oberkörper weit vor; ihr Antlitz war blaß, und die Augen sprühten vor Zorn. Den Kaiser, die Kaiserin, alles hatte sie vergessen über dem Aufruhr ihrer Gefühle, über den Ekel und Widerwillen gegen den elenden Feigling, den sie so heiß geliebt.

"Man hat mir gesagt, welch erbärmliche Kreatur Sie sind," schrie sie, "und ich glaubte es nicht; ich konnte es nicht glauben, weil ich es nicht für möglich hielt, dass es ein so verächtliches Wesen auf dieser Erde gebe. Man versprach mir, Beweise zu liefern, und ich glaubte noch immer nicht. Jetzt erst weiß ich, was ich von Ihnen zu halten habe. Gott sei Dank, dass ich es noch zu rechter Zeit erfuhr! Und für Sie habe ich einen Mann dem Tode überliefert, der tausendmal mehr wert war als Sie! Nun habe ich die verdiente Strafe für meine unweibliche Tat! Toussac hat sich gerächt."

"Genug," unterbrach sie der Kaiser streng. "Konstant, führe das Fräulein ins Nebenzimmer. Und was Sie anbelangt, Herr, so kann ich es keiner Dame an meinem Hofe zumuten, die Gattin eines solchen Menschen zu werden. Es genügt, dass Mademoiselle Bernac Ihren wahren Charakter erkannt hat und von ihrer unglückseligen Leidenschaft geheilt ist. Roustem, führe den Gefangenen ab."

"Das wäre abgetan," sagte der Kaiser, nachdem der unglückliche Lesage das Zimmer verlassen hatte. "Es war Ihre Idee, Josephine; ich mache Ihnen mein Kompliment. Und jetzt zu Ihnen, Monsieur de Laval. Ich schulde Ihnen eine Belohnung dafür, dass Sie durch Ihre Rückkehr nach Frankreich den anderen jungen Edelleuten ein gutes Beispiel gegeben haben, und weiterhin für Ihre Beteiligung an der Ergreifung Toussacs. Sie haben sich brav gehalten."

Ein banges Gefühl beschlich mich, denn ich ahnte, was nun kommen würde.

"Ich verlange keinen Lohn, Sire," sagte ich.

"Sie sind zu bescheiden. Mein Entschluß bezüglich der Belohnung, die Sie erhalten sollen, ist übrigens bereits gefaßt. Ich will Ihnen eine Jahresrente ausweisen, die es Ihnen ermöglicht, als mein Adjutant standesgemäß aufzutreten; und außerdem sollen Sie der Gatte einer Hofdame der Kaiserin werden."

Es gab mir einen Stich ins Herz.

"Ich kann nicht, Sire," stammelte ich. "Ich kann wirklich nicht."

"Da gibt es keine Überlegung. Die Dame ist aus vornehmer Familie und ist überdies ein reizendes Mädchen. Mit einem Wort, die Sache ist geordnet; nächsten Donnerstag findet die Trauung statt."

"Es ist unmöglich, ganz unmöglich, Sire," wiederholte ich.

"Unmöglich! Bei mir gibt es dieses Wort nicht; die Sache ist abgemacht und damit fertig."

"Meine Liebe gehört einer anderen, Sire. Ich kann nicht von ihr lassen."

"Sie bestehen auf Ihrer Weigerung?" fragte der Kaiser frostig. "Dann sind Sie aus meinem Dienst entlassen."

Mit meinen ehrgeizigen Plänen war es also endgültig vorbei.

"Das ist der bitterste Augenblick meines Lebens, Sire," sagte ich, "und doch kann und will ich meiner Eugenie nicht untreu werden. Und müßte ich auf der Landstraße für sie betteln, nie konnte eine andere als Eugenie meine Gattin werden."

Die Kaiserin hatte sich erhoben und trat auf das Fenster zu.

"Nun, Monsieur de Laval," sagte sie, "ehe Sie Ihr letztes Wort sprechen, sollten Sie sich doch die Ihnen zugedachte Hofdame ein wenig ansehen."

Rasch zog sie den Vorhang des zweiten Fensters zurück. In der Fensternische stand ein Mädchen. Sie machte einen Schritt vorwärts ins Zimmer und dann, dann sprang ich mit einem Freudenschrei auf sie zu und schloß sie in meine Arme. Wie im Traum kam ich mir vor und konnte es nicht fassen, dass ich meiner süßen Eugenie in die glückstrahlenden Augen schaute. Immer wieder küßte ich ihre Lippen, ihre Wangen, ihr Haar, bis ich es endlich glaubte, dass sie es wirklich war, meine heißgeliebte Eugenie.

"Lassen wir sie allein," sagte die Kaiserin mit ihrer sanften Stimme. "Komm, Napoleon, es macht mich zu traurig. Es erinnert mich allzusehr an die längstvergangenen Tage in der Rue Chautereine."

So wäre ich denn mit meiner bescheidenen Erzählung zu Ende; denn der Plan des Kaisers kam wie immer pünktlich zur Ausführung, und unsere Trauung fand wirklich, wie er es befohlen hatte, am nächsten Donnerstag statt. Mit seinem überallhinreichenden, allmächtigen Arm hatte er Eugenie aus dem kentischen Städtchen herübergeholt, um meines Verbleibens in Frankreich sicher zu sein und den Hof um eine Repräsentantin der angesehenen Familie de Choiseul zu bereichern. Wie es meiner Cousine Sibylle weiter erging, berichte ich später einmal ausführlich. Nur das eine verrate ich schon heute, dass sie viele Jahre später Etienne Gerard heiratete, als er bereits Chef einer Brigade und einer der berühmtesten Kavallerieführer der ganzen Armee geworden war. Ein andermal will ich davon erzählen, wie ich wieder in den Besitz meines Stammschlosses Grobois gelangte, an dem so entsetzliche Erinnerungen haften, dass sie mir die Freude daran noch heute trüben. Und nun genug von mir und meinen Geschicken. Ich habe schon zuviel davon gesprochen.

Für meine Berichte über Napoleon nehme ich nur das eine Verdienst in Anspruch, dass sie der Nachwelt einen schwachen Begriff von den persönlichen Eigenschaften des großen Mannes zu geben imstande sind, über seine Taten und Geschicke weiß man ja ohnehin alles aus der Weltgeschichte. Er brach das Lager bei Boulogne ab, weil er die Herrschaft im Kanal nicht an sich zu reißen vermochte und daher auch von der beabsichtigten Landung seiner Truppen in England abstehen mußte. Die englische Flotte hätte ihn sonst wohl von der Hauptmacht seiner Truppen abgeschnitten. Mit der Armee, die er zur Besetzung des Inselreiches bestimmt hatte, schlug er Russland und Österreich und im nächstfolgenden Jahre Preußen aufs Haupt. Von dem Augenblick an, da ich in seine Dienste trat, bis zu jenem Tage, da er übers Meer in die Verbannung fuhr, um nie wieder zurückzukehren, hielt ich treu zu ihm; mit seinem Stern hob und senkte sich auch der meine. Und doch, wenn ich auf die wechselvollen Ereignisse der Zeiten zurückblicke, die ich mit ihm zusammen verlebte, vermag ich nicht zu sagen, ob er ein guter Mensch gewesen oder ein schlechter. Nur das eine weiß ich, dass er ein großer Mann war, den man nicht mit demselben Maßstab messen darf wie andere Menschen. Drum mag er in Frieden ruhen in seiner großen Gruft im Invalidendom: er hat sein Werk vollendet, und die mächtige Hand, die Frankreich erhob und alle Grenzlinien Europas verschob, ist zu Staub zerfallen. Das Fatum hat ihn gebraucht, das Fatum hat ihn vom Erdboden hinweggefegt; und doch lebt er in unser aller Erinnerung weiter, und noch bewegt seine Erscheinung die Gedanken der Nachkommen und leitet ihre Taten. Bände sind über Napoleon geschrieben worden; viele haben ihn in den Kot gezogen, andere haben ihn in den Himmel erhoben; ich aber tat keins von beiden. Nur den Eindruck wollte ich schildern, den ich von ihm empfing, damals im Lager von Boulogne, da ich, nach langer Verbannung aus dem Vaterland, Grobois, das Schloss meiner Väter, zum ersten mal wiedersah.


Ende

Kapitel 1 - Die französische Küste



Ich hatte den Brief meines Onkels wohl hundertmal gelesen und konnte ihn fast auswendig. Und doch zog ich ihn jetzt, auf dem Schiffe, wieder aus der Tasche, um ihn nochmals mit größter Aufmerksamkeit durchzulesen, als wäre es das erste mal. Die gezierten, spitzigen Schriftzüge mochten von der Hand eines Landadvokaten herrühren, und die Adresse lautete: Monsieur Louis de Laval, zu Händen des Mr. William Hargreaves, Wirt zum grünen Mann in Ashford, Kent.

Mein Quartiergeber bezog nämlich große Mengen geschmuggelten Branntweins von der normannischen Küste; und durch Schmuggler hatte auch dieser Brief heimlich den Weg zu ihm gefunden.

"Mein lieber Neffe," so las ich, "jetzt, da Dein Vater tot ist, und Du in der Welt allein stehst, wirst Du unseren alten Familienzwist wohl nicht weiterzuführen gedenken. Zur Zeit der großen Unruhen stellte sich Dein Vater an die Seite des Königs, mich aber zog es zu dem Volke hin. Was weiter geschah, weißt Du. Dein Vater mußte fliehen, und ich wurde Besitzer seiner Güter in Grobois. Es mag Dich betrüben, Dich in so veränderten Verhältnissen Deinen Vorfahren gegenüber zu befinden; aber lieber als in fremden Händen wirst Du sicherlich die Ländereien in meinem Besitze wissen. Bei dem Bruder Deiner Mutter wirst Du ja immer Liebe und Entgegenkommen finden.

Und nun will ich Dir einen guten Rat geben. Ich war, wie Du weißt, immer Republikaner; aber gegen das Schicksal kann man nicht ankämpfen, und Napoleons Macht ist nicht mehr zu erschüttern. Deshalb suchte ich mich ihm nützlich zu machen. Mit gutem Erfolge. Er ist mir wohlgesinnt und gewiß auch zu Gegendiensten bereit. Wie Du wohl erfahren hast, befindet er sich augenblicklich mit seiner Armee in Boulogne, wenige Meilen von Grobois. Wenn Du hierher kommst, wird er gewiß mit Rücksicht auf die Verdienste Deines Oheims die Feindschaft gegen Deinen Vater vergessen. Zwar steht Dein Name noch auf der Liste der Proskribierten, aber mein Einfluß auf den Kaiser wird die Sache rasch in Ordnung bringen. So komm denn sofort in vollem Vertrauen auf Deinen Onkel Bernac."

Mehr noch als der Brief selbst gab mir dessen Umschlag zu denken. Die roten Wachssiegel an den Enden zeigten den Abdruck grober Handlinien. Offenbar hatte mein Onkel statt eines Siegelringes den Daumen benutzt. Und oberhalb des einen Siegels standen hastig hingekritzelt die englischen Worte: Kommen Sie nicht! Ob von weiblicher oder männlicher Hand, war nicht zu erraten; aber sie standen da, ein unheimlicher Zusatz zu der freundlichen Einladung.

Kommen Sie nicht! War mein Oheim plötzlich anderen Sinnes geworden? Kaum; warum hätte er dann den Brief überhaupt abgesandt? Oder wollte mich jemand anderes vor dem Besuche warnen? Der Brief war französisch, die warnenden Worte englisch. Vielleicht waren sie gar erst in England hinzugefügt worden. Aber die Siegel waren ja unverletzt; und in England konnte niemand von dem Inhalte des Briefes wissen.

Das Schiff stach in See; die geschwellten Segel über mir, die rauschenden Wellen an meiner Seite, rief ich mir alles ins Gedächtnis, was ich in früheren Zeiten über meinen Oheim gehört hatte.

Mein Vater entstammte einer der ältesten und stolzesten Adelsfamilien Frankreichs; seine schöne, tugendhafte Gattin war ihm nicht ebenbürtig. Sie selbst gab ihm niemals Anlaß, seine Wahl zu bedauern; einer ihrer Brüder jedoch, der damals Rechtsanwalt war, hatte schon in den Tagen des Glanzes der Familie durch seine heuchlerische Unterwürfigkeit das Missfallen meines Vaters erregt. Später, nach dem Sturz der Adelsherrschaft, war er der ärgste Feind meiner Familie. Der einstige Bauernketzer war nunmehr einer der werktätigsten Anhänger Robespierres geworden und wurde von diesem zum Herrn auf Orobois eingesetzt. Nach dem Sturze Robespierres wußte er die Gunst Barras’ zu gewinnen. Auch keine der folgenden Umwälzungen vermochte ihn von Grobois zu verdrängen. Und nun ersah ich aus diesem Briefe, dass auch der neue Kaiser für ihn Partei ergriffen hatte; so sonderbar mir dies erschien, in Anbetracht der Vorgeschichte dieses Mannes. Was für Dienste konnte ihm mein Oheim, der Republikaner, wohl geleistet haben?

Es mag unbegreiflich erscheinen, dass ich die Einladung eines Mannes annahm, den mein Vater als Verräter gebrandmarkt hatte. Aber die jüngere Generation der damaligen Zeit war nicht geneigt, den Groll gegen die neuen politischen Verhältnisse aufrecht zu halten. Für die alten Auswanderer schien mit dem Jahre 1792 die Zeit stille zu stehen; ihre Ideale und ihre Abneigungen standen unabänderlich fest. Wir Jungen aber, die wir in der Fremde aufgewachsen waren, fühlten, dass eine neue Zeit angebrochen war. Frankreich war nicht mehr das Land der Sansculotten und der Guillotine; siegreich und doch hart bedrängt von allen Seiten rief das Vaterland nach seinen versprengten Söhnen; und mehr als der Brief meines Oheims zog mich der Kriegslärm über den Kanal hinüber nach Frankreich.

Lange schon kämpfte ich im Herzen mit der Sehnsucht nach meinem Vaterland. Zu Lebzeiten meines Vaters sprach ich nie davon; ihm, der unter Condé gedient und bei Quiberon gefochten hatte, wäre ein solcher Wunsch geradezu verräterisch erschienen. Mit seinem Tode jedoch fiel alles weg, was mich von der Rückkehr nach Frankreich abhielt, und meine Sehnsucht wurde um so dringender, da auch Eugenie, die nun seit dreißig Jahren meine Frau ist, ebenso dachte wie ich. Ihre Eltern, ein Zweig der Familie Choiseul, hatten ebenso unbeugsame Prinzipien und Vorurteile wie mein Vater. Um die Gesinnung ihrer Kinder kümmerten sie sich wenig. So oft sie im Hause über einen französischen Sieg trauerten, sprangen wir im Garten vor Freude. Bei einem lorbeerumkränzten Fenster des Gartenhauses hatten wir nächtliche Zusammenkünfte und schlossen uns um so enger zusammen, je mehr wir uns unserer Umgebung entfremdeten. Ich entwickelte meine ehrgeizigen Pläne; und Eugenie bestärkte mich darin durch ihre begeisterte Zustimmung. So war der Brief meines Oheims nur der äußere Anlaß zur Ausführung eines längst gehegten Planes.

Außer dem Tode meines Vaters und dem Briefe meines Onkels kam noch ein anderes Ereignis meinem Entschlusse zu Hilfe. In Ashford war mir seit kurzem der Boden heiß geworden. Gewiß kamen die Engländer im allgemeinen den französischen Auswanderern sehr freundlich entgegen. Jeder von uns bewahrt England und seinen Bewohnern ein gutes Andenken. Aber überall gibt es übermütige, prahlerische Menschen, und diese fehlten auch in dem ruhigen, schläfrigen Ashford nicht. Da war besonders ein kentischer Junker, Namens Forley, der als spott- und streitsüchtig bekannt war. So oft er einem von uns begegnete, stieß er Schmähungen aus, nicht nur gegen die französische Regierung, was man einem englischen Patrioten allenfalls hätte zugute halten können, sondern gegen Frankreich selbst und gegen alle Franzosen. Lange stellten wir uns taub seinen Angriffen gegenüber, aber endlich wurde mir die Sache zu arg, und ich beschloß, ihm eine Lehre zu geben. Eines Abends saß ich mit einigen Freunden in der Wirtsstube, und am Nebentische saß Forley. Er war halb betrunken und machte unausgesetzt hämische Bemerkungen über die Franzosen. "Und jetzt, Monsieur de Laval," schrie er endlich, seine schwere Hand auf meine Schulter legend, "jetzt müssen Sie mit mir einen Toast ausbringen: auf den Arm Nelsons, der Frankreich vernichten soll."

"Gut," sagte ich, "ich will mit Ihnen trinken, wenn Sie versprechen, später bei meinem Toast mitzuhalten."

"Abgemacht," sagte er, und wir tranken.

"Nun kommt Ihr Toast an die Reihe," rief er.

"Wohl an denn," entgegnete ich, "ein Hoch der Kanonenkugel, die diesen Arm zerschmettert."

Als Antwort schüttete er mir den Wein ins Gesicht. Es kam zum Zweikampf, und ich schoß ihn durch die Schulter. Abends traf ich Eugenie an dem gewohnten Fenster; sie pflückte ein paar Blätter von den Lorbeerbüschen und bekränzte mein Haupt.

Dieser Vorfall erschütterte meine Stellung in Ashford und trug wesentlich zu meinem Entschlusse bei, die Einladung meines Oheims, jenen mahnenden Worten zum Trotz, anzunehmen. Wenn er durch seinen Einfluß den Kaiser bewegen könnte, meinen Namen von der Liste der Proskribierten zu streichen, so stand meiner Rückkehr nach Frankreich nichts mehr im Wege.

Versunken in meine Gedanken, hatte ich ganz vergessen, wo ich mich befand. Da legte der Schiffer plötzlich seine Hand auf meine Schulter und schreckte mich aus meinen Träumereien auf.

"Nun denn, Herr," sagte er, "jetzt müssen Sie in den Kahn steigen,"

Mein aristokratisches Gefühl regte sich, und ich schob seine schmutzige Hand sanft von meinem Arm. "Die Küste ist noch weit," bemerkte ich.

"Tun Sie, was Sie wollen," sagte er; "ich fahre nicht weiter. Steigen Sie ins Boot oder schwimmen Sie hinüber."

Vergeblich hielt ich dem Manne vor, dass ich den ganzen Fahrpreis gezahlt hatte. Sogar meine Uhr, ein altes Erbstück der Familie, hatte ich dafür geopfert.

"Wenig genug," schrie er wild. "Die Segel nieder, Gin, und das Boot heran. Jetzt, Herr, steigen Sie hinein, oder kommen Sie zurück mit mir nach Dover. Südweststurm ist im Anzug; ich fahre nicht einen Faden weiter."

"Dann steige ich ins Boot," sagte ich.

"Es wird Ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben," rief er und lachte so aufreizend, dass ich ihn hätte prügeln mögen. Aber solchen Leuten gegenüber ist man ganz machtlos; wenn man den Stock gegen sie erhebt, so schlagen sie einem mit der blanken Faust die Zähne ein. So machte ich denn gute Miene zum bösen Spiel und sprang in den Kahn. Mein Bündel, ein feines Reisegepäck für einen Herrn von Laval, flog mir nach. Zwei Matrosen legten die Ruder ein und strebten mit mächtigen Schlägen der fernen Küste zu.

Eine schlimme Nacht stand uns bevor. Dunkle Wolken ballten sich am Horizont, und durch ihre zerrissenen Ränder brachen die Strahlen der untergehenden Sonne. Fahlrotes Licht ergoß sich über das Firmament und spiegelte sich in der bleischweren See. Unser kleines Boot schaukelte heftig und tanzte auf den Wellen. Ängstlich blickten die Ruderer bald nach dem Himmel, bald nach der Küste. Schon sah es aus, als ob sie umkehren und zu dem großen Segler zurückfahren wollten.

"Was sind das für Lichter, die da auf beiden Seiten durch den Nebel blitzen?" fragte ich, um ihre Gedanken von den Wettersorgen abzulenken.

"Hier im Norden ist Boulogne und im Süden Etaples," antwortete mir einer der Ruderer höflich.

Boulogne! Etaples! Wie mich diese Namen berührten! In Boulogne hatte ich als Knabe viele Sommer zugebracht. Wie oft war ich an der Hand meines Vaters am Strand dahingeschlendert, die ehrfurchtsvollen Grüße der Fischersleute mit kindlichem Stolze erwidernd. Und gar Etaples! Da waren wir auf der Flucht nach England durchgekommen. Das rasende Volk hatte sich am Hafen angesammelt und bewarf uns mit Steinen. Meiner armen Mutter zerschmetterten sie das Knie. Der Aufschrei meines Vaters und der schrille Schreckensruf meiner eigenen Kinderstimme gellt mir noch heute in den Ohren. Und zwischen diesen beiden Orten, in dem weiten dunklen Raume, den ihre Lichter begrenzten, lag auch Grobois, die Burg meiner Väter. Wie strengte ich meine Augen an, ihr schwarzes Dach zu erspähen!

"Hier ist die Küste recht einsam," sagte einer der Seeleute; "so manchen Ihrer Kameraden haben wir hier ausgeschifft."

"Wofür halten Sie mich denn?" fragte ich.

"Das sage ich nicht," entgegnete er, "es gibt Dinge, über die man am liebsten nicht spricht."

"Sie halten mich wohl für einen Verschwörer?"

"Nun ja, wenn Sie es selbst sagen; solche Leute sind bei uns nicht selten,"

"Auf Ehrenwort, ich bin kein Verschwörer."

"Also ein entlaufener Sträfling?"

"Auch das nicht."

Der Mann hielt mit dem Rudern inne; ein neuer Verdacht schien ihm aufzusteigen, "Wenn Sie ein Spion Bonapartes sind ..."

"Ich ein Spion!" rief ich entrüstet. Der Ton meiner Stimme schien ihn zu überzeugen.

"Nun gut," sagte er, "der Teufel soll wissen, was Sie sind. Aber einen Spion hätte ich um keinen Preis ans Land gesetzt."

"Oho," polterte der andere Ruderer heraus, "schimpft nicht über Bonaparte; er ist unser bester Freund."

An einem Engländer überraschte mich diese Sympathie für den Kaiser, aber die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten.

"Dass wir armen Seeleute das bißchen Zucker und Kaffee über die Grenze bringen können," sprach der Seemann weiter, "verdanken wir nur Bonaparte; früher haben die Kaufleute ihren Schnitt gemacht, jetzt ist die Reihe an uns."

In der Tat hatte Bonaparte den ganzen Handel zwischen England und Frankreich den Schmugglern in die Hände geliefert.

Plötzlich hielt der Sprecher inne und wies mit der rechten Hand in die dunkle Ferne, während die linke eifrig weiter ruderte.

"Dort ist Bonaparte selbst," rief er aus.

Bonaparte! Ihr, die ihr in einem ruhigen Zeitalter lebt, könnt den Schreck, der mir beim Klange dieses Namens durch die Glieder fuhr, nicht begreifen. Vor zehn Jahren hatte man das erste mal von dem Manne mit dem sonderbaren italienischen Namen gehört. Was erreichen gewöhnliche Sterbliche in zehn Jahren? Er aber war von einem Augenblick zum anderen aus nichts zu einem allmächtigen Manne geworden. Heuschreckenschwärmen gleich überschwemmten seine Armeen ganz Norditalien; Venedig und Genua seufzten unter dem Drucke dieses unscheinbaren, schlecht genährten Burschen. Er beschämte die tapfersten Soldaten und überlistete die schlauesten Diplomaten. Mit ungeahnter Tatkraft brach er gegen den Orient vor; und während noch die Augen Europas nach Ägypten, der neuen französischen Provinz, blickten, war er wieder zurück in Italien und schlug Österreich zum zweiten mal auf das Haupt, überall kam er überraschend; die Nachrichten über seine Bewegungen konnten mit diesen selbst nicht Schritt halten. Wohin er kam, siegte er, verschob die Grenzen und stürzte die herrschende Ordnung, Holland, Savoyen, die Schweiz, sie waren zu geographischen Begriffen herabgesunken. Nach allen Seiten streckte Frankreich seine Arme aus. Nun war er gar zum Kaiser ausgerufen worden. Die Republikaner, deren die ältesten Königsgeschlechter und der stolzeste Adel nicht Herr werden konnten, lagen vor ihm im Staube. Mit atemloser Spannung folgten wir in der Ferne seinen waghalsigen Unternehmungen. Überall heftete sich der Erfolg an seine Fersen. Wie etwas Übermenschliches, Ungeheuerliches stellte ich mir ihn vor, das einer finsteren Wolke gleich über Frankreich schwebte und ganz Europa bedrohte.

Bonaparte! In meiner überhitzten Phantasie erwartete ich, eine riesenhafte Gestalt, ein überirdisches Fabelwesen zu sehen, finster, schrecklich und unheilsschwanger, thronend über den Gewässern.

Was ich wirklich sah, entsprach meinen kindischen Erwartungen durchaus nicht.

Im Norden die langgestreckte flache Küste. Im Abendlichte grau, wie das dahinterliegende Heideland, begann bei einbrechender Dunkelheit ihr Saum zu leuchten wie schwachglühendes Eisen. Der rote Strich glich einem feurigen Schwerte, dessen Spitze gegen England wies.

"Was ist das dort?" fragte ich.