Das Dorf der Stille

 

 

 

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Band 25

 

Das Dorf der Stille

 

von Catalina Corvo und Logan Dee

nach einer Story von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Dario Vandis

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Auch von anderer Seite droht Asmodi Ungemach. Unzufrieden mit seiner Herrschaft, hat sich ein Geheimbund oppositioneller Dämonen gebildet, dessen Mitglieder maskiert in der Öffentlichkeit auftreten und Asmodi zum Rückzug auffordern. Da der Fürst dies strikt ablehnt, scheint ein offener Krieg unter den Dämonen unausweichlich.

In dieser Situation tötet Cocos Mutter Thekla Zamis unter dem Einfluss Asmodis die Dämonin Traudel Medusa – die nicht nur Michael Zamis' Geliebte war, sondern auch ein hohes Mitglied der Oppositionsdämonen. Die Oppositionellen rufen zum Rachefeldzug … aber mit Cocos Hilfe gelingt es Michael Zamis, seine Unschuld zu beweisen. Dennoch sind die Oppositionellen nicht länger an seiner Unterstützung interessiert. Stattdessen ist es plötzlich Coco, die von ihnen hofiert wird. Als sie dem maskierten Anführer der Oppositionsdämonen bei einem Treffen in Rumänien klarmacht, dass sie kein Interesse an den politischen Intrigen der Dämonen hat, verpasst er ihr ungefragt ein »Permit« – ein magisches Tattoo in Form eines zweiköpfigen Adlers. Einst, wenn die Oppositionellen die Macht in der Schwarzen Familie übernommen hätten, werde ihr dieses Permit Schutz gewähren …

Nach zahlreichen Auseinandersetzungen schließen Asmodi und sein Herausforderer Graf Nocturno, der sich inzwischen als Anführer der Oppositionsdämonen offenbart hat, einen Pakt: die Charta Daemonica. Damit ist Asmodi einmal mehr der unumstrittene Herrscher über die Schwarze Familie. Der geheimnisumwitterte Nocturno bedingt sich allein drei Gebiete aus – und Coco Zamis als seine Begleiterin.

Um sich ihrer Loyalität auch weiterhin sicher zu sein, verwandelt er ihren Vater in einen krötenartigen Freak.

Nocturno entführt Coco zunächst nach Schweden. Dort, inmitten der Steinsetzung Ales Stenar befindet sich der Zugang zu einer anderen Dimension. Es ist eine Welt, in der selbst die Schwarze Eminenz, wie sich der Graf auch gerne nennen lässt, einen Teil der Macht eingebüßt hat und nicht mehr allein über Tod oder Leben entscheidet.

Ihre Odyssee gleicht einer Flucht, denn von Anfang an setzt sich ein geheimnisvoller Verfolger auf ihre Fersen. Es hat den Anschein, als hätte er noch eine alte Rechnung mit Nocturno offen …

 

 

 

 

Erstes Buch: Der magische Kompass

 

 

Der magische Kompass

 

von Catalina Corvo

nach einer Story von Uwe Voehl

 

1.

 

Sandkörner, die unter den Kragen geglitten waren, pieksten in meinen Nacken, Kiesel bohrten sich in meinen Rücken. Ich schlug die Augen auf. Über mir streckten sich graue Wolken träge am Himmel wie eine Reisegruppe fetter, vollgefressener Touristen im Ausflugslokal. Ich roch eine leichte Note von Salz und Mineralien. In der Ferne rauschte das Meer. Ich drehte den Kopf. Sah Dünengras, zäh, grau und hässlich, zu Boden gequetscht unter einem Paar schwarzer, glänzender Schuhe, die nicht so aussahen, als hätten sie jemals den Sand wirklich berührt, auf dem sie standen.

In den Schuhen steckten Füße, mein Blick wanderte weiter hinauf, Beine, schlanke Beine in schwarzen Hosenbeinen. Mit Bügelfalte. Eine dunkle Weste aus Seide, eine ebenso vornehme Anzugjacke, helle Haut, ein Blick wie Traum und Glut.

Nocturno.

»Gut, du bist wach.« Seine Stimme – wohlklingend wie immer, sein Tonfall beiläufig. Jovial. »Steh auf, wir müssen gehen. Der Weg beginnt gerade erst.«

»Wo sind wir?«, fragte ich und richtete mich auf. Alles war grau, keine Sonne zu sehen, nur die dunkle Wolkenwatte, die den Himmel überzog. In der Ferne verschwamm sie mit einem ebenso grauen Streifen Meer.

Erstaunlicherweise wehte kein Lüftchen. Es herrschte Flaute. Und bis auf das entfernte, gleichmäßige Rauschen eine endlose, unheimliche Stille. Der Sand unter meinem Hintern und meinen Füßen knirschte überlaut in meinen Ohren, als ich mich mühsam erhob. Jeder Muskel meines Körpers schmerzte, wie nach einem anhaltenden schweren Krampf. Ich verzog das Gesicht und ächzte leise.

»Das ist eine Nebenwirkung des Übergangs.« Nocturno nickte mir zu. »Es vergeht bald, und du gewinnst deine Kraft zurück.«

Auf einmal spürte ich einen seltsamen Druck auf meinen Ohren. Wie bei einer schnellen Autofahrt oder im Flugzeug. Ich schluckte ein paarmal. Erfolglos. Ich wurde das nervtötende Gefühl nicht los, dass mir etwas die Ohren verkleisterte. Zur Sicherheit schnipste ich nahe an meiner Ohrmuschel mit den Fingern. Ich hörte das Geräusch deutlich, und zugleich sagte ein Teil von mir, dass ich es eigentlich undeutlich, wie durch Watte wahrnehmen sollte.

Ähnliche Schwierigkeiten hatte ich mit den Augen, sobald ich länger in die Ferne spähte. Ich sah die Konturen klar, und zugleich verschwamm das Bild.

Die nicht-wehende Luft war kalt und ließ mich frieren. Zugleich überkam mich das Gefühl, schwitzen zu müssen. Aber Fieber hatte ich keins, meine Stirn war kühl.

Nocturnos Mundwinkel wanderten ein paar Millimeter nach oben. »Du hast noch nicht gelernt, dich an die Schwingung dieses Ortes anzupassen«, erklärte er mit einem Hauch Amüsement. »Aber es wird besser mit der Zeit.«

»Wo genau sind wir hier?«, fragte ich.

Aber er ignorierte mich und wandte sich um. »Da lang.« Nocturno zeigte scheinbar wahllos in eine Richtung und marschierte seinem Fingerzeig hinterher.

Während ich ihm folgte, wurde mir die Stille der Umgebung, ihre Eintönigkeit unheimlich. Ich glaubte, einen fremden Blick zu spüren, eine Bewegung hinter meinem Rücken. Aber als ich mich umdrehte, war nichts zu sehen. Auch keine fremden Spuren im Sand.

Nur meine eigenen und Nocturnos. Aber sie endeten nach wenigen Metern, als hätten sie nie existiert. Aber kein Wind war zu spüren gewesen, der sie mit Sand hatte überdecken können. Lautlos waren sie einfach verschwunden.

»Komm, Coco, halte dich nicht unnötig auf«, rief Nocturno mir zu. Er ging unbeirrt weiter. Ein kalter Schauer glitt über meinen Rücken. Ich schüttelte mich. Und schwitzte. Hastig beschleunigte ich meine Schritte und schloss zu Nocturno auf.

»Unsere Spuren …«

»Vergiss das.«

»Dir ist klar, dass sie verschwinden.«

»Kümmere dich nicht darum.«

»Du weißt schon, dass das nicht normal ist«, hakte ich skeptisch nach.

»Hier ist nichts normal. Und alles«, erwiderte er kryptisch und blickte weiter stur geradeaus.

Ich pustete missbilligend Luft durch die Lippen. »Danke für das Gespräch.« Er schien nicht bereit, mir eine sinnvolle Erklärung zu liefern. Und auf unverständliche Pseudo-Weisheiten konnte ich verzichten.

Eine warme Hand griff nach meiner. Fragend sah ich Nocturno an.

»Du fragst zu viel und könntest verloren gehen«, sagte er und verschränkte unsere Finger. »Ich würde dich nur ungern verlieren.«

»Jetzt bin ich beruhigt«, gab ich zurück und mied nun meinerseits seinen Blick. Aber, auch wenn ich es nicht gern zugab, die lebendige Berührung gab mir ein wenig Halt und Ruhe. Auch wenn es mich zermürbte, nicht zu wissen, wo wir uns befanden.

 

Plötzlich stand mitten zwischen den Dünen ein Auto. Schneidiges Rot, sportlicher Schnitt, offenes Verdeck – da stand ein waschechter Ferrari.

»Eure Kutsche ist da, Mylady«.

Man musste es Nocturno lassen, er gab sich nicht mit zweitklassigen Dingen zufrieden. Nicht, dass er mich damit auch nur im Geringsten beeindrucken konnte.

Als wir näher kamen, bemerkte ich viel zu spät die graue Asphaltstraße, in deren Mitte das Auto auf uns wartete. Sitze aus weißem Leder und eine Armatur aus poliertem Mahagoni. Nicht schlecht. Irrte ich mich, oder strahlte der Wagen eine gewisse Ungeduld aus?

Und warum hatte ich die Straße nicht früher bemerkt?

»Darf ich bitten?« Nocturno öffnete die Tür.

Ich runzelte die Stirn. Wollte er mich verspotten? Erst hatte er mich, ohne sich zu erklären, an diesen Ort verfrachtet, weigerte sich auch weiterhin konsequent, mich in seine Absichten einzuweihen, und jetzt spielte er den Galan?

»Bisher gehörte ›Bitten‹ nicht ins Repertoire deiner Handlungen.« Ich verschränkte die Arme. Ich wollte da nicht einsteigen. Ich wollte überhaupt nirgendwo mit ihm hin. Nicht ohne Erklärung. Und außerdem war mir das Auto unheimlich. Wie es schon so allein mitten im Nichts auf dieser mysteriösen Straße stand. Da faulten ganze Komposthaufen im Staate Dänemark.

Ich wollte wirklich nicht in den Sportwagen einsteigen und doch tat ich es. Als zöge mich eine übermächtige Kraft unaufhaltsam auf die weißen Nobelpolster. Plötzlich saß ich im Wagen und fragte mich, wie ich hineingekommen war. Nocturno schlug die Tür neben mir zu. Er lächelte unbeeindruckt und unverändert charmant. »Du weißt, doch, ich bin undurchschaubar, schöne Coco.«

»Und ich hab nicht viel übrig für allzu mysteriöse Männer«, konterte ich. »Davon kenne ich mittlerweile so viele, dass es mir langweilig wird.«

»Keine Sorge.« Nocturno drehte den Zündschlüssel. Der Motor dröhnte tief und voll. »Langweilig wird unsere kleine Reise sicher nicht werden.«

 

Georg (Gegenwart)

Die misstrauischen Blicke der drei Chinesen ignorierend, starrte ich vor mich hin und widmete mich ganz dem dampfenden Getränk in der irdenen Schüssel. ›Ranzig‹ war das treffendste Wort, mit dem sich das widerliche Zeug beschreiben ließ. Der Buttertee stank schon wie ein vergorenes Teelicht. Und dann erst die Konsistenz. Ich kämpfte darum, nicht unhöflicherweise das Gesicht zu verziehen. Schicksalsergeben setzte ich die Schüssel an die Lippen und schlürfte die fettige Brühe herunter. Hastig spülte ich dann den Geschmack mit ein paar Löffeln Hirsebrei und erstaunlich wohlschmeckenden Fleischbällchen herunter.

Der Gastwirt nickte zufrieden. Immerhin verköstigte er mich, das Rundauge, den Touristen mit der tibetischen Nationalspeise. Buttertee, den man gut und gerne auch als Lampenöl verwenden konnte, und Tsampa, die erste Instantsuppe der Welt, die schon seit grauer Vorzeit hier oben in den Bergen die Menschen geschmacksfrei aber nahrhaft und billig verpflegte.

Erst nachdem ich einige Bissen der fremden Speise heruntergeschlungen hatte, merkte ich, welch starken Hunger mir die dünne Höhenluft trotz meiner dämonisch-leidensfähigen Konstitution bescherte, und verleibte mir auch den Rest ein. Nun ohne Rücksicht auf den gewöhnungsbedürftigen Geschmack. In den nächsten Tagen und womöglich Wochen musste ich mich wohl mit derlei Nahrung herumschlagen, also gewöhnte ich mich besser schnell daran. So wie ich mich mittlerweile auch an Peters unvermeidliches Gequatsche gewöhnt hatte.

»Also ich finde diese drei Kerle da drüben äußerst verdächtig.«

Niemand außer mir sah den grauen Mönch, der mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze neben mir hockte wie der Tod in Grau. Nur ohne Sense und Stundenglas.

»Ach, auch schon gemerkt?«, raunte ich leise. Mittlerweile hatte ich gelernt, wie ein Bauchredner zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. So konnte ich mich unauffällig mit Peter unterhalten, ohne überall als völlig verrückt zu gelten.

Manchmal fragte ich mich, ob Peter sich einen Spaß daraus machte, sich über mich lustig zu machen, oder ob er wirklich so neben der Spur war, dass er das Offensichtliche so spät bemerkte. Wahrscheinlich bereitete es ihm großen Spaß, mich genau über diesen Punkt stets im Ungewissen zu lassen. Auch hatte ich das Gefühl, dass er mittlerweile meine Gedanken lesen konnte.

»Die drei sind magisch beeinflusst«, stellte er prompt fest.

»Ach.« Das hatte ich schon beim Einbiegen in die enge Gasse gespürt. Nur deswegen war ich in die kleine Garküche eingekehrt.

Auf Englisch, und bemüht um einen überzeugenden britischen Akzent, fragte ich den Wirt nach den Öffnungszeiten des Potala-Palastes und diverser großer ehemaliger Klöster, die heute als Museen dienten und in jedem Reiseführer ganz vorn standen. Dazu noch ein paar dumme Fragen, über den Tee und Yaks, ein bisschen beiläufiges Gewedel mit einem kleinen Traumfänger, den ich um den Hals trug, und ich qualifizierte mich als ignoranter Tourist, der auf einem Selbstfindungstrip ein wenig buddhistische Erleuchtung gepaart mit einem Schuss Esoterik und ein paar einfachen Wandertouren suchte.

Die Chinesen entspannten sich wieder. Nur noch selten flog ein vereinzelter misstrauischer Blick zu mir hinüber. Ich vertiefte mich in einen Stapel Reiseführer und einen zerfledderten Stadtplan. Aber aus den Augenwinkeln behielt ich den Tisch der drei Männer im Blick. Geschäftsleute. Sie trugen keine Anzüge, aber Krawatten und teure Markenpullover, die es nur im Westen gab.

Eine Visitenkarte wechselte den Besitzer.

»Sieh sie dir an«, zischte ich.

»Ja doch, Sahib. Gerne, Sahib.«

Peter schlenderte zu dem Dreiergrüppchen hinüber, betrachtete den Aufdruck des kleinen Kärtchens, das der Jüngste der drei zwischen seinen Fingern drehte. Ein Mittzwanziger mit einem goldenen Ohrring, in den ein Saphir und ein runder Jadestein eingelassen waren. Sein Nebenmann, ein untersetzter Kerl mit einem gezwirbelten Oberlippenbart, legte sich sorgfältig einen weißen Frotteeschal um den Hals, dann stand er auf und griff zu seiner Jacke.

Ich beobachtete, wie sie sich durch ein kurzes Nicken verabschiedeten, dann verließ der weiße Schal die Garstube. Die anderen zahlten und machten sich auch auf den Weg. Goldohrring redete hektisch aber leise auf den Dritten im Bunde ein, einen irgendwie schmutzig wirkenden, dürren Kerl, dessen Alter ich nicht bestimmen konnte. Er wirkte wie ein Trinker. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und gelbe Flecken bedeckten die ausgemergelten Wangen, die Stirn und seine Hände. Er runzelte die Stirn und hob die Schultern. Dann sah er sich suchend um. Sein Blick verharrte dort, wo Peter stand. Die Falte auf der gelbfleckigen Stirn wuchs, ihr Besitzer schüttelte sich wie von einem jähen Kälteschauer.

Goldohrring ließ das Kärtchen in seine Brusttasche gleiten. Dann bimmelte ein kleines Glöckchen über der Eingangstür, und ein kalter Windhauch fegte in die Stube und huschte mit den Männern wieder nach draußen.

Die Butterlampen, deren Flämmchen sich bisher zaghaft und mickrig an die Dochte gedrückt hatten, lebten auf, sobald die Tür ins Schloss fiel.

Das konnte natürlich an der neuen Sauerstoffzufuhr liegen, oder aber …

»Was hast du herausbekommen?«, fragte ich Peter, sobald er sich wieder zu mir hinübersetzte.

»Wenn mich meine Chinesischkenntnisse nicht ganz trügen, dann ging's um einen Mann namens Sung Li, der mit Kunsthandwerk und Geistermasken handelt. Hat einen kleinen Laden nicht weit von hier. Aber aus den Andeutungen des Dicken schließe ich, dass Mr. Li unter der Hand noch ein paar Profite einheimst. Und zwar mit heißer Ware aus Klöstern und Gräbern. Und der Auftraggeber der drei, ein gewisser Feng Lao, gehört zu Lis Quellen. Irgendwie ging es dabei um eine alte Münze.«

»Eine Münze?«, fragte ich alarmiert.

»Ich nehme schon an, dass es eine von unseren beiden ist.« Peter grinste.

»Die Ausstrahlung war ja auch mehr als deutlich«, gab ich zurück. »Also wer hat sie jetzt?«

Ich brauchte die Münze. Im Grunde brauchte ich beide. Ohne die Zwillingsmünzen würde mir der Zugang in die Unterwelt verschlossen bleiben. Sie versiegelten den Ort. Bevor ich zu meinem eigentlichen Ziel, dem Tor, aufbrach, musste ich erst die Passierscheine sammeln. Einen hatte ich gerade lokalisiert, wie es schien. Nun musste ich der Spur nur unauffällig folgen.

Die Orientierung innerhalb der Stadt fiel mir nicht leicht. Der Wind scheuchte mich durch die engen, kalten Gassen, zwischen zwei-, höchstens dreistöckigen Häusern hindurch, die ebenso braun waren wie die Berge. Lediglich Kleidungsstücke, die an quer über die Straßen gespannten Wäscheleinen flatterten, bunte, dreieckige Wimpel mit verschnörkelten Segenszeichen und Ornamenten an Giebeln und Türen, sorgten für Farbtupfer.

In dem Viertel, durch das ich mich bewegte, herrschte noch das alte Lhasa. Abgesehen davon, dass dort, wo früher kleine Buddhafiguren in Nischen auf die Vorübergehenden hinabgeblickt hatten, nun kleine rote Flaggen wehten oder Porzellandrachen ihre Mäuler aufsperrten, fand ich wenig chinesische Einflüsse. Die kleinen Läden mit ihren eng gedrückten Auslagen, Töpfer, Schmiede und Schneider in ihren Arbeitsschürzen, Bäuerinnen, die brutzelnde Fleischbällchen und Hirse verkauften, sie alle schienen aus einem früheren Jahrhundert zu kommen.

Ihre verschlossenen, wettergegerbten Gesichter musterten mich neugierig, als ich vorüberschlenderte. Gesten und Blicke luden mich zum Verweilen ein, und hier und da blieb ich auch vor der Auswahl eines Kunsthandwerkers stehen. Ich durfte nicht zu zielstrebig wirken. Nach einer Stunde entschied ich, dass es nun genug der Tarnung war, und betrat Sung Lis Laden.

Ein verstaubtes »Open«-Schild aus Emaille an der verwitterten Holztür gab den einzigen Hinweis darauf, dass der Laden noch in Benutzung war. Durch ein einsames winziges Fensterchen aus stumpfem Glas konnte ich drinnen weder eine Bewegung noch Licht erkennen. Zwei tönerne Glöckchen über der Tür gaben einen stumpfen, gebrochenen Ton von sich, als ich eintrat. Eine riesige Fratze starrte mir entgegen. Braune Zotteln, der aufgerissene Rachen eines eiszeitlichen Raubtiers, drei rote, schwarz umrandete Augen, die mir aus einem weißen, verquollenen Antlitz hasserfüllt entgegen starrten.

Ich pfiff leise durch die Lippen: Die Maske war eindrucksvoll gefertigt. Ein Meisterwerk. Die Leuchtkraft der Farben verlieh dem Geistergesicht ein unheimliches Eigenleben, obwohl ich keine Magie in der Maske ausmachen konnte.

 

Der Laden war nicht nur vollgestopft mit unzähligen Holzregalen und Kommoden, die den Verkaufsraum in ein absurdes Labyrinth aus Kuriositäten verwandelten. Hier und da flackerten kleine Butterlampen und warfen scheu ihr Licht auf stinkende Pulver in Säckchen und Tüten mit chinesischer, unleserlicher Aufschrift, Bündel von getrockneten Algen, runzlige Affenpfoten, Fellfetzen und andere Körperteile von Tieren, die ich lieber nicht allzu genau definieren wollte. Neben den Hexenküchenzutaten stapelten sich auch fleckige alte Bücher, bemalte Schalen und Vasen, Schmuck, polierte, gravierte Silberspiegel, ein alter Kompass, in Rahmen gespannte kunstvoll bemalte Lederhäute, Teppiche und unzählige grelle Geistermasken, ähnlich der am Eingang, nur kleiner.

Dicke Teppiche bedeckten auch den Boden und dämpften das Geräusch meiner Schritte. Ich arbeitete mich vor zum Tresen, indem ich einer Geruchsspur von Weihrauch und Kräutern folgte.

Über einer niedrigen Holztheke hing das Skelett eines riesigen Haifischkopfes zwischen gelben Papierlampions, die mit schwarzen Zeichen bemalt waren. Ich erkannte, dass es sich um Sigillen handelte. Vermutlich magische Fallen.

Darunter stand ein kleiner dicker Mann, der mich nicht aus den Augen ließ und ein freundliches Lächeln auf seine runzligen Lippen zauberte. Nebenbei setzte er Tee in einer mit Drachen verzierten blauen Porzellankanne auf.

Ruhig wie ein Buddha blieb er hinter seiner Theke sitzen. Seine Augen waren lediglich kleine Schlitze. Dahinter konnte ich keine Pupille erkennen, nur blindes Weiß, aber das war bei den mangelnden Lichtverhältnissen kein Wunder.

Was ich jedoch sofort erkannte, war die dämonische Aura des Ladenbesitzers. Und ich war sicher, dass er meine ebenfalls gespürt hatte. Wie von Zauberhand glitt ein Stuhl über die Teppiche direkt vor meine Füße und lud mich ein, am Tresen Platz zunehmen.

Der dämonische Buddha lächelte und holte zwei Becher aus einem fein geschnitzten indischen Schränkchen. Die Gefäße waren winzig und schimmerten wie Perlmutt.

Das Lächeln des ›Buddhas‹ war undurchdringlich, während er mit geübten Bewegungen Tee in die Becher perlen ließ. Das flackernde Licht der Butterlampen malte dunkle Schatten auf sein Gesicht.

Auf dem Tresen standen mehrere handgefertigte, glänzende Messingschalen verschiedener Größe und außerdem, in einer Ecke nahe der Wand, eine lebensgroße Statue aus schwarzem Holz, die einen dürren alten Mann mit Mandelaugen und hässlich breitem Grinsen zeigte. Die Gesichtszüge der Statue waren verzerrt und abstoßend, aber auf irritierende Art auch ebenmäßig. Die Augen glitzerten im Licht der Lampions wie lebendig. Das Gesicht, oder vielmehr der Blick, kam mir seltsam bekannt vor. Wenngleich ich auch nicht sagen konnte, warum. Bevor ich weiter grübeln konnte, schob eine fleckige, feiste Hand mir einen Perlmuttbecher herüber.

Ich setzte mich und hob den Becher an die Lippen. Der Ladenbesitzer verfuhr ebenso.

Noch immer sprach er kein Wort.

Erst als die ersten Schlucke des Tees getrunken waren, begannen die Augen des Dicken zu glitzern, und er fragte mich in perfektem Englisch, was mich hierher verschlagen habe.

Ich sah keinen Grund zu lügen oder um den heißen Brei herumzureden. »Ich suche die Zwillingstiger von Kherej Armat.«

Lis Gesicht zeigte keine Regung. Es versteinerte geradezu. Lediglich seine Augen schillerten plötzlich in einem fahlen Gelb und verrieten nun offen seine schwarzblütige Natur.

»Sie kommen leider zu spät, mein Freund. Ich besaß die Münzen. Und habe sie weggegeben. Verkauft, um genau zu sein. Gerade heute erst. Bedaure sehr, aber ich kann nicht helfen.«

»Verkauft?«, fragte ich. »An wen?«

Li winkte mit sanfter Geste, die nicht zu seinen feisten Händen passte, ab. »Das ist nicht wichtig. Er ist ein Sammler und wird nicht verkaufen.«

»Es ist mir ernst«, sagte ich. »Ich zahle gut und würde dem Käufer gern ein Angebot unterbreiten.«

»Bitte verstehen Sie. Mein Kunde legt Wert auf seine Privatsphäre.«

»Ich habe nicht vor, seinen Namen öffentlich zu machen. Weder in den Medien noch in anderen Kreisen. Ich bin lediglich sehr interessiert.«

Wäre der Ladenbesitzer ein normaler Sterblicher gewesen, hätte ich versucht, ihn mit ein paar Geldscheinen gefügig zu machen. So aber musste ich den untersten Weg gehen. Zumindest bis hierher.

»Vielleicht kann ich Sie für ein anderes schönes Stück interessieren?«

»Ich will nur die Zwillingstiger«, gab ich zurück. »Ich könnte mich für Ihre Hilfe sehr erkenntlich zeigen. Ich habe gute Kontakte in allen europäischen Zentren«, bot ich an und wir beide wussten, dass ich die Schwarze Familie meinte. »Ich kann Ihnen im Austausch das eine oder andere gute Stück aus dem Westen zukommen lassen.«

Li lächelte dünn. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich bedaure es zutiefst, aber …«

Mein Geduldsfaden riss. Zwar hatte ich es mit einem Dämon zu tun, aber meine magischen Sinne sagten mir, dass seine Kräfte schwach und unbedeutend waren. Also wagte ich das Risiko. Ich sprang auf, packte ihn jäh am Kragen und hypnotisierte ihn. »Sag mir, wem du die Zwillingstiger gegeben hast«, forderte ich und zerrte ihn von seinem Sitz hoch.

Er wehrte sich einen Augenblick gegen den Zauber, dann brach sein Willen unter meinem Willen wie ein trockener Zweig unter einem Stiefel. »Feng Lao.«

»Na bitte, geht doch.« Ich ließ den schwächlichen Dämon los. Ächzend sackte er wieder zurück auf seinen Schemel. Ich verschränkte die Finger und ließ unternehmungslustig die Gelenke knacken.

»Du wirst niemandem verraten, was hier geschehen ist. Weder in Worten noch schriftlich oder durch Zeichen«, suggerierte ich meinem Opfer. »Wir haben lediglich ein kurzes, belangloses Gespräch über antike Relikte geführt, und ich bin wieder gegangen.«

Li nickte benommen, und nachdem ich sicher war, dass meine Botschaft angekommen war, wandte ich mich ab.

»Vielen Dank für die freundliche Kooperation.« Die kaputte Türglocke gab nur ein jämmerliches Seufzen von sich, als ich den Laden verließ.

Ich wollte verdammt sein, wenn ich mir von einem Aushilfshexer wie diesem Li in die Suppe spucken ließ.

An meiner Seite huschte Peter durch die Gasse und klatschte in die Hände.

»Dann auf zu Feng Lao«, verkündete er.

»Ja«, knurrte ich leise. »Auf ins Gefecht.«

 

 

2.

 

Coco (Gegenwart)

Der Wagen verschlang unter seinen brausenden Rädern die endlose Straße, die mir immer mehr wie ein verlassener Highway in den Bad Lands des Mittelwestens vorkam. Ohne jeden Anhaltspunkt in der Landschaft, allein mit einer fernen, schwindenden Meeresbrandung am Horizont, vermochte ich nicht zu sagen, wie lange wir gefahren waren, als ein leichter Nieselregen einsetzte.

Ohne dass Nocturno irgendetwas tat, glitt hinter uns ein Verdeck hoch. Als es über mir eingerastet war und uns von der Außenwelt abschirmte, musterte ich den hellen, glänzenden Lederbezug, der nicht so recht zu den Sitzen zu passen schien. Und das, obwohl alles andere im Fahrzeug perfekt aufeinander abgestimmt schien. Je länger ich hinsah, umso stärker fiel mir auf, dass es kleine Schuppen waren, die dem Material seinen Glanz verliehen. Neugierig streckte ich zwei Finger aus und strich mit den Fingerspitzen über den ungewöhnlichen Bezug. Er war rau, wie eine Mischung zwischen einer Schlangenhaut und den Hornschuppen einer vorzeitlichen Echse.

Als ich das nächste Mal wieder aus dem Fenster sah, lenkte uns Nocturno über eine schmale Küstenstraße. Wir krochen und schlängelten uns eine Klippe hinauf wie ein Käfer, der hartnäckig an einem Zweig bis zur Spitze krabbelte. Das Meer war wieder ganz nah, tief unter uns, schien zu warten.

Zu lauern. Dunkel und schweigsam.

Kurve um Kurve nahm der Ferrari, und statt des Gipfels wartete nur die nächste Windung. Erst als ich schon beinahe nicht mehr damit rechnete, erreichten wir ein vielleicht fünfzig Quadratmeter durchmessendes Plateau, das zu drei Seiten steil herabfiel.

Direkt vor uns, auf der Spitze des Klippenzugs, stand ein kleines, englisch wirkendes Cottage.

Eine Behausung, wie man sie in einem Heile-Welt-Film erwartete mit einem grünen, niedrigen Zaun, einem sorgfältig gestutzten Rasen, roten Ziegeln, Reetdach, hölzernen Fensterläden, kaum größer als ein Geräteschuppen. Es fehlte nur noch ein Schaf im Vorgarten, um die Idylle perfekt zu machen.

Als der Wagen in der kiesgefüllten Auffahrt hielt und wir ausstiegen, verfinsterte sich der Himmel. Eine süßlich riechende Spannung lag in der Luft und kündigte ein Gewitter an. Bienen summten aufgeregt, aber ich konnte keine einzige fliegen sehen.

Während Nocturno zur niedrigen Tür des eingeschossigen Häuschens trat und einen altmodischen Messing-Türklopfer benutzte, blieb ich beim Wagen stehen und sah mich um. Nur einen Augenblick wollte ich den Ausblick genießen.

Der drohende Gewitterhimmel verlieh dem Meer eine noch düstere Schattierung. Fast schwarz wälzten sich träge die Fluten am Fuß der Steilküste.

Plötzlich war da eine Bewegung. Einen Herzschlag lang zuckte etwas aus den Wellen, klatschte auf und verschwand sofort wieder. Stirnrunzelnd starrte ich hinaus, als ich nichts sah, ließ ich meine magischen Sinne schweifen, doch alles, was ich spürte, war Kälte. Eine tiefe, bedrückende Kälte.

Und dann wieder – eine Bewegung! Ein großes Oval, noch schwärzer als schwarz, glitt wie der Schatten eines Luftballons unter den Wellen entlang. Da ich ihn von so weit oben deutlich sehen konnte, musste er riesig sein. Und dann zuckte wieder etwas aus den Wassern empor. Ein Fangarm? Und dort noch einer.

»Coco?«, riss mich Nocturnos Stimme aus meinen Beobachtungen. »Wo bleibst du?«

Ich zeigte auf die Wellen. »Dort ist …«

»Unwichtig. Komm herein, bevor der Regen beginnt.«

Ich hob die Schultern. Er erinnerte mich in diesem Augenblick kolossal an meinen Vater. Ob Nocturno sich dessen bewusst war? Andererseits wusste er womöglich etwas, das mir nicht bekannt war. Ich beschloss, ein paar Informationen aus ihm herauszukitzeln. Also blieb ich stehen.

»Was ist denn so schlimm am Regen. Dann werden wir nass, na und?«

Nocturno lächelte boshaft. Nebenbei drehte er den Türknauf, aber das Schloss ließ sich nicht öffnen.

»Du willst hier kein Gewitter erleben, kleine Coco.«

Kurz war ich versucht, ihm ein »Für dich immer noch Fräulein Zamis!« entgegenzuschleudern, aber dann ließ ich es bleiben. Zumal Nocturno bereits eiligen Schrittes um das Cottage herummarschierte. Vermutlich auf der Suche nach einer Hintertür.

»Wonach suchen wir hier eigentlich?«, fragte ich. In der Ferne grollte der erste Donnerschlag. »Warum willst du mir nichts sagen?«

Nocturno beschleunigte seine Schritte. Bis auf die Fenster an der Frontseite hatte das Haus keinerlei Öffnungen. Nur einen winzigen Schornstein auf dem Dach.

Nocturno schüttelte den Kopf, als wir das Haus einmal umrundet hatten.

»So wird das nichts«, murmelte er vor sich hin: »Er kommt nicht, ich werde ihn suchen.«

»Wen?«

Unvermittelt wandte sich Nocturno zu mir um.

»Klopf an«, befahl er.

»Aber hast du nicht gerade …«

»Mach, was ich dir sage.«

Jahrelange Selbstbeherrschung, geschult in unzähligen Standpauken meiner Familienangehörigen, schenkte mir Gelassenheit und die Gewissheit, dass es nichts brachte, ihn anzukeifen.

Also fügte ich mich ein weiteres Mal und tat, wie mir geheißen. Beim dritten Schlag erwärmte sich das Messing unter meinen Fingern. Ich wollte zurückzucken, aber ich konnte meine Hand nicht vom Griff lösen, so als klebte meine Haut daran.

»Keine Sorge, das ist gleich vorbei.« Nocturno nickte mir aufmunternd zu. Über uns zuckte ein Blitz durch das Wolkenmeer. Er war grell, aber seltsam farblos und erleuchte die Dunkelheit nicht. Der Donner hingegen dröhnte umso mehr in meinen Ohren.

Während ich noch verdutzt zum Firmament blickte, glitt die Tür auf, zog meine Finger mit sich, als wolle sie mich hereinbitten. Der Türknauf kühlte ab, und ich konnte meine Hand zurückziehen. Vor mir lag ein dunkler Flur, fast erdrückt durch die niedrige Holzdecke aus modrig riechenden dunklen Balken. Eine Armlänge entfernt erkannte ich die Umrisse eines Kleiderständers und weiter hinten die eines Bauernschranks.

»Geh hinein.« Nocturno wies in den Flur. »Und warte hier drin, bis ich wiederkomme.«

Es reichte. Ich fuhr herum. »Warum sollte ich?«

Draußen zuckte wieder einer der fahlen nicht-hellen Blitze, und ein ohrenbetäubender Donnerschlag brach über uns herein. Nocturno zuckte zusammen. Die Gewitterfront musste ganz nah sein.

»Es ist alles in Ordnung so.« Eine leichte Unruhe bebte in seiner Stimme. »Glaube mir, Coco, es ist gut so. Es ist alles Teil unserer Reise. Du würdest es nicht verstehen, wenn ich es erklärte. Aber du wirst es erleben und begreifen. Geduld. Jetzt ist nicht die Zeit zu fragen.«

Verschwörerisch hob er den Zeigefinger an die blassen Lippen, zwinkerte und zog langsam, aber bestimmt die Tür zwischen uns zu.

Wenige Sekunden später brummte draußen der Motor des Ferraris.

In diesem Moment ging über mir eine Lampe an. Sie erinnerte an eine Schiffslaterne. Einen Lichtschalter sah ich allerdings nirgendwo.

Dafür konnte ich mir nun den Bauernschrank näher betrachten. Er war grün und mit roten Blumenmustern bemalt. Die Farbe war alt und brüchig und blätterte an mehreren Stellen ab. Ich wollte bereits schulterzuckend vorbeigehen und mich einer schmalen Tür am gegenüberliegenden Ende des Flurs zuwenden, da bemerkte ich aus den Augenwinkeln ein Huschen. Hatten sich die Zeichnungen etwa bewegt?

Als ich hinsah, war alles beim Alten. Aber nun, da ich noch einmal genau hinsah, erkannte ich, dass die Blumen keine Blumen waren, sondern eine Art Würmer mit großen, aufgeblasenen Köpfen. Und was ich für Blütenblätter gehalten hatte, waren sich windende Zungen, die blutig aus den aufgerissenen Schlünden strebten und sich ineinander verhakten.

Dieses herzallerliebste Motiv fand sich auch auf verschiedenen vergilbten Drucken, die in einfachen Bilderrahmen die ebenfalls brüchige vergilbte Tapete schmückten. Auf einem Bild verschlangen aufgerichtete Würmer ihre Leiber ineinander und drängten sich zu einem Strauß zusammen. Die Köpfe richteten sie wie zur Anbetung zu einer schwarzen Sonne.