cover
Alfred Bekker, Ann Murdoch

Sieh nicht in die Schatten!

Sechs Romantic Thriller





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Sieh nicht in die Schatten! Sechs Romantic Thriller

von Alfred Bekker & Ann Murdoch

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 615 Taschenbuchseiten.

 

Dieses Buch enthält folgende sechs Romane:

Alfred Bekker: Die Angst verfolgt dich bis ans Ende

Alfred Bekker: Dein Albtraum wird zur Wirklichkeit

Ann Murdoch: 13 Eichen

Ann Murdoch: Dunkle Gebete

Ann Murdoch: Blutschwestern

Ann Murdoch: Pakt mit dem Bösen

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Authors

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de




Die Angst verfolgt dich bis ans Ende

von Alfred Bekker

 

Die Radiomoderatorin Lynne bekommt den Anruf eines Hörers, der behauptet, die Wiedergeburt eines Serienmörders zu sein. Nur ein verrückter Wichtigtuer? Oder hat eine zweifelhafte Reinkarnationstherapie tatsächlich dazu geführt, dass der dunkle Drang zu töten die Oberhand gewinnt? Bald scheint Lynne selbst in den Fokus des Mörders zu geraten...

 

 

1

Lynne Davis atmete tief durch.

Die Musik war gleich zu Ende. Sie blickte nach links, wo Clark Grady, der Aufnahmeleiter hinter einem Glasfenster saß und ihr zunickte. Lynne strich sich eine Haarsträhne zurück.

Mein Gott, dachte die junge Frau. Ich mache diese Sendung nun schon fast drei Monate. Allmählich sollte sich wenigstens ein klein bisschen von dem einstellen, was man Routine nennt. Aber Lynne hatte noch immer vor jeder Sendung Schmetterlinge im Bauch.

Die Musik war zu Ende.

Ein rotes Licht ging an.

Jetzt war sie auf dem Äther und mindestens einige hunderttausend Ohrenpaare würden jetzt der Stimme von Lynne Davis lauschen.

"Und hier ist wieder Radio KLM, London und ich begrüße mal wieder alle Nachtschwärmer zur zweiten Hälfte von Lynne's Night-Talk. Heute zum Thema Reinkarnation und Wiedergeburt. Glaubt ihr daran, dass es mehrere Leben gibt, dass die Seele vielleicht nach dem Tod des Körpers weiterexistiert - oder seit ihr der Meinung, dass nach dem Tod alles zu Ende ist? Habt ihr schonmal gelebt? Es gibt Menschen, die davon überzeugt sind. Ganze Kulturen bauen auf diesem Glauben auf..."

Dann gab Lynne die Telefonnummer über den Sender. Zweimal, zum Mitschreiben.

Eine kurze Musikeinspielung folgte, dann der erste Anruf.

"Hallo, hier ist Lynne Davis. Wer spricht da?"

"Bill."

Die Stimme hatte einen seltsam dumpfen Klang, das fiel Lynne sofort auf. Aber sie dachte zunächst nicht weiter darüber nach.

"Bill, warum rufst du an? Was willst du uns erzählen?"

"Ich habe den ersten Teil der Sendung gehört - vor den Nachrichten. Und da dachte ich..." Er stockte. Seine Stimme klang wirklich merkwürdig... "Ich dachte, da muss ich mal anrufen. Es ist nämlich so, dass ich schonmal gelebt habe..."

"Du glaubst also an die Wiedergeburt."

"Ich weiß es, verdammt noch mal!"

Es war ein kleiner Ausbruch von unterdrückter Wut, der Lynne unwillkürlich einen Schauer über den Rücken jagte. Sie hörte ihn durch das Telefon atmen. "Entschuldigung", sagte er. "Aber es ist immer dasselbe, wenn man darüber redet. Man wird nicht ernst genommen..."

"Ich würde das Thema nicht in meine Sendung nehmen, wenn ich es nicht ernst nähme", erwiderte Lynne. "Aber sag mal, was ist mit deiner Stimme? Man kann dich so schlecht verstehen?"

"Ich spreche durch ein Taschentuch. Ich will nicht, dass jemand, den ich kenne, meine Stimme wiedererkennt..."

"Verstehe", murmelte Lynne. Er war nicht der erste Anrufer, der anonym bleiben wollte. Und natürlich hieß er auch nicht Bill. Aber darauf kam es nicht an.

"Ich hatte viele Leben in verschiedenen Zeitaltern", sagte der Anrufer. "Die meisten waren nichts besonderes. Durchschnittsmenschen, Handwerker, Bauern. Aber vor hundert Jahren wurde ich als William Delaney geboren..."

Lynne verstand nicht, aber Bill hatte das so gesagt, als würde es etwas bedeuten.

"Wer war dieser Delaney?", fragte Lynne.

"Ein Mörder. Er hat neun Frauen der feinen Gesellschaft umgebracht. Ich habe immer die Bilder dieser Frauen vor mir..." In seine Stimme kam ein seltsames Vibrieren hinein.

"Wie kommst du zu der Überzeugung, dass du einmal ein Mörder warst?", fragte Lynne.

"Ich habe eine Reinkarnationstherapie mitgemacht, weil ich psychische Probleme hatte und mir eine normale Therapie nicht helfen konnte..."

Oh, mein Gott! Ein Verrückter!, ging es Lynne unwillkürlich durch den Kopf. Wie hatte ihr Team den nur auf den Sender lassen können? Ein gutes Dutzend Mitarbeiter machten während der Sendung nichts anderes, als solche Anrufer auszufiltern.

"Eine Reinkarnationstherapie?", echote Lynne. "Was ist das?"

"Man geht davon aus, dass die Probleme, die man in diesem Leben hat, durch ungelöste Konflikte in früheren Leben verursacht sind. Der Therapeut versetzt den Patienten in Hypnose und geht mit ihm zunächst in die frühe Kindheit zurück. Dann zur Geburt, anschließend in die Zeit vor der Geburt und in frühere Leben. Ich war William Delaney, der neunfache Frauenmörder... Ich erlebte die Morde, ich sah die Opfer... Ich wurde hingerichtet, Lynne!"

Er brach ab.

"Hat dir diese Therapie denn geholfen?"

"Nein. Ich werde die schrecklichen Bilder nicht mehr los. Jede Nacht sehe ich die Gesichter der Frauen vor mir, die ich umgebracht habe. Ich sehe sie in einer langen Reihe und als letztes sehe ich mein eigenes Gesicht - ich meine, das Gesicht, das ich damals, als William Delaney hatte - in der Reihe..."

"Bist du immer noch in dieser Reinkarnationstherapie?", fragte Lynne.

"Nein. Ich habe sie abgebrochen."

"Bist du zu einem anderen Therapeuten gegangen? Einem Arzt?"

"Mir kann niemand helfen. Das weiß ich. Diese Bilder... Niemand kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn man plötzlich erfährt, dass man ein Mörder ist..."

"Ich verstehe dich gut", sagte Lynne.

"Nein, das versteht niemand. Niemand wirklich. Und dann... Da ist noch etwas..." Er stockte und machte eine kleine Pause. Einen Augenblick hatte Lynne schon den Verdacht, der Anrufer könnte raus aus der Leitung sein.

"Was ist da noch, Bill?", hakte sie nach.

"Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Also, ich habe Angst, dass der Mörder, der ich war, wieder hervorbricht... Verstehst du, was ich meine?"

Bill hatte jetzt mit zitternder Stimme gesprochen.

"Erkläre es mir", erwiderte Lynne so sanft und ruhig sie konnte.

"Ich habe Angst, dass ich wieder der werde, der ich in einem früheren Leben schon einmal war! William Delaney, ein Serienmörder! Wenn ich diese High-Society-Frauen mit ihren Klunkern und Ketten um den Hals sehe... Ich beginne zu verstehen, weshalb ich - also ich meine Delaney - sie umbringen musste..."

Er atmete schwer. Die Zeit, die für einen einzelnen Anruf zur Verfügung stand, war längst verbraucht.

Aber Lynne konnte Bill jetzt nicht sich selbst überlassen.

Wenn sie Glück hatte, konnte sie ihn dazu überreden, sich noch mit dem Psychologen, den sie im Sendeteam hatten, zu unterhalten - natürlich ohne, dass davon etwas über den Sender ging. Denn Hilfe brauchte dieser Mann ohne Zweifel.

"Bill, hier warten bereits einige andere Anrufer in der Warteschleife", sagte Lynne. "Vielleicht unterhältst du dich noch ein bisschen mit unserem Psychologen... Hallo?"

Es hatte klick gemacht.

"Bill? Bist du noch dran?"

Die Leitung war tot.



2

"Mein Gott, du bist ja kreideweiß", meinte Clark Grady, der Aufnahmeleiter, als die Sendung zu Ende war.

Lynne schluckte.

"Ich bin froh, dass die Sendung zu Ende ist", gestand sie und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Clark hatte ihr einen schwarzen Kaffee hingestellt. Lynne lächelte matt.

"Danke."

"Keine Ursache. Ich glaube, den brauchst du jetzt."

"Das kann man wohl sagen."

Grady setzte sich zu der jungen Frau. Lynne war Mitte zwanzig und sportlich gekleidet. Sie trug Jeans und Pullover. Aber das lange Haar, das sie hochgesteckt trug, gab ihr einen Hauch von Eleganz.

"Das mit diesem Irren hat dich ziemlich mitgenommen, nicht wahr Lynne?", hörte sie Gradys Stimme.

Grady war doppelt so alt wie sie und sie wusste genau, dass sie es nur zur einen Hälfte ihrem Talent zu verdanken hatte, dass sie diese Sendung seit drei Monaten moderierte.

Talent war die Voraussetzung. Die andere Seite der Medaille waren Menschen, die dieses Talent erkannten und förderten.

Und das war Grady gewesen.

"Da musst du durch, Lynne."

"Dieser Mann ist krank, er braucht Hilfe."

"Ich weiß."

Eine attraktive Blondine tauchte auf und reichte Grady ein paar Unterlagen.

Lynne kannte sie. Es war Colleen McGray, eine aus dem Team, das die Anrufe entgegennahm.

"Wie konntet ihr diesen Verrückten auf den Äther lassen?", knurrte Grady sie an.

Er konnte sehr jähzornig werden, das wusste Lynne aus eigener Erfahrung. Aber meistens meinte er es gar nicht so hart, wie er es sagte. Und irgendeiner musste den Laden schließlich zusammenhalten. Deshalb konnte Lynne ihm das nachsehen.

"Ich...", stotterte Colleen.

"Wozu werdet ihr eigentlich bezahlt?"

"Die Story dieses Mannes klang interessant und überzeugend. Er wirkte sehr viel ruhiger, als er mit mir sprach..."

"Ja, ja..." Grady winkte ab und Colleen ging mit einem Schmollmund wieder davon. Sie schien wirklich beleidigt zu sein.

"Colleen kann doch nichts dafür!", versuchte Lynne sie zu verteidigen.

"Natürlich kann sie das! Sie soll besser aufpassen!"

Colleen ließ die Tür zuknallen.

Grady blickte Lynne gerade an. "Vergiss es so schnell du kannst, Lynne."

Sie lächelte matt.

"Spätestens zur nächsten Sendung", versprach sie und warf einen kurzen Blick zur Uhr. Halb zwei in der Nacht. Zeit, dass ich nach Hause komme, dachte sie.

Wenig später, als sie das Gebäude des Senders verließ und die frische, kühle Nachtluft in sich aufsog, kam ihr eine Gestalt entgegen. Es war ein Mann mit wehendem Mantel, der ziemlich abgehetzt wirkte. Im Schein der Außenbeleuchtung erkannte sie ihn sofort. Es war niemand anderes als Joe Stapleton, einer der Techniker, die zum Team ihrer Sendung gehörte. Ein netter Kerl, aber manchmal etwas unzuverlässig.

Und Grady konnte so etwas auf den Tod nicht ausstehen, deshalb hatte es von Anfang an Reibereien zwischen den beiden gegeben.

Stapleton sah sie kurz an.

Dann verzog er das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Hallo, Lynne!"

"Warst du gar nicht bei der Sendung dabei?"

"Ich bin im Verkehr steckengeblieben. Ein schwerer Unfall auf der Schnellstraße..." Er schluckte. "Wie ist Gradys Laune?"

"Nicht besonders gut", gestand Lynne. "An deiner Stelle würde ich da jetzt nicht hinaufgehen."

"Wenn ich's nicht tue, wird's nur schlimmer", glaubte Stapleton und ging an ihr vorbei. Dann drehte er sich nochmal halb zu ihr herum und sagte: "Ich habe die Sendung im Autoradio gehört, während ich im Stau stand. Du warst gut. Wirklich gut."

Sie lächelte matt. "So was hört man gerne!"

"Es war das erste Mal, dass ich die Sendung nicht aus dem Studio mitgekriegt hab. Ich muss sagen, es wundert mich überhaupt nicht mehr, weshalb du Waschkörbe voll Fanpost bekommst..."



3

Lynne bewohnte eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Obergeschoss eines Londoner Mietshauses, das so um die Jahrhundertwende erbaut worden sein musste.

Seit zwei Jahren wohnte sie dort, seit sie bei dem kleinen Privatsender KLM angefangen hatte. Inzwischen war KLM um einiges gewachsen und Lynnes Ansprüche, was eine Wohnung anging, eigentlich auch. Aber es war nicht leicht, in London etwas zu finden. Zwar war es, seit sie ihre eigene Sendung hatte, kein finanzielles Problem mehr, aber sie hätte sich intensiver darum kümmern müssen.

Und im Moment fehlte ihr dazu die Zeit.

Nachdem Lynne die Wohnung betreten hatte, ließ sie sich in einen der weichen Sessel fallen und rieb sich die Schläfen.

Morgen war Samstag und das war gut so, denn es bedeutete, dass sie frei hatte. Lynne's Night-Talk wurde von Montags bis Freitags gesendet, jeweils um Mitternacht.

In dieser Nacht schlief Lynne wie ein Stein.

Es musste irgendwann gegen Morgen sein, als sie plötzlich aus dem Schlaf hochschreckte. Ein düsterer Traum echote noch in ihr. Die offensichtlich verstellte Stimme des Anrufers, der sich Bill genannt hatte und sich für die Wiedergeburt eines Mörders hielt spukte noch in ihrem Kopf herum.

Aber dann merkte die junge Frau, dass es das Telefon war, das sie geweckt hatte.

Im nächsten Moment war sie hellwach.

Wer rief um diese Zeit noch an? Sie sah auf die Uhr. Drei Uhr nachts.

Seit Lynne die Sendung hatte, war sie immer wieder von Anrufern belästigt worden und daher besaß sie eine Geheimnummer, die nur wenigen Vertrauten bekannt war. Ihre Eltern gehörten dazu, ihre beste Freundin, und Grady, ihr Chef beim Sender...

Lynne stand auf.

Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie den Hörer abnahm.

Dann griff sie entschlossen zu.

"Ja?"

Aber auf der anderen Seite der Leitung blieb alles tot.

Niemand sagte etwas. Es machte leise klick und dann war es vorbei.

Seltsam, dachte Lynne.



4

Am nächsten Tag war sie mit Mary Collins, ihrer besten Freundin, in der Eishalle verabredet. Mary war zwei Jahre jünger als Lynne, studierte noch und verdiente sich nebenbei ihr Geld als Model für Werbefotos.

Es war ein kühler, dunstiger Tag. Der Nebel hing wie eine grauweiße Suppe über London.

Lynne war etwas zu spät, aber sie hatte Glück. Mary wartete noch am vereinbarten Treffpunkt.

"Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt!", maulte sie.

"Für wen hältst du mich?"

"Naja, es hat mich ja auch gewundert."

Lynne zuckte die Achseln.

"Ich habe schlecht geschlafen..."

"Oh. Dann bist du natürlich entschuldigt", lachte Mary, wobei sich auf ihren Wangen ein paar Grübchen zeigten.

Lynnes Lächeln geriet etwas dünn. Dann fragte sie: "Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Ich hätte dich um ein Haar nicht wiedererkannt..."

Mary hob die Schultern.

"Ich habe Fotos gemacht - Werbung für eine Brillenfirma, um genau zu sein. Tja, und die von der Werbeagentur wollten nur mein Gesicht, nicht meine Haare, da musste ich sie abschneiden lassen. Bei den langen Locken käme die Brille nicht zur Geltung!"

"Steht dir aber auch!"

"Danke! Und nun lass uns endlich reingehen, sonst wird es so voll auf dem Eis, dass es keinen Spaß mehr macht!" Mary wollte sich schon zum Gehen wenden, aber Lynne fasste sie am Arm.

"Einen Moment noch."

"Ja?"

"Hast du heute Nacht bei mir anzurufen versucht?"

Mary schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, wie kommst du darauf?"

"War nur eine Frage."



5

Anderthalb Stunden später waren sie ziemlich aus der Puste und saßen bei einer russischen Schokolade in dem Café, das zur Eishalle gehörte.

"Du bist nichts mehr gewohnt!", meinte Mary.

Lynne nippte an ihrer Tasse und erwiderte: "Ich weiß, meine Kondition ist miserabel."

"Seit du diese Sendung hast, kommst du zu fast nichts anderem mehr..."

"Ja." Lynne nickte. "Aber es ist eine einmalige Chance, so etwas muss man beim Schopf packen."

"Da hast du recht."

Lynnes Blick wurde nachdenklich. Sie hatte keine Lust, sich jetzt über den Sender zu unterhalten, auch wenn sie sonst mit Mary immer den neuesten Klatsch austauschte, den es von dort zu berichten gab. Aber nicht heute.

"Hör mal, Mary...", begann sie dann, brach aber im nächsten Moment wieder ab, als sie sah, dass die Augen ihres Gegenübers starr in eine Richtung blickten. "Was ist los?", fragte Lynne ihre Freundin und drehte sich herum.

Sie folgte Marys Blick, der in Richtung des Eingangs gerichtet war.

Gerade war dort ein Mann eingetreten. Er war Anfang dreißig, dunkelhaarig und trug unter seinem offenen Mantel einen Anzug, der sicher seine 300 Pfund Sterling gekostet hatte.

Er sah gut aus, fand Lynne, aber auf jeden Fall war er absolut unpassend für einen Besuch der Eishalle gekleidet.

Der Dunkelhaarige sah sich im Raum um, dann fiel sein Blick auf Mary und er ging geradewegs auf sie zu.

"So ein Zufall", begrüßte er sie. "Ich hätte nicht gedacht, Sie hier wieder zu treffen..."

"Ja, ich..." Mary stammelte etwas Sinnloses vor sich hin.

Sie schien recht verlegen zu sein und ihr Gesicht wurde von einer leichten Röte überzogen. Aber nach ein paar Sekunden hatte sie sich wieder im Griff. Sie wandte sich an Lynne.

"Lynne, darf ich dir Jack Gordon vorstellen? Er gehört zu der Werbeagentur, mit der ich die Brillen-Serie gemacht habe. Jack, das ist..."

"Sie müssen Lynne Davis sein", wurde Mary von Jack Gordon unterbrochen. Er bedachte Lynne mit einem seltsamen Blick. In seinen dunklen Augen war etwas, das die junge Frau vom ersten Moment an faszinierte, ohne dass sie genau hätte sagen können, was es war. "Die berühmte Lynne Davis von Radio KLM. Diese Stimme würde ich unter tausenden heraushören..."

"Sie übertreiben, Mr. Gordon."

"Nennen Sie mich Jack."

"Jack."

"Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?"

Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern setzte sich einfach. "Wussten Sie, dass ich Ihre Sendung niemals verpasse? Zumindest nicht, wenn es sich irgendwie einrichten lässt. In unserer Branche gehören die meisten nicht zu den Frühaufstehern, wenn Sie verstehen, was ich meine."

"Sie sind in der Werbung, hat Mary gesagt", murmelte Lynne, eigentlich nur, um auch etwas zu sagen.

Er nickte.

"Stimmt. Ich habe zusammen mit einem Partner eine Agentur. Es läuft ganz gut." Er fixierte Lynne mit einem Blick, der ihr durch und durch ging. "Sie haben ein interessantes Gesicht, Lynne. Wollen Sie sich nicht auch mal für irgendetwas ablichten lassen?"

"Nein, danke", schüttelte die junge Frau entschieden den Kopf. "Dazu hätte ich auch gar keine Zeit..."

"Schade..."

Inzwischen kam die Bedienung und Jack Gordon bestellte eine Tasse schwarzen Kaffee.

Dann wandte er sich wieder an Lynne.

"Ihre letzte Sendung geht mir nicht aus dem Kopf", sagte Jack.

"Ach, ja?"

Lynne war alles andere als begeistert, dass er gerade auf dieses Thema kam.

"Dieser Mann, der behauptete, die Wiedergeburt eines Mörders zu sein..."

"Hören Sie, Jack, können wir nicht über etwas anderes reden?", fiel Lynne unvermittelt dazwischen, aber Jack fuhr dennoch fort.

"Ich habe Sie sehr bewundert", erklärte er und es klang aufrichtig.

"Bewundert?", echote Lynne.

"Ihr Einfühlungsvermögen. Sagen Sie, wie ist Ihre persönliche Meinung zu dem Thema? Was das angeht, haben Sie sich sehr zurückgehalten - ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Art. Glauben Sie an die Wiedergeburt?"

Lynne war überrascht.

Dann lächelte sie und zuckte die Achseln.

"Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Einerseits halte ich es grundsätzlich für möglich, aber auf der anderen Seite gibt es noch keinen Beweis!"

"Und diese Reinkarnationstherapien, bei denen Patienten in frühere Leben zurückgeführt werden? Ist das kein Beweis?"

"Fest scheint nur zu stehen, dass die Betroffenen irgendetwas sehen", meinte Lynne. "Aber ob das Erinnerungen an frühere Leben sind oder Dinge des Unterbewusstseins - wer will das beurteilen?"

"Ausschließen würden Sie aber nicht, dass dieser Mann tatsächlich die Wiedergeburt von William Delaney ist..."

Lynne schluckte unwillkürlich.

"Natürlich nicht."

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, wobei Mary kaum etwas dazu beitrug. Sie bestellte sich noch eine zweite Schokolade und saß ziemlich gelangweilt da.

Dann blickte Jack plötzlich auf die Uhr und gab an, noch einen Termin zu haben.

"Am Samstag?", fragte Lynne verwundert.

Jack lachte.

"Der Kunde ist nun mal König, auch wenn er sehr ungeduldig ist und seine Werbekampagne am liebsten schon vorgestern hätte... Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder..."

"Vielleicht", murmelte Lynne.

Dann verabschiedete Jack Gordon sich.

"Meine Güte, den hast du aber beeindruckt!", staunte Mary.

Lynne machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Du übertreibst", war sie überzeugt.

"Wieso? Ich war doch völlig Luft für ihn!"

Lynne wirkte auf einmal nachdenklich. Dann fragte sie ihre Freundin: "Was ist das für ein Mann?"

Mary machte ein unbestimmtes Gesicht.

"Er ist kreativ und schon recht erfolgreich, obwohl er wohl erst ganz am Anfang steht. Soll ich dir seine Telefonnummer geben?"

"Sehr witzig!"

Mary lachte.

"Das war ganz ernst gemeint!"

Später, als Lynne wieder in ihre Wohnung kam, erlebte sie eine Überraschung. Auf dem Wohnzimmertisch fand sie einen Bund Rosen vor, die mit Draht zusammengehalten wurden. Der Draht war dabei zu einer seltsamen Schlinge geformt...



6

Am Montag Nachmittag ging Lynne wieder in den Sender. Eine Redaktionskonferenz war angesetzt.

"Na,schönes Wochenende gehabt?", begrüßte Colleen McGray sie mit einem säuerlichen Lächeln.

"Es ging", erwiderte Lynne. "Jedenfalls hatte ich dringend die freien Tage nötig."

"Verstehe. Aber sei gewarnt. Grady ist mal wieder auf hundertachtzig."

"Oh", machte Lynne.

"Hast du es schon gehört?", flüsterte Colleen dann, während die Frauen den Sitzungsraum betraten.

Lynne wandte sich herum. "Nein, was denn?"

"Grady hat dafür gesorgt,dass Joe aus dem Team genommen wurde. Er sei zu unzuverlässig. Jetzt ist er in einer anderen Abteilung des Senders."

"Das ist schade."

Colleen nickte. "Sei nur froh, dass dir so etwas nicht passieren kann."

Lynne sah verwundert drein. "Wie kommst du darauf?", fragte sie erstaunt.

Colleen lächelte freundlich. "Du bist doch inzwischen so etwas wie das Markenzeichen der Sendung geworden, da kannst du dir mehr rausnehmen. Denn im Zweifelsfall würde sich KLM vermutlich eher von Grady als von dir trennen!"

Lynne zuckte die Achseln.

"Aber nur, solange genug Leute das Radio anmachen, wenn ich im Äther bin!"

Colleen lachte.

"Das sowieso, Lynne!"

"Ach, Colleen..." Lynne nahm sie etwas zur Seite.

"Was ist denn?"

"Hast du eine Ahnung, wer auf die Idee gekommen sein könnte, mir ein paar Rosen in die Wohnung zu legen, während ich nicht zu Hause war?"

Colleen wirkte ziemlich erstaunt. "Keine Ahnung. Muss jemand sein, der Schlüssel hatte, oder?"

"Da gibt es keinen, der in Frage kommt."

"Wer was davon versteht, kommt auch so in jede Wohnung rein", meinte Colleen leichthin. "Vielleicht jemand aus deinem Publikum!", fing sie dann an zu necken. "Das liebt dich doch inzwischen abgöttisch..."

Aber Lynne fand das alles andere als witzig.



7

Die Konferenz dauerte etwa eine Stunde. Lynne hatte bis ungefähr um elf Uhr abends noch Zeit und überlegte, ob sie nicht etwas essen gehen sollte.

Natürlich nur etwas Leichtes und vor allen Dingen nichts, von dem man hinterher aufstoßen musste. Schließlich wäre es nicht gerade ihrem Image förderlich gewesen, wenn sie mitten in der Sendung, womöglich während einer herzzerreißenden Schicksalsbeichte, ein unappetitliches Geräusch über die Lippen gehen ließ.

Aber Lynne hatte sich längst daran gewöhnt, in diesen Dingen Disziplin zu halten.

Lynne erreichte den Parkplatz des Senders, um zu ihrem Wagen zu gelangen, den sie ein paar Augenblicke später erreicht hatte.

Sie hatte gerade den Schlüssel ins Türschloss gesteckt, da ließ eine Stimme sie herumfahren.

"Hallo, Lynne - ich darf Sie doch so nennen. Schließlich nennen alle Ihre Hörer Sie so!"

Lynne blickte in das freundlich lächelnde Gesicht von Jack Gordon, dessen warme, dunkle Augen sie aufmerksam musterten.

Lynne lächelte zurück.

"So ein Zufall."

"Das ist kein Zufall", erklärte Gordon und umrundete dabei den Porsche, mit dem er offenbar gekommen war. Werbung musste ein einträgliches Geschäft sein, ging es Lynne durch den Kopf.

"Kein Zufall?", echote sie.

"Ich habe auf Sie gewartet, Lynne."

"Ich hoffe nicht, dass Sie zu den zwei Dutzend Leuten gehören, die mir pro Woche einen Heiratsantrag machen wollen...", scherzte Lynne.

Jack grinste.

"Nein, eigentlich wollte ich Sie nur zum Essen einladen. Aber... Sie bringen mich da auf einen interessanten Gedanken."

"Hören Sie bloß auf!"

Sie lachten beide. Und bei dem Blick, den Jack ihr dann zuwarf, fühlte Lynne ein seltsames Kribbeln.

Jack öffnete indessen die Beifahrertür des Porsches.

"Steigen Sie schon ein! Sie wollten doch essen, oder? Und bis zu Ihrer Sendung haben Sie doch noch ein bisschen Zeit... Ich werde Sie ganz bestimmt wieder pünktlich hier absetzen!"

"Sie lassen nicht locker, was?" Lynne strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Warum eigentlich nicht?, dachte sie dann.

Dieser Jack schien ein interessanter und sympathischer Mann zu sein. Und nachdem sie in der letzten Zeit fast ausschließlich für ihre Arbeit gelebt hatte, war es vielleicht an der Zeit, sich mal wieder etwas Privatleben zu gönnen.

"Also gut", sagte sie dann.



8

Es war ein französisches Restaurant der oberen Kategorie, in das Jack die junge Frau ausführte. Lynne wollte erst protestieren, weil sie meinte, dass sie dafür eigentlich nicht passend angezogen sei.

Aber Jack bestand darauf. Und er setzte sich mit seiner Hartnäckigkeit schließlich auch durch.

"Warum nicht spontan sein", meinte er zu ihr. "Mal den Augenblick zu dem nutzen, wofür er geschaffen ist!"

"Schön gesagt, aber...

"Kein Aber, Lynne! Kommen Sie!"

Und dabei fasste er ihre Hand.

Als sie dann am Tisch saßen und der Ober den Wein gebracht hatte, fragte Lynne plötzlich: "Woher wussten Sie, dass Sie mich da auf dem Parkplatz antreffen?"

Er lächelte.

"Ich habe mich erkundigt."

"Niemand kann wissen, wann so eine Konferenz zu Ende ist!"

"Ich habe auf Sie gewartet, Lynne."

"Sind Sie immer so zielstrebig?"

"Nur in Ihrem Fall, Lynne."

Sie stießen mit den Gläsern an.

"Auf die Zukunft!", sagte Jack und Lynne hatte nichts dagegen einzuwenden.

"Meinetwegen", kam es leise über ihre Lippen.

Während des Essens unterhielten sie sich über alles Mögliche, wobei Lynne feststellte, dass sie den Großteil davon bestritt. Sie erzählte Jack, dass sie erst seit einem halben Jahr in London sei, dass es schwer war, hier Anschluss zu finden, welches Glück sie gehabt hatte, als sie den Job bei KLM und wenig später sogar eine eigene Sendung bekommen hatte...

Ihr Redefluss schien ihn nicht zu stören.

Im Gegenteil, er hörte ihr aufmerksam zu.

"Ich langweile Sie sicher mit meinem Gerede", sagte Lynne dann schließlich, etwas verlegen.

Aber Jack schüttelte ganz entschieden den Kopf.

"Nein, ganz bestimmt nicht."

"Wirklich nicht?"

"Sie sind eine faszinierende Frau, Lynne und ich höre Ihnen gerne zu. Hatte ich das Ihnen nicht schon einmal gesagt?"

Er lächelte. "Schließlich war das der Grund, weshalb ich Sie kennenlernen wollte!"

"Weil Sie meine Stimme im Radio gehört haben, ich weiß", murmelte Lynne. "Und jetzt haben Sie mich live gegenüber!"

"Richtig und das ziehe ich dem Hören Ihrer Sendung bei weitem vor!"

Sie lachten. Und Lynne fühlte wieder dieses eigentümliche Kribbeln. Dieser Mann interessierte sie, es hatte keinen Sinn, das länger leugnen zu wollen.

Seine Art, sein sicheres Auftreten gepaart mit dem Verständnis, das er signalisierte, das gefiel ihr. Und außerdem hatte er Charme.

Dann entstand eine Gesprächspause, in der sich ihre Blicke begegneten.

Lynne fühlte, wie ihr Puls schneller ging.

"Sie wissen jetzt schon so viel über mich", stellte sie dann etwas verlegen nach einigen Augenblicken des Schweigens fest, um die Stille endlich zu brechen. "Wie wär's, wenn Sie auch mal etwas über sich erzählen, Jack!"

Er zuckte die Achseln.

"Da gibt es nicht viel zu erzählen, denke ich."

Lynne zog die Augenbrauen hoch und beugte sich etwas vor.

"Und das sagt ein Mann, der in einer Branche arbeitet, die sich selbst als kreativ bezeichnet?"

Er beugte sich ebenfalls etwas vor und erwiderte mit einem leicht spöttischen Gesichtsausdruck: "So wird die Werbebranche nur von Außenstehenden bezeichnet!"

Lynne zeigte einen Ausdruck gespielten Erstaunens.

"Ach - Sie sind kein kreativer Mensch?", lächelte sie.

"Ich bin völlig einfallslos!", erwiderte Jack und versuchte dabei einen unbestimmten Gesichtsausdruck aufzusetzen, was ihm gründlich misslang.

"Wie kommt es nur, dass ich das Gefühl habe, Sie nehmen mich auf den Arm, Jack?"



9

Als sie das Restaurant verließen, war es schon dunkel.

Sie gingen Arm in Arm durch nebeligen Straßen Londons. Es war kühl und feucht und inzwischen war ein scharfer Wind von Westen her aufgekommen.

Die Kälte schnitt ohne Schwierigkeiten durch Lynnes Mantel hindurch.

Aber das alles machte ihr im Augenblick nichts aus. Sie spürte wie ein warmes Glücksgefühl ihren gesamten Körper durchströmte.

Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht, sagte sie sich.

Aber vielleicht auf den zweiten... Jedenfalls fühlte sie sich in Jack Gordons Gegenwart so wohl wie schon lange nicht mehr.

Jack hatte den Wagen in einer Nebenstraße geparkt, die sie nach wenigen Minuten erreicht hatten.

Hinter dem Scheibenwischer steckte ein Strafmandat wegen Falschparkens, das Jack, ohne daraufzusehen in die Manteltasche steckte.

Dann brachte er sie zurück zum Gebäude von Radio KLM.

"Ich würde Sie gerne wiedersehen, Lynne", sagte Jack, bevor die junge Frau aus dem Wagen stieg.

"Gut."

"Also, bis demnächst", lächelte Jack.

Lynne sah auf die Uhr. Es wurde Zeit. Sie wollte keines von Gradys gefürchteten Gewittern auf sich herabbeschwören.

"Ich muss jetzt gehen", sagte sie. Jack gab ihr zum Abschied einen zurückhalten Kuss auf die Wange.

"Ich werde mir Ihre Sendung anhören!", versprach er.

Ein paar Augenblicke später stand Lynne dann da, sah Jacks Porsche davonfahren und ärgerte sich darüber, dass sie ihn weder nach seiner Adresse noch nach seiner Telefonnummer gefragt hatte.

Ich bin ein Schaf, dachte sie. Andererseits eine Werbeagentur, die so wenig Werbung für sich machte, dass sie nicht einmal im Telefonbuch stand war kaum denkbar.



10

"Hör' mal, wo bist du mit deinen Gedanken, Lynne?", fragte Grady etwas unwirsch über den Kopfhörer.

Es war mitten in der Sendung, allerdings lief gerade eine Musik-Einspielung über den Äther.

"Was ist denn los?", fragte Lynne, obwohl sie es natürlich genau wusste.

"Konzentriere dich mehr auf deine Gesprächspartner! Weiß der Teufel was dir im Kopf herumgeht - es hat da jetzt nichts zu suchen, kapiert?"

"Klar."

Und dann kam das rote Signal. Lynne war wieder an der Reihe. "Hier ist Radio KLM mit Lynne's Night-Talk, der heute wieder einmal für alles offen ist, das heißt es gibt kein bestimmtes Thema, um das es in dieser Nacht geht, sondern ihr könnt euch zu allem äußern, was euch so bewegt... Und da ist auch schon der Anrufer... Mit wem spreche ich?"

"Hallo, Lynne... Wir haben schonmal miteinander gesprochen."

Lynne fröstelte unwillkürlich bei dem dumpfen Klang der ziemlich undeutlich sprechenden Stimme.

"Sagst du mir deinen Namen?"

"Ich bin es, Bill!"

"Bill! Schön, dass du nochmal anrufst." Und dann fasste Lynne in einem Halbsatz für die Hörer zusammen, worum es in dem ersten Gespräch mit Bill gegangen war. "Beim letzten Mal sind wir ziemlich plötzlich unterbrochen worden", stellte die junge Frau dann fest.

"Ja", kam es dumpf durch die Telefonleitung.

"Was ist passiert..."

"Es wird übermächtig...", flüsterte der Anrufer nach einigem Zögern. "Ich kann nicht mehr dagegen an. Nein, ich will es auch nicht, aber ich weiß, dass es nicht gut ist... Es bricht hervor..."

"Was bricht hervor, Bill?"

Ein röchelndes Atmen war zu hören. Dreimal holte der Anrufer namens Bill Luft, ehe er schließlich antwortete.

"Der Drang zu töten, Lynne. Derselbe Drang, den auch William Delaney vor hundert Jahren gespürt hat... Ich habe hier eine Drahtschlinge, verstehst du? Ich bin in einen Hobbymarkt gegangen und habe mir Draht besorgt... William Delaney hat mit Draht getötet... Mein Gott!"

Lynne hörte ihn schlucken.

"Leg nicht auf Bill!", beschwor sie ihn.

Ein paar bange Sekunden lag war nichts weiter als ein Knacken durch die Leitung zu hören.

Dann meldete sich Bill wieder. "Ich werde jemanden töten... Schon sehr bald. Ich fühle es."

"Bill, wo bist du jetzt?", fragte Lynne.

Auf der anderen Seite herrschte wieder einen Moment Schweigen. "Ihr wollt mich ins Gefängnis stecken! Ihr wollt mich einsperren! Ihr wollt..."

"Ich will dir helfen!", sagte Lynne.

"Wahrscheinlich habt ihr schon die Polizei verständigt, was? Und jetzt versucht ihr, den Anruf zurückzuverfolgen....

"Bill, selbst wenn wir das wollten! Es wäre so schnell gar nicht möglich! Glaub mir!"

"Pah!"

"Bill!"

Lynne spürte, wie ihr die Sache gänzlich entglitt.

"Aber ich bin nicht auf den Kopf gefallen!", hörte sie den Anrufer krächzen. "Nein, das bin ich nicht, ich..." Eine kurze Pause entstand, dann fragte er: "Haben dir übrigens die Rosen gefallen?" Ein irres Lachen folgte. Dann machte es klick und das Gespräch war unwiderruflich zu Ende. Und Lynne fühlte sich, als hätte ihr so eben jemand voller Wucht ein Brett vor den Kopf geschlagen.




11

Es dauerte nicht lange und im Sender war der Teufel los. Ein halbes Dutzend Beamten von Scotland Yard waren da und vernahmen alle Beteiligten.

Der Mann, der die ganze Aktion leitete, hieß McGill und war Chief Inspector. Er war klein, rundlich und trug einen ziemlich unmodernen Mantel mit Fischgrätmuster.

Die Sendung war aufgezeichnet und McGill hatte sich das Band - soweit es den Anrufer betraf, der sich Bill genannt hatte - schon dreimal angehört.

"Dieser Mann hat zweifellos einen Mord angekündigt", meinte er düster. "Und wie es scheint, gibt es nichts, was man dagegen tun kann, dass er seine Wahnvorstellungen in die Tat umsetzt..."

"Vielleicht ruft er nochmal an", meinte Lynne.

Der Chief Inspector nickte.

"Eine schwache Hoffnung", gestand er ein. "Aber möglich wäre es durchaus. Wir werden eine Fangschaltung legen, sofern Sie nichts dagegen haben."

"Gut."

Lynne lief auf und ab und rieb sich dabei nervös die Hände.

"Es ist ein scheußliches Gefühl, so dasitzen zu müssen, zu wissen, dass etwas Schreckliches passiert und nichts tun zu können."

McGill zuckte die Achsel.

"Vielleicht haben wir Glück und es handelt sich nur um einen Wichtigtuer, der auf sich aufmerksam machen will..."

"Meinen Sie?"

"Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand einen Mord nur ankündigt, ihn aber nicht ausführt."

Die Tür ging auf und Colleen kam herein. Sie brachte Kaffee für den Inspektor.

"Möchtest du auch eine Tasse, Lynne?", wandte sie sich an die Moderatorin der Sendung. "Ist ja eigentlich ein bisschen spät..."

Lynne zuckte die Achseln. "Ich werde den Rest der Nacht ohnehin kaum schlafen können..."



12

Irgendwann gegen zehn Uhr am Vormittag wurde Lynne durch ihren Radiowecker geweckt. Erst kam Musik, dann die Nachrichten. Als von einer Frau berichtet wurde, die in den frühen Morgenstunden mit einem Stück Draht erdrosselt worden sein musste, horchte Lynne auf.

Mit einem Schlag war sie hellwach.

Sie sprang aus dem Bett und stellte das Radio lauter. Die Tote war in einem Park von einem Jogger gefunden worden, der daraufhin die Polizei alarmiert hatte.

Dann war die Meldung auch schon zu Ende und es wurde für den heutigen Tag ein scheußliches Wetter angesagt. Kalt und nebelig, so wie es auch schon an den letzten Tagen gewesen war.

Er hat es also tatsächlich wahrgemacht, ging es Lynne durch den Kopf. Er hat es wirklich getan! Dieser Wahnsinnige...

Lynne öffnete ein wenig das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Ihr Blick ging über das schier unendliche Häusermeer, dass sich jedoch ziemlich bald im Nebel verlor.

Irgendwo da draußen lief dieser Mann herum. Bill - oder William Delaney, ganz wie man wollte.

Es klingelte an der Tür.

Vielleicht die Post mit einem Einschreiben oder dergleichen. Lynne zog sich einen Morgenmantel über und blickte durch den Spion.

Draußen stand niemand anderes als Jack Gordon.

Irgendwie musste er ihre Adresse herausgefunden haben. Lynne öffnete. "Guten Morgen, Jack..."

"Guten Morgen, Lynne." Er hob eine weiße Plastiktüte in die Höhe. "Ich habe Zutaten für ein kräftiges Frühstück mitgebracht. Was halten Sie davon?"

"Naja..."

"Also sind Sie einverstanden! Das ist gut!"

Er drängte sich an ihr vorbei in die Wohnung und sie ließ es geschehen. Warum nicht?, überlegte sie.

"Vielleicht gestatten Sie, wenn ich mich erst einmal anziehe", meinte Lynne.

"Sicher. Zeigen Sie mir die Küche und ich werde inzwischen Ham und Eggs braten."

"Die Küche ist die zweite Tür da vorne!"



13

Wenig später saßen sie dann zusammen beim Frühstück. Jack hatte üppig eingekauft und es duftete köstlich. Aber Lynne hatte dennoch nicht so recht Appetit.

"Hast du meine Sendung gestern gehört?", fragte sie schließlich in einem vertraulicherem Tonfall, nachdem sie ihren schwarzen Kaffee getrunken hatte.

"Ja." Jack nickte und sein Gesicht, dass soeben noch so heiter gewirkt hatte, bekam jetzt einen ernsten Ausdruck. "Du meinst die Sache mit diesem wiedergeborenen Mörder, nicht wahr?"

"Er hat gedroht, jemanden zu töten!"

"Ja, aber er hat es nur gesagt und das ist noch nicht strafbar!"

"Er hat seine Drohung wahrgemacht, es kam gerade in den Nachrichten. Eine Frau ist erdrosselt aufgefunden worden."

"Und woher weißt du, dass es dieser mysteriöse Anrufer war? In London passieren jeden Tag ein paar Morde. Einer so abscheulich wie der andere - aber..."

Er fasste ihre Hand und sah sie an.

"Ja, du hast recht", musste sie zugeben, "ich weiß es nicht. Aber, andererseits scheint alles übereinzustimmen..."

"Du solltest erst einmal abwarten, was die Polizei dazu sagt", meinte Jack.

Lynne lehnte sich etwas zurück.

"Du meinst, ich bin hysterisch, nicht wahr?"

"Nein", stellte Jack klar. "Das will ich damit auf keinen Fall sagen."

"Was willst du dann damit sagen?"

"Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du mal ein bisschen Urlaub nimmst!" Er beugte sich vor und strich ihr zärtlich über das Haar, als er das ärgerliche Funkeln in ihren Augen bemerkte. Ihre Züge entspannten sich daraufhin deutlich.

"Ich will mich nicht streiten", sagte sie. "Es ist so schön, dass du hier bist. Woher hast du meine Adresse?"

"Aus dem Telefonbuch."

"Da steht sie nicht drin."

Jack zuckte die Achseln und machte ein unbestimmtes Gesicht, das er zu einer Grimasse verzog, als er seinen Orangensaft leertrank. "Ich weiß sie eben. Was weiß ich, woher. Ist doch nicht so wichtig, oder?"

"Nein."

Vermutlich hatte er alles von Mary, überlegte Lynne. Das ist mir eine schöne Freundin, die alles über einen ausplaudert!, ging es ihr durch den Kopf.

Aber so richtig ärgerlich sein konnte sie ihrer Freundin auch nicht. Schließlich hatte sie es zum Teil ihr zu verdanken, dass sie Jack überhaupt kennengelernt hatte. Und obwohl das erst ein paar Tage her war, schien dieser Mann schon ganz selbstverständlich zu ihrem Leben zu gehören. Lynne wunderte sich über sich selbst.

Aber wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie gar nichts dagegen einzuwenden, dass er auch weiterhin dort eine wichtige Rolle spielte.

"Unternehmen wir heute etwas zusammen?", fragte sie.

"Tut mir leid. Ich muss gleich weg und habe dann den Tag voll mit Terminen."

"Schade."

"Du weißt doch selbst, wie das ist!"

Sie nickte. "Sicher. Aber es ist trotzdem schade." Sie stand auf, ging zu ihm hin und legte ihm die schlanken Arme um den Hals. Jack umfasste zärtlich ihre Taille und zog sie an sich. Im nächsten Moment fanden sich ihrer beider Lippen zu einem Kuss voller Leidenschaft.



14

Als Lynne an diesem Abend, kurz vor ihrer Sendung ins Studio ging, hatte sie ein mulmiges Gefühl. Sie war nervös. Jemand hatte ihr einen Kaffee hingestellt, den sie hastig austrank und dabei ein wenig verschüttete.

Grady, der bärbeißige Aufnahmeleiter sah das, als er hereinkam.

"Du wirst die Sendung doch durchstehen, oder?"

"Sicher, Mr. Grady."

"Weißt du, wie die Einschaltquoten inzwischen in die Höhe geschnellt sind? Ich sag's dir besser nicht, sonst wirst du am Ende noch eingebildet. Und unsere Werbespots gehen weg wie warme Semmeln!" Dann trat Grady etwas näher an Lynne heran und fuhr mit gedämpftem Tonfall fort: "Sollte der Kerl noch einmal anrufen, dann ist alles bereit. Ein Team von Scotland Yard ist da und es braucht nur ein Knopf gedrückt zu werden, um die Fangschaltung zu aktivieren."

Lynne seufzte.

"Gut."

"Du musst ihn in ein möglichst langes Gespräch verwickeln, hörst du?"

"Ich werde mein Bestes versuchen!", versprach Lynne.

Die Sendung begann. Das Thema interessierte Lynne nicht sonderlich, wenn sie ganz ehrlich war, aber es war "in". Es ging um Piercing. Soll man sich Ringe durch Nasenflügel, Bauchnabel oder beliebige andere Körperteile schießen lassen?

Ist das eher erotisch oder abstoßend? Seit Wochen schon bombardierten die Zuhörer die Redaktion von KLM mit Briefen, in denen gefordert wurde, zu diesem Thema doch endlich einmal eine Sendung zu machen.

Lynne's Night-Talk plätscherte so vor sich hin, unterbrochen von Nachrichten, Musik und etwas Werbung.

Dann drang eine Stimme durch die Leitung, die Lynne inzwischen nur zu gut wiedererkannte. Sie klang dumpf und verstellt, wie durch ein Taschentuch gesprochen. Lynne fröstelte unwillkürlich und fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Es war Bill..

"Ich habe es getan", sagte Bill einfach nur.

"Was hast du getan?", echote Lynne und machte Grady ein Zeichen. Aber der hatte längst verstanden, was los war.

"Ich habe die Frau erwürgt, die heute Morgen gefunden wurde."

"Warum? Hat sie irgendetwas getan?"

"Nein. Ich kannte nicht einmal ihren Namen."

"Warum hast du sie dann umgebracht, Bill?"

"Ich musste es. Ich konnte nicht anders. Ich war wieder William Delaney. Und ich werde wieder töten... Ich fühle es. Ich kann nicht dagegen an..."

"Und jetzt? Bist du jetzt auch William Delaney?"

"Ja, nein, ich meine, weiß nicht. Ich bin Bill."

"Bill ist die Kurzform von William."

Er schwieg. Und das Schweigen verhieß nichts Gutes.

Vielleicht das Gespräch abbrechen. Lynne hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Irgendetwas, nur damit der Gesprächsfaden zwischen ihnen nicht abriss... "Bill", sagte sie sanft und so behutsam, wie ihr das in dieser Situation möglich war. "Du möchtest doch sicher auch, dass dieser schreckliche Drang, wie du es nennst, aufhört..."

"Ja..." Es war kaum mehr, als ein dumpfes Ächzen, was da durch die Leitung kam.

"Dann lass dir helfen!", beschwor Lynne ihn.

Schweigen.

Dann ein Ausbruch. "Ihr wollt mich an den Galgen bringen! Das wollt ihr, jawohl!"

"Niemand will das!"

"Natürlich!"

"Bill!"

"Erst dann wird es aufhören, das denkt ihr, nicht wahr? Aber ich will nicht sterben. Ich will nur, dass es aufhört..."

"Heute wird bei uns niemand mehr an den Galgen gebracht", stellte Lynne sachlich fest. "Hörst du mich, Bill?"

Schweigen. Aber er war noch an der Leitung. Lynne konnte seinen Atem hören. "William?", fragte Lynne dann vorsichtig, einem vagen Instinkt folgend.

Es machte klick.



15

Die Sendung wurde durch Musikeinspielung unterbrochen.

McGill platzte ins Aufnahmestudio hinein. Der Chief Inspector von Scotland Yard machte ein ziemlich zufriedenes Gesicht.

"Großartig, Miss Davis!", rief er. "Das haben Sie prima hingekriegt."

Lynne hob skeptisch die Augenbrauen. "Glauben Sie, dass es reicht?"

"Ja, das kann gut sein."

"Ich hoffe, Sie kriegen den Kerl, bevor er noch einen Mord begeht!"

"Wir tun unser Bestes."

"Das weiß ich", versicherte die junge Frau.

Es dauerte nicht lange, dann stand das Ergebnis fest.

Bill hatte von einer Telefonzelle aus angerufen. Und ehe dort auch nur ein einziger Polizist auftauchte, würde Bill auf und davon sein.

"Was werden Sie jetzt tun?", fragte Lynne an Chief Inspector McGill gewandt.

McGill machte ein ziemlich resigniertes Gesicht und kratzte sich am Kinn. "Alles, was wir wissen ist, dass von der Telefonzelle Harlington Road Ecke Ladbroke Drive aus angerufen wurde. Ein paar Polizeiwagen werden hinfahren, aber das Ganze wird nichts bringen."

Lynne hob den Kopf und sah dem Chief Inspector geradewegs in die blauen Augen. "Er wird weiter morden, nicht wahr?

"Ja."

"Und es gibt nichts, was ihn daran hindern könnte..."

"Wir werden versuchen, alles, was wir über ihn wissen zusammenzutragen", erklärte McGill. "Wussten Sie, dass es diesen William Delaney wirklich gab?"

"Nein."

"1898 wurde er wegen neunfachen Frauenmordes am Galgen hingerichtet. Delaney war ein kleiner Prokurist einer Handelsagentur und liebte ein um zehn Jahre jüngeres Mädchen aus armen Verhältnissen. Er führte die junge Frau in die Mittelklasse-Gesellschaft ein, aber bevor es zur Heirat kam, zog die Dame es vor, sich einem hochgestellten Kolonialoffizier an den Hals zu werfen, der sie mit nach Indien nahm, wo sie mit Dutzenden von Hausangestellten das Leben einer Lady führen konnte..."

"Daher Delaneys Hass auf Frauen der Oberklasse."

McGill lachte rau und etwas unpassend, wie Lynne fand.

Dann räusperte er sich und meinte: "Was diesen Punkt angeht, scheint er sich im Niveau verschlechtert zu haben, wenn man vom letzten Opfer ausgeht... Aber dieses Gerede von der Wiedergeburt ist ja wohl ohnehin nur etwas für Verrückte. Für Delaney eine Legende, um sich interessant zu machen. Die Informationen, die er bisher über Delaney geliefert hat, sind ja auch ziemlich oberflächlich. Die kann er sich überall angelesen haben..."

Da musste Lynne ihm recht geben.

Andererseits waren die Rückführungen unter Hypnose ebenfalls eine Tatsache.



16

Lynne fühlte sich matt und ausgelaugt, als sie in ihre Wohnung kam. Sie zog die Schuhe aus, ging in die Küche, um sich aus dem Kühlschrank etwas zu trinken zu holen.

Dann läutete das Telefon.

Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie den Hörer ab.

"Hallo?"

Auf der anderen Seite der Leitung war nichts weiter, als ein etwas unregelmäßiges Atmen zu hören.

"So melden Sie sich doch", forderte Lynne ärgerlich, aber sie bekam keine Antwort.

Sie knallte den Hörer auf die Gabel.

Irgendjemand wollte ihr da wohl einen Schrecken einjagen.

Lynne fragte sich nur, wer das wohl sein konnte. Diese wahnsinnige Wiedergeburt von William Delaney, die da irgendwo in den Straßen Londons umherschlich und vielleicht schon seinem nächsten Opfer auflauerte, kam wohl in Frage. Und das beruhigte Lynne ein wenig.

Schließlich hatte sie ja eine Geheimnummer und woher sollte Bill diese schon wissen? Nein, das war zu unwahrscheinlich.

Andererseits - auch so eine Geheimnummer war kein unüberwindbares Hindernis. Und wer konnte schon dafür garantieren, dass all diejenigen, die diese Nummer kannten, auch wirklich dichtgehalten hatten.

Lynne zog sich aus und ging ins Bett.

Aber sie fand keinen Schlaf.

Die heutige Sendung hatte sie einfach zu sehr aufgewühlt.

Und dann ging erneut das Telefon. Ich werde nicht abnehmen, war Lynne entschlossen. Sie wartete ab. Es klingelte genau achtmal, dann verstummte der Apparat.

Es war früher morgen, als das Telefon sie erneut weckte.

Lynne ging ran, schließlich konnte es um diese Zeit auch ein wichtiger Anruf sein. Wieder war nur das Atmen des Unbekannten zu hören.

Lynne war einige Augenblicke lang im Zweifel, was sie tun sollte. Die Versuchung war groß, den Hörer gleich wieder auf die Gabel zu knallen oder dem Unbekannten gehörig die Meinung zu sagen. Aber dadurch würde sie kein bisschen mehr wissen, als zuvor.

Sie wartete geduldig.

"Lynne?", fragte dann eine dumpfe Stimme. Eine Stimme, deren verfremdeten Klang Lynne inzwischen nur zu gut wiedererkannte. Es war, als ob eine kalte Hand sich ihr auf den Rücken legte.

"Bill", stellte sie kühl fest. "Oder soll ich besser Mr. Delaney sagen?"

Auf der anderen Seite herrschte zunächst Schweigen.

"Ich werde weiter töten", erklärte er und in seiner Stimme war ein eigentümliches, irres Vibrieren. "Ich kann es nicht verhindern, Lynne, es passiert einfach so..."

Lynne schluckte.

"Wie kommst du an meine Telefonnummer?"

"Das ist doch unwichtig."

"Für mich nicht."

Er schwieg eine Weile. Im Hintergrund war das Geräusch eines Wagens zu hören. Es hörte sich an wie Lastwagen.

Jemand klopfte gegen eine Glasscheibe. Von der Akustik her rief Bill wieder aus einer Telefonzelle heraus an.

"Ich muss jetzt Schluss machen", ächzte er dann.

"Bill! Du musst dir helfen lassen!"

"Nur noch eins Lynne: übermorgen."

Wie ein Blitz durchzuckte dieses Wort Lynnes Gehirn.

Übermorgen. "Was soll das bedeuten?", fragte sie mit erstickter Stimme, aber sie ahnte es längst.

"Übermorgen, Lynne. Übermorgen werde ich wieder töten."

Damit legte er wieder auf.