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Amara Lakhous

Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio

Roman

Aus dem Italienischen von Michaela Mersetzky

Verlag Klaus Wagenbach  Berlin

Für Roberto De Angelis
mit Zuneigung und Dankbarkeit

Dieses Buch erschien 2003 in Algerien und im Libanon unter dem Titel Wie man sich von der Wölfin säugen lassen kann, ohne von ihr gebissen zu werden auf Arabisch. Die italienische Fassung wurde 2006 unter dem Titel Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio bei Edizioni e/o in Rom herausgegeben.

E-Book-Ausgabe 2013

Umschlaggestaltung Julie August.

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978 3 8031 4145 3
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2608 5

»Vielleicht brauchst du ein bisschen Geduld?«

»Nein!«

»Denn, mein Herr, ein Mann des Südens sehnt sich danach zu sein, was er nie war. Er sehnt sich danach, zwei Dinge zu berühren: die Wahrheit und das Antlitz derer, die in der Ferne weilen.«

Der Mann aus dem Süden
Amal Donkol (1940–1983)

»Die Wahrheit ruht auf dem Grunde eines Brunnens. Sie schauen in den Brunnen und sehen die Sonne oder den Mond. Aber wenn Sie sich hinabstürzen, ist dort weder die Sonne noch der Mond, sondern die Wahrheit.«

Der Tag der Eule
Leonardo Sciascia (1921–1989)

»Glückliche Menschen haben weder Alter noch Erinnerungen – sie brauchen die Vergangenheit nicht.«

L’invention du désert
Tahar Djaout (1954–1993)

Inhalt

Die Wahrheit des Parviz Mansoor Samadi

Erster Wolfsgesang

Die Wahrheit der Benedetta Esposito

Zweiter Wolfsgesang

Die Wahrheit des Iqbal Amir Allah

Dritter Wolfsgesang

Die Wahrheit der Elisabetta Fabiani

Vierter Wolfsgesang

Die Wahrheit der Maria Cristina Gonzalez

Fünfter Wolfsgesang

Die Wahrheit des Antonio Marini

Sechster Wolfsgesang

Die Wahrheit des Johan Van Marten

Siebter Wolfsgesang

Die Wahrheit des Sandro Dandini

Achter Wolfsgesang

Die Wahrheit der Stefania Massaro

Neunter Wolfsgesang

Die Wahrheit des Abdallah Ben Kadour

Zehnter Wolfsgesang

Die Wahrheit des Mauro Bettarini

Letzter Wolfsgesang oder Bevor der Hahn kräht

Anmerkungen

Die Wahrheit des Parviz Mansoor Samadi

Vor einigen Tagen, es war noch nicht einmal acht Uhr morgens, saß ich in der U-Bahn, rieb mir die Augen und kämpfte gegen die Müdigkeit, weil ich in aller Frühe hatte aufstehen müssen, als ich sah, wie eine junge Italienerin eine Pizza von der Größe eines Regenschirms verschlang. Mir wurde speiübel. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mich übergeben. Gott sei Dank ist sie an der nächsten Haltestelle ausgestiegen. Eine Zumutung, das mitanzusehen! Es müsste ein Gesetz geben, das all jene bestraft, die es wagen, den Frieden braver Bürger zu stören, die morgens zur Arbeit fahren und abends wieder nach Hause. Der von Pizzaessern in der U-Bahn verursachte Schaden geht nämlich weit über das hinaus, was Zigaretten so anrichten. Ich hoffe, dass die zuständigen Behörden dieser delikaten Frage die Bedeutung beimessen, die ihr zukommt, und augenblicklich damit beginnen, Schilder mit der Aufschrift »Pizza essen verboten« anzubringen, gleich neben den »Rauchen verboten«-Schildern, die einem an jedem U-Bahn-Zugang ins Auge springen. Ich würde ja zu gern mal wissen, wie die Italiener das machen, morgens und abends diese erstaunlichen Teigmengen zu verdrücken.

Nichts esse ich so ungern wie Pizza. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass ich Pizzaesser nicht leiden kann. Ich möchte, dass das hier von vornherein ganz klar ist: Ich habe überhaupt nichts gegen Italiener.

Nicht, dass Sie denken, ich schweife ab, ganz im Gegenteil, ich spreche hier von Amedeo. Haben Sie doch etwas Geduld mit mir. Wie Sie wissen, ist Amedeo mein einziger Freund in Rom. Er ist sogar mehr als ein Freund, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich ihn so gern habe wie meinen Bruder Abbas. Ich mag Amedeo wirklich sehr – auch wenn er nach Pizza geradezu süchtig ist. Wie Sie also sehen, entspringt meine Abneigung gegen Pizza nicht etwa irgendeiner Art von Feindseligkeit gegen die Italiener.

Tatsächlich spielt es überhaupt keine Rolle, ob Amedeo Italiener ist oder nicht. Vielmehr beschäftigt mich die Frage, wie ich unter allen Umständen vermeiden kann, dass meine Pizza-Aversion unangenehme Folgen für mich hat. Vor einigen Wochen haben sie mich zum Beispiel aus einem Ristorante nahe der Piazza Navona, wo ich als Tellerwäscher gearbeitet habe, rausgeschmissen, als sie zufällig herausfanden, dass ich Pizza hasse. Diese Hurensöhne. Aber auch nach einem solchen Skandal gibt es immer noch Leute, die glauben, dass in diesem Land die Freiheit des Geschmacks, der Rede, des Glaubens und die Demokratie gesichert sind!

Und das wüsste ich ja auch mal gern: Gibt es vielleicht ein Gesetz, das Pizzahasser bestraft? Wenn die Antwort ja ist, dann stehen wir vor einem echten Skandal. Und wenn nicht, dann habe ich jedes Recht der Welt auf eine Entschädigung.

Immer mit der Ruhe. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass Ihr größter Fehler die Hast ist. Ihre Losung heißt doch Ungeduld. Sie trinken Ihren Espresso wie ein Cowboy seinen Whisky! Dabei ist es mit dem Kaffee wie mit dem Tee: Man genießt ihn in kleinen Schlucken und schüttet ihn nicht in einem Zug hinunter. Amedeo ist wie heißer Tee an einem kalten Tag. Oder noch besser, Amedeo ist wie das Obst, das man zum Ende einer Mahlzeit genießt, nach der Bruschetta mit Tomaten oder mit Oliven, gefolgt vom ach so wichtigen ersten Gang, dem Primo, das aus jeder Art Pasta, die mir ja zuwider ist, bestehen kann, wie Spaghetti und Konsorten (Ravioli, Fettuccine, Lasagne, Fusilli, Orecchiette, Rigatoni etc.), und zu guter Letzt dann das Secondo, das Hauptgericht, mit Fleisch oder Fisch und Gemüse. Alles Sachen, die ich bei meinen Gelegenheitsjobs in italienischen Restaurants kennengelernt habe. Ich liebe Obst über alles, darum muss man sich nicht wundern, wenn ich Amedeo mit Obst vergleiche. Sagen wir es so: Amedeo ist durch und durch gut, so wie Weintrauben. Und wie gut Traubensaft schmeckt!

Es ist überflüssig, immer wieder ein und dieselbe Frage zu stellen: Ist Amedeo Italiener? Egal wie die Antwort lautet: Sie wird das Problem nicht lösen. Wer ist denn eigentlich Italiener? Wer in Italien geboren ist, einen italienischen Pass besitzt und einen Personalausweis, die Sprache gut spricht, einen italienischen Namen und seinen Wohnsitz in Italien hat? Wie Sie sehen, ist das eine sehr komplexe Frage. Ich behaupte nicht, dass Amedeo ein Rätsel ist. Er ist eher wie ein Gedicht von Omar Khayyam. Du brauchst eine Ewigkeit, um es zu begreifen. Aber wenn es so weit ist, dann öffnet sich dein Herz und Tränen wärmen deine kalten Wangen. Für den Moment reicht es, wenn Sie wissen, dass Amedeo besser italienisch spricht als Millionen von Italienern, die man wie Heuschrecken in jedem Winkel der Welt antrifft. Ich bin nicht betrunken. Und ich wollte Sie auch nicht beleidigen.

Ich achte Heuschrecken nicht gering, im Gegenteil, ich respektiere sie, weil sie sich ihre Nahrung auf würdevolle Weise besorgen, ohne sich auf jemand anderen zu verlassen. Außerdem kann ich ja nichts dafür, dass die Italiener so gern reisen und auswandern. Selbst heute noch staune ich jedes Mal, wenn ich höre, was einige italienische Politiker in den Nachrichten und Fernsehsendungen so von sich geben. Nehmen wir zum Beispiel Roberto Bossosso.

Sie wissen nicht, wer Roberto Bossosso ist? Er ist Chef der Partei Forza Nord, die muslimische Einwanderer als Feinde bezeichnet. Jedes Mal, wenn ich ihn sprechen höre, kriechen Zweifel in mir hoch. Ungläubig sehe ich mich dann um und frage den Erstbesten: »Die Sprache, die Bossosso spricht, ist das wirklich Italienisch?« Bis jetzt habe ich noch keine zufriedenstellenden Antworten erhalten. Zu mir sagen sie oft, »Du kannst ja kein Italienisch« oder »Lerne erstmal die Sprache richtig« oder »Tut uns leid, aber dein Italienisch ist einfach zu schlecht«. Üblicherweise höre ich diese fiesen Sätze, wenn ich mich in Restaurants als Koch bewerbe. Und am Ende lande ich als Tellerwäscher in der Küche. »Sieht so aus, lieber Parviz, als ob Tellerwaschen das Einzige ist, was du kannst!« So provoziert und veralbert Stefania mich gern. Zweifelsohne ist sie enttäuscht von mir. Immerhin war sie die Erste, die mir Italienisch beigebracht hat oder, genauer gesagt, sie hat es wenigstens versucht. Ich bin nicht Amedeo, das ist so klar wie ein Stern am wolkenlosen Himmel von Shiraz. Aber es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass ich in diesem Land nicht der Einzige bin, der kein Italienisch kann. In römischen Restaurants habe ich mit vielen jungen Leuten aus Neapel, Kalabrien, Sardinien und Sizilien zusammengearbeitet. Dabei habe ich herausgefunden, dass unser sprachliches Niveau in etwa gleich ist. Mario, der Koch des Lokals im Bahnhof Termini, hatte nicht Unrecht, als er sagte: »Denk immer dran, Parviz, in dieser Stadt sind wir alle Fremde!« Ich habe in meinem Leben noch nie einen wie Mario gesehen; er trinkt Wein, als wäre es Wasser, und er spürt überhaupt nichts davon.

Schon gut, von Mario, dem Neapolitaner, erzähle ich bei anderer Gelegenheit. Jetzt wollen Sie also alles über Amedeo wissen und das Menü gleich mit dem Dessert beginnen? Bitte sehr. Der Kunde ist König. Ich erinnere mich noch, wie ich ihn das erste Mal gesehen habe. Er saß an einer der Schulbänke in der ersten Reihe nahe der Tafel. Ich bin auf ihn zu, weil neben ihm ein Platz frei war, habe ihn angelächelt und das einzige italienische Wort gesagt, das ich kannte: »Ciao!« Das ist ein sehr nützliches Wort, man verwendet es sowohl zur Begrüßung als auch zum Abschied. Es gibt noch ein Wort, das genauso wichtig ist: cazzo, der Schwanz, die Scheiße. Man verwendet es, um Wut auszudrücken und um die Nerven zu beruhigen. Ein männliches Monopol gibt es darauf nicht. Auch Benedetta, die alte Hausmeisterin, gebraucht es oft und ohne rot zu werden. Apropos, die alte Benedetta ist Hausmeisterin in dem Gebäude an der Piazza Vittorio, in dem Amedeo wohnt. Dieses verfluchte Weibsstück hat die üble Angewohnheit, sich hinter dem Fahrstuhl zu verstecken, immer bereit, sich mit jeder Person zu zanken, die mit ihm fahren will. Ich mag Aufzüge und benutze sie nicht etwa aus Faulheit, sondern um in Ruhe nachzudenken. Du drückst ohne Kraftanstrengung auf den Knopf, fährst rauf oder runter, und vielleicht bleibt er auch stecken, wenn du drin bist. Ganz wie im richtigen Leben, das ist auch voller Pannen. Mal bist du oben, mal bist du unten. Oben war ich … im Paradies … in Shiraz, glücklich mit meiner Frau und den Kindern, jetzt dagegen bin ich unten … in der Hölle und habe Heimweh. Der Fahrstuhl ist ein Meditationsinstrument. Wie schon gesagt, vertreibe ich mir damit gern die Zeit: Hinauf- und Hinunterfahren ist eine mentale Übung, wie Yoga. Dummerweise beobachtet mich Benedetta wie eine kampfbereite Katze, und ich brauche bloß meinen Fuß in den Aufzug zu setzen, da schreit sie mich schon an: »Guaglio’1! Guaglio’!«

Guaglio’ ist das Lieblingswort von Benedetta. Wie Sie wissen, ist guaglio’ neapolitanisch für cazzo. So haben’s mir viele Neapolitaner gesagt, mit denen ich gearbeitet habe. Jedes Mal, wenn sie mich auf den Fahrstuhl zugehen sieht, schreit sie los: »Guaglio’! Guaglio’! Guaglio’!« Im Iran ist es gute Sitte, die Alten zu respektieren und Gossensprache zu vermeiden. Statt auf eine Beleidigung mit einer neuerlichen Beleidigung zu antworten – wie es so viele tun –, begnüge ich mich mit einer kurzen Antwort: »Merci!« Ich drehe mich um und gehe wieder, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Apropos, wussten Sie, dass merci ein französisches Wort ist und danke heißt? Das hat mir Amedeo gesagt, und der kann sehr gut Französisch.

Kennengelernt habe ich ihn bei einem kostenlosen Italienischkurs für die Einwanderer rund um die Piazza Vittorio. Ich war noch ganz neu in Rom. Amedeo war anders als die anderen, weil er an Stefanias Unterrichtsstunden teilnahm, ohne je eine auszulassen. Anfangs verstand ich nicht, warum er mit solchem Eifer und Fleiß bei der Sache war. Aber mit der Leidenschaft ist es wie mit herrlichem Sonnenschein – niemand kann den Sonnenstrahlen widerstehen. Leidenschaft ist die allerbeste Begleiterin der Jugend. Ein persisches Sprichwort sagt: Jugend ist Trunkenheit ohne Wein. Ein paar Monate später beschloss Amedeo, mit Stefania in deren Wohnung zu leben, die auf die Grünanlagen der Piazza Vittorio hinausgeht. Und außerdem kam er nicht mehr zum Unterricht, weil er – im Gegensatz zu mir – keinen Anfängerkurs mehr nötig hatte. Wir sind aber in Kontakt geblieben. Beinahe täglich trafen wir uns in Sandros Bar auf einen Cappuccino oder einen Tee. Sandro ist ein guter Mensch, aber er wird auch schnell wütend. Du musst nur »Forza Lazio!« sagen, um ihn auf hundertachtzig zu bringen. Bist du aber ein Fan vom AS Rom, behandelt er dich wie einen uralten Freund. Einmal fragte er mich, ob es auch im Iran Anhänger vom AS Rom gäbe. Um ihn nicht zu enttäuschen, sagte ich: »Na klar!« Da hat er mich umarmt.

Wir trafen uns natürlich auch bei ihm zuhause. Seine kleine Küche habe ich sehr liebgewonnen; sie ist der einzige Platz, an dem mein wehes Herz Ruhe findet. Wenn ich an meine Kinder Shadi, Said, Surab und Omar denke und an meine Frau Zeinab, dann macht mich das sehr traurig. Wo sie jetzt wohl sein mögen? Wer weiß, wo sie gerade unterwegs sind? Wie gern ich sie alle küssen und umarmen würde. Nur meine Tränen und all diese vielen Flaschen Chianti löschen mein brennendes Heimweh. Ich weine viel und trinke dann noch mehr, um mein ganzes Unglück zu vergessen. Ich habe mir angewöhnt, mich jeden Tag an den Brunnen vor dem Eingang der Kirche Santa Maria Maggiore zu setzen – um die Tauben zu füttern oder um zu weinen. Niemand kann mir den Chianti aus den Händen nehmen, außer Amedeo. Er wagt es als Einziger, mich aus dem Inferno meiner Traurigkeit herauszureißen. Still setzt er sich neben mich, lässt mich für ein paar Minuten weinen und trinken, um dann wie von der Tarantel gestochen aufzuspringen und völlig aufgelöst zu sagen: »Oh mein Gott, wir sind zu spät! Wir müssen etwas zu essen machen, heute ist doch Stefanias Festtag! Oder hast du das etwa vergessen, Parviz?« So sagt er das immer, mit denselben Worten, auf dieselbe Weise und mit derselben Ernsthaftigkeit. Dann schaue ich ihn an und muss lachen, bis ich nicht mehr kann. Das Lachen hilft mir, wieder durchzuatmen. Derweil lenkt mich Amedeo mit Witzen ab, die so lustig sind, dass wir uns vor den Touristen ausschütten vor Lachen wie zwei Verrückte. Auf dem Nachhauseweg gehen wir bei Iqbal, dem Bengalen an der Piazza Vittorio, vorbei und kaufen dort alles, was wir zum Feiern brauchen: Reis, Hähnchen, Gewürze, Obst, Bier und Wein. Danach dusche ich, ziehe mich um, und dann steht da auch schon Amedeo, der mir die Küchentür aufhält: »Willkommen in deinem Königreich, Shahrayar, großer Sultan von Persien!« Daraufhin schließt er die Tür hinter mir und lässt mich für viele Stunden allein. Unverzüglich mache ich mich dann ans Zubereiten verschiedener iranischer Gerichte wie Ghormeh Sabzi oder Kabab Kubideh, Kashk Badinjan und Kateh. Die Gerüche, die sich in der ganzen Küche ausbreiten, lassen mich die Wirklichkeit vergessen, und es kommt mir dann vor, als stünde ich wieder in meiner Küche in Shiraz. Der Duft der Gewürze verdichtet sich mit der Zeit zu wohlriechenden Essenzen, und die wiederum lassen mich – ei, ei, ei! – singen und tanzen wie ein Derwisch, und innerhalb weniger Minuten verwandelt sich die Küche in eine Sufi-Trance. Wenn ich mit dem Kochen fertig bin, öffne ich die Tür und finde im Wohnzimmer meine erwartungsfrohen Gäste vor. In diesem Augenblick beginnt das Fest.

Jeder von uns hat einen Ort, an dem er sich ganz und gar wohlfühlt, manche in einer Kirche, in einer Moschee, an einem anderen heiligen Ort, im Kino, im Stadion oder auf einem Markt. Ich fühle mich in der Küche wohl. Ist ja auch kein Wunder, ich bin nämlich ein guter Koch. Alles, was es dafür braucht, habe ich von meinem Vater gelernt und er von seinem Großvater. Ich bin kein Tellerwäscher, wie sie’s in den römischen Restaurants behaupten. In Shiraz hatte ich ein schönes Lokal. Verflucht sollen die sein, die mich ruiniert haben! Mit einem Schlag habe ich alles verloren: Familie, Haus, Restaurant, Geld. Mir wurde so oft gesagt: »Wenn du in Italien als Koch arbeiten willst, musst du die Geheimnisse der italienischen Küche kennenlernen.« Aber was soll ich denn machen, wenn ich Pizza, Spaghetti & Co. nicht ausstehen kann? Außerdem ist es überflüssig, die italienische Küche zu studieren, weil ich sowieso nicht lange in Rom bleiben werde. Ich kehre bald nach Shiraz zurück. Ganz sicher.

Ich frage mich wirklich, wieso die italienischen Behörden weiter die Augen vor dem verschließen, was alle ehrbaren Mediziner wissen: Pasta macht dick und ist die Ursache für Fettleibigkeit. Das Fett verstopft schön langsam die Venen, bis schließlich das arme Herz zu schlagen aufhört. So ist es auch Elvis ergangen. Sicher erinnern Sie sich noch, wie schön und schlank er war, als er Baba bluma bib bab a blue sang … In der Phase aß er jeden Tag Reis. Aber dann gewöhnte er sich unglücklicherweise an, Pizza zu essen. Er ließ sie aus den italienischen Restaurants von Hollywood kommen, weil er keine Zeit hatte, sich etwas zu kochen und sich zum Essen an einen Tisch zu setzen. Der arme Elvis war einfach zu beschäftigt, und das Resultat war, dass er in kürzester Zeit fett wurde wie ein Elefant und dann starb, weil sich das Fett überall ausgebreitet hatte: im Herzen, in den Lungen, den Augen, im ganzen Körper. Niemand kann solchen Fettmassen Einhalt gebieten. Maria Cristina, der Haushaltshilfe, habe ich mehrfach empfohlen, die Pasta wegzulassen. Als ich sie vor zwei Jahren kennenlernte, war auch sie noch dünn. Dann begann sie, regelmäßig Spaghetti zu essen, und ging auseinander wie ein Heißluftballon. Einmal sagte ich zu ihr: »Du hast wohl ganz vergessen, wo du herkommst, sonst wüsstest du noch, dass man auf den Philippinen hauptsächlich Reis isst.« Arme Maria Cristina. Neulich haben sie ihr untersagt, den Aufzug zu benutzen, weil sie Angst haben, dass er steckenbleibt. »Du wiegst mehr als drei Personen«, damit rechtfertigten sie ihr Fahrverbot. Versteht da noch irgendeiner, warum der Gesundheitsminister auf Nudelpackungen nicht den Hinweis »Nudeln fügen Ihrer Gesundheit erheblichen Schaden zu« drucken lässt?

Amedeo ist wie ein guter Hafen, aus dem man ausläuft und in den man jedes Mal gern zurückkehrt. Wenn sie mich wieder irgendwo rausschmeißen, fühle ich mich, als wär ich in Seenot geraten, und dann hilft mir nur Amedeo. Er sagt immer: »Macht nichts, Parviz, komm, werfen wir einen Blick in die Porta Portese.« So setzen wir uns dann in Sandros Bar, Amedeo schlägt das Anzeigenblatt auf und markiert die vielversprechenden Annoncen mit einem Kreuz. Dann gehen wir zu ihm nach Hause und telefonieren sie durch. Ich steh immer vor ihm wie ein Kind vor einem Regenbogen. Ungläubig. Amedeo ist wunderbar. Ich höre ihm zu, wie er sein elegantes Italienisch spricht. Nach ein paar Telefonaten schlägt er den Tuttocittà auf, wirft darin einen schnellen Blick auf die Stadtpläne, um sicherzugehen, dass die Straßennamen stimmen, notiert den einen oder anderen Vermerk in sein Notizbuch, schaut mich schließlich an und sagt: »Die Restaurants von Rom erwarten Sie, Signor Parviz!« Dann ziehen wir gemeinsam los, um die Restaurantbesitzer zu treffen. Natürlich übernimmt Amedeo das Reden, und ich halte den Mund. Einfach phantastisch, wie überzeugend er ist! Sehr oft fange ich dann noch am selben Tag als Hilfskoch an – um schon in den darauffolgenden Tagen zum Tellerwaschen an den Spültisch verbannt zu werden. Mir fällt es nun mal nicht leicht, in der Küche Anweisungen entgegenzunehmen. Ich hasse es, als Hilfskoch zu arbeiten. Zehnmal lieber spüle ich das Geschirr, ertrage die Rückenschmerzen und meine leichte Arthrose, als dass ich Anweisungen befolge: »Parviz, schäl die Zwiebeln!«, »Parviz, setz Wasser auf!«, »Parviz, mach die Pasta!«, »Parviz, schau mal nach den Spaghetti!«, »Parviz, wasch das Obst!«, »Parviz, nimm den Fisch aus!« Für mich ist die Küche wie ein Schiff. Parviz Mansoor Samadi setzt keinen Fuß auf ein Schiff, auf dem er nicht der Kapitän ist. So ist das eben. Amedeo begleitet mich immer bei allen Ämtergängen, wenn ich etwa meine Aufenthaltsgenehmigung verlängern lassen muss oder irgendwelche Verwaltungssachen erledigen soll. Als ich noch allein auf städtische Ämter ging, verlor ich leicht die Kontrolle, fing an rumzuschreien, und sie jagten mich jedes Mal davon wie einen räudigen Hund. Sie riefen mir Sätze hinterher wie: »Wenn du hier nochmal auftauchst, rufen wir die Polizei!« Keine Ahnung, warum sie immer gleich mit der Polizei drohen.

Wo er jetzt ist? Wer weiß das schon. Alles, was ich weiß, ist, dass Amedeo eine Riesenlücke in unseren Leben hinterlässt. Oder noch besser gesagt, kann ich mir Rom ohne Amedeo gar nicht vorstellen. Ich erinnere mich noch an diesen verfluchten Tag im Polizeipräsidium in der Via Genova, wo ich hingegangen war, um den Bescheid des Hohen Kommissariats für Flüchtlingsfragen abzuholen. Die Worte des Polizeiinspektors schockierten mich: »Dein Antrag wurde abgelehnt. Jetzt kannst du nur noch Einspruch einlegen.« Ich bin in die erste Bar rein, die ich dort an der Straße gefunden habe, kaufte einige Flaschen Chianti – wie viele, das weiß ich nicht mehr – und ging Richtung Santa Maria Maggiore, um mich wie gewöhnlich an den Brunnen zu setzen, nur dass ich dieses Mal dort trinken und weinen wollte. Es hat mich so sehr verletzt, dass mein Antrag abgelehnt wurde. Weil ich kein Lügner bin. Aus Shiraz bin ich geflüchtet, weil ich bedroht wurde, und wenn ich in den Iran zurückkehre, erwartet mich dort der Strick. Aber die hielten mich für einen Lügner und Betrüger. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, den Iran freiwillig zu verlassen. Während des Krieges gegen den Irak habe ich in vorderster Linie gekämpft und wurde mehrfach verwundet. Und überhaupt, wie hätte ich je meine Kinder, meine Frau, mein Zuhause und mein Restaurant in Shiraz verlassen können, wenn nicht, um dem Tod zu entgehen! Ich bin ein Flüchtling und kein Immigrant.