Die Drei Fragezeichen
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und das versunkene Dorf

erzählt von André Marx

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14203-5

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Das trostloseste Nichts aller Zeiten

»Justus Jonas von den drei Detektiven?«

»Justus Jonas? Wow, wie cool, du bist es wirklich, oder?« Der Junge am anderen Ende flüsterte beinahe, als befürchtete er, belauscht zu werden.

»Ähm, ja. Mit wem spreche ich?«

»Mit Darren. Darren Duff. Aus Seattle. Das heißt, eigentlich ja jetzt aus San Francisco. Aber momentan wohne ich in Ridgelake, Oregon. Das ist alles etwas kompliziert, aber am besten erkläre ich dir das später. Ich habe nämlich nicht viel Zeit. Jedenfalls kenne ich dich aus der Zeitung. Genauer gesagt, euch. Die drei ??? und so. Immer, wenn ich etwas über euch finde, schneide ich es aus. Total cool, dass ich jetzt wirklich mit dir telefoniere. Sind die anderen beiden denn auch da? Äh … Bob Shaw und Peter Andrews?«

»Bob Andrews und Peter Shaw. Nein, die sind momentan nicht da. Und wenn du nicht so viel Zeit hast, solltest du vielleicht gleich zur Sache kommen.«

»Zur Sache? Ach so, ja klar, natürlich, die Sache! Die ist nämlich folgende.« Darren senkte seine Stimme noch ein bisschen mehr, sodass Justus Schwierigkeiten bekam, ihn zu verstehen. »Ich habe einen Fall für euch! Hier in Ridgelake gehen merkwürdige Sachen vor sich. Richtig unheimliche Sachen, meine ich. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen! Ihr solltet unbedingt herkommen und euch das ansehen! Es ist wirklich unglaublich!«

»Du könntest mein Interesse wecken, wenn du etwas ins Detail gingst, Darren.«

»Was? Ach so, ja klar. Also, hier gibt es einen See. Und die Leute in Ridgelake meiden ihn, sie haben irgendwie Angst vor ihm, keine Ahnung. Das ist merkwürdig, weil … ach egal, das erkläre ich dir auch später. Jedenfalls war ich an diesem See. Nachts. Eigentlich soll ich nachts natürlich zu Hause bleiben, mein Onkel fände das wahrscheinlich gar nicht gut, aber … oh, Mist, ich glaube, er kommt nach Hause. Ich habe gerade seinen Wagen gehört. Er darf nicht mitbekommen, dass ich dir das erzähle.«

»Dann kommst du jetzt besser zum entscheidenden Punkt deiner Geschichte!«

»Was? Ach so, ja! Ich war am See. Und auf einmal fing das Wasser an zu leuchten. Ja, richtig zu leuchten, so, als wäre es plötzlich Lava oder so. Weiße Lava allerdings. Der See glühte! Es war total irre, aber auch total unheimlich, und … Mist, mein Onkel kommt! Ich muss Schluss machen! Ich rufe noch mal an!«

Ehe Justus etwas erwidern konnte, hatte Darren aufgelegt.

Die Straße, die sich durch das enge Tal schlängelte, war nicht viel mehr als ein schlammiger Pfad. Das Grün der Wildwiesen, an denen der rote MG vorbeifuhr, war tief und nass. Rinderherden grasten gemächlich vor sich hin. Aus den bewaldeten Bergen ringsum rauschte rostbraunes Wasser. Über allem wölbte sich ein tiefer, regenschwerer Himmel.

Peter konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal ein Gebäude oder gar einen Menschen an der Straße gesehen hatte. Wieder holperte der Wagen über einen flachen Stein, der im Schlamm verborgen gewesen war. Beinahe riss es ihm das Steuer aus der Hand. Er stöhnte. »Ohne Geländewagen ist diese Straße ein Albtraum! Die ganze Gegend ist ein Albtraum! Wir sind mitten im Nichts, und wenn ihr mich fragt, Freunde, ist es das trostloseste Nichts aller Zeiten. Ein großartiges verlängertes Wochenende ist das, wirklich großartig!«

Fette Regentropfen klatschten an die Windschutzscheibe, und innerhalb von Sekunden öffnete der Himmel seine Schleusen. Es prasselte wie aus einer Gießkanne auf sie herunter. Der Regen vermischte sich mit den Schlammspritzern auf der Scheibe zu einem schmierigen braunen Film, gegen den der Scheibenwischer keine Chance hatte.

»Ich muss dich korrigieren«, antwortete Bob. »Jetzt ist es das trostloseste Nichts aller Zeiten.«

»Ich finde, ihr beiden habt jetzt genug genörgelt.« Justus Jonas streckte den Kopf zwischen die Vordersitze nach vorne. »Wir sind schließlich nicht zum Vergnügen in dieser gottverlassenen Gegend …«

»Hast du gehört, Bob? ›Gottverlassen‹ hat er gesagt! Er gibt es sogar zu!«

»… sondern weil wir einen Fall übernommen haben. Und dass Darren Duff in einer gottverlassenen Gegend mitten in Oregon wohnt, hat keinerlei Einfluss auf den Umstand, dass wir uns verpflichtet haben, diesen Fall anzunehmen.«

Justus dachte an Darrens zweiten Anruf zurück. Da hatte seine Stimme ganz normal geklungen, und von dem glühenden Wasser war keine Rede mehr gewesen. Der Erste Detektiv hatte sofort begriffen, dass Darren nicht allein war und nicht frei reden konnte. Also hatte er am Telefon so getan, als wäre Justus ein Freund von ihm, der ihn in Ridgelake besuchen wollte. Kurz entschlossen hatte Justus zugesagt und sich den Weg nach Ridgelake beschreiben lassen.

Da das lange Wochenende zum Memorial Day vor ihnen lag, hatte der Erste Detektiv seine Freunde überredet, Kalifornien für ein paar Tage zu verlassen und nach Ridgelake zu fahren, um in der Angelegenheit zu ermitteln. Am ersten schulfreien Tag waren sie gleich nach Sonnenaufgang aufgebrochen und hatten nun, am frühen Abend, beinahe ihr Ziel erreicht. Bis nach Medford waren die Straßen gut gewesen, doch dieses letzte Stück wollte einfach nicht enden.

Die Sonne verschwand hinter einem Bergkamm und tauchte nicht wieder auf. Nach und nach verblasste das bisschen Tageslicht, das die dichten Wolken hindurchgelassen hatten.

»Wenn wir Ridgelake nicht bald erreichen, haben wir ein Problem. Sobald es ganz dunkel ist, werden wir es nämlich nicht mehr finden«, orakelte Peter.

»Die Gegend mag sehr einsam sein«, stimmte Justus zu, »aber wir befinden uns nach wie vor in einem zivilisierten Land. Außerdem müssten wir bald da sein. Ich bin sicher, jede Sekunde kommt ein Hinweisschild.«

»Das sagst du schon seit einer halben Stunde, Just«, warf Bob ein.

»Na ja, auf der Karte sieht es ja auch ganz nah aus. Aber wenn Peter so langsam fährt …«

»Peter fährt deshalb so langsam, weil Peter sonst den nächsten Abhang hinunterrasen würde, und das fände Peter gar nicht lustig.«

»Aber hier sind doch gar keine Abhänge, Peter«, warf Bob ein. »Wir fahren durch ein Tal!«

»Außerdem möchte Peter seine Stoßdämpfer schonen, denn diese Straße ist das Schlimmste, was Peters geliebtem Wagen passieren konnte. Und Peter möchte das Hinweisschild, das laut Justus jede Sekunde auftauchen müsste, nicht verpassen. Deshalb fährt Peter so langsam.«

»Ist ja schon gut, Peter«, versuchte Justus, den Zweiten Detektiv zu beruhigen. »Das Hinweisschild müsste wirklich jeden Moment auftauchen. Laut Karte sind wir jedenfalls schon sehr nahe. Das Einzige, was mich irritiert, ist dieser geheimnisvolle See, von dem Darren sprach. Der ist auf der Karte nämlich gar nicht drauf.«

»Vielleicht hättest du doch eine aktuelle Karte von Oregon besorgen sollen, anstatt dieses vergilbte, zerfledderte Ding von neunzehnhundertzweiundfünfzig aus der ollen Kiste auf dem Schrottplatz zu ziehen.«

»Neunzehnhundertsechsundfünfzig. Und ein See ist ein See, Peter, der ist ja nicht erst in den letzten fünfzig Jahren aufgetaucht.«

»Und warum ist er dann nicht auf der Karte drauf?«

»Wahrscheinlich ist er zu klein«, vermutete Justus.

»Darf ich einen Tipp abgeben?«, meldete sich Bob. »Der See entpuppt sich als Karpfenteich, das geheimnisvolle Glühen als stimmungsvolle Teichbeleuchtung, Darren als Spinner und unser neuer Fall als Reinfall.«

Justus seufzte tief. »Fallt ruhig über mich her. Macht mich zur Schnecke, wenn wir umsonst siebenhundert Meilen gefahren sein sollten. Aber bitte erst, wenn ihr einen Grund dazu habt, okay?«

»Da vorn ist ein Schild!«, rief Peter. »Na, endlich!«

Der Wegweiser stand an einer Weggabelung. Die Straße nach rechts war genauso schlecht beschaffen wie auf den letzten Meilen. Der Weg nach links war noch schlimmer. Das rostige und verbeulte Schild wies nach links: Ridgelake 2 Meilen.

»Das war ja klar«, stöhnte Peter und beugte sich missmutig vor, um durch den dichten Regen einen Blick auf das zu erhaschen, was sie erwartete. »Ich dachte, es kann nicht mehr schlimmer kommen. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Tut mir leid, Leute, aber ich kann unmöglich links abbiegen. Das ist ja nicht mal mehr eine Straße!«

»Hm«, murmelte Justus. »Bist du sicher, Zweiter? Dein Wagen hält doch einiges aus …«

»Er soll nichts aushalten, Just, er soll mich sicher von A nach B bringen. Und da er das die meiste Zeit auch tut, bin ich ihm ein bisschen Rücksicht und Wohlwollen schuldig! Wenn ich hier abbiege und weiterfahre, bleibe ich wahrscheinlich im nächsten Schlammloch stecken. Darauf kann ich verzichten. Und ihr sicherlich auch.«

»Was schlägst du also vor?«

»Gar nichts. Für Vorschläge bist du heute zuständig. Ich kann nicht mehr denken.«

»Dann lassen wir den Wagen halt stehen und gehen das letzte Stück zu Fuß«, meinte Bob. »Zwei Meilen sind ja wohl zu schaffen.«

»Bei dem Wetter?«, fragte Justus. »Und ohne Licht? Und was machen wir mit unseren Sachen?«

»Wir haben Taschenlampen«, antwortete Bob. »Und die Sachen können wir morgen holen, wenn es aufgehört hat, zu regnen.«

»Und was ist mit dem Wagen? Wenn er geklaut wird?«

Peter lachte bitter. »Von wem denn, Justus? Wir sind seit Ewigkeiten keiner Menschenseele mehr begegnet.«

Justus seufzte schwer. Er hatte überhaupt keine Lust, zwei Meilen durch den Regen zu marschieren. Andererseits hatten Peter und Bob mit allem recht, was sie sagten. »Also schön. Dann gehen wir eben zu Fuß.«

Peter stellte den Wagen so weit wie möglich an den Rand der Straße. Die drei Detektive kramten die dicksten Pullover hervor, die sie dabeihatten, und zogen sie über. Dann nahmen sie ihre Taschenlampen, stiegen aus und machten sich auf den Weg.

Der Mann im Wasser

Nun, da er nicht mehr angestrengt auf die Straße starren musste, widmete Peter seine Aufmerksamkeit der Umgebung: Links breitete sich eine endlose Bergkette aus, die in tieferen Lagen von nassen Wildwiesen, grau-violettem Heidekraut und stacheligem Gestrüpp bewachsen war. In den Tälern, wo die Erde den Regen wie ein Schwamm aufgesogen hatte, gähnten dunkelbraune Morastlöcher. Es war ein Paradies für Moskitos und Frösche. Und ein Albtraum für jedes andere Lebewesen.

Auf der rechten Seite wurde das Land noch bergiger, und in der Ferne drückten hinter ausgedehnten Nadelwäldern schneebedeckte Gipfel ihre Silhouette in den Abendhimmel.

Schweigend wanderten die drei ??? durch die wilde, einsame Landschaft, bis Peter so abrupt stehen blieb, dass Bob mitten in ihn hineinlief.

»Mann, Peter, was soll denn das?«

»Psst! Seht mal da drüben!« Peter wies nach links, wo sich das feuchte Hügelland in der Dunkelheit verlor. Erst sahen Bob und Justus nicht, was ihr Freund meinte, doch dann entdeckte Bob einen Lichtschein, der etwa eine Viertelmeile entfernt über die Heide tanzte. Das Licht bewegte sich langsam parallel zur Straße die Berge hinauf.

»Könnte das das Licht sein, von dem Darren erzählt hat?«, fragte Bob.

Doch Justus schüttelte den Kopf. »Er sprach von einem Licht im Wasser. Das da meinte er bestimmt nicht.«

»Vielleicht ist es ein Irrlicht«, flüsterte Peter. »Ich habe gehört, dass es so was im Moor gibt. Irrlichter locken Wanderer in den Sumpf, wo sie dann versinken. Wir sind zwar nicht gerade im Moor, aber …«

»Unsinn«, meinte Justus. »Das ist kein Irrlicht.«

»Sondern?«, fragte Peter.

»Keine Ahnung.«

»Vielleicht bloß jemand mit einer Taschenlampe«, überlegte Bob.

»Wir könnten es uns ja mal näher ansehen«, schlug Justus vor.

»Nein«, sagte Peter schnell. »Könnten wir nicht. Wer weiß, was das ist. Habt ihr nicht die Sumpflöcher gesehen? Am Ende versinken wir noch! Außerdem ist es schon so dunkel, dass wir womöglich die Straße nicht wiederfinden.«

Justus verzog das Gesicht. »Das ist leider ein Argument.«

Schweigend beobachteten sie den gelblichen Schimmer, bis er plötzlich verschwand.

»Es ist weg«, stellte Peter fest. »Wahrscheinlich hinter einem Hügel verschwunden. Umso besser. Ich will jetzt so schnell wie möglich nach Ridgelake, und wehe, da ist es nicht warm und trocken und gemütlich!« Er riss seinen Blick von der dunklen Hügellandschaft los und setzte den Weg fort.

Zur Erleichterung der drei ??? hörte es bald auf, zu regnen. Nach einiger Zeit führte der Pfad steil bergan.

»Es ist mir ein Rätsel«, keuchte Bob auf dem Weg zur Hügelkuppe, »wie man hier mit einem Wagen raufkommen soll. Selbst mit Allradantrieb hätte man seine Schwierigkeiten! Ridgelake kann doch nicht so abgelegen sein! Oder doch?«

Justus setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment erreichten sie den Hügelkamm. Im letzten bisschen Dämmerlicht breitete sich keine hundert Meter entfernt eine spiegelglatte Wasserfläche aus. Schwer, dunkel und unbewegt wie Eisen lag vor ihnen ein See. Das Ufer war von einem steinigen, kaum sichtbaren Pfad gesäumt. Die andere Seite lag in der Dunkelheit.

Es war still. Auf seltsame Weise stiller als vorher. Es schien, als würde der See jeden Laut aufsaugen. Oder als strahlte der See die Stille aus wie eine Heizung die Wärme.

»Wow«, sagte Peter. Dann marschierten die drei Detektive schweigend bis ans Wasser hinunter, den Blick fasziniert auf die dunkle Oberfläche gerichtet.

»Ich fürchte, wir haben ein Problem«, sagte Justus nach einer Weile. »Dieser See existiert auf der Karte nicht. Dabei ist er so groß, dass er auf jeden Fall drauf sein müsste.«

»Und was heißt das?«, fragte Peter.

»Entweder ist das der See, von dem Darren sprach, dann verstehe ich allerdings nicht, warum er nicht auf der Karte zu finden ist. Oder aber wir haben uns komplett verfahren und sind ganz woanders.«

Der Zweite Detektiv stöhnte. »Aber auf dem Schild stand doch Ridgelake!«

»Vielleicht heißt der See so«, mutmaßte Bob. »Dann wären wir wirklich falsch.«

»Es hilft nichts«, seufzte Justus. »Wir müssen zurück zum Wagen.«

Sie wollten sich gerade abwenden, als Bob plötzlich etwas aus den Augenwinkeln wahrnahm. Er kniff die Augen zusammen und blickte auf den See hinaus in die Dunkelheit. »Schaut mal, da ist wieder dieses merkwürdige Licht. Es ist jetzt mitten auf dem See. Und es bewegt sich ganz langsam.«

»Es scheint zu schweben«, bemerkte Justus fasziniert und begann, unbewusst an seiner Unterlippe zu zupfen. »Sonderbar.«

»Ich wusste nicht, dass Irrlichter auch übers Wasser schweben können«, sagte Peter unwohl. »Kommt, Leute, lasst uns zurückgehen, mir ist das irgendwie zu unheimlich. Außerdem ist es fast stockdunkel. Wenn wir jetzt nicht umkehren, finden wir den Weg wirklich nicht mehr. Und dann versinken wir doch noch im Sumpf.«

»Warte doch mal, Peter«, hielt Justus ihn zurück, den Blick starr auf das seltsame Licht gerichtet. »Es könnte natürlich nur ein Fischerboot sein. Aber vielleicht ist es auch etwas anderes.«

»Justus!«, sagte Peter streng. »Wir steigen jetzt wieder in den Wagen und fahren die Straße weiter in die andere Richtung, und dann finden wir Ridgelake und Darren, und der hat etwas Warmes zu essen für uns und ein gemütliches Bett, und alles wird gut. Für alles andere ist morgen noch genug Zeit!« Er wartete erst gar keine Antwort ab, sondern drehte sich entschlossen um und stieg die Anhöhe hinauf, über die sie gekommen waren, den Strahl seiner Taschenlampe auf den schmalen, steinigen Pfad gerichtet.

Bob folgte ihm, und schließlich konnte sich auch Justus vom Anblick des gelb schimmernden, leicht tanzenden Lichts, das über dem See schwebte, losreißen.

Plötzlich wurde es hell. Justus, der schon den Hügelkamm erreicht hatte, warf einen Blick zurück. Der schwache, glühwürmchenhafte Schein war verschwunden. Stattdessen erstrahlte nun ein weißes, blendendes Licht. Es schien, als käme es aus dem See selbst.

»Seht doch nur!«, flüsterte Justus.

Bob und Peter blickten sich um.

»Das gibt’s doch nicht!« Peter traute seinen Augen kaum. »Was ist das?«

»Es sieht aus, als würde das Wasser leuchten«, meinte Bob. »Unglaublich!«

Justus kniff die Augen zusammen und versuchte, mehr zu erkennen, doch die Quelle des Lichts war zu hell, und die Wasseroberfläche wellte und verzerrte alles zu sich ständig verändernden Schemen. Für einen Moment glaubte Justus sogar, Formen ausmachen zu können: Mauern und Dächer schienen durch das Wasser zu schimmern, so, als blickte er von oben auf eine Stadt. Aber das Bild flackerte unscharf wie eine Fata Morgana und war bald darauf verschwunden.

Dafür sah er plötzlich etwas anderes. Ein Schatten war am Ufer des Sees aufgetaucht, nur etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt. Dort stand jemand mit dem Rücken zu ihnen und blickte auf das Leuchten hinaus. Kleidung und Körperhaltung ließen auf einen älteren Mann schließen. Vielleicht hatte er schon die ganze Zeit dort gestanden, doch Justus hätte ihn ohne das seltsame Licht niemals bemerkt.

Auch Peter hatte den Mann entdeckt. »Da ist einer!«, sagte er und duckte sich unwillkürlich. Doch der Mann machte keine Anstalten, sich umzudrehen. Er blieb eine ganze Weile unbewegt. Justus glaubte, ein leises Gemurmel zu hören. Plötzlich tat der Unbekannte einen Schritt in das Wasser hinein. Und noch einen. Wie in Trance stieg er ganz langsam tiefer und tiefer in den See.

»Ist der bescheuert, was macht der denn da?«, fragte Bob. »Das Wasser muss doch eisig sein!«

Inzwischen stand der Mann schon bis zu den Hüften im See.

»Wir müssen ihm helfen!«, rief Peter und setzte sich in Bewegung. Er rannte die Anhöhe hinab. Als er das Ufer erreichte, stand dem Mann das Wasser bis zur Brust.

»He!«, rief Peter. »Sie da! Hallo! Kommen Sie da raus!«

Der Fremde reagierte nicht, sondern ging immer weiter.

Peter zögerte nur kurz. Dann sprang er in die Fluten.

Die Kälte des Bergseewassers raubte ihm den Atem. Augenblicklich sogen sich seine Schuhe und seine Hose voll und zerrten an ihm wie Bleigewichte. Doch dann hatte er den Mann endlich erreicht. »Hallo? Können Sie mich hören?«, rief der Zweite Detektiv.

Der Mann drehte sich um.

Peter erschrak. Der Fremde hatte ein faltiges, eingefallenes Gesicht. Unter seiner Schiebermütze lugte schneeweißes Haar hervor. Er schien schon über achtzig Jahre alt zu sein. Seine Augen waren eisblau. Verwirrt und zutiefst verängstigt blickte er Peter an. Dann flüsterte er einen Namen: »Charly? So jung …«

»Nein, mein Name ist Peter Shaw. Sie müssen sofort aus dem Wasser raus, sonst erfrieren Sie. Kommen Sie, ich helfe Ihnen!« Peter fasste ihn am Oberarm und zog ihn mit sanfter Gewalt zurück zum Ufer.

Der Mann setzte sich kraftlos zur Wehr. »Aber es ist Zeit!«, protestierte er und wandte sich dem Licht zu. Doch in diesem Augenblick verlosch der weiße Schein im Wasser, und der See versank in Dunkelheit.

»Wie heißen Sie?«, fragte Peter, während er sich abmühte, den Mann aus dem Wasser zu ziehen. Er machte einen so schwächlichen Eindruck, dass Peter befürchtete, er würde ohnmächtig werden. Das durfte auf keinen Fall passieren.

»Paul«, murmelte der Mann. »Paul Brooks.«

»Wir haben es bald geschafft, Mr Brooks. Sehen Sie die Taschenlampen da vorn? Das sind meine Freunde Justus und Bob. Unser Auto steht nicht weit entfernt. Wir bringen Sie in den nächsten Ort, wo man sich um Sie kümmern kann.«

»Ridgelake«, murmelte Mr Brooks. »Ich komme aus Ridgelake. Gleich hinter dem nächsten Hügel.«

»Umso besser, genau unsere Richtung.«

Die letzten Schritte aus dem Wasser waren die anstrengendsten. Die nasse Kleidung zog an ihnen wie tausend Hände. Doch dann hatten sie es geschafft.

»Geht es ihm gut?«, fragte Justus aufgeregt und half Peter, Mr Brooks zu stützen.

»Ich weiß nicht«, sagte Peter. »Er muss sofort aus den nassen Sachen raus. Und ich auch. Wir müssen zurück zum Auto.«

So schnell es ihnen möglich war, ohne den alten Mann zu überfordern, kletterten die drei Detektive über die Anhöhe und bewegten sich Richtung Straße. Mr Brooks keuchte und stolperte immer wieder, sodass Peter schon befürchtete, er würde zusammenbrechen. Es hätte ihn nicht gewundert. Seine eigenen Füße und Beine waren taub vor Kälte. Wie mochte es erst Mr Brooks ergehen?

»Mr Brooks«, begann Bob vorsichtig. »Warum sind Sie ins Wasser gestiegen?«

Doch Justus warf ihm einen warnenden Blick zu und sagte schnell: »Wir sollten uns jetzt darauf konzentrieren, zum Auto und dann nach Ridgelake zu gelangen. Für alles andere ist später noch genug Zeit. Nicht wahr, Mr Brooks?«

Paul Brooks nickte schwach.

Endlich waren sie wieder beim Wagen. Die drei ??? halfen dem Mann ins Auto, und Peter gab Gas. Rasant wendete er auf dem holprigen Weg, dass der Schlamm nach allen Seiten spritzte, und fuhr in die entgegengesetzte Richtung.

Die Straße führte eine Meile geradeaus, dann machte sie einen weiten Bogen um einen grasbewachsenen Hügel. Plötzlich tauchte das Dorf vor ihnen auf. Auf einem alten, verwitterten Schild stand ›Ridgelake‹.