Die Drei Fragezeichen
missing image file

Toteninsel

Teil 2
Das vergessene Volk

erzählt von André Marx

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
weitere Informationen zu unseren Büchern,
Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und
Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14355-1

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Die Schattenmänner

»Peter!!!« Bobs Ruf verhallte auf dem offenen Meer. Das Schiff war schon zu weit weg. Bestimmt hatte ihn dort niemand mehr gehört. Verzweifelt suchte Bob das Hafenbecken ab. Vielleicht war Peter von Bord gesprungen und auf dem Weg zurück zum Pier. Aber abgesehen von den gleichmäßigen Wellen, die die ›Explorer‹ erzeugt hatte, rührte sich nichts im Wasser. »Warum springt er denn nicht von Bord?«

»Vielleicht haben sie ihn entdeckt und halten ihn fest.«

»Was machen wir denn jetzt, Just? Wir wissen nichts über diese Leute! Wir müssen die Polizei rufen!«

»Nur die Ruhe, Bob. Ausflippen bringt gar nichts.« Justus wünschte, er würde sich das selbst auch glauben.

»Die ›Explorer‹ nimmt direkten Kurs auf Makatao, Just! Und Peter ist an Bord! Sie werden ihn früher oder später entdecken. Er muss runter von diesem Schiff!«

»Du hast ja Recht. Aber wir dürfen jetzt nichts überstürzen. Wenn wir etwas Unüberlegtes tun, bringen wir Peter vielleicht in noch viel größere Gefahr.«

Bob hatte kaum zugehört. »Die Hafenpolizei! Die kann das Schiff doch bestimmt einholen und stoppen, oder? Komm, Just, Beeilung!« Er hatte sich schon zum Gehen umgewandt – als er fast über Jelena stolperte, die direkt hinter ihm aufgetaucht war.

»Keine Polizei!«

»Wie bitte?«

»Keine Polizei«, wiederholte sie bestimmt.

»Warum nicht? Peter ist –«

»Peter ist in noch größerer Gefahr, wenn wir die Polizei verständigen.«

Nun drehte sich auch Justus um. »Moment mal. Was willst du uns damit sagen?«

»Was hast du herausgefunden?«, fragte Bob.

Jelena setzte zu einer Antwort an, als Justus sie mit einer Geste unterbrach. »Wo ist eigentlich Skinny?«

»Hat sich der Kerl etwa aus dem Staub gemacht?«

»Keine Sorge«, antwortete Jelena. »Er bezahlt nur den Taxifahrer.«

»Warum denn das?«

»Weil ich es ihm gesagt habe.«

Der Erste Detektiv sah zur Straße. Das Taxi fuhr gerade ab und Skinny kam mit finsterem Blick auf sie zu.

Bob trat ihm wütend entgegen. »Was ist an Bord passiert?«

»Gar nichts.«

»Was hast du mit Peter gemacht?«

»Nichts, verflucht noch mal!«

»Aber irgendwas muss da doch abgegangen sein!«

»Ich habe ihn im Lagerraum gefunden und ihm gesagt, er soll verschwinden, das ist alles.«

»Und warum ist er dann nicht hier?«

»Woher soll ich das wissen?«

Bob biss die Zähne zusammen. »Was sollen wir denn jetzt machen?«

Justus wandte sich an Jelena: »Warum sollen wir nicht die Polizei rufen?«

»Weil die Polizei unser größter Feind ist.«

»Wie bitte?«

»Wenn die Polizei von der Sache erfährt, ist der letzte Vorteil weg, den wir vielleicht noch haben: eure Tarnung.«

»Wovon redet dieses Mädchen?«, fragte Skinny verärgert. Niemand beachtete ihn.

»Erinnert ihr euch? Morton wurde in den letzten Tagen von unbekannten Männern beschattet. Und ich ebenso. Heute Abend stand einer dieser Typen auf unserem Grundstück. Und da habe ich die Polizei gerufen.«

»Und?«, fragte Bob. »Haben sie den Kerl geschnappt?«

Jelena nickte. »Und gleich wieder laufen lassen.«

»Wie bitte? Wieso denn das?«

»Der Polizist krallte sich den Typ, dann sprachen sie miteinander und schließlich ließ der Cop ihn wieder frei und kam zu mir. Er erzählte mir, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte, der Mann in unserem Garten sei nicht gefährlich, im Gegenteil: Er stünde zu meiner eigenen Sicherheit dort.«

»Da bist du natürlich ausgeflippt«, vermutete Bob.

»Nein, bin ich nicht. Ich habe so getan, als würde mich diese völlig bescheuerte Erklärung ungemein beruhigen, und den Cop nach Hause geschickt.«

»Wovon redet dieses Mädchen?«, wiederholte Skinny.

Sie funkelte ihn wütend an. »Ich heiße Jelena. Und ich habe das kurze Handgemenge zwischen den beiden im Garten mit dem Fernglas beobachtet und etwas gesehen, das unsere schlimmsten Befürchtungen übertrifft.« Sie schwieg.

»Nun sag schon, Jelena!«

»Der Typ hielt dem Polizisten einen Ausweis unter die Nase. Einen Ausweis vom CIA.«

Es dauerte einen Moment, bis Bob begriff, was Jelena da gesagt hatte. Justus und Skinny erging es ebenso. Wie aus einem Munde sagten alle drei: »Vom Geheimdienst?«

»Exakt.«

»Oh, mein Gott.«

»Und das soll ich glauben?«, höhnte Skinny. »Der CIA! Dass ich nicht lache!«

»Ich weiß, was ich gesehen habe. Es war ein Ausweis vom amerikanischen Geheimdienst. Und das bedeutet, dass wir da in eine Sache hineingeraten sind, in die die Regierung verwickelt ist.«

»Pah! Was sollte das denn sein? Waffenhandel? Spionage? Oder vielleicht sind Außerirdische auf Makatao gelandet?« Skinny kicherte.

»Sag du es uns!«, forderte Justus ruhig.

»Ich sage, dieses Mädel hier spinnt sich was zusammen.«

Jelena wollte gerade explodieren, doch Justus hielt sie zurück. »Ich glaube, du weißt ganz genau, was hier vor sich geht, Skinny. Auf jeden Fall weißt du mehr, als du uns bisher gesagt hast.«

»Was quatschst du da, Dicker?«

»Du hast uns hierher gelotst und Peter an Bord der ›Explorer‹ gelockt. Du wusstest, dass das Schiff heute Nacht ablegen würde!«

»Wusste ich nicht!«

»Willst du uns erzählen, sie wäre auch dann ausgelaufen, wenn du nicht an Bord gegangen wärst?«

»Woher soll ich das wissen? Hadden sagte, das Schiff würde um ein Uhr ablegen. Vielleicht habe ich ihn missverstanden und er meinte ein Uhr nachts!«

»Das glaubst du doch wohl selber nicht«, sagte Justus ruhig. »Die Besatzung hat auf dich gewartet. Fünf Minuten nachdem du an Bord warst, haben sie die Maschinen gestartet und du bist unbemerkt wieder runtergeklettert. Und dabei hast du Peter im Stich gelassen.«

»Ich wusste nicht, dass die heute Nacht schon abdampfen, klar? Und deinen Freund Peter habe ich gewarnt! Was kann ich dafür, wenn er zu dämlich oder zu langsam war, um rechtzeitig zu verschwinden?«

Der Erste Detektiv blickte seinem Gegenüber lange in die Augen. Es war zum Verrücktwerden: Er konnte Skinny einfach nicht einschätzen. Skinny Norris war hinterhältig, falsch und boshaft. Aber war das gerade wirklich eine Lüge? War Skinny tatsächlich gerissen genug, um sie alle hinters Licht zu führen? Justus wusste es nicht und wagte einen letzten Schuss ins Blaue: »Was sucht die ›Explorer‹ auf Makatao? Was will Hadden? Was hat der CIA damit zu tun? Oder um es kurz zu machen: Worum geht es hier, Skinny?«

Skinnys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, er trat einen Schritt auf Justus zu und beugte sich zu ihm hinunter, sodass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. »Hör zu, Dicker: Du kommst dir so schlau und wichtig vor. Justus MacSherlock, der große Meisterdetektiv! Aber in Wahrheit hast du keinen blassen Schimmer. Du willst wissen, worum es hier geht? Dann find es selbst heraus! Ich habe euch alles gesagt, was ich weiß. Und ich lasse mich nicht mehr von dir beschuldigen.« Er drehte sich um und ging mit großen, aber ruhigen Schritten den Pier zurück zur Straße.

»He!«, rief Bob. »Glaubst du, du könntest jetzt einfach so abhauen?«

»Lass ihn, Bob. Skinny ist uns vorerst keine Hilfe mehr. Entweder er weiß tatsächlich nichts oder er will es uns nicht sagen. Das kommt aufs Gleiche raus.« Justus stieß einen tiefen Seufzer aus. Er starrte in die Dunkelheit, die über dem Pazifik lag. Kleine Wellen schlugen plätschernd gegen die Kaimauer. Aus der Ferne drang der Tag und Nacht anhaltende Lärm des Industriehafens zu ihnen herüber. Irgendwo kreischte eine Möwe. Dann hörte er den Motor von Skinnys Sportwagen aufheulen. Justus fröstelte.

»Warum können wir eigentlich nicht die Polizei rufen?«, brach Bob zaghaft die Stille. »Wenn sich sogar der CIA für die Sache interessiert, ist sie sowie eine Nummer zu groß für uns. Wir könnten Inspektor Cotta alles erzählen, was wir wissen. Und dann –«

»Werden wir nie das Geheimnis lüften«, unterbrach ihn Jelena.

»Vielleicht nicht wir, aber der CIA.«

Jelena schüttelte den Kopf. »Der wird uns nichts erzählen.«

»Warum denn nicht?«

»Weil hier etwas vertuscht werden soll! Begreifst du denn nicht? Makatao ist von einem undurchdringlichen Schleier aus Rätseln umgeben. Hast du nicht selbst gesagt, du hättest bei den Nachforschungen das Gefühl gehabt, jemand wolle etwas geheim halten?«

Bob nickte.

»Und meinst du nicht, dass die Männer vom CIA Morton oder mich einfach gefragt hätten, anstatt uns zu beschatten, wenn es um etwas anderes als eine Geheimoperation gegangen wäre?«

»Ich weiß nicht. Ich kenne mich beim CIA nicht aus. Vielleicht… vielleicht können Agenten gar nicht anders. Sie schleichen wahrscheinlich sogar auf leisen Sohlen, wenn sie nur im Supermarkt einkaufen.«

Justus schüttelte den Kopf. »Ich bin Jelenas Meinung. Da geht etwas vor sich, das unter allen Umständen geheim gehalten werden soll. Und sobald wir zur Polizei gehen, sind wir raus aus der Sache und werden niemals erfahren, was wirklich vor sich geht.«

»Aber wir sprechen hier nicht bloß über Rätsel, Geheimnisse und die Berufsehre der berühmten drei Detektive, die jeden Fall lösen. Es geht um Peter! Er ist in Gefahr! Wer weiß, was sie mit ihm machen werden. Vielleicht werfen sie ihn den Haien zum Fraß vor. Wenn der CIA meint, etwas vor uns geheim halten zu müssen, meinetwegen. Ich verzichte gern auf ein paar Antworten, wenn ich Peter dafür retten kann. Außerdem ist es durchaus das Recht eines Geheimdienstes, Geheimnisse zu haben.«

»Auch wenn dabei die Bevölkerung betrogen und hintergangen wird?«, fragte Justus.

»Wer redet denn davon?«

»Ich. Diese Sache stinkt, Bob. Sie stinkt gewaltig. Da ist irgendwas ganz Großes im Gange, das unter gar keinen Umständen aufgedeckt werden soll. Aber wir haben einen letzten Trumpf im Ärmel: Bis jetzt hat niemand eine Ahnung, dass wir der Sache auf der Spur sind. Nur Morton und Jelena wurden bisher observiert. Ich hoffe doch, du hast dich vergewissert, dass dir niemand hierher gefolgt ist, Jelena?«

»Für wie blöd hältst du mich? Nachdem der Polizist weg war, haute auch der Typ vom CIA ab. Er dachte wohl, dass ich jetzt sowieso nichts mehr tun würde, nachdem ich wusste, dass ich beobachtet werde. Tja, falsch gedacht.«

»Großartig. Die drei ??? allein gegen den Geheimdienst der Vereinigten Staaten«, brummte Bob düster. »Das heißt, genau genommen sind es jetzt nur noch zwei ??.«

Justus nickte. »Ich hoffe, Peter behält auf dem Schiff die Nerven. Vielleicht gelingt es ihm sogar, bis zur Ankunft auf Makatao nicht entdeckt zu werden.«

»Wenn er nicht schon längst entdeckt worden ist«, fügte Bob hinzu.

»Wir können von Glück sagen, dass seine Eltern im Urlaub sind. Die würden spätestens morgen früh total ausflippen, wenn Peter nicht da ist.«

»Glück?« Bob runzelte die Stirn. »Na, ich weiß nicht. Sie würden die Polizei rufen. Und ich bin noch nicht davon überzeugt, dass das nicht wirklich das Klügste wäre. Geheimdienstspione! Das ist einfach eine Nummer zu groß für uns! Und wir haben noch nicht einmal einen Plan. Wie wollen wir Peter denn retten? Hast du dir schon etwas überlegt, Justus? Sollen wir der ›Explorer‹ hinterherschwimmen?«

Der Erste Detektiv sah betreten zu Boden. »Uns wird schon was einfallen.«

»Was denn? Und vor allem wann?«

»Nur keine Panik! Wir –« Er stockte. Sein Blick war auf die Straße gerichtet.

»Was ist, Just?«

»Da war was!«

»Wo? Was?«

»Eine Bewegung. Am Ende des Piers. Da schleicht jemand herum. Er ist hinter dem ersten Container auf der rechten Seite verschwunden.«

»Skinny?«, überlegte Jelena.

»Der ist abgefahren, schon vergessen? Kommt, wir schlendern ganz langsam zurück und tun so, als wären wir ins Gespräch vertieft. Wenn wir beim Container sind, machen wir Tempo und sehen, wer sich hier noch herumtreibt!«

»Und wenn es ein Agent vom CIA ist?«, fragte Bob.

»Dann wissen wir wenigstens, dass wir vom Geheimdienst beobachtet werden. Kommt schon!«

Aus den Augenwinkeln suchten sie die Umgebung ab, aber alles blieb ruhig. Keine Bewegung, keine Schatten. Dann erreichten sie den drei Meter hohen Container. Justus sprang vor und blickte hinter das stählerne Monstrum. An seinem anderen Ende stand eine Gestalt. Der Mann hielt eine Kamera in der Hand, ließ sie jedoch vor Schreck fast fallen, als plötzlich Justus in seinem Sucher auftauchte. Blitzschnell wirbelte er herum und verschwand hinter dem Container.

»Hinterher!«, rief Justus und rannte los. Er wusste, dass er keine Chance hatte, wenn der Kerl auch nur ein kleines bisschen sportlich war. Aber er musste es versuchen. Als er das hintere Ende des Containers erreichte, sah er den Mann gerade noch hinter einer Lagerhalle verschwinden. Dann zischte eine weitere Gestalt an ihm vorbei: Bob! Er rannte hinter dem Kerl her und war einen Augenblick später ebenfalls verschwunden.

Der Erste Detektiv versuchte noch einige Sekunden lang mitzuhalten, doch schon machte sich ein stechender Schmerz in seiner Seite bemerkbar und kurz darauf konnte er einfach nicht mehr. Keuchend blieb er stehen, stemmte sich auf die Oberschenkel und blickte in die Dunkelheit, in der Frachtcontainer, flache Hafengebäude und Kräne wie schlafende Monster auf den nächsten Morgen warteten.

»Was ist los?«, fragte Jelena hinter ihm. »Ist er entwischt?«

»Mir auf jeden Fall. Aber Bob ist –«

Das Geräusch eines aufheulenden Motors und quietschender Reifen unterbrach ihn. Ein Paar Scheinwerfer schossen um die Ecke der Lagerhalle und rasten auf sie zu.

»Vorsicht!« Justus packte die Handgriffe von Jelenas Rollstuhl und schob ihn aus der Bahn. Der Wagen bretterte an ihnen vorbei, bog auf die Straße und verschwand.

»Das hätte ich auch selbst geschafft«, murrte Jelena. »Du musstest mich –«

»Nicht retten, ich weiß. Verzeihung, ich werde es nie wieder versuchen.«

»Alles in Ordnung?« Das war Bob, der auf sie zugerannt kam. »Er hatte zu viel Vorsprung. Ich sah gerade noch, wie er in sein Auto sprang, dann war er auch schon weg.«

»Hast du ihn erkannt?«, fragte Justus.

»Nein. Ich meine ja. Also, gesehen habe ich ihn schon. Aber ich kenne den Mann nicht.«

»Der CIA beschattet uns«, knurrte Jelena.

Justus nickte. »Die Vermutung liegt nahe. Er wollte Fotos von uns schießen. Aber das ist noch kein Beweis.«

»Das spielt ja wohl keine Rolle. Wir dürfen jetzt nicht mehr davon ausgehen, unbeobachtet zu sein. Diese Schattenmänner können überall sein. Überall und zu jeder Zeit. Wir sind erledigt.«

Der Doppelgänger

Es war ein Schaukeln, das ihn weckte. Ein ewiges, unendlich langsames Auf und Ab, das ihm das Blut mal in den Kopf, mal in die Beine trieb. Vermutlich hatte er deshalb solche Kopfschmerzen. Außerdem war ihm leicht flau im Magen. War er krank? Hatte er Fieber? Warum sonst sollte sich sein Körper so merkwürdig anfühlen? Warum hatte er das Gefühl, permanent hin und her geschaukelt zu werden?

Außerdem war es kalt. Er wollte die Bettdecke fester um sich ziehen, doch dann stellte er fest, dass es gar keine gab. Er trug immer noch Kleidung. Jeans, Sweatshirt, Schuhe… irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Peter schlug die Augen auf. Kaum einen Meter über ihm schwebte ein graues Metallgitter. Er lag auf der unteren Matratze eines Etagenbettes. Eines sehr schmalen Etagenbettes. In einem sehr schmalen Raum. Einem Raum mit einem winzigen runden Fenster. Einem Raum, der ganz langsam hin und her schwankte.

Schlagartig fiel ihm alles wieder ein. Der Hafen! Die ›Explorer‹! Die Suche nach den Kisten und schließlich… Skinny, der ihn gewarnt hatte. Peter hatte so schnell wie möglich verschwinden wollen, doch dann hatte ihn jemand gepackt und betäubt. Wahrscheinlich mit einem chloroformgetränkten Tuch. Das würde auch seine Kopfschmerzen erklären. Schließlich musste man ihn in diesen Raum gesperrt haben.

Der Zweite Detektiv stand auf. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn, doch nach ein paar Sekunden wurde es besser. Er blickte sich um. Peter war schon öfter an Bord von Schiffen gewesen. Der Raum war eine ganz normale Schlafkabine: äußerst klein und spartanisch eingerichtet. Draußen war es fast hell. Bald würde die Sonne aufgehen. Er warf einen Blick aus dem Bullauge: Wasser, so weit das Auge reichte.

Erst jetzt überkam ihn Panik. Sie überrollte ihn wie eine riesige Welle. Als hätte die Angst ein paar Minuten länger gebraucht, um wach zu werden. Dafür war sie jetzt umso gewaltiger und pumpte Adrenalin durch Peters Körper. Er war an Bord der ›Explorer‹! Jemand hatte ihn überrumpelt und gefangen genommen! Es war früher Morgen, er hatte Stunden geschlafen und inzwischen war das Schiff auf hoher See, meilenweit von zu Hause entfernt!

Und er war allein.

Was würden sie mit ihm anstellen? Ihn hier in der Kabine verhungern lassen? Ihn ins offene Meer werfen? Oder Schlimmeres? Ihn foltern, damit er Informationen auspackte, die er gar nicht hatte? Die Leute von Sphinx waren skrupellose Gangster, die zu allem fähig waren!

Er musste hier raus! Peter betrachtete das Bullauge. Es war zu klein. Höchstens ein kleiner Junge hätte sich da hindurchquetschen können. Blieb also nur die Tür. Peter tastete ohne viel Hoffnung nach seinem Dietrichetui. Wahrscheinlich hatte man es ihm abgenommen. Nein! Da war es! Sie waren tatsächlich so dumm gewesen, ihn nicht zu durchsuchen! Er sprang zur Tür, betrachtete das Schloss, drehte probehalber den Knauf… und zuckte vor Überraschung zurück. Die Tür schwang quietschend auf. Sie war gar nicht verschlossen!

Peter trat einen Schritt zurück. Was für ein merkwürdiges Gefängnis sollte das sein? Ging die Besatzung davon aus, dass er an Bord eines Schiffes, von dem er sowieso nicht fliehen konnte, keine Gefahr darstellte? Nun, wahrscheinlich hatten sie damit sogar Recht. Was sollte er auch tun? Wie Bruce Willis im Alleingang nach und nach alle überrumpeln und einsperren? Sicher nicht. Aber vielleicht konnte er fliehen. Es musste ein Rettungsboot geben! Oder es gelang ihm, über Funk einen Notruf abzusenden…

Der Gang war leer, alle Türen geschlossen. Peter erinnerte sich wieder. Dort hinten war der Lagerraum, hier die Kombüse… Aber viel wichtiger war, dass scheinbar noch alle schliefen. Kein Laut außer dem beständigen Knarren des Schiffsrumpfes drang aus den Kabinen. Wenn er sich jetzt das Rettungsboot schnappte, könnte er über alle Berge sein, bevor jemand überhaupt merkte, dass er weg war!

Leise schlich Peter die Stahltreppe hinauf. Als er die Tür öffnete, blies ihm ein frischer Wind ins Gesicht. Der herbe Geruch des Pazifiks. Durch das Schaukeln der ›Explorer‹ rutschte ihm fast die Tür aus der Hand. Der Knall hätte wahrscheinlich jeden an Bord aufgeweckt. Behutsam schloss er die Tür und sah sich um. Da standen immer noch einige Holzkisten an Deck, doch die waren im Augenblick völlig uninteressant. Er musste das Rettungsboot finden! Eilig umrundete er den Deckaufbau.

Da! An der Reling stand eine Gestalt, die aufs Meer hinausblickte: eine Frau mit raspelkurzem, silbrig-grauem Haar, deren Windjacke in der steifen Brise knatterte. Das musste Dr. Maria Svenson sein. Peter hatte sie zwar gestern nur aus der Ferne und im Halbdunkel gesehen, aber sie war, soweit er wusste, die einzige Frau an Bord. Sie durfte ihn nicht entdecken! Peter machte kehrt und zog sich zurück.

»Ah, guten Morgen!«

Der Zweite Detektiv erstarrte mitten in der Bewegung. Sie hatte ihn gesehen! Jetzt war alles aus! Sollte er fliehen? Aber wohin? Dies war ein Schiff. Ein kleines noch dazu. Keine Fluchtmöglichkeit. Keine Verstecke. Er war geliefert. Langsam drehte er sich um.

»Jetzt sieht man dich endlich mal ohne Kapuze. Wie geht es dir, Skinner? Besser als gestern Nacht?« Dr. Svenson lächelte ihn freundlich an.

Peter unterdrückte den Drang den Kopf zu wenden, um zu sehen, ob da vielleicht jemand anderes stand, mit dem sie sprach. Aber natürlich war da niemand. Maria Svenson sah ihm direkt in die Augen. Skinner? Hatte sie Skinner gesagt? Ihr Lächeln versteinerte. Peter begriff, dass sie auf eine Antwort wartete. »Ja«, sagte er automatisch. »Viel besser.« Obwohl er gar nicht wusste, was sie überhaupt meinte.

Sie lachte. »Du scheinst aber noch etwas müde zu sein. Macht nichts, ich auch. Aber ich konnte nicht mehr schlafen. Die erste Nacht auf einem Schiff… Du weißt schon, man muss sich erst an das Geschaukel gewöhnen. Also dachte ich, ich gehe an Deck und sehe mir den Sonnenaufgang an.« Sie drehte sich wieder um. Und wie auf Kommando tauchte am dämmrigen Horizont der erste Fleck der rot-goldenen Sonne auf. Er zeichnete ein glitzerndes Band auf die Meeresoberfläche.

Was sollte er tun? Was sollte er nur tun? Sich so schnell wie möglich wieder unter Deck verziehen? Über Bord springen? Mit Maria Svenson reden? Aber worüber? Sie hielt ihn offensichtlich für Skinny. Was absurd war, denn abgesehen von ihrer Körpergröße hatten Peter und Skinny absolut nichts gemeinsam.