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Daniel de Roulet, geboren 1944 in Genf, war Architekt und arbeitete als Informatiker. Er ist seit 1997 ausschliesslich Schriftsteller, Autor mehrerer Romane und dokumentarischer Bücher, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden ist. Er lebt in Genf und in Frankreich.
Foto Yvonne Boehler

 

Lieferbare Titel von Daniel de Roulet im Limmat Verlag

Aus der «Simulation humaine»

–  Sturz ins Blaue

–  Blaugrau

–  Blaues Wunder

–  Die blaue Linie

Weitere Titel

–  Mit virtuellen Grüssen!

–  Double

–  Ein Sonntag in den Bergen

–  Nach der Schweiz. 27 Porträts zur Metamorphose eines Nationalgefühls

–  Die Tänzerin und der Chemiker /La danseuse et le chimiste. Neun undisziplinierte Begegnungen zwischen Kunst und Wissenschaft

Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart

Roman

Aus dem Französischen
von Maria Hoffmann-Dartevelle

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Kommen Sie rasch. Mozart braucht Sie.
Unbedingt. Nur mit Hilfe der Musik werden
wir diese unruhigen Zeiten überstehen.

Elisabeth von Belgien an Albert Einstein
27. August 1937

1

April 1942

Seitdem ihr Wolfgang begegnet ist, kann Fumika ihn nicht mehr aus ihrem Herzen vertreiben. Im Studentinnenwohnheim klappt sie ihren Taschenspiegel auf. Morgens beim Aufwachen ist ihr rechtes Auge schmaler als das linke. Fumika, sagt sie sich, du bist zu einsam. Kalifornien und dieses Berkeley bekommen dir nicht. Du bräuchtest eine große Liebe, aber eine geteilte.

Später am Vormittag konzentriert sie sich auf ihr Klavierspiel. Eine halbe Stunde Tonleitern, dann fünf Seiten aus dem grünen Heft und anschließend Fingerübungen. Noch einmal holt sie den Spiegel hervor. Zwischen ihren Augen herrscht wieder Gleichgewicht, der Abglanz von Wolfgangs Lächeln ist verschwunden.

Sollten eines Tages, wenn dieser neue Weltkrieg zu Ende ist, andere junge Japanerinnen wie Fumika in die Vereinigten Staaten auswandern wollen, dann müssen sie eines wissen: In diesem Land ist alles zu groß. Die Hochhäuser im Zentrum von San Francisco kratzen an den Wolken. Jede x-beliebige Avenue nimmt mehr Platz ein als die Kais im Hafen von Nagasaki, wo Fumika immer dem Flugzeugträger beim Auslaufen zusah. Papierkörbe, mächtig wie Tonnen. Landesflaggen, breit wie Planen. Sogar die Haufenwolken, die vor jedem Gewitter über der Bucht schweben, sind größer als in Japan. Und in den Wohnheimbetten würden sich Riesenstudentinnen wohlfühlen, Fumika aber sehnt sich nach den Paravents aus Papier, den Bambusbrücken, dem Vulkan und nach einem charmanten europäischen Geiger …

An diesem schönen Morgen im April 1942 beendet sie ihre Übungen mit einem Stück von Mozart, das so langsam und fröhlich ist wie ein breites Lächeln. Mittags lässt sie mit dem Fuß ihren Schemel kreisen, dreht sich um sich selbst, bis der Rock aufschwingt, freut sich, dass Donnerstag ist, Schwimmbadtag. Den einteiligen Badeanzug hat sie schon zurechtgelegt. Ihre Freundin Shizuko hat sie überredet, sich die Brust nicht länger mit Bandagen einzuschnüren. Hier trägt man ein Stoffteil unter der Bluse, das sich Büstenhalter nennt. Es ist leicht zu waschen. Beim Aufhängen am Wäscheständer des Wohnheims sieht man, wie es gemacht ist. Für jede Brust eine kleine Schale, für jede Schulter einen Riemen und einen weiteren zum Verschließen im Rücken. Damit lässt sich der Busen gut verstecken, auch wenn das bei Fumika nicht nötig wäre. Tante Yu hat immer gesagt, Eleganz sei, nicht mehr Brust zu haben als ein Mann. Wer hätte gedacht, dass Tante Yus Brust eines Tages durch die einschießende Milch so stark anschwellen würde? Die Ärmste!

In der Campuskantine nimmt Fumika ihre Mahlzeit gemeinsam mit einer anderen Pianistin ein, deren Familie aus Tokio herübergekommen ist, allerdings schon vor zwanzig Jahren. Shizuko ist in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, besucht am Konservatorium von Berkeley denselben Kurs wie Fumika und spricht lieber Englisch. Mit ihren Tabletts gehen sie in den für Asiaten bestimmten, deutlich dunkleren Teil des Speisesaals. Seit dem Kriegseintritt Seiner Majestät unseres Kaisers von Japan im Dezember 1941 werden sie von den Küchenmädchen grundlos beschimpft. Heute aber vergoldet die Sonne die Spitze des Kampanile und die weißen Tulpen in den Beeten vor dem Physiklabor.

Gut gelaunt essen sie, stoßen sich mit den Ellbogen an, glucksen übermütig. Shizuko erzählt Fumika von dem Tag, als sie von einem reichen japanischstämmigen Reisimporteur ein Stipendium bekam. Dank ihm ist sie jetzt nicht mehr von ihrer Familie abhängig. Vor allem nicht von ihrem Vater, einem ziemlich gewalttätigen Mann. Für die Küchenmädchen legen sie die ausgespuckten Kirschkerne herzförmig auf ihre Tabletts, dann gönnen sie sich einen faden, ohne Zeremonie zubereiteten schwarzen Tee. Immer noch besser als Kaffee. Tee gibt es umsonst, so sparen sie Geld für die Partituren, die sie dem alten Bibliothekar abkaufen.

Die japanischen Stipendiatinnen führen ein anderes Leben als die übrigen Studentinnen. Die Bälle am Wochenende dürfen sie nicht besuchen. Im Wohnheim stehen ihnen pro Stockwerk nur zwei statt acht Duschen zur Verfügung. Im Orchester des Konservatoriums nehmen sie nur an den Proben teil. Seit letztem Dezember herrscht Auftrittsverbot.

Fumika zeigt Shizuko das Foto ihres Verlobten aus Nagasaki, den ihre Mutter und Tante Yu für sie ausgesucht haben. Sie möchte Shizukos Meinung hören. Das Foto zeigt einen würdevoll aussehenden jungen Mann in der weißen Ausgehuniform der Unteroffiziere der japanischen Luftwaffe. Shizuko, flüsternd:

«Ich finde, er hätte lächeln können.»

«Lächeln auf dem Foto? Das ist was für Amerikaner.»

«Nein, er sollte für dich lächeln, Fumika.»

«Ein Soldat hat nicht zu lächeln.»

«Liebst du ihn?»

«Nein, Wolfgang mag ich lieber.»

«Aber Herrn Tsutsui wirst du heiraten.»

Das fängt ja gut an. Alles ist schon arrangiert. Dabei mag Fumika in Wahrheit einen anderen lieber. Wolfgang, der zweite dieses Namens, ist viel größer als Mozart und nicht so zierlich. Der Geiger heißt Wolfgang Steinamhirsch. Fumika hat herausgefunden, was der deutsche Name bedeutet. Kann man einen laufenden Hirsch mit einem einzigen Stein aufhalten?

Anfangs dachte Fumika, er habe sie nicht bemerkt. Bis er sie eines Tages bat, ihn bei seinem Diplomkonzert zu begleiten. Welche Ehre! Er kommt aus der Schweiz, aus La Chaux-de-Fonds, war in Stockholm und dann in Berkeley. Bevor er die Geige abstützt, legt er sich immer ein weißes Tuch über die Schulter. Wenn er spielt, hält Fumika den Atem an, und manchmal verkneift sie sich eine Träne. Jetzt, wo er nach Chicago gezogen ist, sollte sie weniger an ihn denken. Er hat seine Tage im Labor für Teilchenphysik verbracht. Angeblich hat er dort etwas berechnet, das man nicht sieht. Ein bisschen wie in der Musik. Die hat auch noch niemand gesehen. Aber gespielt. Für ihn eine Nebenbeschäftigung. Na dann, leb wohl, Wolfgang.

«Ihr seht euch bestimmt wieder», sagt Shizuko. «In der Zwischenzeit könntest du einen anderen kennenlernen. Ich stell dir mal einen vor, der sehr gut küsst, mit der Zunge …»

Sie gehen bei der Hausmeisterin ihres Wohnheims vorbei, wo ein Fahrrad für sie bereitsteht. Eins für zwei. Badeanzüge und Handtücher verstauen sie im Lenkradkorb. Fumika setzt sich im Damensitz auf den Gepäckträger. Gemächlich radelt Shizuko die Telegraph Avenue entlang. Eine Brise fährt ihnen unter die roten Röcke und ins Haar. Fumikas Haar ist mittellang und mit dem Onduliereisen gewellt, Shizuko hat ihres zur Seite gekämmt und den Pony mit einer Klammer festgesteckt. Beide tragen ein helles Kopftuch darüber, Konservatoriumstracht.

Auf den Terrassen der großen Holzhäuser halten Männer ihren Mittagsschlaf. Mit etwas gutem Willen könnten sie in weniger als einer Stunde den Müll aufsammeln, der nicht erst seit diesem Frühjahr in ihren Gärten herumliegt. Die Größe der Schaukelstühle unter den Vordächern beeindruckt die Mädchen. Sie stellen sich vor, dass auf einem dieser Holzsitze ohne Weiteres eine ganze japanische Familie Platz fände. Aber in Kalifornien werden sie nur von einer einzigen Person benutzt. Jemanden, der schon dort sitzt, zu fragen, ob man mit ihm schaukeln dürfte, wäre ungehörig. Hier behalten die Männer ihre Wiege ein Leben lang.

Im Schwimmbad haben die Weißen ihre eigenen Tage: Samstag, Sonntag und Montag. Der Dienstag ist für die Mexikaner und andere Mischlinge reserviert. Mittwochs sind die Schwarzen dran. Erst donnerstags, wenn das Wasser schon trübe ist, dürfen die Gelben rein, morgens die Männer, nachmittags die Frauen. Freitags macht das Schwimmbad zu, das Becken wird geleert, der Boden geschrubbt. Samstags, wenn die Weißen wieder an der Reihe sind, ist Sauberkeit garantiert.

Um nichts in der Welt würden die beiden Freundinnen auf ihr Donnerstagsschwimmen verzichten. Ohne Eile fahren sie an einer Reihe Eukalyptusbäume entlang, vergleichen ihre kleinen Abenteuer und unterhalten sich über Fumikas Verlobten, den offiziellen. Sie fragen sich, ob Herr Tsutsui beim Angriff auf Pearl Harbor dabei war. Wegen dieser Pazifikinsel gelten sie beide jetzt als Feinde. Die japanischstämmigen Ladenbesitzer haben handgeschriebene Schilder mit der Aufschrift «Ich bin Amerikaner» in ihre Schaufenster geklebt. Als ob es nicht reichen würde, dass sie die Waffeln, die sie einem verkaufen, mit Senf und Ahornsirup beschmieren.

Shizuko erzählt, im Radio habe sie den Präsidenten der Vereinigten Staaten seinen Mitbürgern erklären hören, dass die auf der hawaiischen Inselgruppe stationierte us-Flotte feige angegriffen worden sei. Er habe Maßnahmen angedroht, damit Freiheit und Demokratie überall auf der Welt respektiert würden. Mit dramatischem Tonfall habe er mehrmals gesagt, so gehe es nicht. Die Vereinigten Staaten ließen sich nicht demütigen. Und was nun geschehen werde, habe Japan selbst zu verantworten.

Sie wundern sich über diesen behinderten Präsidenten, der sich mühsam im Rollstuhl fortbewegt. Könnte man sich Seine Majestät unseren Kaiser ohne Beine, immer sitzend vorstellen? Wie würde er denn Befehle erteilen? Wie bei Militärparaden seine Generäle grüßen? Gar nicht einfach. Wenn dieser Präsident Roosevelt im Radio spricht, hört man gleich, dass er keine Beine mehr hat.

Shizuko fragt sich, ob seine Rede vielleicht erklärt, warum eine Angestellte sie gestern Abend in der Bibliothek als dreckige Japse beschimpft hat. Fumika entgegnet, sie wolle sich einen so schönen Tag nicht verderben lassen. Sie gehen jetzt schwimmen und denken nicht mehr daran. Nichts ist aufregender, als vom Sprungturm ins Wasser zu springen. Diesmal werden sie es von der dritten Plattform aus versuchen, sich die Nase zuhalten und möglichst weit draußen im Becken landen.

Die eine stellt Fragen, die andere tritt in die Pedale. Wie viele Kinder sie wohl in die Welt setzen werden? Shizuko will ungefähr zehn, von einem Amerikaner. Darauf legt Fumika ehrlich gesagt keinen Wert. Selbst als ihre Freundin sagt:

«Wenn du von deinem Piloten ein Kind bekommst …»

«Du spinnst ja! Erst heiraten wir.»

«Dann nennt ihr es Wolfgang.»

«Wenn Seine Majestät unser Kaiser das hören würde …»

«Er ist nicht mehr mein Kaiser, Fumika.»

«Achtung, Kreuzung.»

Nur knapp kann die Radfahrerin einem Lastwagen ausweichen, den eine blühende Magnolie verdeckt hat. Am Schwimmbad angekommen, stellen sie das Rad an einen Mammutbaum, der so dick ist wie fünf japanische Eichen zusammen. Über die Schranke hinweg bewundern sie das Becken, den blau gestrichenen Sprungturm, die schrägen Bretter, auf denen sie sich in die Sonne legen können.

Fumika beschreibt ihren Geigenspieler Wolfgang genauer. Na ja, einen Makel hat er. Der ist ihr gleich beim ersten Mal aufgefallen. Hinten, am linken Ende seines Lächelns, fehlen ihm zwei Zähne. Er sagt, er habe sich in der Schweiz mit Studenten geprügelt. Davon habe sein Gebiss dieses Andenken zurückbehalten. Außerdem habe er damals auch ein zugeschwollenes Auge, ein paar ausgerissene Haarbüschel und mehrere Beulen davongetragen. Sie hätten ihn am Bordstein liegen lassen, nachdem sie ihm zwei Rippen gebrochen hätten. Von all dem habe er sich erholt, außer von diesem unschönen schwarzen Loch im Mund, das ihn daran erinnere, dass er mit Berlin noch eine Rechnung offen habe, selbst wenn das Ganze in Zürich passiert sei. Fumika und Shizuko finden beide, dass er für diesen kleinen Schönheitsfehler nichts kann. Außerdem gewöhnt man sich schnell daran. Beim Essen kann er ja auf der anderen Seite kauen. Jedes Mal, wenn er lächle, sagt Fumika, verberge er das Loch mit der Zunge. Das mache er sehr gut. «Eigentlich», schließt sie, «verstehe ich nicht, warum er sich für Physik statt für die Geige und mich interessiert. Dieses Chicago, wo er jetzt lebt, ist viel zu weit weg.»

Im Schwimmbad ist kein einziger Badegast zu sehen. Das Becken ist leer. Nicht eine Welle im Wasser. Was ist los? Was hat das zu bedeuten? Über die Schranke hinweg halten sie Ausschau. Der Aufseher, der normalerweise ein Fünfcentstück dafür verlangt, dass er am Drehkreuz die Sperre löst, hat seinen Posten verlassen.

Eine mit einem großen Plakat überzogene, vom Kleister noch feuchte Tafel versperrt den Durchgang. Mehrere junge Frauen stehen schweigend davor und lesen. «Anweisungen an alle Personen mit japanischen Vorfahren.» Fumika liest den Text laut und fröhlich vor, als sei es ein Brief ihres Verlobten. Aber hier geht es um etwas ganz anderes. Nicht nur ist das Schwimmbad geschlossen, die Badegäste werden ernsthaft ermahnt:

«Alle Bürger japanischer Abstammung mit oder ohne amerikanische Staatsbürgerschaft, die sich noch auf amerikanischem Territorium aufhalten, werden aufgefordert, sich zwischen morgen, Freitag, 8 Uhr, und übermorgen, Samstag, 17 Uhr, in einem Sammelzentrum einzufinden. Folgendes ist mitzubringen: Laken und Decken (keine Matratzen), Toilettenartikel, Kleidung zum Wechseln, Messer, Gabeln, Löffel, Teller, Schalen sowie unentbehrliche persönliche Habe. Jeder Gegenstand wird verpackt und erhält ein Etikett mit dem Namen und der von den Behörden vergebenen Registriernummer.

Die Bündel dürfen nur so groß sein, dass eine Person allein sie tragen kann. Das Mitführen von Tieren ist verboten. Kein Gegenstand darf von Dritten zum Sammelzentrum gebracht werden.

Die Regierung der Vereinigten Staaten wird sich über ihre Behörden um die Besitztümer der Evakuierten kümmern sowie um den Verkauf ihrer Immobilien, für die die Verantwortung allein bei den Eigentümern liegt.» Was bedeutet das? «Dies gilt auch für Kühlschränke, Waschmaschinen, Klaviere und anderes schweres Mobiliar.

Auf Wunsch werden Küchenutensilien gelagert, aber nur wenn sie sachgemäß verpackt und mit der Registriernummer ihres Besitzers versehen sind. Jede Familie und jede alleinstehende Person wird nach Anweisung der Kontrollstelle für Zivilbevölkerung zum Sammelzentrum gebracht.

Gezeichnet: Der Armeekommandant der Territorialzone.»

Schwer zu verstehen, diese üble Nachricht. Die eine zupft ihr Kopftuch zurecht, die andere reißt es sich wütend herunter. Sie hoffen, das Ganze ist nur ein Scherz, über den sie gleich lachen werden, wenn sie in ihre Badeanzüge schlüpfen.

Aber die anderen Studentinnen um sie herum ziehen so lange Gesichter, dass ein Irrtum wohl ausgeschlossen ist. Einer der beiden rollt unverhofft eine Träne über die Wange. Die andere hakt sie unter, schweigend gehen sie über die Straße zu ihrem Fahrrad zurück, das an dem riesigen Mammutbaum lehnt. Ein weltweites Unglück, dessen Ursache man nicht begreift, ist schnell passiert. Und kann einem den Schwimmbadnachmittag am Donnerstag restlos verderben.

Um fünf Uhr nachmittags hätten sie Unterricht in Musiktheorie. Allen, die nicht erscheinen, hat der Lehrer den Ausschluss von den Abschlussprüfungen angedroht. Was ist wichtiger: die Erklärungen des Meisters zur Harmonie einer Quinte oder die öffentliche Bekanntmachung eines Armeekommandanten der Territorialzone?

So leicht kommen ihnen nicht die Tränen, aber die Lust am Radfahren ist ihnen vor lauter Kummer vergangen. Sie versuchen, sich zu beruhigen, schließlich können sie es zu zweit mit diesem Krieg aufnehmen.

«Wir sollten abhauen, Fumika.»

«Zu spät.»

«Man wird uns einsperren.»

«Aber wir haben doch nichts Böses getan, Shizuko.»

«Uns den Schädel rasieren, uns die Nägel ausreißen.»

Fumika will dem Ganzen etwas Positives abgewinnen, sagt, jetzt habe sie eine gute Ausrede, um nicht nach Japan zurückzukehren. Um diesen Herrn Tsutsui nicht zu heiraten. Und auf Wolfgangs Rückkehr zu warten. Wenn der erfahre, dass sie in Schwierigkeiten steckt, werde er kommen, um sie zu retten.

Im Gegenteil, meint Shizuko, Liebe und Krieg dürfe man nicht durcheinanderbringen. Es ist so ungerecht, wenn das Leben eine Wendung ins Unglück nimmt. Sie sind beide dreiundzwanzig Jahre alt. Wäre das nicht genau der richtige Moment zum Glücklichsein? Außerdem war Shizuko am Abend mit einem neuen Verehrer im Bett verabredet. Ist das auch bald verboten?

Zum Trost erzählt Fumika von früherem Schmerz. Von ihrem Vater, der starb, als sie erst vier war. Während des Erdbebens waren die Vulkane erwacht. Unter den Trümmern fand man seine Leiche nicht wieder. Eines Abends, als ihre Mutter dachte, sie schlafe, hörte Fumika ein Gespräch unter Erwachsenen mit an und erfuhr von dem Grauen, das geschehen war: Ihr Vater war in das kochende Wasser des Vulkans gefallen und hatte um sich geschlagen. Ihre Mutter erzählte den Erwachsenen, sein Körper sei weiß geworden wie ein Hühnchen im Kochtopf. Er habe entsetzlich geschrien, und niemand habe ihn retten können.

Shizuko findet es unnötig, dass man ihr von fernen Abscheulichkeiten und vom Unglück anderer erzählt. Darüber lässt sich leicht reden, wenn man es selbst überlebt hat. Alles Vergangenheit. Aber wie man bevorstehendem Unglück begegnen soll, weiß man nicht. Fumika merkt, dass ihre Freundin anfängt, ins Blaue hinein zu philosophieren. Also gut, Shizukos Vater, wohnhaft im Staat Ohio, schlägt sie, was aber immer noch besser ist als sadistische Soldaten. Nein, sagt Shizuko, zu ihrem Vater geht sie nie mehr zurück. Sie spricht von ihm wie von einem Ungeheuer, dem sie für immer entkommen ist. Nichts wird besser mit der Zeit. Im Gegenteil, die Zeit zieht einen hinein in den Schmerz.

Nehmen wir mal eine Mozart-Sonate. Erst kommen tieftraurige Passagen, als müsse die ganze Welt verzweifeln. Doch plötzlich huschen ein paar heitere Töne vorbei, berühren das Herz. Man hat das Gefühl, der Schmerz sei vorbei, die Leichtigkeit wieder da.

Na gut, und was jetzt? Alles in einen Koffer packen und sich im Sammelzentrum einfinden? Ob auch die Partituren ins Gepäck passen? Lieber würden sie fliehen. Aber wie? Fumika könnte als Indianerin durchgehen, als Apachin oder Navajo zum Beispiel, und sich in einem pueblo in der Wüste verkriechen. Aber Shizuko würden alle ansehen, dass sie nicht von hier ist, das steht ihr ins Gesicht geschrieben. Deshalb wird sie sich auf einem Schiff verstecken und nach Europa reisen müssen. Aber da ist Krieg. Ob die Leute in Europa genug zu essen haben, um einen asiatischen Flüchtling zu ernähren?

Sie beschließen, sich nicht von der Traurigkeit unterkriegen zu lassen. Dafür ist es noch zu früh. Dieser Krieg hier kann dauern. Doch was immer geschieht, sie werden sich nicht trennen, das schwören sie einander. Das gibt ihnen den Mut, zum Konservatorium zurückzufahren.

In der Telegraph Avenue steigen sie ab und laufen neben dem Rad her, jede auf einer Seite. Die Männer in ihren zu großen Schaukelstühlen unter den Vordächern schauen ihnen wortlos hinterher. Seit einer Weile folgen ihnen drei Schüler mit Ranzen auf dem Rücken und machen sich über ihre Konservatoriumskopftücher lustig. Plötzlich schreit einer: «Dreckige Japsen!»

Zwischen dem linken Ohr der einen und dem rechten der anderen zischt ein Steinchen vorbei.

2

Erster Brief

Nagasaki, den 1. März 1942

Sehr verehrtes Fräulein Fumika,
meine liebe Verlobte!

Ihre Mutter hat Ihnen die ausgezeichnete Nachricht übermittelt. Unseren Familien ist es gelungen, sich in allen Punkten, auch in der Geldfrage, zu einigen. Unsere Verlobung ist beschlossene Sache. Daher drängt es mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wäre Amerika nicht so weit von meiner Kaserne in Nagasaki entfernt, würde ich Sie in meinem Urlaub sehr gern besuchen. Aber der Pazifische Ozean wird uns noch für einige Monate trennen. So mache ich Ihnen brieflich den Hof, in der Vorfreude darauf, dass Sie zu unserer Vermählung im September in unser schönes Land zurückkehren. In der linken Tasche meines Waffenrocks trage ich das Foto bei mir, auf dem Sie am Klavier sitzen. Sie sind darauf sehr hübsch anzusehen, ganz besonders gefällt mir die Form Ihres Kinns und Ihr seitlich zusammengestecktes Haar. Ist diese Frisur bei den Studentinnen von Berkeley gerade in Mode? Wir hätten uns am Konservatorium von Nagasaki begegnen können. Dort habe ich zwei Jahre vor Ihnen mein Geigenstudium beendet. Doch nicht der Zufall hat uns zusammengeführt, sondern unsere Familien.

Erlauben Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin 1917 geboren und werde am 2. Mai fünfundzwanzig Jahre alt. Auf dem Foto, das ich diesem Brief beifüge, sehen Sie mich in der Uniform eines Unteroffiziers der Marine. Es ist meine Ausgehuniform, während der Flugübungen trage ich eine andere, da der weiße Stoff zu empfindlich ist. Mein Vater, Inhaber einer Firma für Paravents, beschäftigt elf Arbeiter und einige Frauen. Gewiss sind Sie schon einmal an unseren Werkstätten vorbeigekommen, sie liegen hinter dem Bahnhof, im oberen Teil des Parks. Bald wird mein älterer Bruder die Nachfolge unseres Vaters antreten. Meine Schwester, die zurzeit als Krankenschwester Dienst in unserer Armee tut, wird heiraten, sobald das Haus ihres Verlobten fertig ist. Sie, sehr verehrtes Fräulein Fumika, und ich werden dann bei meinen Eltern wohnen. Sobald Japan den Krieg gegen die Vereinigten Staaten gewonnen hat, werde ich mir eine radiologische Praxis einrichten, die uns erlauben sollte, bequem von unserer Arbeit zu leben. Ich bin mir sicher, dass Sie eine hervorragende Sprechstundenhilfe sein werden. Und an Patienten dürfte es uns angesichts des Krieges nicht mangeln.

In meiner Kaserne lässt man uns nur wenig Zeit zur Erledigung unserer persönlichen Angelegenheiten, eine halbe Stunde pro Tag. Deshalb kann ich mir nicht gestatten, Ihnen einen langen Brief zu schreiben. Dennoch möchte ich eine Sache klarstellen, die unsere Ehe andernfalls unnötig belasten würde. Es geht um die Musik. Wie Sie wissen, ähnelt Ihr Leben in diesem Punkt dem meinen. Ich selbst könnte Ihnen noch heute mindestens sechs Sonaten von Tartini vorspielen. Doch ich bin zu der Ansicht gelangt, wir sollten Prioritäten setzen. Die Musik vermag unserem Vaterland nicht den führenden Platz zurückzugeben, der ihm gebührt. Deshalb müssen wir uns nach dem Krieg der Wissenschaft, ja sogar der Technik widmen, in meinem Falle der Radiologie.

Ihre Mutter hat der meinen berichtet, dass Sie eine Laufbahn als Konzertpianistin anstreben. Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich die Dinge anders sehe. Ich wünsche mir, dass Sie sich um die Erziehung unserer Kinder kümmern. Ich plane vier, wenn möglich drei Jungen. Da Sie als Pianistin Übung haben, werden Sie rasch lernen, Krankenberichte auf der Schreibmaschine zu tippen.

Unser erfolgreicher Angriff auf die feindliche Flotte in Pearl Harbor im vergangenen Dezember garantiert uns ein rasches Kriegsende. Bald schon werden Sie bei Ihrer Rückkehr auf unseren Archipel einen Ozean überqueren, der endlich den Namen Pazifik verdient. So werden wir uns noch vor unserer Hochzeit im September kennenlernen. Dass unsere Familien unsere Verbindung arrangiert haben, muss nicht bedeuten, dass wir einander nicht wirklich gefallen könnten. Zurzeit sind unsere Mütter damit beschäftigt, die zeremonielle Kleidung und alles Nötige für die Ausstattung unseres Haushalts auszusuchen. Leider hindern mich meine intensiven Bemühungen um die Verteidigung unseres Vaterlandes daran, mich selbst darum zu kümmern.

Ich hoffe, Sie erfreuen sich bester Gesundheit, und erflehe in dieser Hoffnung für Sie und Ihre Familie den Segen Seiner Majestät unseres Kaisers.

Ihr Verlobter, Tetsuo Tsutsui

3

Das Sammellager

Nach vierzehn Tagen Internierung wird Fumika erneut ins Ermittlungsbüro gerufen. Was wollen sie denn schon wieder von ihr? Zum dritten Mal schallt an diesem Morgen ihr Name aus dem Lautsprecher.

Umgeben von penetrantem Mistgestank, wartet sie in der Schlange. Auf der ehemaligen Pferderennbahn stehen die Zelte so dicht nebeneinander, dass man jedes Gähnen aus dem Nachbarzelt hört. Bräunliches Segeltuch, hässlicher Militärstil. Um Platz für die Evakuierten zu schaffen, wurden die Rennpferde zu ihren Besitzern zurückgeschickt. Hinter den geschlossenen Wettbuden haben die Soldaten Stacheldraht gespannt. Gelbe drinnen, Bleichgesichter draußen.

Fumika versteht nicht, wie Shizuko verschwinden konnte. Falls sie auf einem Dampfer über den Pazifik geflohen ist, hätte sie ihr vorher Bescheid sagen können. Und im Fall eines Rendezvous hätte eine kurze Nachricht genügt. Sie hatten sich doch geschworen, sich nicht zu trennen, hatten die gemeinsame Flucht geplant. Vor fünf Tagen, als der Lautsprecher ihren Namen nannte, hatte sich Shizuko guter Dinge auf den Weg zum Ermittlungsbüro gemacht. Danach wurde sie nicht mehr gesehen. Hat sie das Personal beschimpft, einen Zwischenfall provoziert, Widerstand angekündigt?

Wenn man aufgerufen wird, muss man zunächst in der Sonne Schlange stehen, nur selten spenden ein paar träge, mollige Wolken Schatten. Dann wird man reihum hinter einem Vorhang befragt, ohne sich setzen zu dürfen.

Auch vor den Duschen langes Warten. Morgens sind die Männer dran, nachmittags die Frauen. Ein Aushang informiert darüber, wie die Internierung der Japaner ausländischer und nicht ausländischer Herkunft geregelt ist. Es müsse Ordnung herrschen, heißt es dort, der Gebrauch einer anderen Sprache als der englischen sei untersagt und jeder Aufstand ende vor dem Kriegsgericht. Angeblich schießen sie einem direkt ins Herz.

Essen gibt es genug, dafür aber mangelt es an anderen Dingen. Zum Beispiel an Musik. Seit zwei Wochen hat Fumika keine Klaviertasten mehr gesehen. Mit dem Finger einer Partitur zu folgen und den ersten Wolfgang nur im Kopf zu spielen, hat nicht dieselbe Wirkung. Wenn kein Klavier die Noten zum Klingen bringt, verlieren sie irgendwann jegliche Existenz. Sie lassen sich nicht berechnen wie physikalische Teilchen.

Fumika hat sich in die Schlange gestellt, die zum achten Rang hochführt. Sie will die Inspektorinnen um Erlaubnis bitten, das Zelt wechseln zu dürfen. Die Chefin ihres Zelts ist eine schmuddelige Matrone, die den ganzen Tag mit erloschener Zigarette im Mundwinkel herumläuft und achtzehn junge Frauen herumkommandiert. Morgens brüllt sie schon um halb sieben ihre Befehle. Die Matten müssen zusammengerollt, die Decken gefaltet, der Tee serviert und der Eingang gefegt werden. Um halb acht, wenn die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika zum Klang des Horns gehisst wird, müssen sich die Evakuierten in einer Reihe aufstellen, die schmalen Augen auf das den Mast hinaufwandernde Stück Stoff gerichtet.

In Japan war Fumika dank des Klaviers von den Nachmittagen befreit, an denen die Schüler zum Vaterlandsdienst anzutreten hatten. Ihre Schulkameradinnen mussten den Arm recken und Parolen zu Ehren Seiner Majestät unseres Kaisers deklamieren. Sie mussten schwören, dass niemals ein Fremder seinen Fuß auf den heiligen Boden der Vorfahren setzen werde.

Der Matrone hat sie sofort erklärt, ihre Finger vertrügen nicht den ganzen Tag Waschwasser, sie brauche sie noch zum Klavierspielen. Der Drache hat sich nur über sie lustig gemacht und ihre Künstlersorgen mit einem dreckigen Lachen quittiert. Ein Sammellager sei kein Konservatorium. Eine junge, zwanzigjährige Japanerin, die nicht mal die amerikanische Staatsbürgerschaft besitze, könne jederzeit für eine Spionin gehalten werden und vor dem Hinrichtungskommando landen. Kapiert? Die Mädchen, mit denen sie das Zelt teilt, haben in den Hügelstraßen von San Francisco gewohnt. Manche haben als Kellnerinnen gearbeitet, andere sind auf den Strich gegangen. Ihr Englisch ist so ordinär, dass es Fumika erröten lässt.

In den anderen Zelten richten sich Familien wie für ein verlängertes Picknick ein. Aus Brettern und Kisten zimmern sie sich Möbel zusammen. Zum Essen setzen Eltern und Kinder sich an einen wackeligen Tisch. Ab und zu reichen ihnen frühere Nachbarn einen Sack Reis oder Gemüse über den Stacheldrahtzaun. Die Wärter lassen es geschehen. Fumika beneidet die kleinen Kinder, die nicht zum Englischreden gezwungen werden. Diesen Verstoß gegen die Vorschriften erlauben sogar die uniformierten Lageraufseher, die mit ihrem Schlagstock unterm Arm zwischen den Zelten umherstreifen.

Die Schlange zum achten Rang wird immer länger, und die Sonne brennt. Vor Fumika wiegt eine Mutter ihr Baby. Hinter ihr wartet eine alte Frau, dem Schnitt ihres schwarzen Kleides nach zu urteilen, ist sie koreanischer Abstammung. Da Korea inzwischen zu Japan gehört, gelten auch Personen, deren Eltern dort geboren wurden, als Feinde der Vereinigten Staaten. Fumika lässt sich von der Alten erklären, wie ungerecht ihre Lage sei. Die Japaner seien alle schuld an ihrem Unglück, sagt sie. Fumika inbegriffen, sie habe in Kalifornien nichts zu suchen gehabt, hätte auf ihrem Archipel bleiben können, bei ihren Samurai und ihrem Kaiser … diesem Nichtsnutz.

Die Matrone hat sie und die anderen gewarnt: Jeden Streit vermeiden. Im Sammellager gebe es auch Agents Provocateurs. Angeblich haben die Inspektorinnen den Befehl, diejenigen zu enttarnen, die dem Reich der aufgehenden Sonne helfen könnten, in Kalifornien zu landen. Deshalb: Sich nie dazu verleiten lassen, mit Fremden über Politik zu reden.

Trotzdem kann Fumika es sich nicht verkneifen, der Alten zu sagen, dass sich Japan ihrer Meinung nach nicht auf eine Inselgruppe beschränkt. Seine Majestät unser Kaiser herrsche auch über mehrere Festlandgebiete, die zu ein und demselben Lebensraum gehörten.

Eine Frau in der Schlange, die so tut, als spreche sie zu ihrem Baby, rät ihr flüsternd, still zu sein, die Wände hätten Ohren. Fumika begreift, dass die Koreanerin womöglich eine dieser berüchtigten Agents Provocateurs ist. Mit einem Satz über das Glück, das man in dieser Gegend mit dem Wetter habe, beendet sie das Gespräch. Hier, sagt sie, könnten die Wolken anschwellen, ohne je ihr Wasser zu verlieren.

Darauf verflucht die Alte alle Japaner. Den Männern wünscht sie, dass sie den Krieg gegen Amerika verlieren, den Frauen, dass sie zweiköpfige Ungeheuer gebären. Keiner reagiert. Die Schlange bewegt sich langsam auf den Vorhang zu. Als Fumika an der Reihe ist, befragt eine uniformierte Beamtin sie anhand eines Ermittlungsbogens und verkündet dann, man werde ihr jetzt die Häftlingsnummer auf die Schulter tätowieren. Fumika protestiert. Nie und nimmer! Was wird Tetsuo Tsutsui denken, wenn er das schändliche Zeichen auf der Schulter seiner Verlobten entdeckt? Wie man weiß, ritzen die Völker des Westens den Myladies Lilien auf die Schulter. Und was werden ihre Eltern sagen? Und der Gesundheitsdienst im Hafen von Tokio, wenn sie so nach Hause kommt? Sie bleibt stur:

«Ich bin doch keine Prostituierte, Madam.»

«Du wohnst in Zelt 415?»

«Jawohl, im Zelt für alleinstehende Frauen.»

«Dann wirst du tätowiert.»

«Aber ich bin verlobt.»

«Das sagen alle.»

Fumika öffnet die Seitentasche ihres Kittels und zieht ein Foto heraus. Als die Inspektorin es ihr aus der Hand reißt, begreift sie, dass sie auch dieses Foto in ihr Kopfkissen hätte einnähen sollen. Verächtlich mustert die Frau das Bild. Die Uniform gefällt ihr ganz und gar nicht.

«Wer ist dieser Kerl mit den Tressen?»

«Mein Verlobter, Herr Tsutsui, Madam.»

«Kennst du sein Geburtsdatum?»

«1917, Madam.»

«Und seinen militärischen Rang?»

«Offizier der Luftwaffe, Madam.»

«Unteroffizier. Ich kenne mich aus.»

Das Foto wird beschlagnahmt. Auf der Rückseite notiert die Inspektorin Fumikas Angaben. Dazu ihren Namen, den der vermeintlichen Verlobten, zurzeit im Sammellager inhaftiert. Fumika soll sagen, ob sie irgendwelche Schriftstücke von diesem Tsutsui bei sich hat. Da ihr Nein zu zaghaft klingt, schickt die uniformierte Frau sie hinter einen zweiten Vorhang, fordert sie auf, ihre Taschen zu leeren und sich auszuziehen. Splitternackt bückt Fumika sich für die Analuntersuchung, schluckt die Tränen hinunter.

Noch einmal muss sie ihr Leben von vorne erzählen, angefangen beim Tod ihres Vaters. Das mit dem weißen Huhn im Kochtopf lässt sie aus. Nach dem Erdbeben, als Osaka nur noch aus Gestank und Verwüstung bestand, hat ihre Mutter beschlossen, wieder in ihr Heimatdorf bei Nagasaki zu ziehen. Dort hat Fumika auf einem alten, von einem Mönch gestimmten Klavier ihre ersten Melodien gespielt. Sie hatte das Gefühl, die Musik begleite ihre eigene Traurigkeit und die ihrer Mutter, die ihren Mann verloren hatte.

Später, aber davon braucht sie nicht zu erzählen, hat sie entdeckt, dass Musik auch fröhlich sein und neue Empfindungen auslösen kann. Weder Tränen noch Lachen, sondern Melancholie, verwoben mit einem Sehnen nach etwas, das man nicht anders ausdrücken kann als eben mit Musik.

Jeden Morgen hat ihre Mutter sie zwei Stunden vor ihrer Schwester Nobuko geweckt und sie ans Klavier gesetzt. Einsam kämpfte Fumika vor den Tasten gegen die Müdigkeit an. Der Lehrer schrieb ihr immer ganz genau das tägliche Übungspensum auf. Und er brachte jede Woche neue Partituren mit.

Mit zehn Jahren konnte sie ihr erstes Konzert auswendig spielen. Köchelverzeichnis 482, um genau zu sein. Die Inspektorin schreibt sich die Nummer auf. Das Dorf hatte nur sechstausend Einwohner, die Musikschule war sein ganzer Stolz. Ein Mäzen namens vom Pokk hatte die Errichtung des Gebäudes bezahlt und Instrumente gestiftet. Ein ordentlich gestimmtes Klavier für ihre mittellose Mutter. Jedes Jahr bewilligte Paul vom Pokk einem verdienstvollen Schüler ein Stipendium für ein Musikstudium in Nagasaki. Zur Einweihung der Schule war der Mäzen persönlich erschienen. Fumika hatte mit einem alten Mann mit geschmacklosen Fingerringen gerechnet, aber er war im selben Alter wie ihr verstorbener Vater. In den Ruinen des Erdbebens hatte der junge Ingenieur und Erbe eines Zementfabrikanten eine Rettungsmannschaft begleitet. Statt einfach Säcke mit Schweizer Zement für den Wiederaufbau des Landes zu spenden, hatte er sich für das Schicksal der Kinder interessiert, für ihre musikalische Ausbildung.

Mit vierzehn durfte sie ans Konservatorium von Nagasaki gehen. Ihre Mutter gab sie in die Obhut von Tante Yu, in deren Haus sich Fumika mit drei Cousins und Cousinen ein Zimmer teilte. Morgens stand sie immer früh auf und kam erst zum Abendessen wieder nach Hause. Neben den Klavierstunden wurde sie in Musiktheorie und Musikgeschichte unterrichtet. Sie träumte von Salzburg am Ende des 18. Jahrhunderts, hätte gern den ersten Wolfgang kennengelernt.

Ihr Lehrer am städtischen Konservatorium, ein Mann um die Dreißig und schon mit Glatze, vermittelte ihr seine Kunst. Er sparte nicht mit Lob, sagte oft etwas Nettes, wenn sie eine Passage gut gespielt hatte. Einmal schob er ihr eine Hand zwischen die Schenkel, aber das sagt sie der Inspektorin nicht.

Mit achtzehn, nach ihrem Konzertdiplom, kandidierte sie für das Auswahlverfahren. Ein internationales Stipendium für ein Musikstudium in den Vereinigten Staaten, ebenfalls von Paul vom Pokk gestiftet. Sie trug ein vom zwölfjährigen Mozart komponiertes Concerto vor. Schwer zu spielen, selbst für Ältere. Die Jury beglückwünschte sie, verlieh den Preis aber dem Sohn des Konservatoriumdirektors, dem jeder ansehen konnte, dass er weder Talent noch Lust zu lernen hatte. Im Jahr darauf wählte die Jury, diesmal keiner Anweisung unterworfen, einstimmig Fumika und beglückwünschte auch ihre Mutter. Die freute sich, dass ihre vielversprechende Tochter eines Tages genug verdienen würde, um eine ganze Familie zu ernähren.

Drei Wochen später, im August 1940, ging sie an Bord eines Passagierschiffs, das von Tokio nach San Francisco zwölf Tage brauchte, mit Zwischenstation auf Hawaii. In Berkeley wurde Shizuko, die erste Studentin, die sie nach ihrer Überfahrt kennengelernt hatte, ihre beste Freundin. Schade, dass diese nun unauffindbar ist.

Ende der Aussage, Fumika unterschreibt. Die Inspektorin fügt das Datum ein und setzt zwei Stempel aufs Papier. Auch sie will sich nicht zu Shizukos Verbleib äußern.

Dann begleiten zwei Frauen in Uniform Fumika bis zu Zelt 415, durchwühlen ihre spärliche Habe, finden ohne langes Suchen den ins Kopfkissen eingenähten Brief ihres Verlobten. Die Entdeckung hat, wer weiß warum, zur Folge, dass Fumika nicht tätowiert wird. Man verlegt sie in einen aus Stein gebauten Pferdestall, Gebäude 321, in dem bereits drei Familien zusammengepfercht sind, deren kleine Kinder im Stroh schlafen.

Da diese Japaner schon seit zwei Generationen in Kalifornien leben, sind sie nicht begeistert von ihrer Gegenwart. Sie sind Bürger der Vereinigten Staaten, haben alle japanischen Traditionen abgelegt. Wäre nicht ihre Hautfarbe, hätte niemand das Recht, ihnen Scherereien zu machen. Ein würdevoller älterer Herr schildert ihr seine militärische Laufbahn in allen Einzelheiten. Während des Ersten Weltkriegs sei er Infanterist bei den nordamerikanischen Streitkräften gewesen, habe an der Seite der Franzosen in Belgien gekämpft. Wegen des Giftgases habe er einen Lungenflügel verloren. Doch um das Sternenbanner zu verteidigen, wäre er bereit, abermals seinen Dienst anzutreten. Fumika nickt, vermeidet es, ihm zu widersprechen, bietet an, seine Stiefel zu wienern. Zwei Tage dauert es, bis der ehemalige Soldat ihr Angebot annimmt. Schließlich erklärt er, die Neue stehe unter seinem Schutz. Er werde sie die Kunst des Grabenkampfes lehren. Um ihn nicht zu verärgern, versteckt sich Fumika unter dem Tisch und hechtet mit lautem «Ta-ta-ta-ta!» hervor. Er sagt, wenn man ein guter Krieger sein wolle, dürfe man nicht davor zurückschrecken, sich auch selbst zu töten. Zum Glück ist Fumika kein echter Soldat.

Ein paar Tage später reicht sie im Ermittlungsbüro einen Antrag ein. Doch obwohl sie alle Verwaltungsformulare ausgefüllt hat, gibt man ihr weder das Foto noch den Brief ihres Verlobten zurück. Im Pferdestall stattet ihr ein Inspektor des militärischen Geheimdiensts einen Besuch ab. Er sieht verärgert aus. Sie muss ihm auf eine der oberen Tribünen des Stadions folgen, wo er sie auffordert, genau zu erklären, welche Art von Verbindung sie zu dem von ihrer Familie ausgewählten japanischen Flieger unterhält. Wieder versichert sie, dass sie ihm nie begegnet ist. Vor zwei Jahren sei sie dank eines Schweizer Stipendiums und des Vertrauens, das ihr Lehrer in Nagasaki in sie gesetzt habe, der inzwischen auf dem Feld der Ehre gefallen sei, zum Klavierstudium nach Berkeley gekommen. Der Inspektor wundert sich:

«Welches Feld der Ehre?»

«Der Dienst an unserem Kaiser.»

«Wo?»

«Jetzt ist er im Paradies.»

Von der Ohrfeige, die sie ihm geben musste, damit er seine Hand von ihren Schenkeln nahm, erzählt ihm Fumika nicht. Stattdessen erklärt sie, jetzt, im Mai 1942, würde sie sich, wenn sie nicht in diesem Lager inhaftiert wäre, auf ihr für August geplantes Konzertdiplom vorbereiten. Danach wolle sie nach Hause, nach Japan, zurückkehren, trotz der Angebote des Direktors des Symphonieorchesters von Kalifornien, der ihr eine steile Karriere prophezeit habe.

Am nächsten Morgen ruft der Inspektor sie erneut zu sich, um mehr über ihre Kindheit, ihren Klavierlehrer, ihre Familie zu erfahren. Er interessiert sich für die von Seiner Majestät unserem Kaiser angeordneten patriotischen Übungen am Konservatorium von Nagasaki. Und sie muss alles aufzählen, was sie über den Arbeitsablauf in der Mitsubishi-Werft unten vor Tante Yus Terrasse weiß. Abends, bei Sonnenuntergang, sah man nicht selten einen Flugzeugträger mit Dutzenden an Deck aufgereihter Jagdflugzeuge vom Typ Zero aufs Meer hinausfahren. Während sie ihrem Onkel, der als Lehrer an einem technischen Gymnasium arbeitete, den Rücken massierte, zählte dieser laut die Rettungsboote. Seiner Meinung nach war das die beste Methode, um herauszufinden, wie viele Seeleute an Bord waren. Auf zwei Männer kommt je ein Platz im Rettungsboot. Ein japanisches Schiff sinkt nie, ohne die Hälfte seiner Besatzung mit in die Tiefe zu reißen.

Sie kehrt zum Pferdestall und zu den Kindern zurück, denen sie beibringt, wie man Papier zu kleinen Schönwetterwolken faltet. Da es kein Buntpapier gibt, benutzen sie Essensverpackungen. Zum Beispiel Kakaotüten. Aber für die Wolkenpfoten fehlen ihr Trinkhalme. Die erwachsenen Kalifornier benutzen nämlich zum Trinken von Obstsäften ein höchst raffiniertes Nuckelsystem. Ein Trinkhalm ist ein Röhrchen, das man ins Glas steckt und durch das man die Flüssigkeit einsaugt. Wenn am Boden des Glases oder des Bechers oder in der Flasche nichts mehr übrig ist, erzeugt das Saugen ein lautes Geräusch, das Kinder nicht in die Länge ziehen dürfen. Seitdem die langen Trinkhalme im Lager Mangelware sind, vermissen alle dieses Schlürfgeräusch.

In Friedenszeiten kamen die Wettliebhaber jeden Sonntag hierher zur Rennbahn, um auf die glänzenden, herausgeputzten Pferde zu setzen. Auf der großen Tafel stehen immer noch die Namen der letzten Wette. Was ist aus den Reichen geworden, die hier ihre Mätressen spazieren führten? Und aus den Armen, die ihre gesamten Wochenersparnisse auf ein einziges Pferd setzten? An den Giebeln der winzigen, hinter den Tribünen aufgereihten Häuschen stehen noch die Startzeiten des letzten Rennens, die Sitzplatzpreise und die Namen der Pferde: Artamis, Balthazar, Camellia. Wenn der Krieg vorbei ist, werden sie wiederkommen. Und da in den zu Schlafsälen umfunktionierten Boxen noch immer der Geruch nach Pferdeäpfeln hängt, werden die Stuten sich wohlfühlen.

Die Zeit vergeht sehr langsam, wenn man kein Klavier hat. Die Gedanken schweifen in alle Richtungen. Abends kann Fumika nicht einschlafen, wandert am Zaun entlang, vorsichtig, um nicht vom beweglichen Lichtstrahl erfasst zu werden, mit dem der Soldat herumspielt. Er richtet seinen Schweinwerfer auf die Erde, da er ja nicht die Sterne am Himmel anstrahlen kann. Auch der alte Japaner, der den Ersten Weltkrieg in belgischen Schützengräben erlebt hat, steht manchmal mitten in der Nacht auf. Bei der Pferdetränke gesellt sich Fumika zu ihm. Er erzählt ihr aus seinem Leben. Sie lässt ihn seine Geschichte wiederholen, ohne ihn zu unterbrechen, springt mit leisem «Ta-ta-tata!» aus dem Schützengraben. Er zielt auf sie und bedankt sich von ganzem Herzen.

Tagsüber revanchiert er sich, indem er ihr zeigt, wie man durch Himmelsbetrachtungen Langeweile vertreibt. Sie lernt, die Wolkenfamilien an ihrer Position und ihrer horizontalen Ausdehnung zu erkennen. Zum Schluss kann sie sie alle beim Namen nennen. Besten Dank, mein Herr.

Im Lager kann sich jeder zum Zeitvertreib eine Geschichte ausdenken. Fumika malt sich aus, sie wäre ein junges Mädchen aus Salzburg, vergisst ihre Insel, sieht sich als die Verlobte eines jungen Mannes mit deutschem Akzent. Das Haar mit einer Schleife im Nacken zusammengebunden, verbeugt er sich tief, nach altem Brauch. Sie reicht ihm die Hand. Eine geschmeidige Geste, wie bei einem Anfangsakkord. Und er, Wolfgang, gibt ihr mit einem strahlenden, spitzbübischen Lächeln auf dem Gesicht einen angedeuteten Handkuss. Abends setzt Mozart sich im Kerzenschein ans Cembalo und komponiert für sie allein eine Sonate in D-Dur.