Das Schloss der tausend Tode

 

 

 

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Band 5

 

Das Schloss der tausend Tode

 

von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Der Henker"

by Uwe Voehl

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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1. Kapitel

 

Das Quintett der Magier hielt Kriegsrat. Der Raum, in dem sie tagten, war vollkommen kahl.

»Ich habe mich entschieden«, sagte einer von ihnen. Es war ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit seltsam alten Augen und der brüchigen Stimme eines Greises. Es war der legendäre Marquis de Feuile.

Die anderen schauten den Jungen fragend an.

Statt einer Antwort erschienen in den Pupillen des Marquis zwei kleine Bilder, die eine mondähnliche Landschaft zeigten. Schroffe, hohe Felsen vor schwarzem Himmel.

Aber das Besondere war die Urne, die am Fuße eines Felsens lag.

Es schien, als habe jemand sie vor unglaublich langer Zeit achtlos fortgeworfen. Die Urne wies eine eigentümliche Form auf. Sie schimmerte in einem leichten Grün, aber unter dem Staub der Jahrtausende war der Glanz fast völlig verschwunden.

Wenn man genauer hinschaute, konnte man jedoch seltsame Zeichen sehen, die in ihrer Oberfläche eingeritzt waren und die selbst der Staub nicht hatte verdecken können.

Die Magier, die dieses Bild in den Augen des Jungen sahen, erschauderten. Ihnen war nicht entgangen, dass sich in der Urne etwas bewegt hatte.

»Du bist ein Teufel, Marquis«, sagte von Junzt, der alte, weise Zauberer. »Wir alle kennen diese Urne aus den Büchern der Nacht, und wir alle wissen, dass sie zum Schrecklichsten gehört, was dieses Universum birgt … die ewige Finsternis!«

»Gerade deshalb ist sie geeignet, die Fähigkeiten unseres jungen Schützlings auf die Probe zu stellen«, schaltete sich ein schwarzhaariger, verlebt aussehender Mann ein. Es war Cagliostro.

»Also schön«, sagte Victor La Fayette, der vierte im Bunde. »Lasst uns abstimmen! Ich bin dafür, Berger mit der Urne zu konfrontieren. Überlebt er, so wollen wir anerkennen, dass er fähig ist, mein Erbe endgültig anzutreten!«

»Meine Meinung kennst du«, sagte Cagliostro.

»Und ich war es, der den Vorschlag machte«, sagte der junge Marquis de Feuile grausam lächelnd. »Drei von uns sind also dafür. Wollt Ihr Euch unserer Meinung anschließen, von Junzt? Und wie steht es mit Euch, Comte?«

Der mit Comte Betitelte war niemand anderer als der legendäre Comte d'Erlette, ein weiterer der alten Zauberer. Sein Gesicht war mit schwarzen Spinnweben überzogen, so dass Augen, Nase und Mund darunter verschwunden waren.

Er nickte nun.

»Wenn La Fayette dafür ist, bin ich es auch.«

»Ich kann deinem Vorschlag nicht zustimmen, Marquis«, sagte der greise von Junzt. »Er ist zu grausam, wahrhaftig.«

»Vier zu eins für meinen Vorschlag«, sagte der Marquis. »Also lasst uns mit der magischen Manipulation beginnen, meine Freunde. Berger soll von der Urne erfahren …«

 

Gelenkter Zufall.

Ein Paradoxon, nicht wahr? Dennoch weiß ich, dass es den gelenkten Zufall gibt.

Ich weiß, dass ich ein Verfluchter bin.

Ich weiß, dass alles, was geschah und noch passieren wird, ein Teil einer Prüfung ist. Irgendwo hinter den Sternen lauert in seiner kahlen Behausung ein Wesen, welches das Aussehen eines Jungen hat und sich Marquis de Feuile nennt. Ich weiß, dass es mit mir spielt und mich vernichten will.

Und der Marquis hat eine gute Trumpfkarte im Spiel: Sylvia, die rothaarige Hexe, die ich liebe und die er gefangen hält.

Drei Monate war ich nun schon wieder zurück aus Paris. Und obwohl ich darauf wartete, hatte sich seitdem nichts mehr ereignet. Es schien, als habe mich der Marquis vergessen. Doch ich war auf der Hut.

Und dann begann es. Aus heiterem Himmel und ohne eine Vorwarnung. Und mit weitreichenderen Folgen, als ich es je geahnt hätte.

Ich erwachte in meinem Bett und erkannte, dass etwas nicht stimmte.

Es war stockdunkel.

Dabei hatten wir Vollmond. Ich schaute auf den Wecker neben meinem Bett und sah, dass es acht Uhr morgens war. Da schien auch kein Vollmond mehr, sondern normalerweise die Sonne. Zumindest hätte es hell sein müssen. Ich erhob mich und ging zum Fenster. Schaute hinaus. Und draußen war es Nacht.

»Schön, Marquis«, knurrte ich befriedigt. »Es hat also begonnen, und ich werde mitzuhalten wissen!«

Obwohl ich nicht wusste, was die Dunkelheit bedeutete und was sie für mich bereithielt, war ich erleichtert. Seltsamerweise war die Spannung der letzten Wochen verflogen.

Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Die Straßenlaternen brannten noch von der Nacht, und auch in einigen Fenstern gegenüber brannte Licht. Aber ich sah keinen Menschen auf der Straße und keinen Wagen fahren. Es war gespenstisch. Ich beugte mich wieder zurück und schloss das Fenster.

Zuerst einmal wollte ich Fred anrufen. Ich griff also zum Telefonhörer und wählte Freds Nummer.

Er meldete sich. Als er meine Stimme hörte, fluchte er.

»Beruhige dich«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, was diese Dunkelheit zu bedeuten hat. Und ich stecke ganz gewiss nicht dahinter.«

Ich war erleichtert, dass ich ihn erreicht hatte. So verschwand das Gefühl, der einzige Mensch in dieser Finsternis zu sein.

»Und was fangen wir nun an?«, hörte ich Fred fragen.

»Es ist das beste, wenn wir uns jetzt sehen. Kannst du in zehn Minuten bei Joey's sein?« Joey's war unsere Stammkneipe, die wir uns in den letzten Monaten ausgeguckt hatten.

»Kann ich, ja.«

»Dann bis gleich.«

Ich legte auf und wandte mich wieder dem Fenster zu. Diese Dunkelheit dort draußen rief und lockte mich. Noch immer musste ein Teil des Henkergeistes in meinem Inneren sein, da ich die magische Aura der Finsternis derart stark spürte.

Die Henkersmaske, die mich mit magischen Fähigkeiten ausstattete und mich zu einem Rächer des Unrechts werden ließ, besaß ja nun ebenfalls der Marquis. Seiner Meinung nach war ich noch nicht reif genug, den Geist der Maske zu benutzen. Die Dunkelheit draußen war garantiert eine weitere seiner Prüfungen.

Ich zog mich an, wusch mich und schaltete dabei das Radio ein. Auf der gesamten UKW-Skala war kein einziger Sender zu hören. Es schien, als sei ich doch von der Außenwelt abgeschnitten. Was war mit den Sendern passiert?

Ich schaltete das Radio wieder aus und zog mir eine Jacke über. Dann ging ich hinaus. Im Treppenhaus war alles still. Außer mir wohnte nur noch ein seltsamer alter Mann hier. Fred und ich hatten dieses Haus direkt nach unserer Ankunft aus Paris gekauft. Der alte Brunette war der einzige Mieter darin, und natürlich ließen wir ihn hier weiter wohnen.

Ich betrat die Straße. Es war warm. Wärmer als in den letzten Tagen. Ich schlug die Richtung zu Joey's ein und sah mich dabei immer wieder um.

Plötzlich hörte ich einen seltsam tiefen, langgezogenen Ton. Ich schaute hinauf zum Himmel und sah hoch oben drei große, dunkle Körper, die sich seltsam fluoreszierend von der Schwärze des Himmels abhoben.

Instinktiv verbarg ich mich in einer Hausnische. Die Wesen flogen vorbei, waren aber noch lange als kleine, verschwindende Punkte zu sehen.

Ich ging weiter. Nun wusste ich endgültig, dass diese Dunkelheit keinen natürlichen Ursprung hatte.

Einige Kanaldeckel lagen achtlos auf der Straße. Die Schächte waren offen. Waren Dinge, Wesen, hervorgekrochen, die sonst nur tief unten zu hausen pflegten? Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf, als plötzlich etwas aus einem der Kanaldeckel direkt in meine Richtung geflogen kam.

Ich schrie auf.

 

 

2. Kapitel

 

»Lass uns vorher noch etwas essen«, sagte Christine. Wusste der Teufel, was sie mit ›vorher‹ meinte und sich unter ›nachher‹ vorstellte, aber es klang verheißungsvoll genug. Christine war eine attraktive Blondine, die außer einem schwarzen Catsuit nichts am Körper zu tragen schien. Lukas kannte sie erst seit vier Wochen und war überrascht gewesen, eine Frau wie sie hier draußen auf dem Land zu finden. Außer dass sie erst seit kurzer Zeit zu ihren Eltern auf den Bauernhof gezogen war, wusste er eigentlich nichts von ihr. Er hatte sie beim Einkaufen kennengelernt, weil sie aus Versehen seinen Einkaufswagen zur Kasse geschoben hatte. Seitdem waren sie sich immer wieder zufällig über den Weg gelaufen, und schließlich hatte er sie ins Kino eingeladen.

»Ich habe noch ein Hähnchen in Estragonsoße zu Hause. Das schieb ich uns in die Mikrowelle«, schlug Lukas vor.

»Ich würde lieber irgendwo etwas essen gehen«, sagte Christine. »Da vorne war ein Hinweisschild, dass gleich ein Gasthaus kommen muss.«

»Ach, du meinst den ›Krug‹«, sagte Lukas. »Das war früher die Dorfkneipe. Jetzt gibt's da nur noch ausländische Kost.«

»Na und? Sag bloß, du hast Vorurteile?«

Lukas hatte keine Lust, die Diskussion zu vertiefen. Außerdem hatte er ganz einfach keine Lust, gerade heute Abend mit Christine essen zu gehen. Er hatte andere Pläne. Trotzdem beugte er sich ihrem Wunsch.

Er fuhr an einigen Backsteinhäusern und der kleinen, weißgetünchten Kirche vorbei und parkte seinen Passat vor dem Gasthaus.

Früher, vor zwanzig Jahren, war das Wirtshaus wohl mal so etwas wie der gesellschaftliche Mittelpunkt des Dorfes gewesen. Es war über Generationen hinweg weitervererbt worden, und im Laufe der Zeit war aus dem Wirtshaus ein richtiges Gasthaus geworden. Außerdem hatte die Frau des letzten Wirts, die alle nur ›Mutter Thea‹ nannten, mit Erfolg einen kleinen Kolonialwarenladen betrieben, in dem es nicht nur Wurst und Bier gab, sondern einfach alles, was die Leute sich sonst aus der Stadt hätten besorgen müssen. Schließlich hatte das Gasthaus lange leergestanden. Erst seit einigen Monaten war in den alten Mauern wieder Leben eingekehrt. Russische Einwanderer hatten es gepachtet.

Aber als es noch leergestanden hatte, hatte man es die Rattenburg genannt, und alle Leute im Dorf hatten einen großen Bogen darum gemacht.

Lukas zog den Zündschlüssel ab, und da passierte es: Schlagartig wurde es stockdunkel. Es war aberwitzig! Einen Moment zuvor noch hatten die Laternen genügend Licht gespendet, und die Leuchtreklame über dem Eingang des Gasthauses hatte einladend geleuchtet.

Einen Moment lang war Lukas so verblüfft, dass er die Dunkelheit instinktiv mit dem Herausziehen des Zündschlüssels in Verbindung brachte. Er steckte ihn wieder in das Schloss und startete den Wagen. Der Wagen sprang an, aber trotzdem wurde es draußen nicht heller. Selbst die Scheinwerfer des Passats versagten ihren Dienst.

Er spürte plötzlich Christines Hand, die sich an seinem Arm festhielt. Unter anderen Umständen wäre ihm dies sehr willkommen gewesen, aber nun hatte er andere Sorgen.

»Mein Gott!«, sagte Christine. »Wieso ist es plötzlich so dunkel?« Ihre Stimme zitterte.

»Keine Ahnung«, sagte Lukas matt. »Vielleicht sollte ich mal aussteigen und nachsehen.«

Es kam ihm merkwürdig vor, aber instinktiv hoffte er, dass ihn Christine davon abhalten werde. Etwas schien in dieser Dunkelheit auf ihn zu lauern. Das war natürlich Unsinn, aber trotzdem war er drauf und dran, die Türen zu verriegeln, in der Dunkelheit Gas zu geben und davonzubrausen. Selbst auf die Gefahr hin, in irgendeinem Straßengraben zu landen.

Etwas klatschte gegen die Scheibe. Christine schrie auf. Lukas betätigte den Knopf der Zentralverriegelung. Aber den Wagen zu starten, wagte er in dieser Finsternis nicht.

Noch nicht.

 

Ihr Mischlingshund Tim musste noch ausgeführt werden. Und das um acht Uhr abends, kurz vor der Tagesschau! Also hatte sich Jean-Paul missgelaunt die Leine geschnappt. Thom, sein Sohn, war erst drei Jahre alt, aber er bestand darauf, mitzukommen. Eigentlich war es schon zu spät für den Winzling, aber Jean-Paul hatte die Hoffnung, dass der Kleine nach einem kurzen abendlichen Spaziergang umso ermatteter ins Bett fallen würde. Vielleicht würde es ihm und Irena sogar noch gelingen, aus diesem verkorksten Abend doch noch etwas Nettes zu machen.

Aber zunächst musste er sich mit Tim und Thom begnügen.

»Okay, zieh dir die Gummistiefel an«, sagte er zu Thom.

»Vati, du hast okay gesagt. Jetzt musst du 50 Pfennig in die Okay-Spardose werfen!«

Jean-Paul hatte diese Spardose eingerichtet, um Thom die ewigen ›Okays‹ abzugewöhnen. Allerdings war er mittlerweile der fleißigste Einzahler. Kinder sind cleverer, als ein Familienvater glaubt.

Draußen schlug der Wind gegen die Fensterscheiben. Eigentlich mochte Jean-Paul keine Tiere, Hunde am wenigsten. Mit fünf Jahren hatte ihm ein Terrier in die Hoden gebissen. Thom, sein und Irenas Sohn, war eher den großartigen Leistungen der Ärzte als seiner sexuellen Ausdauer und Potenz entsprungen. Vielleicht war Thom deswegen überdurchschnittlich intelligent, wer mochte das wissen? Vielleicht war er es aber auch deswegen, weil Jean-Paul und Irena ihn so liebten. Weil es so verdammt schwierig gewesen war, ihn in die Welt zu setzen.

Thom hatte sich Stiefel und Anorak angezogen. Er konnte es natürlich schon selbst und war stolz darauf. Er sah, wie immer, perfekt darin aus. Ein zauberhafter kleiner Kerl von drei Jahren, mit blonden Haaren, die unter der Kapuze hervorlugten, und hellblauen Augen, die jetzt erwartungsvoll leuchteten.

»Dann lass uns mal losziehen! So ein Sauwetter!«

»Moment noch, Vati!«, sagte Thom. Ihm schien noch etwas eingefallen zu sein. Er öffnete die unterste Schublade der Kommode und holte zwei Dinge heraus. Eine Taschenlampe und eine Sound-Laser-Pistole, mit der er einen höllischen Lärm veranstalten konnte. Sie gab futuristische Geräusche von sich und blinkte infernalisch, wenn man den Abzug betätigte.

»Wenn Monster kommen«, sagte Thom mit ernster Miene. Er war drei und glaubte an Monster. Monster waren seit einigen Wochen sein Lieblingsthema, kein Grund zur Beunruhigung, wie Jean-Paul und seine Frau nach langen Diskussionen übereingekommen waren. Jean-Paul hatte Thom sogar ein ekelhaftes Wasser-Monster aus Gummi gekauft, damit er seinen Spleen besser visualisieren konnte.

Für Thom waren die Monster real. Im Sofa, in der Toilette und natürlich im Keller. Bisher hatte Jean-Paul immer gehofft, dass sich das Monster-Syndrom, wie er es nannte, nur im Hause bemerkbar machen würde; es war an diesem Abend das erste Mal, dass Thom auch draußen auf Geisterjagd gehen wollte.

Kinder werden älter, und ihre Phantasien werden täglich größer. Bis die Phantasien eines Tages so groß sind, dass sie platzen und man plötzlich feststellt, erwachsen geworden zu sein, dachte Jean-Paul.

»Los, komm endlich, Vati!«, wurde er gedrängt.

Tim eilte schon kläffend nach draußen. Irgendetwas schien mit ihm nicht ganz in Ordnung zu sein. Er wirkte heute Abend unruhig und nervös.

Der sprühfeine Regen warf sein Netz über sie, und nach wenigen Schritten waren sie bereits durchnässt. Tim war schon fünfzig Meter vorausgeeilt. Die Bogenlampen warfen seinen langen Schatten, der wie ein riesiges Untier wirkte, diabolisch verzerrt auf den nass glänzenden Asphalt. Sowieso glich Tim mehr einem großen Wolf als einem Hund. Jetzt, im fahlen Licht der Laternen, wirkte er wölfischer denn je.

Thom jagte hinter Tim her. Der Kegel seiner Taschenlampe zuckte wie ein Suchscheinwerfer hin und her. Der Sound-Laser gab futuristische Geräusche von sich und leuchtete dabei in roten und grünen Geisterbahnfarben.

Sie gingen an den Nachbarhäusern vorbei, die jetzt in der späten Dämmerung wie kalkweiße Grüfte wirkten, aus denen nur das unwirkliche Flackern der laufenden Fernseher drang.