Die Herberge der bleichen Mörder

 

 

 

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Band 7

 

Die Herberge der bleichen Mörder

 

von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Der Henker"

by Uwe Voehl

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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1. Kapitel

 

Nordholm, 15. November 1982

Der Schrei einer Frau gellte klar und deutlich durch die Nacht. Wahrscheinlich bringt es mein Beruf mit sich, dass ich etwas weniger feige bin als der Durchschnitt der Menschheit. Daher schlug ich die Richtung ein, aus der der Schrei erklungen war.

Die Dünen versperrten mir den Blick auf das hinter ihnen stattfindende Geschehen. Meine bloßen Füße versanken im Sand, als ich den ersten Hügel erklomm.

Von der anderen Seite kam mir die Frau entgegengelaufen. Ihre halblangen, roten Haare flatterten wie eine Fahne hinter ihr her.

»Hierher!«, rief ich, damit sie gleich erkennen konnte, dass ihr von mir keine Gefahr drohte. »Haben Sie keine Angst!«

Sie schaute sich um, aber es war niemand zu sehen. Das Mondlicht verlieh dem Strand eine fahle Farbe. Wenn wirklich jemand hinter der Frau her war, so versteckte er sich hinter einer der Dünen. Andernfalls hätte er zu sehen sein müssen.

Die Frau blieb schwer atmend stehen. Noch war sie nicht von meiner Harmlosigkeit überzeugt und ließ einen Abstand von einigen Metern zwischen uns.

»Haben Sie geschrien?«, fragte ich.

Sie nickte. Aber offensichtlich war sie noch zu aufgeregt, um zu sprechen.

»Hat man Sie bedroht?«, bohrte ich nach.

Abermals nickte sie. Ihre Windjacke war zerrissen, und sie hielt eine Hand an ihren linken Unterarm gepresst. Nun erst bemerkte ich, dass zwischen ihren Fingern Blut hervorrann.

»Sie sind ja verletzt!«, entfuhr es mir, und unwillkürlich ging ich die letzten Schritte auf sie zu. Sie machte keine Anstalten zu fliehen.

Im Gegenteil, kaum hatte ich sie erreicht, fiel sie mir in die Arme, die ich gerade noch rechtzeitig ausbreiten konnte. Offensichtlich war sie am Ende ihrer körperlichen und psychischen Kräfte.

Ich ließ sie vorsichtig in den Sand gleiten und untersuchte ihre Wunde. Es war ein etwa fünf Zentimeter langer Schnitt. Zum Glück schien er nicht sehr tief zu sein.

Aus einem Stück ihrer ohnehin zerrissenen Jacke stellte ich rasch einen notdürftigen Verband her, um die Blutung zu stillen.

Wieder blickte ich in die Richtung, aus der sie gekommen war. Von einem Verfolger war aber noch immer nichts zu sehen.

»Warten Sie hier!«, sagte ich zu der Frau, obwohl ich nicht annahm, dass sie mich hörte. Sie hatte die Augen geschlossen und lag regungslos im Sand. »Ich bin gleich wieder zurück!«

Ich lief die Düne hinab und folgte den Spuren der Frau. Natürlich waren nicht nur ihre zu sehen, und es dauerte nur wenige Minuten, bis ich nicht mehr wusste, welcher Spur ich folgen sollte.

Ich lauschte in die Nacht hinein, aber außer dem Rauschen der Wellen und dem stetigen Pfeifen des Windes war nichts zu hören. Da glaubte ich weit vor mir einen auf und ab hüpfenden Schatten auszumachen. Er war jedoch zu weit entfernt, als dass ich sagen konnte, ob es ein Mensch oder ein Tier war. Wahrscheinlich war die Fortbewegungsweise zu grotesk für ein menschliches Wesen, aber dennoch begann ich, die Verfolgung aufzunehmen.

Ich kam immer näher heran, und allmählich erkannte ich, dass ich tatsächlich einer Person folgte. Aber ich sah auch deutlich, dass sich diese hüpfend, in hohen Sprüngen fortbewegte. Noch schien sie mich nicht bemerkt zu haben.

Ich sagte es schon: Vielleicht bin ich etwas mutiger als der Durchschnittsmensch, aber dennoch hatte ich ein immer schlechteres Gefühl, während ich dem Flüchtenden näher kam. Ich war unbewaffnet, während mein Gegner mindestens ein Messer besaß. Noch etwa zehn Meter trennten uns, als sich der Mann unvermittelt umdrehte. Ich sah in ein altes, unscheinbares Gesicht, das unnatürlich bleich wirkte. Ein langer Schnurrbart unterstrich die Hagerkeit der Züge. Der Mann war außerdem auffallend klein.

Noch völlig außer Atem fragte ich: »Warum sind Sie fortgelaufen?«

Natürlich wusste ich nicht, ob er es war, der die Frau angegriffen hatte, aber seine Reaktion auf meine Frage sollte mir dies zeigen. Er grinste, was seinem bleichen Gesicht ein fast satanisches Aussehen verlieh. Mit unglaublicher Schnelligkeit griff er in die Tasche seines altmodischen Zweireihers und holte ein Messer hervor. Es war ein gewöhnliches, aber dennoch gefährliches Küchenmesser.

»Machen Sie keine Dummheiten!«, warnte ich den Mann. Noch hatte er kein einziges Wort gesprochen.

Lächelnd kam er auf mich zu. Vorsichtig wich ich Schritt um Schritt zurück.

Als er mich fast erreicht hatte, bückte ich mich blitzschnell und schleuderte meinem Widersacher eine Handvoll Sand ins Gesicht.

Aber der Sand ging durch ihn hindurch! Als sei der Mann nur eine Projektion.

Ungläubig schaute ich auf meinen Gegner. Ich vergaß sogar, zurückzuweichen. Ich glaubte, durch den Mann hindurchschauen zu können. Tatsächlich wurde er von Sekunde zu Sekunde durchsichtiger.

Aber nicht das Messer! Das besaß nach wie vor seine feste Form, und der Mond erzeugte eigenartige Reflexe auf der langen, schmalen Klinge.

Der kleine, schmächtige Mann hatte mich erreicht. Noch immer grinsend, holte er mit dem Messer zum Stoß aus. Instinktiv ließ ich mich in den Sand zurückfallen.

Mein Angreifer kam nicht mehr dazu, den Stoß auszuführen. Von einem Moment zum anderen war er plötzlich verschwunden. Wie eine Kerzenflamme, die man ausgeblasen hatte!

Ich blieb einige Atemzüge lang im Sand liegen und starrte auf die Stelle, an der der Mann kurz vorher noch gestanden hatte. Es war unfassbar. Vor mir im Sand lag als einziges Indiz das Messer.

Ich griff danach und betrachtete es genauer, wobei ich jedoch immer wieder umherschaute, weil ich das eigenartige Gefühl nicht loswurde, der Verschwundene könnte plötzlich in meinem Rücken wieder auftauchen. Aber der Strand lag einsam und verlassen da.

Ich beschloss, zu der Frau zurückzukehren. Mit einem Mal machte ich mir Sorgen um sie. Hier ging irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu, so dass ich nicht ausschloss, dass der Messerstecher zu seinem ersten Opfer zurückgekehrt war. Wenngleich die Waffe nun in meinem Besitz war.

Ich lief den Weg zurück. Mehr als einmal glaubte ich hinter mir Schritte zu hören, aber jedes Mal wenn ich mich umblickte, war niemand zu sehen.

Ich erreichte die Stelle, an der die Frau lag.

Oder vielmehr gelegen hatte. Sie war verschwunden.

Ich untersuchte den Boden und fand Blutspuren, die zumindest bewiesen, dass ich nicht geträumt hatte.

Wenn ihr nur nichts zugestoßen war! Ich hatte Gewissensbisse, weil ich sie allein gelassen hatte. Aber nun war es wohl zu spät dafür, irgendetwas zu bedauern. Ich konnte nur hoffen, dass sie aufgewacht und nach Hause gelaufen war.

Grübelnd ging ich den Weg zurück, den ich zu Anfang gekommen war. Ich erreichte die Stelle, an der ich meine Schuhe zurückgelassen hatte. Die Flut hatte sie fast erreicht.

Ich hatte es plötzlich eilig, den Strand zu verlassen. Das unruhige Meer war von undurchdringlicher Schwärze, aber dennoch oder gerade deshalb stellte ich mir plötzlich die aberwitzigsten Wesen vor, die dicht unter der Oberfläche auf mich zugeschwommen kamen.

Der Strand war fahl wie ein riesiges Leichentuch, und die Dünen wirkten wie die Konturen monströser Wale.

Ich registrierte, dass ich lief, und nach wenigen Minuten hatte ich die Uferstraße erreicht. Die ersten Häuser tauchten in meinem Blickfeld auf, aber um zwei Uhr nachts lagen diese natürlich im Dunkeln.

Mein Hotel lag gleich hinter der Promenade. Ich besaß für die Eingangstür einen Schlüssel, so dass ich niemanden aus dem Schlaf zu klingeln brauchte.

Im Korridor war es angenehm warm. Es roch nach Holz und Bohnerwachs. Leise ging ich die Treppen hinauf. Die Stufen knarrten wie verstimmte Violinen unter meinen Schritten.

Ich hatte kein Licht gemacht. Der Mond schien durch die Fenster, so dass ich gut sehen konnte. Mein Zimmer befand sich gleich in der ersten Etage.

Gleich daneben war Freds. Er würde nicht begeistert sein, wenn ich ihn mitten in der Nacht weckte, aber ich musste einfach mit jemandem über das Geschehene reden.

Ich klopfte an seine Tür, wartete aber nicht auf sein »Herein!«, da ich wusste, dass er nicht leicht wachzukriegen war. Ich öffnete die Tür und machte Licht.

Fred fuhr in seinem Bett auf und rieb sich die Augen. »Was zum Teufel …«

»Beruhige dich und werde munter«, sagte ich, bevor er das ganze Hotel aufweckte. »Ich habe dir etwas zu erzählen.«

Fred schaute auf seinen Wecker. »Mitten in der Nacht?«, fragte er gereizt. »Weißt du, was ich gerade geträumt habe?«

»Bestimmt etwas Angenehmeres, als ich vorhin erlebt habe«, entgegnete ich.

Sein Ärger legte sich, und er sah mich neugierig an. Seine gelblichen Augen schienen aufzublitzen, und sein kahler Schädel zuckte vor. Ich wusste nur zu gut, wie sehr ihn dieser Urlaub auf Nordholm langweilte. Er konnte sich am besten am Steuer seines offenen Straßenkreuzers entspannen, während er seinem Lieblingssänger lauschte und, die Pistole griffbereit, flüchtige Bankräuber verfolgte.

Genau wie ich arbeitete er zuweilen mit der Polizei zusammen, wenn es sich ergab, aber am liebsten löste er seine Fälle auf eigene Faust, im wahrsten Sinne des Wortes. Seinerzeit hatten wir uns kennengelernt, weil wir bei dem gleichen Fall um unsere Hilfe gebeten wurden. Seitdem arbeiteten wir zusammen, wann immer es sich ergab.

Ich erzählte ihm, was ich erlebt hatte.

Er hörte mir zu, ohne zu unterbrechen. »Humbug!«, sagte er schließlich. »Wahrscheinlich bist du am Strand eingeschlafen, alter Junge, und hast den ganzen Quatsch geträumt.«

»Und das hier?«, fragte ich und zog das Messer. Es befanden sich sogar noch Blutspuren darauf.

»Und du hast wirklich nicht zu viel getrunken?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es hat sich alles tatsächlich so ereignet. Wenn nur die Frau nicht verschwunden wäre! Aber vielleicht können wir sie morgen ausfindig machen. Ich würde sie jedenfalls sofort wiedererkennen.«

Er sah mich skeptisch an. »Selbst wenn du mir die Mieze präsentierst, nehme ich dir noch lange nicht den Messerstecher ab, der plötzlich unsichtbar geworden sein soll. Was spazierst du auch mitten in der Nacht am Strand herum?«

Darauf wusste ich keine Antwort. Jedenfalls hatte ich keine Lust, ihm zu erzählen, dass es mich einfach rausgetrieben und ich es genossen hatte, mutterseelenallein am Strand entlang zu schlendern. Für diese Dinge hatte er einfach keinen Sinn.

»Es gibt noch etwas anderes«, sagte ich, »und zwar betrifft es diesen Messerstecher.«

»Sag nicht, dass du ihn kennst!«

Ich trat ans Fenster und schaute hinaus, während ich überlegte, wie ich Fred die Sache beibringen sollte, wo er mir den ersten Teil meiner Erzählung schon kaum abnahm.

»Du weißt, dass ich mich recht gut in der Verbrecherhistorie auskenne«, begann ich.

Er winkte ab. »Ich kenne deine Sammlung.«

Tatsächlich besaß ich eine Kartei, in der alle größeren Mordfälle und Mörder der Geschichte verzeichnet waren. Zu allen diesen Fällen hatte ich psychologische Gutachten verfasst. Wann immer die Polizei mit der Bitte um Hilfe an mich herantrat, wenn es um Mordfälle ging, wühlte ich aus meiner Kartei einen ähnlichen Fall heraus. Bei achtzig Prozent aller Mordgeschichten hatte es sich erwiesen, dass sich ähnelnde Fälle auch von bestimmten Mördertypen begangen wurden. Meistens konnte ich der Polizei aufgrund meiner Kartei ein genaues äußeres als auch psychologisches Profil des Täters liefern, was mehr als einmal zu dessen Verhaftung geführt hatte.

»Nun«, sagte ich, »ich bin fast sicher, dass ich diesen Messerstecher in meiner Kartei habe. Das macht die Sache noch mysteriöser.«

»Ach ja?« Fred erhob sich aus dem Bett und griff nach der Martini-Flasche auf der Kommode. »Willst du auch einen Schluck?«

Ich nickte. »Könnte nicht schaden.«

Er holte zwei Gläser hervor und schüttete sie halb voll.

»Wen hast du also erkannt?«, fragte er schließlich.

»Großmann«, sagte ich.

»Kenne ich nicht«, gab Fred nach kurzem Überlegen zu.

»Ist auch schon lange her«, sagte ich. »Wenn er heute noch leben würde, wäre er über hundertzwanzig. Aber er wurde seinerzeit hingerichtet.«

»Mit anderen Worten«, stellte Fred fest, »du hast seinen Geist gesehen.«

Ich nickte.

 

 

2. Kapitel

 

Berlin, 5. Februar 1921

Auf dem Bahnsteig herrschte trotz der klirrenden Kälte ein mittleres Chaos. Vollgepfropfte Züge fuhren ein oder dampften hinaus. Berlin war wahrhaftig der Dreh- und Angelpunkt Europas, wenngleich sich nach dem Krieg der alte Glanz noch nicht wieder so recht hatte einstellen wollen.

Obwohl die Waggons in vier Klassen unterteilt waren, hätten zwei genügt, um die Menschen zu unterteilen. Es gab diejenigen, und das waren die wenigsten, die wohlgesättigt umherliefen und sich die Koffer von den Gepäckträgern tragen ließen. Und es gab auf der anderen Seite die große Masse der Leute, denen der Magen knurrte und denen beim Anblick der dampfenden Maronen und heißen Würstchen, die vor dem Bahnhofsgebäude angeboten wurden, das Wasser im Munde zusammenlief.

Hilde gehörte zu den Letzteren. Sie war zwanzig Jahre alt und trotz der lebensmittelarmen Zeit erstaunlich drall. Es waren ihre großen Brüste, die dem Würstchenverkäufer, einem kleinen, unscheinbaren Herrn, zuerst an ihr auffielen. Danach besah er sich den Rest. Er hatte ein gutes Gespür für alleinreisende Mädchen, die von weither kamen, um in Berlin ihr Glück als Dienstmädchen zu suchen. Ein Blick auf ihren schäbigen Pappkoffer genügte, und er wusste, dass er eines dieser Vierte-Klasse-Mädchen vor sich hatte.

»Hallo, Fräulein!«, rief er. Er wusste genau, wie allein sich diese Mädchen vorkamen, wenn sie in Berlin ankamen. Und er war nicht der Einzige, der sie abzupassen versuchte.

Aber ohne Zweifel der Grausamste.

Zögernd kam Hilde näher.

»Na, Fräulein, wie wär's mit einer Wurst?«, fragte der Mann freundlich. Er wusste, dass diese Mädchen rasch Zutrauen zu ihm fassten. Schließlich war er beinahe sechzig und sah nicht gerade gefährlich aus.

»Verzeihung, der Herr, aber ich fürchte, dass ich mir keinen Imbiss leisten kann«, sagte Hilde höflich.

»Neu in Berlin?«, fragte der Würstchenverkäufer.

Hilde nickte.

»Und wohin soll's gehen?«

»Ich suche eine Stelle als Hausmädchen. Man hat mir die Adresse einer Stellenvermittlung gegeben.« Während sie sprach, schaute sie verlangend auf die dampfenden Würstchen, die in der Kälte doppelt verheißungsvoll wirkten.

»Na, nun nehmen Sie schon eins!«, sagte der Mann. »Betrachten Sie es als Willkommensgeschenk.«

Nur zu gern nahm Hilde das knusprige Geschenk entgegen.

»Senf?«

»Ja, gern.«

Eine Weile schwiegen sie, und der Würstchenverkäufer bediente einen Kunden.

»Hätten Sie keine Lust, bei mir zu arbeiten?«, fragte der Mann schließlich. »Sehen Sie, ich stehe hier den ganzen Tag und verkaufe, da könnte ich gut eine helfende Hand im Haushalt gebrauchen. Es ist nicht viel Arbeit, und ich bezahle gut. Und«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, »Würstchen gibt's stets umsonst!«

Nach kurzem Zögern sagte Hilde zu.

Sie konnte nicht ahnen, dass sie damit ihr Todesurteil gesprochen hatte. Und dass der freundliche Mann mit dem hageren Gesicht und dem langen Schnurrbart eine Woche später wieder auf dem Bahnhof stehen würde.

Und wieder würde er ein Vierte-Klasse-Mädchen ansprechen und ihm eine Wurst anbieten.

Aber Hilde würde dann bereits nicht mehr leben.

 

Nordholm, 15. November 1982 (Tag)

Trotz des Regens hatte es mich nicht im Hotel gehalten. Ich hatte einige Einkäufe zu erledigen, wollte aber auch die Inselbibliothek aufsuchen, in der Hoffnung, dort ein Buch zu finden, in dem etwas über diesen Großmann stand, wenn möglich mit einem Foto. Aber in erster Linie war ich unterwegs, um vielleicht die rothaarige Frau wiederzutreffen.

Obwohl es auf Mittag zuging, war kaum ein Mensch auf den Straßen. Die Saison war halt schon länger vorbei, und es gab nur wenige Romantiker wie mich, die dieser Insel selbst im November noch etwas abgewinnen konnten. Fred gehörte jedenfalls nicht zu diesen Leuten, und er hatte in den letzten Tagen mehrmals davon gesprochen, abzureisen. Nach den Geschehnissen der letzten Nacht jedoch schien er es sich anders überlegt zu haben. Jedenfalls hatte er beim Frühstück andere Themen angeschlagen.

Was die Bibliothek anging, so hatte ich Pech. Sie öffnete erst am Nachmittag.

Ich wurde aber dadurch entschädigt, dass ich meine Strandbekanntschaft wiedertraf. Wir stießen fast zusammen, als sie gerade die Praxis des einzigen Arztes auf Nordholm verließ. Ich erkannte sie sofort wieder. Sie war vielleicht siebenundzwanzig und ging mir bis zur Schulter. Obwohl sie gut verpackt war, war ihre wohlgebaute Figur unübersehbar. Die rotblonden Haare trug sie diesmal nach hinten gesteckt.

Ihrem Blick entnahm ich, dass auch sie mich sofort erkannte.

»Das ist eine Überraschung«, sagte ich. »Ich dachte schon, Ihnen sei etwas Ernsthaftes passiert.«

»Und ich dachte, ich hätte nur geträumt, dass ich Ihnen begegnet bin«, sagte sie.

Ich war froh, dass sie sich über unser Zusammentreffen genauso freute wie ich mich. »Wie geht es Ihnen?«, fragte ich. Sie sah ein wenig blass aus, was aber kein Wunder war.

»Gut«, sagte sie. »Ich hatte zwar geglaubt, der Gang zum Doktor bliebe mir erspart, aber als sich mein Arm immer mehr verfärbte, hielt ich es doch für besser, ihn behandeln zu lassen.«

»Mit solchen Wunden ist nicht zu spaßen«, sagte ich besorgt. »Aber waren Sie schon bei der Polizei?«