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Band 15

 

Schritt in die Zukunft

 

von Bernd Perplies

 

 

 

Im August 2036 brechen Perry Rhodan und seine Begleiter zum ersten interstellaren Flug der Menschheit auf – doch dieser führt ins Chaos eines Krieges. Die Menschen erreichen das System der blauen Sonne Wega, wo die echsenartigen Topsider die Welten der Ferronen angreifen. Rhodans Raumschiff wird abgeschossen, seine Gruppe getrennt.

Für Rhodan und seine Begleiter beginnt ein erbitterter Kampf ums Überleben, andere Menschen werden gefangen genommen. Bei ihrer Flucht über verschiedene Planeten nutzen sie Transmitter, mit denen man ohne Zeitverlust riesige Entfernungen zurücklegen kann. So landet die Gruppe auf der geheimnisvollen Dschungelwelt Pigell, die ein schreckliches Geheimnis birgt.

Auf der Erde sind die fremdartigen Fantan nicht zu stoppen: Sie rauben, was ihnen gefällt, während die Menschen der außerirdischen Technik hilflos gegenüberstehen. Alle Hoffnung ruht auf Rhodans Rückkehr ...

1.

Die Schanze

San Francisco, 30. Juli 2036

 

Der neue Tag war nicht mehr als ein orangefarbenes Glühen am östlichen Horizont. Die Luft war erfrischend kühl, und vom Zwitschern einiger früher Vögel abgesehen herrschte hier oben wundervolle Stille.

Iwan Goratschin trat ein letztes Mal kraftvoll in die Pedale, dann hatte er den Aussichtspunkt am östlichen Gipfel des Mount Tamalpais erreicht.

Schwer atmend bremste er sein Mountainbike, ein altes, aber gut gepflegtes Canyon Extreme 2.8, und sah auf den am Lenker befestigten Navi-Pod. Kurz nach sechs. Er hatte die Strecke in gut zwei Stunden bewältigt. Das entsprach nicht ganz den Höchstleistungen, die er aus früheren Zeiten kannte, aber schließlich war er auch kein junger Mann mehr.

Goratschin stieg von seinem Rad, zog die rote Trinkflasche aus der Rückentasche seiner Windjacke und nahm einen kräftigen Schluck. Der isotonische Energy-Drink, den er vor dem Start seiner frühmorgendlichen Bergtour eingefüllt hatte, schmeckte ekelerregend süß, wie geschmolzene Gummibärchen. Aber er erfüllte seinen Zweck.

Der hünenhafte Russe nahm einen weiteren Schluck, spülte damit seinen trockenen Mund und spuckte dann herzhaft aus. Kein junger Mann mehr ...

Mit zusammengepressten Lippen rammte er die Trinkflasche wieder in die Rückentasche. Danach ging er einige Schritte bis zum Rand des Aussichtspunkts, stieg auf die Sitzfläche einer der aufgestellten Bänke und hockte sich auf die Lehne. Dort wartete er.

Zu seinen Füßen erstreckte sich die Bay Area von San Francisco. Direkt östlich von ihm bewegte sich ein steter Strom von Autoscheinwerfern über die Bucht. Frühe Pendler, die dem John T. Knox Freeway folgend die schmale Richmond-San-Rafael-Bridge überquerten, die Richmond am Ostufer mit San Rafael am Westufer verband.

An der Stelle direkt neben dem Freeway, wo einst Scheinwerferbatterien das San Quentin State Prison in helles Licht getaucht hatten, herrschte tiefe Dunkelheit. Von früheren Ausflügen hierher wusste Goratschin, dass von der berüchtigten Haftanstalt nur noch Ruinen existierten. Irgendein Irrer, so war ihm auf Nachfrage erzählt worden, hatte vor etwa fünfzehn Jahren ein Sportflugzeug voller Sprengstoff direkt über dem Hauptgebäude zum Absturz gebracht, um, wie es hieß, »die Welt von dem Abschaum zu befreien«, der dort eingesperrt war. Der Einschlag hinterließ ein Trümmerfeld mit einem Radius von hundert Metern. Der Radius der politischen Wellen, die das Ereignis schlug, war weitaus größer gewesen.

Während der Himmel im Osten zunehmend heller wurde und der neue Tag die Dunkelheit der Nacht verdrängte, ließ Goratschin seinen Blick schweifen. Im Südosten funkelten die Lichter von Larkspur, Corte Madera und Mill Valley inmitten der grünbraunen Hügel von Marin County, in denen der Mount Tamalpais zur Bucht hinunter auslief.

Dort unten, mit Blick auf die Richardson Bay, einen flachen Seitenarm der San Francisco Bay, lag die exklusive Privatklinik, in der Iwan Goratschin gegenwärtig untergebracht war. Er wohnte dort unter falschem Namen, damit niemand seine Ruhe störte. Damit niemand den Heilungsprozess unterbrach, der erst noch einsetzen musste.

Goratschin fuhr sich mit den Händen übers schweißfeuchte Gesicht und dann durch die dunklen, kurzen Haare. Seine Mundwinkel verzogen sich, und er musste mehrmals blinzeln, um die Tränen zu unterdrücken, die ihm in die Augenwinkel zu treten drohten. Scheiße ... Verfluchte, elende Scheiße.

Fast dreißig Jahre lang hatte er im Koma gelegen!

Dreißig Jahre!

Das war beinahe zehn Jahre länger, als er zuvor überhaupt gelebt hatte.

Und dann dieses Erwachen! Eine schmale, medizinische Liege inmitten eines riesigen Raums. Die Decke ist kuppelförmig und erinnert an eine Sternwarte. In der Mitte, direkt über seinem Kopf öffnet sich ein schmaler Spalt, wird rasch größer und gibt den Blick auf einen tiefblauen Himmel frei, an dem einzelne Wolken wie Wattebäusche hängen.

Am Himmel ist eine Kugel zu sehen. Im ersten Moment hält er sie für den Mond, doch dann fällt ihm auf, dass sie silbrig im Sonnenlicht glänzt und dass sie von einem hellen Glitzern umgeben ist.

Es ist ein Raumschiff!

Er hat keine Ahnung, woher er das weiß, aber die Gewissheit ist auf einmal in seinem Kopf. Und noch mehr: Es handelt sich um ein feindliches Raumschiff. Es muss vernichtet werden. Und er, Iwan Goratschin, ist der Einzige, der dazu imstande ist.

Er konzentriert seinen Geist auf die Kugel, spürt, wie sich seine Gabe in ihm regt. Was immer ihm auch widerfahren ist, sie hat er nicht verloren. Im Gegenteil: Machtvoller denn je brennt sie in seiner Brust.

Im nächsten Augenblick vergeht das Raumschiff in einem Flammeninferno.

Dann wird es wieder dunkel um ihn.

Bewusstlosigkeit aufgrund von Überanstrengung, hieß es später. Das war vor zwei Wochen gewesen. Seitdem hatte Iwan Goratschin sich einigen sehr bitteren Erkenntnissen stellen müssen.

Als er irgendwann später zum zweiten Mal erwacht war, fand er sich in einem kleinen, spartanisch eingerichteten Zimmer wieder. Eine junge blonde Frau, die der Kleidung nach eine Krankenschwester sein musste, stand neben seinem Bett, eine kleine Spritze in der rechten Hand. Mit geübten Bewegungen überprüfte sie seine Vitalfunktionen, und bevor Goratschin auch nur eine Frage über die Lippen hatte bringen können, war sie schon wieder aus dem Raum verschwunden.

Stattdessen war ein älterer Mann in sein Blickfeld getreten. Er hatte schütteres Haar, und unter seinem abgetragen wirkenden Anzug zeichnete sich ein Buckel ab. Mit leichtem Humpeln hatte er sich dem daliegenden Russen genähert und sich in einem Sessel niedergelassen, der neben dem Bett stand. »Mein Name ist Homer G. Adams, und ich nehme an, dass Sie viele Fragen haben, Mister Goratschin. Ich bin hier, um sie Ihnen, so gut ich kann, zu beantworten.«

Genau das tat er, mit ruhiger Stimme und zugleich schonungsloser Offenheit. Von ihm erfuhr Goratschin, dass er, Iwan, bei einem Militäreinsatz 2007 in Afghanistan schwer verletzt worden und daraufhin ins Koma gefallen war. Es handelte sich um ein Ereignis, an das Iwan keinerlei Erinnerung mehr besaß.

»Bin ich ... bin ich noch in Afghanistan?«, hatte er gefragt.

»Nein, Sie befinden sich wieder in den Vereinigten Staaten. In einem Vorort von San Francisco, um genau zu sein.«

»Was ist mit meinen Eltern? Haben Sie sie benachrichtigt? Kann ich sie sehen?«

Adams hatte traurig den Kopf geschüttelt. »Es tut mir leid, aber das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Sie sind beide gestorben, schon vor Jahren.«

Die erste bittere Erkenntnis.

»Und Iwanowitsch, mein Bruder? Wo ist er?«

Sein Gegenüber hatte ihn nur stumm angeblickt, und Goratschin verstand.

Die zweite bittere Erkenntnis.

»Wie?«, fragte er erstickt.

»Er kam bei einem Brand seines Stützpunkts ums Leben. Auch das ... ist schon ein paar Jahre her.«

Auf dem östlichen Gipfel des Mount Tamalpais sitzend und beschienen von den ersten zögerlichen Strahlen der aufgehenden Morgensonne, spürte Goratschin, wie ihm eine Träne über die Wange lief. Seine Eltern, sein geliebter Zwillingsbruder, alle tot. Er glaubte noch die Gesichter seines Vaters und seiner Mutter vor Augen zu sehen, voll glühendem Stolz auf ihre beiden prächtigen Söhne und zugleich von tapfer unterdrücktem Kummer gezeichnet, weil sich ihr Leben nicht so entwickelte, wie sie es sich erträumt hatten.

Iwan und Iwanowitsch waren noch Kinder gewesen, kaum sechs Jahre alt, als die Familie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Moskau das Flugzeug bestieg, um in den USA neu anzufangen. Damals waren sich die beiden Brüder noch buchstäblich so nah gewesen, wie Zwillinge sich nur sein können: an der Hüfte verwachsen und mit russischer Medizin nicht zu heilen.

In den Vereinigten Staaten angekommen, ermöglichte die Spende einer Megakirche in Ohio die operative Trennung der siamesischen Zwillinge. Eine lange Narbe entlang der Seite von Goratschins Oberkörper zeugte noch heute davon.

Ermuntert durch so viel Güte, versuchte die Familie, sich in Los Angeles ein neues Leben aufzubauen. Doch vielleicht hatten sie sich die falsche Stadt ausgesucht, vielleicht nur die falsche Nachbarschaft. Jedenfalls waren die Goratschins nie richtig in der neuen Heimat angekommen. Das betraf nicht nur die Eltern, sondern auch die Zwillinge.

Iwan und Iwanowitsch wuchsen als Außenseiter auf. Ihr hünenhaftes, etwas grobschlächtiges Äußeres, das nicht dem Ideal des braun gebrannten Westküstenstrahlemanns entsprach, mochte ein Grund dafür gewesen sein. Und sicher trugen einige seltsame Zwischenfälle in ihrer Jugend dazu bei – Brandstiftungen, die man den pubertierenden Zwillingen nicht nachweisen konnte, derer man sie aber noch lange danach verdächtigte.

Doch je mehr ihre Umgebung sie ausgrenzte, desto stärker versuchten Iwan und Iwanowitsch, zu waschechten Patrioten zu werden. Nach der Highschool hatten sich beide Brüder als Soldaten verpflichtet, um für Frieden, Gerechtigkeit und den amerikanischen Traum zu kämpfen. Zwei Jahre später standen sie dann freiwillig in der ersten Reihe, als frische Truppen in die Krisengebiete nach Afghanistan und im Irak geschickt worden waren.

Und dort in irgendeinem talibanverseuchten Drecksloch hat mein Leben beschlossen, eine längere Auszeit zu nehmen, dachte Iwan Goratschin bitter. Er ballte die Hände und spürte, wie sich seine Gabe zu regen begann. Rasch atmete er tief durch und versuchte, sich zu entspannen.

Er musste aufpassen. Vor seinem Koma hatte er diese unerklärliche Kraft, die es ihm erlaubte, Materie zu entzünden, leidlich gut unter Kontrolle gehabt. Aber das war Jahrzehnte her. Seine Gabe, sich auf ein ganz bestimmtes Ziel zu konzentrieren und dieses in Flammen aufgehen zu lassen, hatte seitdem etwas gelitten, und er wollte mitten im Juli keinen Waldbrand an den Hängen des Mount Tamalpais verursachen.

Eine längere Auszeit ... Es war damals, vor zwei Wochen, die naheliegende Frage gewesen, nachdem dieser bucklige Mister Adams bereits zweimal im Laufe ihres Gesprächs Ereignisse erwähnt hatte, die bereits Jahre zurückzuliegen schienen. Und dennoch hatte es Goratschin beinahe die Kehle zugeschnürt, als er sie stellte. »Wie lange, Mister Adams?«

»Wie bitte?«

»Sie sagten, meine Eltern und mein Bruder wären schon vor Jahren gestorben. Wie lange genau lag ich im Koma?«

Es sollte die dritte bittere Erkenntnis werden. »Mister Goratschin, ich fürchte, das wird wie ein Schock für Sie sein.«

Goratschin hatte nur freudlos aufgelacht. »Sie haben mir eben eröffnet, dass meine ganze Familie, alles, was mir lieb und teuer war, fort ist. Wie viel schlimmer kann es noch werden?«

»Neunundzwanzig Jahre, Mister Goratschin.«

Das übertraf in der Tat alles, worauf er sich innerlich vorbereitet hatte. Fünf Jahre hätte er verdauen können, vielleicht zehn. Aber: »Neunundzwanzig? Das heißt, wir schreiben das Jahr ...?«

»2036«, vollendete Adams seufzend den Satz für ihn. »Aus Ihrer Warte betrachtet muss sich das wie Science Fiction anhören.«

In diesem Augenblick hatte Goratschin zum ersten Mal seine Hände gehoben und vors Gesicht gehalten. Er erblickte Falten, kräftige Haare auf den Handrücken, gealterte Haut. Das waren nicht mehr die Hände eines Zwanzigjährigen gewesen, sondern die eines beinahe Fünfzigjährigen. Dreißig Jahre! Er hatte drei Jahrzehnte, die zu den besten im Leben eines Menschen zählten, einfach so verloren.

Dieser Gedanke hätte ihn beinahe überwältigt.

Auf einmal war ein anderer in ihm aufgestiegen: die Erinnerung an sein plötzliches Erwachen und an eine Kugel aus Metall, die brennend aus dem Himmel stürzte. »Gehören zu dieser Science Fiction auch Kugelraumschiffe?«, fragte er.

Adams hatte eine Zeit lang geschwiegen, dann genickt. »Ja.«

»Erzählen Sie mir davon. Jetzt will ich alles wissen.«

Sein eigenartiger, buckliger Gesprächspartner hatte geseufzt und angefangen zu erzählen. Von Perry Rhodan und dem Flug zum Mond. Von der Entdeckung des abgestürzten Arkonidenraumers. Von der Rückkehr zur Erde und Rhodans idealistischem Traum, in der Wüste Gobi eine Stadt namens Terrania zu errichten, die das Sprungbrett einer neuen, geeinten Menschheit auf dem Weg zu den Sternen sein sollte. Von der unversöhnlichen Gegnerschaft der irdischen Supermächte. Und von Clifford Monterny, dem Anführer einer Einheit ungewöhnlich begabter Menschen, der sich in all diese Dinge eingemischt hatte – erst auf Befehl von Präsident Drummond, dem gegenwärtigen Staatslenker der Vereinigten Staaten, doch später offenbar zunehmend einer ganz eigenen Agenda folgend.

Clifford Monterny ... Irgendwie brachte dieser Name eine Saite in Goratschin zum Klingen. »Ich kenne diesen Mann irgendwoher.«

»Das ist möglich«, hatte Adams freimütig geantwortet. »Monterny und Ihr Bruder waren gemeinsam im Irak stationiert. Auch später arbeiteten sie zusammen. Ihr Bruder sorgte für Sie, während Sie im Koma lagen. Diese Aufgabe hat Monterny nach dessen Tod übernommen. Doch täuschen Sie sich nicht. Er mag anfangs noch aus Freundschaft und Nächstenliebe gehandelt haben. Zuletzt aber waren Sie für ihn nicht mehr als ein Werkzeug seiner Rache. Er hat Sie dazu gebracht, das Arkonidenraumschiff anzugreifen.«

Mit dieser vierten bitteren Erkenntnis, nur ins Leben zurückgerufen worden zu sein, um einem durchgedrehten Exsoldaten als Massenvernichtungswaffe zu dienen, hatte Adams ihn allein gelassen.

Bevor er gegangen war, hatte Goratschin ihn gefragt, was nun aus ihm werden solle.

»Im Moment sind Sie in Sicherheit. Niemand weiß, wer Sie sind und wo Sie sind – außer mir und Rhodan. Und wir wollen Ihnen nichts Böses, denn wir wissen, dass Sie nur ein Opfer in dieser Geschichte sind. Also ruhen Sie sich aus. Versuchen Sie, das, was ich Ihnen erzählt habe, zu verarbeiten. Finden Sie zu sich selbst. Und wenn Sie bereit sind, rufen Sie mich an, Mister John Smith.« Plötzlich hielt er eine einfache Visitenkarte mit einer Telefonnummer in der Hand, die er auf den Beistelltisch neben Goratschins Bett legte.

Im nächsten Moment war er verschwunden gewesen und hatte sich seitdem nicht mehr blicken lassen.

Goratschin hingegen war zurückgeblieben, völlig verwirrt und geradezu zerschmettert von den Hiobsbotschaften, die ihm überbracht worden waren.

In den Folgetagen versuchte er, Adams' Informationen unauffällig zu verifizieren. Da er kein Gefangener war, durfte er kommen und gehen, wie er wollte, solange er die Sperrstunden der Klinik einhielt und pünktlich zu den Therapiesitzungen erschien, die ihm dabei helfen sollten, nach seinem langen Koma geistig und körperlich wieder fit zu werden.

Das meiste, was der Alte ihm erzählt hatte, schien der Wahrheit zu entsprechen. Auf dem Soldatenfriedhof von Los Angeles fand er sogar das Grab seines Bruders. Doch über Iwanowitschs Leben konnte er nichts in Erfahrung bringen.

Vor knapp einer Woche hatte er schließlich entschieden, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Es war ohnehin eine Zeit, an der er keinerlei Anteil gehabt hatte. Umso wichtiger war es, sich der Zukunft zu widmen. Einer Zukunft, nach der er gegenwärtig auf der Suche war.

Aus diesem Grund stieg er immer wieder auf das Mountainbike, das ihm einer der Pfleger besorgt hatte, und fuhr hinauf in den nahen Mount Tamalpais State Park. Hier draußen, allein in der Natur, konnte er nachdenken. Oder er konnte den Kopf völlig ausschalten und beim kraftvollen Uphill- oder halsbrecherischen Downhill-Fahren die Grenzen seines gealterten Körpers ausloten.

Wenn er darüber hinaus den nervtötenden Navi-Pod seines Rads abschaltete, gelang es ihm fast, sich einzubilden, er befände sich noch immer im Jahr 2007. Zwischen den struppigen Büschen und niedrigen Bäumen gab es kein immer präsentes Evernet, keine jungen Leute mit Datenbrillen auf den Nasen, keine Nachrichten über selbst ernannte Terraner, weißhaarige Arkoniden oder – seit Kurzem – räuberische Fantan.

Bei diesem Gedanken schüttelte Goratschin unwillkürlich den Kopf. Schon zu seiner Zeit war die Welt nah dran gewesen, sich in ein Tollhaus zu verwandeln. 2036 schien ihr das endlich gelungen zu sein!

Mittlerweile schob sich die Sonne träge über den Horizont. Das Licht des neuen Tages flutete über die Bay Area. Es enthüllte das Panorama zu seinen Füßen, das sich vorher nur hatte erahnen lassen, in seiner ganzen Pracht. Der Blick reichte jetzt bis hinunter zu den Dächern von San Francisco. Hinter den grünbraunen Hügeln, die zwischen ihm und der Stadt lagen, konnte Goratschin sogar einen Pfeiler der Golden Gate Bridge sehen.

Einen Moment lang badete er in der Stille und den Strahlen der Morgensonne und ließ den erhabenen Anblick der Landschaft auf sich wirken.

Dann kniff er verwirrt die Augen zusammen. Irgendetwas bewegte sich dort hinten im Luftraum über San Francisco. Etwas, das metallisch glänzte und aussah wie eine fliegende Untertasse.

Es handelte sich um zwei Fantan-Flundern, wie die Medien die fliegenden Transportplattformen der zylindrischen Außerirdischen nannten. Was zum Teufel haben diese Mistkerle vor?, fragte sich Goratschin.

Vor zwei Tagen war das riesige Spindelraumschiff der Fantan in der Wüste Gobi gelandet, direkt vor den Toren Terranias. Einen Tag später hatte ein noch größeres Exemplar es ersetzt. Es schien, als wollten die Fantan Perry Rhodans erklärtem Tor zu den Sternen einen Begrüßungsbesuch abstatten. Die Erdlinge zu ihrem neuen Raumbahnhof beglückwünschen und sie in der galaktischen Gemeinschaft willkommen heißen.

Doch statt Gastgeschenke zu bringen, waren sie mit ihren Flundern ausgeschwärmt, um sich überall auf der Erde zu bedienen, als wäre Sommerschlussverkauf und sie hätten unbegrenzten Kreditrahmen.

In ihren Augen waren das offenbar keine Raubzüge, sondern die legitime Jagd nach Besun.

Natürlich begann sich überall auf der Erde der Widerstand zu regen. Menschen hingen von Natur aus an ihrem Besitz. Meist gönnten sie ihn nicht mal ihrem Nachbarn. Ganz zu schweigen von irgendwelchen Besuchern aus dem All, die so hässlich waren, dass sie sich auch gut auf dem Cover eines Groschenromans aus den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts gemacht hätten.

Die Fantan schien dieser Widerstand allerdings nicht zu stören. Vielmehr hatte es den Anschein, als hebe es den Reiz von Besun nur noch, wenn es anderen Leuten auch wertvoll war. Bislang vergriffen sie sich, Berichten zufolge, nur an kleineren Dingen: Autos, Reklametafeln, dem D aus dem berühmten »Hollywood«-Schriftzug, einer McDonald's-Filiale in Cleveland – solchen Dingen eben. Auch ein paar Menschen waren entführt worden, darunter, wie es hieß, der Gefährte von Perry Rhodan, Reginald Bull.

Auf einmal allerdings schienen die Außerirdischen größenwahnsinnig zu werden. Dachten sie ernsthaft, mit ihren allerhöchstens fünfzig Meter durchmessenden Untertassen eine mehr als zwei Kilometer lange Stahlkonstruktion, die ein Gewicht von fast einer Million Tonnen haben musste, abtransportieren zu können? Goratschin konnte das nicht glauben.

Das Knirschen von Reifen auf Kies schreckte den Russen aus seinen Gedanken auf.

Er wandte den Kopf und sah, dass ein zweiter Mountainbiker den Gipfel erreicht hatte. Es handelte sich um eine junge Asiatin. Ihr zierlicher, aber drahtiger Körper steckte in einem ärmellosen grauen Sport-Top und einer kurzen blauen Radlerhose. Ein lose geflochtener Zopf aus dunklem Haar lag über ihrer linken Schulter.

»Guten Morgen!«, rief sie gut gelaunt zu ihm herüber, als sie sich vom Rad schwang. Ihre Stimme war weich und hatte einen leichten Akzent.

Goratschin schenkte ihr ein knappes Nicken. Ein Teil seines Bewusstseins registrierte die helle, beinahe makellose Haut ihrer schlanken nackten Beine, das hübsche, vor Anstrengung zart gerötete Gesicht, die Tatsache, dass sie unter dem eng anliegenden Top keinen BH trug.

Der weit größere Teil von ihm sah in ihr jedoch nur einen Eindringling, der seine Festung der Einsamkeit stürmte. Es hatte seinen Grund, weshalb er so früh in den Morgenstunden hierherkam. Er liebte es, zwei oder drei wertvolle Stunden lang völlig ungestört zu sein.

Die junge Frau schien das nicht zu bemerken.

Seelenruhig löste sie ihre Trinkflasche vom Rahmen, nahm einen Schluck und spazierte zu Goratschin herüber. »Darf ich?«, fragte sie und gesellte sich, ohne auf seine Antwort zu warten, zu ihm auf die Bank.

Goratschin gab ein unverbindliches Brummen von sich.

Die Asiatin stützte sich auf die Lehne der Bank, streckte die Beine nach vorne und bog genießerisch den Rücken durch, wie um sich der aufgehenden Sonne entgegenzurecken. Dabei gab sie ein wohliges Seufzen von sich. Dann schaute sie zu Goratschin auf. »Es ist schön hier oben am frühen Morgen, nicht wahr?«

Der hünenhafte Russe brummte erneut.

»Ich komme wirklich gern bei Sonnenaufgang an diese Stelle. Die Aussicht ist so wundervoll. Außerdem treiben sich um diese Zeit noch keine Radtouristen auf den Trails rum.« Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem verschwörerischen Lächeln, das ihn und sie über derlei Wochenendradler erhob.

Goratschin konnte sich vorstellen, dass es Männer gab, die viel dafür gegeben hätten, dass dieses Lächeln ihnen gegolten hätte. Aber so schmeichelhaft er ihren Versuch zur Vertraulichkeit auch fand, gegenwärtig war er überhaupt nicht in der Stimmung dafür. »Sicher«, sagte er. »Es ist schön ruhig und einsam hier. Gut zum Nachdenken.«

Erneut begriff sie seinen Wink nicht – oder aber ignorierte ihn absichtlich. »Das finde ich auch. Und im Augenblick kann man so einen Rückzugsort wirklich brauchen. Es passieren so schreckliche Dinge in der Welt.« Sie warf einen Blick hinüber zur Golden Gate Bridge, über der die beiden Fantan-Flundern kreisten wie Aasgeier um fette Beute.

Goratschin wollte nichts davon hören. Und schon gar nicht wollte er darüber reden. Nicht hier, nicht heute. Er stand auf. »Entschuldigen Sie mich«, presste er zwischen zwei Zahnreihen hervor. »Ich muss los.« Viel unhöflicher konnte man kaum sein, aber das war ihm egal.

Mit verkniffener Miene ging er zu seinem Rad und schwang sich auf den Sattel. Er schaltete den Radcomputer auf Downhill-Modus und spürte, wie sich die Federwege der Gabeln anpassten. Dann trat er in die Pedale. Doch statt umzukehren und die Straße hinunter zu nehmen, steuerte er einen steilen Trail an, der direkt neben dem Aussichtsplatz seinen Anfang nahm. Goratschin kannte ihn bereits. Er war steil und zerklüftet, keine Strecke, die man sich leichtfertig hinunterstürzte – worauf auch ein Warnschild am Eingang mehr als deutlich hinwies.

Die Asiatin erhob sich von der Bank und sah ihm verwundert zu. »He, was machen Sie da?«, rief sie. »Die Strecke ist gefährlich, vor allem solange es noch nicht richtig hell ist! Wollen Sie sich umbringen?«

»Das ist nicht Ihr Problem«, knurrte Goratschin und trieb sein Rad über den Rand.

Einen Augenblick später hatte er keine Zeit mehr, sich über irgendwelche Probleme oder junge Asiatinnen, die sich darin einmischten, Gedanken zu machen. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde von dem Trail beansprucht.

In halsbrecherischer Geschwindigkeit jagte er den Berghang hinunter, wich Hindernissen aus und sprang über Bodenwellen. Unter den Rädern knirschten Steine und trockene Erde, seine Arm- und Beinmuskeln zitterten vor Anspannung, und kalter Fahrtwind schlug ihm ins Gesicht.

Er liebte diese Momente!

Momente, in denen er sein ganzes Ich auf die körperliche Herausforderung reduzieren konnte, in denen nichts anderes zählte als der nächste Stein und die nächste Wurzel. Zu keinem anderen Zeitpunkt seit seinem Erwachen aus dem Koma konnte er so im Augenblick leben, konnte er so die Vergangenheit und Zukunft vergessen. Seine toten Eltern, sein toter Bruder, die verlorenen dreißig Lebensjahre und der Umstand, dass man ihn missbraucht und in eine Waffe verwandelt hatte – nichts davon zählte. Er konnte sich einfach nur frei fühlen!

Vor ihm, etwa fünfzig Meter bergabwärts, tauchte eine Felsschanze auf. Man konnte sie umfahren, wenn man einen kleinen Umweg in Kauf nahm. Oder man nahm sie, sprang über sie hinweg.

Goratschin bremste seine Fahrt und hielt an. Die Felsschanze war tückisch. Der Auslauf war winzig. Man brauchte Mut und Geschick, um sie zu nehmen. Wenn man sein Rad nicht völlig unter Kontrolle hatte, riskierte man, sich bei dem Sprung alle Knochen zu brechen.

Bislang hatte Goratschin immer gekniffen. Er war in seiner Jugend ein begeisterter Mountainbiker gewesen. Kein Trail in den San Gabriel Mountains nördlich von Los Angeles war sicher vor ihm gewesen. Aber das lag Jahrzehnte zurück. Es fehlte ihm an Übung. Außerdem war er kein junger Mann mehr.

Scheiß drauf!, dachte er zornig.

Er wollte gerade in die Pedale treten, um seinen eigenen Unzulänglichkeiten mit purem Trotz zu begegnen, als plötzlich hinter ihm eine laute Stimme erscholl.

»Platz da!«

Keine Sekunde später raste ein Schemen an ihm vorbei. Ein blaugrauer Schemen mit einem fliegenden schwarzen Haarzopf. Es war die Asiatin vom Gipfel!

Ohne auch nur zu verlangsamen, schoss sie über die Felsschanze hinweg. In weitem Bogen flog sie durch die Luft, dann landete ihr Rad mit protestierend quietschenden Gabelfedern wieder auf dem Weg. Sie hatte die volle Kontrolle. Der Sprung wirkte beinahe spielerisch. Ohne anzuhalten oder sich auch nur umzusehen, raste sie weiter den Trail hinab.

Goratschin starrte ihr fassungslos nach.

Dann blinzelte er, und unwillkürlich breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Verrücktes Weibsstück, ging es ihm durch den Sinn. Aber irgendwie fing sie doch an, ihm zu gefallen.

Er erhob sich aus dem Sattel und trat kraftvoll in die Pedale, die Augen fest auf die Felsschanze gerichtet. Jetzt erst recht, dachte er. Wovor sie keine Angst hatte, würde auch er nicht zurückschrecken.

Entschlossen preschte er auf die Schanze zu. Seine Augen verengten sich, sein Mund wurde zu einem schmalen Strich.

Zehn Meter.

Fünf.

Zwei.

Einer.

Er riss das Rad in die Höhe, ließ sich vom Schwung über die Felsschanze hinaustragen. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, schwerelos zu sein. Er flog durch die Luft, und der Flug schien gar kein Ende zu nehmen. Ein verrückter Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Wenn er jetzt in die Pedale trat, würde er immer weiter fliegen. Er würde aufsteigen und an dem fahlen Mond vorbeifliegen, der am heller werdenden Himmel verblasste – genau wie in diesem alten Science-Fiction-Film, dessen Name ihm entfallen war.

Gleich darauf war der Moment vorüber.

Die Schwerkraft der Erde zog ihn ins Hier und Jetzt zurück. Knirschend landeten die Reifen auf dem Geröll unterhalb der Schanze. Die Federung des Rads sackte durch, und eine Schrecksekunde lang fürchtete Goratschin, dass er wegrutschen und einen kapitalen Sturz hinlegen würde.

Doch er schaffte es, sich abzufangen. Schlingernd kam er einige Meter talabwärts zum Halt. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.

Atemlos blickte er über die Schulter. Von unten sah die Felsschanze noch gefährlicher aus als von oben. Aber sie konnte ihn nicht mehr schrecken. Er hatte sie überwunden. Diesen Dämon hatte er bezwungen.

Mit einem triumphierenden Grinsen auf dem Gesicht setzte er seine Fahrt fort.

Unten auf dem Old Railroad Grade Trail, einer Tourenstrecke für Fahrradtouristen, die sich breit und in gemäßigter Steigung den Südosthang des Mount Tamalpais entlangschlängelte und die den Endpunkt dieses Trails markierte, sah er eine Gestalt ihn erwarten. Es war die Asiatin.

Irgendwie überraschte Goratschin das nicht.

Die junge Frau winkte ihm zu. »Das hat aber gedauert. Ich dachte schon, Sie wären umgekehrt.« Ein neckender Ausdruck lag auf ihren Zügen.