Mit schwarzen Schwingen kommt der Tod

 

 

 

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Band 44

 

Mit schwarzen Schwingen kommt der Tod

 

von Susanne Wilhelm und Rüdiger Silber

nach einem Exposé von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2015

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind …

Unterdessen wird Coco Zamis von Asmodi erpresst. Der Fürst der Finsternis entreißt ihr das noch ungeborene Kind und benutzt es als Pfand. Während die junge Hexe bisher sicher war, dass sie es von dem Verräter Dorian Hunter empfangen hat, behauptet Asmodi, dass er es ist, der sie geschwängert hat.

Um ihr ungeborenes Kind wiederzuerlangen, begibt sie sich in Asmodis Hände. Doch keine der Aufgaben, die er ihr stellt, erfüllt sie zu seiner Zufriedenheit. Behauptet zumindest er und erpresst sie weiterhin.

Schließlich gelingt es ihr mit der Hilfe ihrer Familie, Asmodi den Fötus zu entreißen.

Aber jetzt ist es ihr eigener Vater, Michael Zamis, der ihr den Fötus verweigert.

Auf der Suche nach ihrem gestohlenen Dämonen-Fötus reist Coco Zamis nach London. Zufällig trifft sie ihren tot geglaubten Liebhaber wieder: Dorian Hunter. Doch der erkennt sie nicht, lädt sie aber in seine Villa in der Baring Road ein. Dort stößt Coco auf ein entsetzliches Geheimnis: Hinter einer mit magischen Schutzzeichen versperrten Kellertür wird ihr ungeborenes Kind versteckt gehalten. Dorian Hunter entpuppt sich als Marionette ihrer Familie. Er lebt in einer magisch erzeugten Scheinwelt. Coco kämpft mit allen Mitteln um ihr Kind. Mithilfe des geheimnisvollen Damon Chacal gelingt es ihr schließlich, den Fötus an sich zu bringen. Um ihn fürs Erste allen Widersachern zu entziehen, beschwört sie den einstigen Hüter des Hauses Zamis aus dem Reich der Toten und gibt ihr Ungeborenes in dessen Obhut.

Coco Zamis hat vorerst genug von ihrer Familie. Um Abstand zu gewinnen, flüchtet sie aus Wien und Europa. Es trifft sich gut, dass ihre alte Freundin, die Vampirin Rebecca, gerade ein neues Domizil in New York bezogen hat und Coco einlädt, sie zu besuchen. Es handelt sich um das legendäre Dakota Building. Schnell stellt Coco fest, dass ihre Freundin in größter Gefahr schwebt.

Rebecca ist schwanger und steht unter dem Einfluss der Vanderbuilds, einer mächtigen Dämonenfamilie, die im legendären Dakota Building residiert.

Coco erhofft sich Hilfe von der Voodoopriesterin Mama Wedó, doch nach dem Ritual behauptet Rebecca, mit Mama Wedó den Körper getauscht zu haben.

Gleichzeitig zeigen die Bewohner im Dakota Building ihr wahres dämonisches Gesicht. Immer deutlicher wird, dass sie Rebeccas Baby für ihre teuflischen Machtspiele benötigen. Und auch Coco gerät in die Fänger der Vanderbuilds.

Schließlich gelingt Coco mit Rebecca, in deren Körper noch immer die Voodoopriesterin steckt, die Flucht aus dem Dakota ...

 

 

 

 

Erstes Buch: Mit schwarzen Schwingen ...

 

 

Mit schwarzen Schwingen ...

 

von Susanne Wilhelm

nach einem Exposé von Uwe Voehl

 

1.

 

»Ich dachte immer, man muss seine Seele verkaufen, um eine Wohnung im Dakota zu kriegen.« Mary Eastwater lachte über ihren eigenen Scherz, bevor sie die letzte Umzugskiste auf das Sofa fallen ließ, das teurer aussah als jedes Möbelstück, das sie zuvor je besessen hatte. Sie würde dringend einen Sofaschoner kaufen müssen, damit keine Flecken auf das gute Polster kamen.

Ihr Mann Mike zog einen großen Rollkoffer herein. »Oder man muss einfach den richtigen Job haben«, sagte er. Die Werbeagentur, bei der er arbeitete, hatte ihn für ein Jahr nach New York beordert. Ihr gehörte das noble Apartment. »Wohin muss der?« Mike zeigte auf den Koffer.

»Ins Schlafzimmer.« Mary winkte ihn in Richtung der entsprechenden Tür. Dahinter befand sich, wie sie wusste, ein riesiges Wasserbett gleich neben einer noblen Schrankwand mit verspiegelten Türen. Sie hatte immer ein Wasserbett haben wollen, und die Spiegeltüren waren ein willkommener Bonus.

»Hast du Stephen gesehen?«, rief sie ihrem Mann nach.

»Draußen im Flur, glaube ich. Er wollte nicht reinkommen. Er ist wahrscheinlich immer noch beleidigt wegen der Teddybären- und Entchentapete.«

Mary seufzte. »Hast du ihm gesagt, dass wir sein Zimmer so bald wie möglich neu streichen lassen?«

»Ja, aber er behauptet, ihre Blicke folgen ihm.«

Mary Eastwater seufzte noch einmal, dann machte sie sich auf den Weg durch den Wohnungsflur mit der Designergarderobe zu der noch offen stehenden Wohnungstür. »Stephen?«

Keine Antwort. Aber dann drang seine Stimme von draußen herein. Allerdings nicht als Antwort, sondern er sagte leise etwas, als würde er mit jemandem reden. Mary lauschte auf eine Antwort von seinem Gesprächspartner, hörte aber keine.

»Stephen?« Sie lehnte sich durch die Tür nach draußen. Ihr Sohn stand mit dem Rücken zu ihr und starrte den Gang hinab. Mary runzelte die Stirn, sah sich nach rechts und links um. Niemand, und alle Türen waren geschlossen. »Stephen?«

Endlich drehte er sich zu ihr um. »Was ist denn?« Wegen der Zahnspange lispelte er ein wenig.

»Was machst du hier draußen?«

»Ich rede mit den Zwillingen.«

»Was für Zwillinge?«

Als würde das die Frage beantworten, wandte Stephen sich wieder dem leeren Gang zu. Dann hielt er einen Moment inne. »Oh. Du hast sie vertrieben.«

»Hier war niemand, Stephen.« Mary wusste, dass es ihrem Sohn schwerfiel, Freunde zu finden. Er wurde wegen der Brille, der Zahnspange und seiner Statur gehänselt. Aber war es nun so schlimm, dass er sich bereits imaginäre Freunde ausdachte?

Stephan wandte sich wieder seiner Mutter zu, öffnete den Mund, als wollte er protestieren, schloss ihn dann aber.

Mit mürrischem Gesichtsausdruck stiefelte Stephen an ihr vorbei.

Mary angelte nach der Tür und zog sie zu. Das Echo von Fußgetrappel, das draußen vorbeihuschte, bildete sie sich bestimmt nur ein. Genauso wie den Schatten, nein, die zwei Schatten, die sich kurz vor das Licht im Gang legten.

 

Coco Zamis

Ich spürte die verdorbene Aura das Dakota Buildings im Nacken, während ich mit der ohnmächtigen Rebecca auf der Schulter über die Straße vor dem Gebäude rannte. Autos hupten und bremsten mit quietschenden Reifen. Mit jedem Schritt schlugen Rebeccas Beine schmerzhaft gegen meine Hüfte. Ich hetzte den Bürgersteig entlang und kümmerte mich nicht um die Blicke, die die anderen Passanten mir zuwarfen. Das hier war New York. Niemand schaute mir allzu lange nach, die Leute wechselten einfach die Straßenseite, senkten den Kopf und eilten weiter.

Ich winkte das erste Taxi heran, das ich entdeckte. Der Fahrer beobachtete besorgt, wie ich Rebeccas schlaffen Körper auf den Rücksitz bugsierte. »Geht's ihr nicht gut?«, fragte er und gewann damit den Preis für die dämlichste Frage, die ich seit Langem gehört hatte.

»Hat zu viel getrunken«, sagte ich knapp, und sofort wurde sein Blick weniger misstrauisch. Ich würde seine Erinnerungen sowieso später löschen, aber im Moment war ich froh, dass ich ihn nicht auch noch zusätzlich hypnotisieren musste. Jedes bisschen Kraft, das ich sparen konnte, zählte.

Bevor ich einstieg, warf ich einen letzten Blick zum Dakota zurück. Bisher keine Spur von Verfolgern. Offensichtlich gelang es Robin und den anderen Fledermauswesen, sie aufzuhalten. Die Frage war nur, wie lange.

»Auf die andere Seite vom Central Park«, sagte ich zu dem Taxifahrer. »Schnell.« Wir hätten auch laufen können. Das Dakota lag direkt am Central Park. Aber zuerst mussten wir unsere Verfolger in die Irre führen und abschütteln. Deshalb das Taxi.

Nun runzelte der Fahrer doch wieder die Stirn, aber er fuhr los.

Die ganze Fahrt über behielt ich die Straße und den Himmel im Auge. Irgendwann tauchte hinter uns ein Schwarm schwarzer Punkte auf. Es hätten Möwen sein können, aber genauso gut irgendwelche abscheulichen Kreaturen, die Amelia uns hinterher schickte. Oder aber Rebeccas Fledermauswesen. Ich hoffte auf Letzteres.

Ich lotste den Taxifahrer zu dem Parkplatz, in dessen Nähe sich das Versteck der Fledermäuse befand. Dann hypnotisierte ich ihn und gab ihm ein, er solle zum anderen Ende der Stadt fahren, bevor er aufwachen und sich an nichts mehr erinnern würde.

Mit Rebecca auf den Schultern brauchte ich eine Weile, um den Rhododendronbusch wiederzufinden, hinter dem der Eingang versteckt war. Ich legte Rebeccas Körper ab, um nach der Luke im Boden zu tasten. Gerade als ich die Kanten unter den Fingerspitzen spürte, raschelte es hinter mir. Ich fuhr herum, einen Zauberspruch bereits auf den Lippen.

»Ich bin's!« Ein blutiger Riss zog sich über Robins rechten Flügel, ansonsten war er unversehrt. Ringsum landeten nun auch die anderen Fledermauswesen, und fast alle von ihnen hatten Verletzungen davongetragen. Es waren nur noch erschreckend wenige. Ursprünglich hatte Rebeccas Schar fünfzig Riesenfledermäuse umfasst. Nun zählte ich nur noch eine Handvoll.

»Wir sollten hier nicht herumstehen.« Ich zog die Luke auf und war froh, als Robin Rebeccas Körper packte und hinuntertrug. So musste ich mich nicht mit dem zusätzlichen Gewicht durch die schmale Öffnung quetschen.

Absolute Schwärze legte sich um uns wie eine Decke, als die letzte Riesenfledermaus die Luke zuzog. Ich beschwor ein paar Irrlichter, deren schwaches Licht uns voraustanzte, während wir den behelfsmäßig abgestützten Gang hinuntergingen.

Schließlich legte Robin Rebecca auf einer vor Dreck starrenden Matratze ab. Sie stöhnte. Mama Wedó, die den Körper derzeit bewohnte, kam offensichtlich wieder zu sich. Ich kniete mich neben sie.

»Das Kind?«, war das Erste, was sie fragte.

Ich schüttelte mit düsterer Miene den Kopf. »Lebt.« Vielleicht hätte ich versuchen sollen, die Scheußlichkeit zu vernichten, als ich vor der Wiege gestanden war. Doch kaum hatte ich das gedacht, schauderte ich bei der Erinnerung daran, wie es meine Magie in sich aufgesaugt hätte. Ein Feuerball, den ich ihm entgegengeschleudert hätte, wäre womöglich nur ein willkommener Nachtisch gewesen. Das Kind war eine Mischung aus Vampir und Ghoul, mit Rebecca als Mutter und Ernest Vanderbuild als Vater, dessen Familie inzwischen zwar auch magische Fähigkeiten entwickelt hatte, aber ghoulische Wurzeln besaß. Aber es war deutlich mächtiger als die meisten Dämonenkinder, die ich bisher gesehen hatte.

Mama Wedó packte meinen Arm. »Wir müssen es vernichten!«

»Ich weiß«, gab ich gereizt zurück. »Aber du warst vorhin keine große Hilfe, und wir können froh sein, dass wir mit dem Leben davongekommen sind.«

»Wir müssen unsere Kräfte sammeln und dann sofort ...«, begann Mama Wedó, aber ich unterbrach sie.

»Zuerst musst du Rebecca ihren Körper zurückgeben. Dann schmieden wir weitere Pläne.«

Mama Wedó schüttelte Rebeccas Kopf. »Wir haben keine Zeit für solchen Unfug. Wir ...«

»Ich habe dir gerade das Leben gerettet! Du stehst in meiner Schuld, und du wirst den Körpertausch rückgängig machen!«

Als würden sie auf meinen Tonfall reagieren, plusterten sich die Fledermäuse ringsum auf. Sie schlugen mit den Flügeln und rückten bedrohlich näher.

Mama Wedó schnaubte. »Schulden sind etwas für Leute, die Zeit für solche Dinge wie Ehrgefühl haben.«

Ledrige Flughäute raschelten, als die Fledermäuse die Flügel ganz ausbreiteten. »Gib Rebecca ihren Körper zurück«, verlangte nun auch Robin. Die Fledermäuse ringsum bleckten drohend die Zähne.

Für einen Moment sah es so aus, als würde Mama Wedó sich ängstlich umsehen. Aber sie wusste genauso gut wie ich, dass Robin nur leere Drohungen ausstoßen konnte. Sie lachte. »Was wollt ihr tun, wenn ich mich weiter weigere? Mich in Stücke reißen?«

Bedrohliches Zischen wurde laut. »Wenn es sein muss«, verkündete Robin.

Dumme Fledermäuse. Ich stand auf und hob die Hände. »Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Ihr vergesst da etwas Wichtiges.«

Tatsächlich wichen die Fledermäuse ein wenig zurück. Aber ich konnte die Anspannung in der Luft immer noch fühlen. Robins Blick huschte zwischen mir und Mama Wedó hin und her.

»Mama Wedó steckt in Rebeccas Körper«, fuhr ich fort. »Wenn ihr den in Stücke reist, wohin soll Rebecca dann zurückkehren?«

Das versetzte der gesammelten Aggression im Raum einen gewaltigen Dämpfer. Robin schlug unsicher mit den Flügeln. »Aber sie kann nicht für immer in Rebeccas Körper bleiben.«

»Wer sagt denn, dass es für ewig ist?«, stieß Mama Wedó hervor. »Aber Amelia Vanderbuild ist jetzt auf freiem Fuß, in ihrer Obhut reift eine Abscheulichkeit heran, und alles, was sie mir angetan hat, ist schon viel zu lange ungerächt geblieben!« Bei den letzten Worten verzerrte sich Rebeccas Gesicht zu einer Maske des Hasses. Mama Wedó wurde immer lauter. »Sie muss sterben! Sie muss endlich büßen! Wir haben bisher versagt!«

Nun wichen die Fledermäuse sogar vor ihr zurück. Mama Wedó tobte. »Aber das wird nicht noch einmal passieren! Ich werde sie niederstrecken, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«

Als Voodoo-Priesterin hätte Mama Wedó eigentlich wissen müssen, dass man mit solchen Äußerungen vorsichtig sein sollte. Aber offensichtlich ließ die Wut auf Amelia Vanderbuild sie alle Vorsicht vergessen. Sie hatte lange unter der Familie gelitten, schon vor Jahrzehnten, als sie deren Sklavin gewesen war.

Mit so viel Wut konnte man nicht diskutieren. Ich wartete, bis Mama Wedó schwer atmend zur Ruhe kam. Es gefiel mir nicht, aber im Moment konnte ich wohl nicht mehr für Rebecca tun, als ihren Körper zu beschützen. »Sobald also deine Rache vollbracht ist, machst du den Körpertausch rückgängig?«

Meme Wedó hob die Schultern. Mehr bekam ich aus ihr nicht heraus.

 

Amelia Vanderbuild

Amelia Vanderbuild stellte das Telefon zurück in die Empfangsstation. Sie hatte etwas getan, das sie noch nie getan hatte. Sie hatte Pizza bestellt. Der Überraschung im Tonfall der Frau auf der anderen Seite der Leitung nach zu schließen, kam es generell nicht oft vor, dass Pizza ins Dakota geliefert wurde. Nun, einmal war immer das erste Mal.

Amelia ließ ihren Rollstuhl zu der Krippe am anderen Ende des Raums hinüberrollen. Die Kreatur darin streckte grapschende Babyhände nach ihr aus. Sie fühlte den Hunger, der ihr entgegen schlug, und hob mahnend einen Zeigefinger. »Was habe ich dir gesagt? Die Omi ist nicht zum Essen da.«

Das Dämonenbaby gab einige unzufriedene Laute von sich, aber die Hände sanken herab. Sie hatte es unter Kontrolle.

Amelia Vanderbuild beherrschte dieses kleine, nimmersatte Wesen. Es gab ihr Macht. Sie hatte lange keinen solchen Triumph mehr gefühlt. Seit sie im Dakota festsaß, hatte sie vor allem Frust und Langeweile gekannt. Aber das war nun vorbei. Sie war wieder frei. Die Bedingungen, die der Dämon damals für ihre Freilassung festgelegt hatte, waren erfüllt. Es war ein Kind in diesem Gebäude geboren worden, dessen Seele schwärzer war als ihre eigene. Amelia freute sich schon darauf, bald wieder einen Fuß aus dem verfluchten Haus zu setzen. Aber zuerst musste der Sprössling gefüttert werden. Und dann galt es noch einige Maßnahmen zu seinem Schutz zu ergreifen.

»Noch ein bisschen Geduld«, säuselte sie weiter. »Das Essen kommt gleich, mein Kleines.«

Es klingelte.

»Siehst du, da ist es auch schon.« Amelia rollte eilig zur Tür. Sie setzte ein breites Lächeln auf, als sie öffnete.

Ein schlaksiger junger Mann in der Uniform eines Lieferdienstes stand vor der Tür und starrte eingeschüchtert vor sich hin. Er hielt eine Pizzaschachtel in der Hand, aus der es sogar noch ein wenig dampfte. »Pizza Diavolo mit extra Pepperoni?«

»Ja, ja«, sagte Amelia ungeduldig. »Kommen Sie kurz rein, ich muss meine Geldbörse noch finden.«

Der Pizzabote sah sich mit großen Augen um, während er eintrat. Wahrscheinlich verdiente er im Monat weniger, als die Pelzmäntel an der Garderobe wert waren. Ganz zu schweigen von dem Gemälde im Flur.

Amelia rollte tiefer in die Wohnung hinein und tat so, als würde sie nach ihrem Geldbeutel suchen. »Stellen Sie sie schon mal auf den Couchtisch!«, rief sie über die Schulter und verschwand im Schlafzimmer.

Sie hielt den Rollstuhl an, genauso wie ihren Atem. Da waren die zögerlichen Schritte des Pizzaboten, dann leise, schmatzende Geräusche aus der Krippe. Etwas raschelte, der Pizzakarton kratzte über das Glas des Couchtisches.

Für einen Moment Stille.

Ein erschrockenes Einatmen.

Dann ein Schrei.

Als Amelia ins Wohnzimmer zurückkehrte, schrie der Pizzabote immer noch. Er versuchte einen Tentakel zu erreichen, der sich zwischen seine Schulterblätter gebohrt hatte, aber seine Finger streiften nur immer wieder über die glitschige Oberfläche. In der Krippe gluckste das Dämonenbaby glücklich.

Flüssigkeit pulsierte durch den Tentakel, wurde aus dem Boten herausgesaugt und in die Krippe geleitet. Die schmatzenden Geräusche wurden lauter. Die Bewegungen des Pizzaboten wurden schnell schwächer. Er verlor an Farbe, fiel dann in die Knie. Entsetzen zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Flehend streckte er eine Hand nach Amelia aus. »Hilfe!«

Er versuchte fortzukriechen, aber der Tentakel, der in seinem Rücken steckte, zog ihn zurück. Er wimmerte leise.

Schließlich hörte das Schmatzen auf. Amelia rollte zur Krippe hinüber. Ihr Enkelkind hatte die Augen geschlossen und nuckelte zufrieden am Daumen. Der Tentakel endete dort, wo bei einem Menschen der Bauchnabel gewesen wäre. Wie eine groteske Nabelschnur.

Der Pizzabote lebte noch, aber er war zu schwach, um sich aufzurichten. Wimmernd lag er auf dem Boden. Amelia nahm den Pizzakarton vom Couchtisch und warf ihn dem Boten hin. »Hier. Du musst bei Kräften bleiben. Du sollst immerhin noch eine Weile herhalten.«

 

Etwas früher, Eastwaters

»Stephen ... Stephen!« Die Teddybären riefen nach ihm, nach einem Moment stimmten auch die Entchen mit ein. Die verfluchten Zwillingsteddybären und -entchen, die Pärchen für Pärchen auf seiner Tapete saßen und ihn von überall im Raum anstarrten. Sie krochen von der Wand wie große, plüschige Spinnen, wuselten übereinander, schnappten nacheinander, weil jeder schneller sein wollte als der andere. Wie eine Woge kamen sie herab, spülten über die Bettpfosten, über die Bettdecke. Er zog sich die Decke über den Kopf, aber er spürte das Gewicht darauf, spürte, wie schmale Plüschpfoten und kleine Schnäbel an den Rändern zupften.

Erst legten sie sich wie eine zweite Decke über seine erste, dann wie eine Lawine. Immer schwerer drückten sie auf ihn. Wie die Steine, die man über einem Felsengrab aufschichtete. Ein Teddybären- und Entchengrab.

Dann fanden sie eine Öffnung bei seinen Füßen. Dort, wo er die Ränder der Decke am schlechtesten unten halten konnte. Er spürte ihre Pfoten und Füße an seinen Beinen. Er trat nach ihnen, aber je mehr er zappelte, desto größer wurden die Öffnungen, durch die sie hineinkriechen konnten. Sie krochen zu ihm herein und an ihm hoch. Sie krochen über seine Brust. Er schlug wild um sich, öffnete ihnen damit aber endgültig Tür und Tor. Sie schwärmten über ihn, klammerten sich an sein Gesicht, bedeckten Mund und Nase.

Stephen schrie.

 

Schlaftrunken kämpfte sich Mary Eastwater aus dem Wasserbett, taumelte durch den Flur mit der Designergarderobe. Die Tür zu Stephens Zimmer stand einen Spaltbreit offen, ein Nachtlicht brannte. Er hatte schon immer nicht gut im Dunkeln schlafen können. Sein Schrei gellte Mary immer noch in den Ohren.

Sie schaltete das Licht ein. Mehr als einen unförmigen Hubbel unter der Decke sah sie nicht.

»Stephen«, murmelte sie.

Er regte sich nicht. Sie ging zu ihm hinüber, setzte sich auf die Bettkante. Er hatte mal wieder die Bettdecke ganz über den Kopf gezogen. Dieser Junge. So bekam er doch kaum Luft. Vorsichtig zog sie die Decke herunter. Er schrie noch einmal, klammerte sich daran fest. Dann blinzelte er. Erkennen blitzte in seinem Blick auf. Mary nahm ihren Sohn in die Arme. »Es ist alles gut. Es war nur ein Traum.«

»Mhm«, murmelte er an ihre Schulter. »Vielleicht.«

 

 

2.

 

Coco Zamis

Ich baumelte in Robins Klauen. Über mir peitschten ledrige Flügel die Luft, tief unter mir zogen Häuser und Straßen dahin, die in der Dunkelheit kaum mehr als Flecken aus Licht waren. Ich versuchte nicht nach unten zu schauen. Ich war schwindelfrei, aber es gab Schöneres, als an den tiefen Fall erinnert zu werden, der einem bevorstand, sollte die Riesenfledermaus, die einen trug, aus irgendeinem Grund loslassen.

»Es gibt elegantere Arten zu reisen«, motzte Mama Wedó neben mir. Auch sie wurde von einer Riesenfledermaus getragen.

»Aber keine, die uns so sicher auf das Dach des Dakota bringt, ohne dass wir uns selbst verausgaben müssen«, hielt ich dagegen. »Wir werden unsere Kräfte später brauchen.«

Das Dach war die schwächste Stelle. Das hatten wir bei unserem Ausbruch schon erkannt. Es lag also nahe, dort auch wieder zu versuchen, hineinzukommen.

Die Spitze eines Erkers mit Runddach zog dicht unter meinen Füßen hinweg. Dann ein Schornstein, und schon hatten wir den flachen Teil des Dachs erreicht. Robin schlug heftig mit den Flügeln, um zu bremsen. Ich wurde durchgeschüttelt , und der Wind wehte mir das Haar ins Gesicht. Schließlich öffnete er die Klauen, und ich fiel.

Ich landete hart und ging in die Knie, um den Schwung abzufedern. Neben mir kam Mama Wedó etwas weniger elegant auf. Sie stolperte ein paar Schritte, bevor sie sich wieder fing. Die Geburt und Amelias Magie hatten sie geschwächt, daran änderten auch die zwei Tage nichts, die sie sich im Versteck der Fledermäuse ausgeruht hatte, während ich damit beschäftigt gewesen war, Vorbereitungen für diese Nacht zu treffen. Ich fühlte mich nicht wohl dabei, mit ihr in das Dakota einzubrechen, während sie noch nicht wieder ganz auf der Höhe ihrer Kräfte war, aber wir hatten keine Zeit zu verlieren. Der Dämonensprössling würde nur mächtiger werden, je länger wir warteten. Ich schauderte, als ich wieder daran dachte, mit welchem Hunger er mir meine magischen Kräfte ausgesaugt hatte.

Mama Wedó marschierte auf die Tür zu, die ins Treppenhaus des Hauses führte. Sie zog ein Messer hinter ihrem Gürtel hervor, das über und über mit magischen Zeichen bedeckt war. Das war unser Plan. Den Dämonensprössling finden und ihm das Messer ins Herz rammen. Wir würden dabei so wenig Magie wie möglich einsetzen, da ich ja wusste, dass sich die Abscheulichkeit davon ernährte.

Als Mama Wedó die Hand nach der Tür ausstreckte, erhaschte ich etwas aus dem Augenwinkel. Etwas, das nur da war, wenn man es nicht direkt anschaute.

»Warte!«

Mama Wedó hielt mitten in der Bewegung inne.

Ich konzentrierte mich. Da war ein schwacher Hauch von Magie, aber gut versteckt. Fast hätte ich geglaubt, die Tür sei ohne magischen Schutz. Mama Wedó war es offensichtlich genauso ergangen. Noch immer konnte ich keine magischen Zeichen an der Tür oder ringsum erkennen.

Aber da war es wieder! Eine Bewegung am Rand meines Sichtfelds. Als ich mich auf die Stelle konzentrierte, an der sich sie gesehen hatte, war dort nichts. Oder?

Das Kribbeln von Magie in der Luft wurde stärker.

Plötzlich schrie Mama Wedó auf. Wie von einer unsichtbaren Hand gepackt, hing sie in der Luft. Dann wurde sie davongeschleudert und segelte über die Brüstung.

Die Fledermäuse schrien erschrocken auf. Ich zwang mich, dem fallenden Körper nicht nachzusehen. Die Fledermäuse würden sich darum kümmern. Ich musste mich auf unseren unsichtbaren Gegner konzentrieren.

Wieder aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Ich sprang zur Seite. Irgendetwas zischte dicht an mir vorbei.

Sofort rannte ich los. Ich hielt auf die Tür zu. Hinter mir schrie Robin triumphierend. Sie hatten Mama Wedó also aufgefangen.

»Bringt sie her!«, rief ich. Ich wollte nicht gegen den unsichtbaren Wächter kämpfen müssen. Vielleicht gelang es uns, einfach an ihm vorbeizuschlüpfen.

Erst als meine Finger schon dicht über der Klinke schwebten, sah ich es. Eilig zog ich die Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt. Ganz klein waren an der Innenseite der Klinke magische Zeichen angebracht. Es war nicht nur ein Alarmzauberspruch, sondern auch dazu gedacht, das Herz eines jeden anzuhalten, der die Klinke berührte.

Nicht schwer außer Kraft zu setzen, wenn man die Zeit hatte. Aber dafür hatte Amelia wahrscheinlich das fast unsichtbare Monster hier platziert. Es ließ nicht zu, dass einem viel Zeit blieb.

Wieder sah ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Eilig warf ich mich zur Seite. Im nächsten Moment erschien eine Delle in der metallenen Tür, genau dort, wo sich eben noch mein Kopf befunden hatte. Der Schlag hallte über das Dach und wahrscheinlich auch durch das Treppenhaus des Dakota. Wenn Amelia uns bisher nicht bemerkt hatte, dann wahrscheinlich jetzt. Unbemerkt würden wir nicht mehr in das Gebäude kommen. So hatte das keinen Zweck.

»Rückzug!«, rief ich den Fledermäusen zu. Mama Wedó protestierte, aber sie hing hilflos in Robins Klauen. Ich sprintete von der Tür weg, hatte dabei das Gefühl, dass mir etwas Großes in den Nacken atmete. Schließlich erreichte ich die Kante des Dachs, sprang auf die Brüstung und dann noch einen Schritt weiter.

Eine Riesenfledermaus fing mich auf, bevor ich auf dem Boden aufschlug. Geschlagen kehrten wir in den Central Park zurück.

 

»Warum hast du den Rückzug befohlen?«, giftete Mama Wedó mich an, kaum dass wir wieder in unserem Versteck waren. »Wir hätten den Wächter besiegen können!«

»Aber wir wären nicht mehr unbemerkt hineingekommen«, gab ich zurück. »Und wir haben keine Chance gegen Amelia, den Sprössling und ihren Verbündeten. Falls du dich erinnerst, wir sind ihnen vor ein paar Tagen gerade so entkommen.«

»Da war ich geschwächt.« Mama Wedó verschränkte Rebeccas Arme vor der Brust.

»Mir wäre nicht aufgefallen, dass du in weniger geschwächtem Zustand wahre Wunder vollbringen kannst«, gab ich spitz zurück. »Wir brauchen einen besseren Plan, als uns den Weg hinein einfach freizukämpfen.«

»Und die große Coco Zamis hat sich natürlich schon einen zurechtgelegt?«

»Wenn du weniger mit dem Kopf durch die Wand wolltest vor lauter Rachedurst, wärst du inzwischen sicher auch schon auf die Idee gekommen, dass es klug wäre, zu warten, bis die Vanderbuilds das Gebäude verlassen haben. Wir können den Wächter nicht leise außer Gefecht setzen. Aber wenn niemand da ist ...«

Mama Wedó runzelte die Stirn. »Warum sollten sie das in so einem Moment tun? Sie wissen jetzt, dass wir ihr Balg töten wollen.«

»Aber Amelia Vanderbuild hat das Dakota seit Jahrzehnten nicht mehr verlassen. Sie wird sich regelrecht nach frischer Luft sehnen.«

»Warum ist sie dann nicht längst schon draußen unterwegs?«

»Weil sie besser langfristig planen kann als du«, giftete ich ungeduldig. Der Rachedurst hatte der Voodoo-Priesterin eindeutig den Geist vernebelt. »Was denkst du, wer den Wächter auf dem Dach stationiert hat? Ich wette, sie hat auch den Rest des Dakota ganz neu gesichert. Sie hat viel Mühe und Zeit in den Dämonensprössling gesteckt. Natürlich will sie ihn jetzt so gut es geht sichern. Danach wird sie aber bestimmt ihre neue Freiheit genießen. Sie weiß allerdings, dass sie nicht einfach kopflos nach draußen rennen darf, wenn sie nicht all ihre Pläne in Gefahr bringen will.«

Endlich wirkte Mama Wedó nachdenklich. »Also legen wir uns auf die Lauer, warten, bis sie und ihr missratener Sohn das Gebäude verlassen, dann schalten wir den Wächter aus und steigen durch das Dach ein.«

Ich nickte. »Mit der Ausnahme, dass ich den Wächter ausschalten und durch das Dach einsteigen werde. Du wirst sie im Auge behalten und im Zweifelsfall dafür sorgen, dass sie nicht zu früh zurückkommen.«

Nach einem Moment neigte Mama Wedó langsam den Kopf. »Gut. Machen wir es so.«

 

Etwas früher, Eastwaters

Stephen Eastwater folgte seinem Jo-Jo, das über den Boden des Ganges rollte. Er hatte den Gassi-Trick jetzt ziemlich gut drauf. Der bestand darin, dass man das Jo-Jo dazu brachte, sich am Ende der Schnur zu drehen, und es dann über den Boden rollen ließ, sodass es aussah, als würde man es an einer Leine Gassi führen.

Die Kinder in der Schule machten sich darüber lustig, dass er mit Jo-Jos spielte. In London, wo er vorher zur Schule gegangen war, waren Jo-Jos gerade so richtig in gewesen, aber in New York kannte man den Trend noch nicht. Sie würden sich noch umgucken, sobald der rüberschwappte. Falls er das je tat. Bis dahin war das Jo-Jo nur eines von vielen Dingen, deretwegen sie ihn hänselten. Da war auch noch sein britischer Akzent, den sie alle komisch fanden, außerdem natürlich seine Statur, seine Brille und die Zahnspange. Er hatte einfach keine Chance, also versuchte er erst gar nicht, in der Schule Freunde zu finden.

Stephen bog um eine Ecke und ließ das Jo-Jo noch einmal über den Boden rollen. Es stieß gegen einen Fuß. Er steckte in einer Sandale und in einem weißen Strumpf. Langsam hob Stephen den Blick, sah ein knielanges Kleid mit Blümchenmuster, ein blasses, sommersprossiges Gesicht und rotblondes Haar. Direkt daneben bot sich dasselbe Bild noch mal in Blond. Die Zwillinge hielten einander an den Händen und lächelten ihn beinahe synchron an. »Hallo Stephen.«

»Hallo«, sagte Stephen vorsichtig. Er war ihnen am Tag zuvor schon kurz auf dem Gang begegnet. Da hatten sie sich als Maya und Myra vorgestellt, aber er hatte schon wieder vergessen welche welche war. Sie hatten ihn zum Spielen eingeladen, doch da war seine Mutter gekommen und hatte sie vertrieben. Stephen war sich ohnehin nicht sicher, was er von der Einladung halten sollte. Seiner Erfahrung nach machten sich Mädchen vor allem über einen lustig. Oder sie tuschelten hinter dem Rücken über einen und kicherten dabei. Was im Prinzip auf dasselbe herauslief.

Diese beiden Mädchen machten keine Anstalten, zu tuscheln oder zu kichern. Sie machten sich auch nicht über ihn lustig. Sie lächelten einfach weiter. »Willst du mit uns spielen?«, fragte die Rothaarige. Das war Maya, oder?

Er konnte schlecht einfach Nein sagen, oder? Das wäre sehr unhöflich gewesen. »Was wollt ihr denn spielen?«, fragte Stephen.

Jetzt kicherten sie. »Komm mit«, sagte Myra. »Wir zeigen es dir.«

Irgendwie schafften sie es, sich auf dem Absatz umzudrehen, ohne die Hand der jeweils anderen loszulassen. Stephen bekam Kopfweh davon, ihnen dabei auch nur zuzusehen. Dann rannten sie voraus.

Stephen sammelte sein Jo-Jo vom Boden auf, das längst aufgehört hatte, sich zu drehen, und folgte ihnen langsamer. Wenn er außer Atem nach ihnen ankam, würden sie ihn bloß auslachen.

Die Zwillinge verschwanden um eine Ecke. Nun rannte er doch. Sie zu verlieren, wäre auch ziemlich peinlich. Als er nach ihnen um die Ecke schlitterte, packte ihn plötzlich eine schmale Hand und zog ihn in den Eingang einer Wohnung. Es war Myra. Maya machte sich gerade am Schloss zu schaffen. Im nächsten Moment sprang die Wohnungstür auf.

Dahinter war alles leer. Irgendjemand hatte den Boden herausgerissen. Die Tapete hing in Fetzen, teilweise hatte sie jemand schon ganz von der Wand geschabt. Es sollte offensichtlich renoviert werden.

Sie drückten sich gemeinsam an die Wand dicht bei der Tür, sodass sie noch in den Gang hinausspähen konnten. Stephen wusste zwar nicht, warum, denn es war niemand zu sehen, doch er folgte einfach dem Beispiel der Mädchen.

Myra legte den Finger auf die Lippen. Maya deutete auf eine Wohnung zwei Türen weiter. Im selben Moment öffnete sich deren Tür. Ein alter Mann trat heraus. Sein Gesicht war voller Falten, die ihm einen Ausdruck dauerhafter Missbilligung verliehen.

Stephen beobachtete den Mann mit angehaltenem Atem, während er sorgfältig die Tür abschloss und mehrmals überprüfte, ob sie tatsächlich zu war.

Was wollten die Zwillinge ihm zeigen? Sonderlich spannend sah der alte Mann nicht aus.

Plötzlich spürte Stephen eine kühle Berührung an den Fingern. Er drehte den Kopf und blickte direkt in Mayas Augen. Sie hielt seine Hand! Seine Finger schienen plötzlich zu kribbeln, dann der Arm, dann wanderte das Kribbeln in sein Herz und machte es seltsam leicht.

Myra drückte ihm etwas Weiches, Rundes in die freie Hand. Ein mit Wasser gefüllter Luftballon, eine Wasserbombe.

»Wirf«, flüsterte Maya ihm ins Ohr. »Das wird lustig.«

Stephens Herz klopfte schneller. Der alte Mann würde wütend werden, und er würde herumschreien und ...

Nein, es würde wirklich lustig werden. Er war sich plötzlich sicher. Sein Herz war so leicht und kribbelig. Was konnte schon schief gehen? Fast von selbst holte er aus. Der Ballon flog durch die Luft und klatschte direkt über dem Mann gegen den Türrahmen.