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Bodo Kirchhoff hat – zu unserer und seiner eigenen Überraschung – einen Gangster- und Liebesroman geschrieben, der seinesgleichen sucht.

»Warum tut lieben mehr weh als töten?« (Willem Hold)

PRESSESTIMMEN

dpa-Meldung zum Schundroman:

»Auch Bodo Kirchhoff lässt Großkritiker ermorden – In der Frankfurter Verlagsanstalt wird in Kürze Bodo Kirchhoffs Schundroman erscheinen, in dem ein ›Großkritiker‹ ums Leben kommt. Nach Angaben des Verlags ist mit der Nebenfigur ›Louis Freytag‹ wie in Walsers Buch Tod eines Kritikers Marcel Reich-Ranicki gemeint. Allerdings falle Freytag im Trubel der Frankfurter Buchmesse nur aus Versehen einem Killer zum Opfer.«

Bodo Kirchhoff im FOCUS (17. Juni 2002) auf die Frage, ob der Schundroman ein Schlüsselroman über den deutschen Literaturbetrieb sei:

»Eher entwickelt sich eine Liebesgeschichte. Mich hat es gereizt, jemanden in den Mittelpunkt zu stellen, der diesen ganzen Betrieb wie von einem andern Stern kommend beobachtet. Mit einem naiven und gescheiten Blick. Ein Amateurgangster, der sofort erkennt, was abgeht, weil er die sizilianischen Verhältnisse unseres Literaturbetrieb erkennt, die den Stoff für diesen Roman aus der Hüfte liefern, wobei am Anfang nur der Zufallstod des Paten selbst stehen konnte.«

»Zum Niederknien: Komisch und sentimental zugleich! Der Plot ist absolut konstruiert, von atemberaubendem Tempo, mit den grellsten Effekten und den schrillsten Gags, hängt an keiner Stelle durch und löst sich am Ende perfekt auf in einem schwelgerischen Showdown auf dem Gardasee – ganz wie es sich geziemt. Aber seine berückendsten und pathetischsten Momente hat er doch, wo er von der Liebe spricht. Und das tut er oft…ein hervorragendes Buch, das wir zu den erfreulichsten Neuerscheinungen des Herbstprogramms zählen wollen.«

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

»Denn das ist Kirchhoffs neues Schelmenstück zuallererst: eine Eins-a-prall-hoch-drei Geschichte. Von der man eigentlich kaum etwas verraten mag, weil jedes verratene Detail den zukünftigen Leser um eine kleinere oder größere Entdeckerfreude bringt. Es ist eine Geschichte, die sich vor ihm entfaltet wie in einem Film, mit Worten voller Witz, mit Sätzen voller Tempo und Ironie, mit Episoden, die exakt zugeschnitten und getimt sind…So platt sich seine Figuren präsentieren, so viel Tiefe und Abgrund verleiht ihr Schöpfer ihnen im Verlauf des Erzählens, ganz unprätentiös, mit lauter schönen stimmigen Details, wie beiläufig dahingetupft. So drastisch und boulvardesk die Handlung auch daherpoltert, so fein und zart entpuppt sich letztlich das Thema, um das es dem Erzähler geht, ob nämlich die Liebe wirklich jeden Schmerz überwinden kann.«

STUTTGARTER ZEITUNG

»Das Buch, das merkt man jeder Zeile an, hat Kirchhoff wenig Mühe gekostet, aber viel Spaß gemacht. Es ist eine Hommage an die Pulp-Literatur der dreißiger und vierziger Jahre, und einem ihrer größten, dem Amerikaner Charles Willeford … Das Spiel mit den Klischees der Pulp-Literatur gelingt. Da sind der abgehalfterte Detektiv und die Femme fatale, die tausend Unwahrscheinlichkeiten eines Geschehens, das immer wieder die sechs Hauptfiguren aufeinandertreffen lässt, da gibt es Sex und Crime, bisweilen sogar große Gefühle und von Kapitel zu Kapitel atemlos wechselnde Erzählstränge: Sogar das Titelbild ist nach einer Vorlage des amerikanischen True Crime Magazine von 1949 gestaltet worden. Nicht allein der Autor, auch die Buchgestalter haben Spaß mit dem Titel gehabt. Ihr Signal ist eindeutig: nur nicht ernst nehmen. Aber wie es sich für einen versierten Autor wie Kirchhoff gehört, steckt dann doch viel mehr im Schundroman als unsere Pulp-Weisheit sich träumen lässt. Gut somit, dass das Buch ins Gerede gekommen ist, dass es nun genauer gelesen wird.«

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

HAUPTPERSONEN

Willem Hold, seinem Gefühl nach Anfang Zwanzig, in Wahrheit leider älter; war seit zehn Jahren nicht mehr in Deutschland, aus gutem Grund, reist jetzt an, um einen Mann zu töten.

Lou Schultz, Ende Zwanzig, verdammt schön; tut es für Geld und hat bei der Gelegenheit einen Picasso abgestaubt; sitzt neben Hold im Flieger nach Frankfurt, First Class.

Dr. Cornelius Zidona, begnadeter Akquisiteur, kann alles herbeireden, vom kompletten Maschinenpark bis zur eigenen Männlichkeit.

Ollenbeck, neuerdings Schriftsteller, nur ein Buch und schon das Männerwunder der deutschen Literatur.

Louis Freytag, Großkritiker, alterslos, wird aus Versehen getötet, scheint danach immer noch auf die Pauke zu hauen.

Carl Feuerbach und Helene Stirius, beide früher im Polizeidienst, heute Privatdetektive mit erstem Auftrag: den verschwundenen Picasso aufzuspüren, wohnen zwangsweise zusammen, siezen sich vorsichtshalber.

Johann Manfred »Big Manni« Busche, um die fünfzig; hat schon als Kind von riesigen Bohrern geträumt und inzwischen zig Millionen durch Leasing-Geschäfte gemacht: soll umgelegt werden.

Vanilla Campus-Busche, zwischen dreißig und fünfzig, bis zu einem legendären Ausrutscher Nachrichtensprecherin, danach Profi-Prominente und schließlich die Gattin von Busche; hat gerade ihr erstes Buch veröffentlicht, eine Sexfibel, Bodymotion.

… sowie einige alternde Schriftsteller, Kritiker usw., dazu allerlei Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.

Bodo Kirchhoff

Schundroman

Dem Frankfurter Antiquar Rüger verdanke ich die Bekanntschaft mit den Büchern von Charles Willeford; Willefords Miami Blues verdanke ich die Lust auf eine Gangsterstory mit der Variante des zufälligen Anfangsopfers auf einem Flughafen; und das Sizilianische unseres Literaturbetriebs lieferte die Notwehrlage für diesen Roman aus der Hüfte, einschließlich der Idee, daß jenes Anfangsopfer nur der Pate selbst sein kann.

B.K. März 2002

Warum tut lieben mehr weh als töten?

(Willem Hold)

1

Willem Hold hatte sie schon während des Starts entdeckt, als sie unter dem Ärmel eines weißen Herrenhemds auftauchte, infolge der Beschleunigung oder von Nervosität, die einen beim Abheben den Arm strecken läßt, pendelnd um ein schmales Gelenk, schmal, aber weich, die Jaeger-Le Coultre Reverso mit Sekundenanzeige, eine seiner Traumuhren, seit er denken konnte, neben der Rolex Daytona Newman: von der sie sich unterschied wie das Gute vom Bösen.

Lange hatte er nur auf die Hand und das Gependel gesehen, erst nachdem die Schlafbrillen verteilt waren, riskierte er auch einen Blick auf Lippen und Nase der Frau. Die paßten zu einer Reverso, fand er, zu ihrer schlichten Form mit den feinen arabischen Zahlen, und die Augen unter der Brille, die stellte er sich grün bis braun vor, jedenfalls alarmierend. Willem Hold – seinem Gefühl nach Anfang Zwanzig, in Wahrheit längst über Dreißig – konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so ruhig neben einer Frau gelegen hatte, noch dazu umgeben von hilfsbereiten anderen weiblichen Personen, aber er war auch noch nie erster Klasse geflogen. Höchst angenehm war das, eine kleine entgegenkommende Welt, mit persönlicher Stewardess, die einen beim Namen nannte, auch nach Verlöschen aller Lichter, »Möchten Sie geweckt werden, Herr Pallas?« Wie selbstverständlich kam das aus ihrem Mund, dem einer Vorstadtschönheit, und seine Antwort war ein sachtes Hin- und Herbewegen des Zeigefingers. An Schlaf war für ihn gar nicht zu denken; wenn es etwas gab, dem Willem Hold traute, waren das seine Wachheit und die Fähigkeiten eines philippinischen Paßfälschers.

Er hatte das Dokument erst gestern mittag bekommen, aus der Hand des berüchtigten Homobono Narciso, früher in Sonderkommandos tätig, seinen Opfern, soweit sie noch lebten, als Major Bony unvergeßlich, der linken Hand, muß man sagen, denn die rechte fehlte dem Exmajor, der sich seit dem Sturz von Estrada, dem Schmieren-Präsidenten, als einhändiger Detektiv in Manila durchschlug, meist im Dienst von Anwälten, die beim Prozeßgegner nach Schmutz suchten, wenn es sein mußte, den Schmutz auch bestellten. Irgendwer hatte Narciso beauftragt, ihn zu engagieren, vermutlich ein Deutscher, denn es ging ja nach Deutschland, und der Exmajor hatte den Paß bestellt, bei Leuten mit Zugang zur Staatsdruckerei, versteht sich. Wer hinter alldem steckte, mußte Geld haben, viel Geld, und wer für ihn tätig wurde, flog eben erster Klasse – aber offenbar immer noch nicht genug Geld, dachte Hold, sonst hätte man ihn kaum engagiert.

In der First, hieß es immer, könnte man schlafen, doch Willem konnte nirgends schlafen, es half auch nicht, wenn eine Frau neben ihm lag, er meinte dann, ihren Schlaf bewachen zu müssen, und sah sie an, wie er seine Sitznachbarin mit der Reverso ansah, obwohl er mehr als eine Armlänge von ihr getrennt war: Technisch betrachtet, befand sie sich neben ihm. Einen Fuß auf dem anderen, die Hände auf den Schenkeln – sie trug eine Jeans von der Zweihundert-Dollar-Sorte –, lag sie entspannt auf dem Rücken, Brust und Bauch mit Teilen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bedeckt, hübsch um einen freiliegenden Nabel gruppiert, und was für einen, das perfekte Oval, ohne Knorpel, ein gestreckter Trichter, und nicht etwa mit falscher Perle darin, sondern einem echten Tattoo am Rand – jetzt erst zu sehen, nach kurzer Turbulenz, die den Kulturteil der Zeitung Richtung Sitz rutschen ließ –, einem Symbol, kaum größer als eine Neun-Millimeter-Patrone, aus seiner Sicht das Sinnbild der Männlichkeit, wie man es auf Klowänden findet (in Wahrheit der winzige Umriß eines oberitalienischen Sees, doch wer vermutet im Nabelbereich schon einen geographischen Hinweis).

Er schätzte sie auf Ende Zwanzig, höchstens, und weder ihr weißes Hemd noch die unschuldig hellen Nägel, maßvoll spitz, und schon gar nicht die traumhafte Uhr – gelbes Lederband – konnten ihn darüber hinwegtäuschen, daß sie in diesem Liegesitz fehl am Platz war, so fehl wie er. Willem Hold sah sich neben einer jener Frauen sitzen, die im Dienste gewisser Männer mit Geld für eine Nacht um die halbe Welt fliegen, käuflich, aber auf hohem Niveau, sonst würde sie kaum diese Zeitung lesen, die sogar in den deutschen Bars von Manila manchmal herumlag, vermengt mit der Bild-Zeitung zu einem Müll aus Klatsch und Wirtschaft, und er warf einen Blick in den aufgeklappten Kulturteil. Morgen fing die weltgrößte Buchmesse an, Rekord an Neuerscheinungen, hieß eine Überschrift, also reisten auch etliche Männer mit Geld nach Frankfurt, verständlich, daß eine Frau wie sie auf dem Heimweg war. Er besaß nur eine vage Vorstellung von dieser Messe, die es schon gab, als er in Frankfurt zur Schule ging, die vage Vorstellung von bärtigen Typen mit Brillen, umgeben von Zigarettendunst, und dünnen Weibern in Schwarz, die aus noch dünneren Büchern lasen, allerdings besaß er auch keine rechte Vorstellung mehr von der Stadt Frankfurt, ja nicht einmal von Deutschland, das er vor einem Jahrzehnt eiligst verlassen hatte.

Hold überflog noch die Notizen über Shootingstars der Messe, allen voran ein gewisser Ollenbeck, Vertreter eines neuen Männerwunders, wie dort zitiert war, angeblich publikumsscheu, mit einem ersten, sogenannten Skandalroman, sowie eine Frau, von der er schon gehört hatte, Vanilla Campus, Verfasserin einer Sexfibel, Bodymotion. Von ihr gab es sogar ein Foto, als Diva mit wallendem Haar und leicht offenem Kußmund, dazu Augen fast so dunkel wie seine, aber etwas verengt, um sie gefährlich erscheinen zu lassen, ein Gesicht, das an den Rändern zerfloß, nur von Haar und Augen in Form gebracht, irgendwie alterslos, sie konnte dreißig sein, aber auch fünfzig, als sei dazwischen alles eins, eine einzige Crème caramel, und je länger er hinsah, desto mehr fiel ihm dabei ein anderes Gesicht ein, ebenfalls mit großem Mund, immerzu feucht und ganz ähnlich zerfließend, geradezu brüderlich, nur gehalten von zwei harten Augen, erschreckend hart für die eines Fünfzehnjährigen.

Er dachte an seine Jahre im Heim, nach frühem Tod der Eltern, er dachte an Zidona, der sein Leben verändert hatte. Eines Abends – sie hatten Modellflieger im Turnraum gebastelt – kam er mit zwei anderen und drängte ihn in die Toilette, die Helfer bogen seine Arme auf den Rücken und rissen ihm die Hose herunter, während Zidona schon die Flasche mit dem Spannlack bereithielt – Lack für die mit Wachspapier verkleideten Tragflächen der Flieger, damit sie sich spannten wie dünnes Glas –, ihm noch eins in den Magen gab und sein Ringen nach Luft dazu nutzte, den kompletten Inhalt der Flasche einem Zweck zuzuführen, den er immer noch ausbaden mußte.

»Wie spät ist es?«

Ohne die Schlafbrille abzunehmen, hatte sie das in seine Richtung geflüstert, die Frau mit dem kleinen Tattoo am Nabel, und Willem Hold sah auf ihre Uhr. »Gleich zwei«, sagte er.

»Was zwei?«

»Zwei Uhr morgens, Manila-Zeit.«

»Wieviel Stunden sind wir geflogen?«

»Fünf vielleicht.«

»Also noch acht«, sagte sie.

»Das kommt hin.«

»Und wie spät ist es in Frankfurt?«

Hold überlegte kurz; er war so lange nicht mehr nach Westen geflogen, immer nur nach Norden oder Süden, zur Erholung nach Bali, zum Shopping nach Hongkong. »Zehn Uhr abends.«

»Dann leuchten noch alle Banken. Kennen Sie Frankfurt?«

»Nein«, sagte er, »sowenig wie Ihre Augen.«

»Aber Ihre Stimme klingt ein bißchen nach Frankfurt.«

»Meine Mutter kam aus Offenbach.«

»Meine nicht«, sie hob die Schlafbrille etwas an und blinzelte unter den Rändern hervor, »ich heiße Lou.«

»Willem. Heißen Sie wirklich so?«

»Ja.«

Er versuchte, ihre Augen zu sehen, vergebens.

»Nicht Jennifer oder Tanja oder Chantal?

»Nein, wofür halten Sie mich?« Sie ließ die Schlafbrille wieder zuschnappen und lächelte, als wären ihre Augen beteiligt. »Was ist das für ein Name, Willem?«

»Das ist Wilhelm ohne H.«

»Dann will ich Ihnen jetzt etwas sagen, Wilhelm ohne H«, sie flüsterte wieder, »mein Name ist in Wahrheit etwas länger, beruflich heiße ich allerdings Lou. Und ich bin auch nicht so weit von dem entfernt, wofür Sie mich halten.«

»Ich halte Sie für gar nichts.«

»Warum lügen Sie, Willem?«

Ihre Hand mit der Reverso kam, sie suchte seine Hand, und er kam ihr entgegen, während sie flüsterte wie in der Schule, als wollte sie bei ihm abschreiben. »Sie halten mich für eine Nutte. Keine billige, aber eine Nutte. Ist mir egal. Ich hätt es nur gern, daß Sie etwas auf mich aufpassen, wenn ich schlafe.«

»Das tue ich sowieso schon.«

»Um so besser. Dann gute Nacht.«

Und damit drehte sie sich auf die Seite, ihm vertrauensvoll zugewandt, und Willem Hold – der seinem Vornamen schon in der Schule mehr Schwung verliehen hatte – war wieder allein mit sich und der Welt, während die große Maschine irgendwo über Indien hinwegzog, mit Kurs auf Frankfurt, wo er schon am nächsten Abend für fünfzigtausend Euro einen Mann töten sollte.

2

Lou (auch wenn in ihrem Paß etwas anderes stand), Nachname Schultz, schon im Herrmann-Lubbe-Heim am Rande Frankfurts nur Die Schultz, litt unter ähnlichen Schlafstörungen wie Willem Hold, immer in Sorge, es könnte ihr im Schlaf etwas zustoßen; zwei frühere Heimkinder oder Ex-Insassen lagen da in der First nebeneinander, reiner Zufall, während die benachbarten Sitznummern der Passagiere Pallas und Schultz in der ersten Klasse des Lufthansaflugs Manila–Frankfurt alles andere als Zufall waren.

Sie schliefen also beide nicht, was aber nur einer von beiden wußte, nämlich die Frau mit den bedeckten Augen, die nur so tat, als würde sie schlafen, in einer Art Einklang mit ihrem Nachbarn, der so tat, als würde er auf sie aufpassen; in Wahrheit sah Willem Hold nur auf ihren prachtvollen Kußmund, umrahmt von zwei weichen Wangen, und dachte an Zidona.

Ein einziges Mal waren sie noch aufeinandergetroffen, Zidona und er, zwanzig Jahre nach dem Vorfall, im alten Flughafen von Hongkong, er hatte Einkäufe gemacht und hing noch auf der Duty-Free-Etage, weil im Flieger nach Manila angeblich eine Ratte herumlief, die mußten sie erst fangen, und da sah er im Spiegel eines Sonnenbrillenladens dieses Gesicht, das niemand vergessen konnte – nelkenrote Lippen, graublaue Augen, dazu die Nase eines Bischofs –, Zidona probierte die neuen Armanis, fast unverändert erschien er ihm, nur größer und breiter, als hätte jemand den Jungen von damals aufgeblasen und in einen Anzug gesteckt: Hallo Zidona, so war er einfach neben ihn getreten, neben den Mann, der ihm sein Liebesleben versaut hatte, und nun waren sie beide im Spiegel zu sehen, Ich bin’s, Hold, du erinnerst dich, und Zidona lächelte und hielt ihm ein Kärtchen hin, als sei er stumm oder angewidert, er war Lawyer mit Büros in München und Singapur, aus allem heraus sozusagen, jedenfalls fiel es Hold schwer, auf die alte Geschichte mit seinem Schwanz zu kommen, er kam erst einmal auf Manila und seine kleinen Geschäfte – Vermittlungsservice, was so anfällt –, schaffte es aber immerhin, Zidona von dem Brillenladen in eine der entlegenen Rauchernischen zu lotsen, wobei er ihm einiges auftischte, angefangen mit seiner Zeit als Soldat, einem Einsatz in Somalia, und später habe er Deutschland verlassen müssen, nach einer Schießerei mit Russen; er wollte ihn partout beeindrucken, und als Zidona nur lachte und auf die eigenen Dinge kam, mit komplizierten Verträgen Wege zu ebnen – Aber rund um den Globus, Hold –, wäre es schon lächerlich gewesen, noch auf ein Stückchen ruinierter Haut zu kommen, ihm blieb nur ein wortloser Akt, als sie plötzlich allein in der Rauchernische waren. Er rammte Zidona einen Ellbogen in den Bauch und drückte das Gesicht des Eingeklappten in eine flache Schüssel mit qualmendem Sand, dem Sand, in den die Raucher ihre Kippen steckten, brachte es dann aber nicht zu Ende, sondern lockerte den Griff, bis Zidona Luft bekam, erstickte Schreie in den Sand stieß, und beugte sich an sein rotes Ohr, Erinner dich, Arsch, ihr wart zu viert, Kickler, Wolke, du und der Spannlack… Du hattest noch kein Haar am Sack, aber konntest schon sagen, was ein Trauma ist – jetzt verpaß ich dir ein Trauma, Hold, das waren deine Worte! Und damit ließ er ihn los, und Zidona spuckte und keuchte und wischte sich Sand und Glut von der Nase, verlor jedoch nicht die Beherrschung oder gewann sie sofort zurück: Das nächste Mal sei er wieder dran, mit diesem Satz ging er einfach – irgendwie imponierend – davon; ihm zitterten jedenfalls noch die Hände, als sein Flieger mit zwei Stunden Verspätung abhob, nachdem die Ratte, wie es hieß, liquidiert worden war.

Es brauchte nur Sekunden, um an all das zu denken, dann war Hold schon wieder bei seiner schönen Sitznachbarin. Ihr leises Schnarchen hatte etwas Gespieltes, als wollte sie ihn übers Ohr hauen, an seine Brieftasche kommen, samt falschem Paß, sobald er selbst schliefe, aber da hätte sie keine Chance. Willem Hold war hellwach, schon weil er an den Ort zurückkehrte, den er eigentlich für immer verlassen hatte. Fünfzigtausend Euro waren zwar ein Argument, aber kein Beruhigungsmittel; im Grunde war er hellwach, seit ihm der einhändige Exmajor das Angebot unterbreitet hatte, auf der Basis eines lückenlosen Wissens. Narciso wußte von der Klemme, in die er mit seinen Vermittlungsgeschäften geraten war, wem er welchen Betrag bis wann schuldete oder was in Deutschland noch gegen ihn vorlag, ja selbst, womit er seinerzeit als Soldat aufgefallen war, Schießergebnissen, die ihn fast zur Schnellen Eingreiftruppe gebracht hätten. Er hatte die einen oder anderen Details irgendwann irgendwem in Manila erzählt, doch nur bei einem waren die Dinge zusammengelaufen, nämlich bei Major Bony, für den sie ein klares Bild ergaben, das Bild eines begabten Amateurkillers. Man konnte dem Provisionsgeier Narciso in seinem Revier nicht entgehen, man konnte sich nur mit ihm verständigen, und die Verständigung sah so aus: Er, Willem Hold, sollte in Frankfurt den Leasing-Unternehmer Busche erschießen, einen Geldsack mit Geschäften in aller Welt; ein Fünftel des Honorars hatte er schon in Manila erhalten, weitere Zehntausend sollten gleich nach Erledigung des Auftrags folgen, der Rest bei seiner Rückkehr. Und damit ließen sich nicht nur alle Schulden bezahlen, dachte Hold, sondern auch die Sympathien einer Frau wie Lou für ein paar Nächte gewinnen: die dann tatsächlich neben ihm schliefe, statt ihn mit leisem Geschnarche an der Nase herumzuführen.

3

Während die Lufthansa-Maschine mit den zwei schlaflosen Passagieren im Bug über dem Arabischen Meer war (unter Umständen auch schon über dem Golf mit seinen Gasfeuern in der Dunkelheit, verbindet sich doch die Vorstellung des Arabischen Meeres viel leichter mit der eines Verbrechens), konnte auch ein anderer nicht schlafen: der Mann, der in ein paar Stunden aufstehen mußte, um bei Ankunft der Maschine am Flughafen zu sein. Es war seine erste Tätigkeit nach längerer Pause, dazu die erste in neuer Funktion. Als Partner eines kleinen Detektivbüros – außer ihm gab es nur noch die Inhaberin – sollte er im Auftrag einer Erbengemeinschaft einen aus Manila zurückgekehrten weiblichen Fluggast beschatten (Willem Holds reizvolle Sitznachbarin, wen sonst); alles spreche dafür, daß sie in Südasien einen Picasso verkauft habe, der ihr nach dem Tod eines Stammkunden in einem Hotelbett laut dessen letztem Willen zugefallen war, wobei die Erben nicht nur diesen Willen, sondern auch den Tod durch Herzversagen in Zweifel zogen; kein Fall für die Kripo oder den Verein, den Carl Feuerbach vor einem Jahr hinter sich gelassen hatte, nach einer dienstlichen Tragödie, die er als höchstpersönliche empfand.

Feuerbach saß, anstatt zu schlafen, in der Küche einer Zweihundertquadratmeterwohnung im Frankfurter Apfelwein-Stadtteil Sachsenhausen, Morgensternstraße, und dachte über sein Leben nach. Er war seit heute Untermieter, mit Bett und Schrank in einem noch nicht leer geräumten Kinderzimmer, dazu Benutzungsrecht für Bad und Küche; Hauptmieterin war die Frau, die ihn als Partner akzeptiert hatte, bis vor kurzem auch im Polizeidienst, angeblich im Krach aus dem Beamtenreich ausgeschieden und etwas weniger angeblich in finanziellen Schwierigkeiten, jedoch auf keinen Fall bereit, die schöne Wohnung zu räumen; dreihundert verlangte sie für das Zimmer, kalt. Im Grunde hatte er nur auf eine Beteiligungsanzeige reagiert – Partner mit Kriminaldiensterfahrung für neues Detektivbüro gesucht –, war aber sofort als in Frage kommender provisorischer Untermieter erkannt worden, als sei ihm die Geldknappheit nach einem Jahr Herumreisen durch die Welt auf die Stirn geschrieben, und so hatte er schließlich doppelt zugesagt, am Ende mit dem Argument geködert, daß dadurch sein Weg ins Büro lediglich über den Flur führen würde; außerdem hätte er im Moment, am Beginn der Buchmesse, nicht den Hauch einer Chance, auch nur das schäbigste Schlafloch in Frankfurt oder Umgebung zu finden.

Er saß ohne Licht in der Küche, das rote Lämpchen der Kaffeemaschine reichte ihm; Regen fiel gegen die Scheibe, und an den Füßen spürte man schon den Oktober, besonders nach einem Jahr in der Wärme. Am Anfang hatte er nur an eine Auszeit geglaubt, das heißt an eine Rückkehr in den Polizeidienst, wenn sich sein Schock gelegt hätte, aber er legte sich nicht, weder am Amazonas noch in den Weiten Australiens und auch nicht im Sprechzimmer eines in Polizeikreisen gerühmten Psychologen, Ganz los werden Sie das wohl nie, sagte der, auch wenn Sie keine juristische Schuld trifft; aber Sie haben einen Jungen erschossen, der nur eine Spielzeugwaffe in der Hand hielt.

Der Kaffee war fertig, und Feuerbach suchte in der Dunkelheit eine Tasse, neben der Spüle stand ein ganzer Berg von Geschirr, Tassen und Teller ineinanderverkeilt, er versuchte, eine Tasse herauszulösen, wie einen Mikadostab, doch es geriet gleich das Ganze ins Wackeln, und ein Teller glitt aus dem Geschirrberg, beschleunigt womöglich durch Butterreste, sauste über die Kante und zersprang mit hellem Klirren auf dem neu verlegten Terrakottaboden, den er gewissermaßen mitfinanzierte.

Einige Sekunden lang war es still in der großen Wohnung, und Feuerbach bückte sich schon, um die Scherben zu sammeln, da ging eine Tür auf, die Tür zum Zimmer der Studentin, die ebenfalls die Gesamtkosten drückte: im selben Umfange, hieß es. Ihr Name war Nola, das hatte er sich notiert, um es nicht zu vergessen, und sie studierte Theologie, ohne Wenn und Aber, also mit dem Ziel der Kanzel, und für eine künftige Pastorin – eine von der Sorte anklagende Lebendigkeit – sah Nola ziemlich verwegen aus, so verwegen, daß man es gar nicht vergessen konnte.

»Kann ich helfen?« Noch vor Betreten der Küche sagte sie das, statt ein Theater zu machen, und er bat sie, das Licht auszulassen, aber da knipste sie es schon an, und er sah ihren weißen Pyjama mit dem verwühlten Haar über den Schultern, brünett, das hatte ihn schon immer fertiggemacht.

»Tut mir leid mit dem Teller.«

»Dafür gibt’s frischen Kaffee.« Nola reichte ihm Kehrschaufel und Besen, und Feuerbach fegte die Scherben zusammen, während sie zwei Tassen spülte.

»Sie sollten weiterschlafen«, sagte er.

Nola stellte die Tassen auf den Tisch, samt Zucker und Milch.

»Jetzt bin ich wach.«

»Es tut mir wirklich leid.« Er warf die Scherben in den Müll; dabei fiel ihm auf, daß er nur Shorts und ein Unterhemd trug und beides Löcher hatte.

»Es muß dir nicht leid tun. Oder Ihnen…«

»Egal«, sagte er, »wie du willst«, aber es war ihm nicht egal, er wollte diese künftige Pastorin mit verwühltem Haar und runden Schultern unter dem weißen Pyjama nicht duzen und schon gar nicht von ihr geduzt werden, es schien ihm das sicherste Mittel, die Zeit in dieser Wohnung heil zu überstehen, doch nun war es passiert, der Zwischenfall mit dem Teller hatte alles durcheinandergebracht; mal steht kaputtes Geschirr am Ende, mal am Anfang einer Geschichte, man steckt nicht drin, dachte er, wäre er nur bis zum Läuten des Weckers im Bett geblieben.

»Und du?« fragte Nola. »Kannst du nicht schlafen oder stehst du schon auf?«

»Ich muß sehr früh zum Flughafen.«

»Allein?«

Feuerbach nahm sich Zucker.

»Ja, mein erster Einsatz.« Er machte eine Kopfbewegung zum Flur hin und flüsterte jetzt. »Sie kann nicht mit, sie trifft ihren Exmann, ich glaube, es geht um den Sohn.«

»Bei Helen geht es immer um ihren Sohn. Und um Geld. Ihr Ex verdient nichts.«

»Und warum wohnt der Sohn dann bei ihm?«

»Weil sie das Geld ranschafft, ganz einfach.« Nola strich sich das Haar hinter die Ohren; sie hatte große runde Wangen. »Und was gibt’s so früh am Flughafen?«

»Ich glaube, das ist kein privates Thema.«

»Nein? Wie lange wohnst du jetzt hier?«

»Einen Tag.«

»Ich ein Jahr – hier gibt es nur private Themen.«

Feuerbach sah über den Rand der Tasse in zwei braune Augen unter dichten Wimpern. »Ich soll eine Frau beschatten, so eine Art Edelhure, sie kommt mit der Lufthansa aus Manila.« Er trank einen Schluck und behielt dann die Tasse am Mund. »Könnte sein, daß sie beim Tod eines reichen Kunden in einem Hotelbett nachgeholfen hat. Er war Sammler und soll ihr einen Picasso vermacht haben, ein Bild, das als verschollen galt, weil es bei ihm nie offiziell aufgetaucht war. Er verwahrte es in einem Safe, während sie seit einiger Zeit einen Brief besaß, zu öffnen im Falle seines Todes. Der Brief enthielt die Kombination und eine knappe Liebeserklärung. Und so kam sie an das Bild und hat es jetzt vermutlich in Südostasien verkauft.«

»Und wie hat sie nachgeholfen?«

»Wie?« Er sah plötzlich eine Chance, sich aller Chancen zu berauben. »Sie hat dafür gesorgt, daß sich der Typ zu Tode fickt.«

»Und das funktioniert?« fragte Nola nur.

»Warum nicht.« Feuerbach leerte die Tasse, Nola schaute ihm zu, nun von anklagendem Interesse, als wollte sie sagen, daß er zu wenig von Frauen und Sex verstehe, um eine solche Beschattung aufgrund einer derartigen Theorie rechtfertigen zu können. Er setzte die Tasse ab und beugte sich über den Küchentisch, bis er ihr Haar riechen konnte. »Der Mann war herzkrank, und sie hat ihn rangenommen, bis sein Kreislauf zusammenbrach.«

»Warst du dabei?«

»Es gibt Hinweise.«

»Worauf? Daß sie es gut getrieben haben?«

Er nahm die Tasse wieder an den Mund, obwohl sie leer war, aber irgendwie half ihm das, sein Staunen zu verbergen. »Es war mehr als das Übliche, davon gehe ich aus.«

»Du hast dich schnell eingearbeitet«, sagte Nola.

»Es blieb mir nichts anderes übrig.«

»Und was ist mehr als das Übliche?«

»Was weiß ich, drei Nummern pro Nacht.«

»Warum nicht vier?«

»Okay, vielleicht vier. Ich denke, du studierst Theologie…«

»Dann sag ich fünf.«

»Gut, sie haben es fünfmal gemacht.«

»Und seit wann«, sagte Nola, »ist Leidenschaft strafbar?«

Feuerbach setzte die Tasse wieder ab, diesmal endgültig; irgend etwas wollte sie erreichen, vielleicht eine Art Hierarchie in der Wohnung klarstellen. »Nun paß mal auf«, flüsterte er, »die einzige Leidenschaft einer Nutte ist das Geld.«

Nola faltete die Hände, eine verwirrende Geste in dem Zusammenhang. »Du hast doch bestimmt ein Foto von ihr, dann schauen wir mal, ob wir diese Leidenschaft erkennen.«

Er sah, wie ihr Mund leicht in die Breite ging, zu einem müden Lächeln, und holte das Foto aus dem früheren Kinderzimmer. Es zeigte die Schultz in einem hellen Trenchcoat, offenbar trug sie nichts darunter; ihre Lippen waren ungeschminkt, ihr blondes Haar war naß; sie versuchte, mürrisch zu schauen, aber es wirkte eher komisch. Nola sah sich das Foto eine Weile an, dann stand sie plötzlich auf: »Wie viele solcher Frauen kennst du?« Feuerbach tat, als würde er nachdenken; genaugenommen kannte er keine. »Was weiß ich«, sagte er, und Nola lächelte auf ihn herunter, bevor sie die Küche verließ, »danke für den Kaffee.«

»Warte…«

Ihr Kopf erschien noch einmal im Türspalt.

»Worauf?«

Feuerbach wußte keine Antwort, und Nola verschwand.

Eine Weile blieb er noch sitzen, wie um sich selbst zu beweisen, daß er es auch allein in dieser Küche mit dem neuen italienischen Boden aushielt, dann ging er auf sein Zimmer und zog sich an für den Einsatz. Irgend etwas, so schien ihm, hatte er verlernt in dem Jahr, jedenfalls fühlte er sich schutzlos gegenüber einer Frau wie Nola, viel schutzloser als ohne Dienstmarke und Waffe in seinem neuen Job: Da mußte man sich nur etwas unsichtbar machen, wie einfach. Er holte noch seinen Mantel aus besseren Tagen aus einem Umzugskarton, löschte das Licht und verließ die große Altbauwohnung.

Der Regen hatte aufgehört, dafür wehte ein feuchter Wind auf dem Weg zur U-Bahn-Station. Er wäre viel zu früh am Flughafen, dachte Feuerbach, aber dort ließe sich besser die Zeit totschlagen als in einer Wohnung, die ihn nichts anging. Vor einem Jahr hatte er noch selbst gut gewohnt, in Berlin, wo überhaupt alles besser war als in Frankfurt, und nun war er Untermieter. Dieses Wort verfolgte ihn, bis er in etwas Weiches trat, den Schuh hob und fluchte. Er fluchte so laut, daß Fenster aufgingen, während am Ende der Straße ein Kalb von Hund hinter einem Tengelmann-Lieferwagen hervorkam, gefolgt von seinem Frauchen. »Stehenbleiben«, rief Feuerbach, aus alter Gewohnheit, »stehenbleiben!«, und begann auch schon, dem Täter hinterherzurennen; keine hundert Meter lagen zwischen ihm und dem Kalbshund, doch sie kamen ihm vor wie eine unüberwindliche Strecke, so unüberwindlich wie zwischen ihm und der Art von Leben, das er vor seiner Auszeit geführt hatte.

4

»Sie schlafen nicht«, flüsterte Hold.

Seine Sitznachbarin, technisch betrachtet, schnarchte jetzt nicht mehr, sie lag da wie aufgebahrt, Hände über dem Nabel gefaltet, nur ihre Lippen zuckten etwas, als erwarte sie einen Kuß, und dann ging die linke Hand zum Gesicht, sie klappte die Schlafbrille um, er sah ihre Augen, und die waren braun, unter geraden schmalen Lidern, ein sanfter und zugleich harter Blick. »Wilhelm ohne H«, sagte sie, »tu uns beide einen Gefallen, verwandel dich in ein richtiges Bett, und ich komme rüber.«

»Bequemer kann man’s nicht haben im Flugzeug.«

»Blöder kann man nicht antworten.« Sie klappte die Brille wieder über die Augen, schien ihn aber immer noch anzusehen.

»Tut mir leid«, sagte Hold, »ich kann nicht zaubern.«

»Dann erzähl mir wenigstens was, damit ich einschlafen kann.«

»In welcher Art?«

»Egal, irgendwas mit Liebe.«

Willem beugte sich hinüber; er wurde nicht schlau aus ihr, entweder war sie betrunken oder ließ keine Gelegenheit aus, ihren Kundenkreis zu erweitern. »Bist du betrunken?«

»Nein.«

»Okay, also irgendwas mit Liebe.«

»Ja.«

Er überlegte kurz, und dann fiel ihm eine Geschichte ein, die er als Junge erlebt hatte, im einzigen Urlaub mit seinen Eltern, an einem großen See, in einem Tretboot mit einem Mädchen. »Ich war etwa fünfzehn«, begann er, »und hatte noch nie geküßt und das andere sowieso nicht, da sprach mich ein Mädchen an, ob ich mit ihr Tretboot fahren wollte, sie hieß Annika.«

»Ja nicht«, unterbrach ihn Lou, »dieser Name versaut die ganze Geschichte.«

»Aber sie hieß so.«

»Dann laß dir was anderes einfallen, Wilhelm ohne H!«

»Silence«, zischte jetzt jemand von hinten, und schon kam ein Flugbegleiter, die Hand am Haar, und bat um Ruhe, solange das Deckenlicht aus sei. Hold war darüber nicht undankbar, auch wenn er es haßte, von einer Schwuchtel ermahnt zu werden. Er fühlte sich im Moment gar nicht stark genug für eine Liebesgeschichte, und je näher die zurückgelassene Heimat rückte, desto schwächer fühlte er sich. Ja, er dachte sogar, diesem ganzen Auftrag nicht gewachsen zu sein, außerdem lag in Deutschland noch immer ein Haftbefehl gegen ihn vor, angeblich wegen Raubmords, obwohl es doch Notwehr war damals, nichts als Notwehr.

»Kommen Sie zu mir, ich will Ihnen etwas erzählen«, flüsterte Lou, und Willem ließ sich nicht zweimal bitten. Er hockte sich zwischen den Sitzen auf den Boden, Kopf in Höhe ihrer Brust, und da kam auch schon eine Hand, ihre linke, und griff ihm in den Nacken, zog den Kopf noch etwas näher. »Wir wollen hier ja niemanden wecken«, sprach sie ihm leise ins Ohr, »also müssen wir uns so unterhalten, geht das in Ordnung?« Er nickte, und sie fuhr fort. Wie ein Kind nach der Schule von einem Glück im Unglück erzählt, erzählte sie ihm von dem verstorbenen Kunden, verstorben in einem Frankfurter Hotelbett, und dem Picasso, den er ihr noch zu Lebzeiten vermacht habe, von den erbosten Erben und der Polizei, die sie ihr auf den Hals gehetzt hätten. »Aber der Polizei«, flüsterte sie, »fehlten Beweise, und darum drohten die Erben damit, Detektive zu engagieren, wenn ich das Bild nicht herausgeben würde. Die sollen es mir abjagen, aber auch Beweise liefern, daß es nur durch Mord in meinen Besitz kam. Ich konnte dann gerade noch Richtung Manila abhauen mit dem Bild, weil es nicht groß ist, ich hab’s zwischen Zeitungen und Wäsche in den Koffer gestopft, nur konnt ich dort nicht einfach bleiben, mein Revier liegt leider in Frankfurt. Und natürlich haben sie dort jetzt jemanden engagiert, und der steht nachher am Flughafen, was weiß ich wo, mit Fotos von mir, und wird mich erkennen und dann beschatten und irgendwie fertigmachen – Sie kriegen wir dran, hat mir einer der Erben auf die Mailbox gesprochen, Sie Luder kriegen wir dran! Die wollen mich lebenslänglich ins Gefängnis bringen, verstehst du das?«

»Ja, ich verstehe. Und wo ist der Picasso jetzt?«

»Keine Ahnung. Er ist verkauft…«

»Für wieviel?«

»Das geht dich nichts an.«

»Wie groß war das Ding?«

»Ich sagte doch: Es ging in den Koffer.«

»Und was war drauf?«

»Irgendein Scheiß.«

Ihr Mund berührte jetzt sein Ohr, und er wußte, daß gleich die Schmerzen da unten kämen, wenn sie so weitermachte, am besten, er dachte an etwas anderes. »Was für ein Scheiß?«

»Ein echter, ich meine, ein kackender Mann. Ich würde keine hundert Mark dafür bezahlen.«

»Es gibt keine Mark mehr.«

»Ich würde gar nichts dafür bezahlen.«

»Aber irgendwer hat was bezahlt…«

»Eine Menge sogar, angeblich.«

»Wieso angeblich?«

»Ich hab’s nicht selbst verkauft, das war ein Bekannter.«

»Und der hat jetzt die Menge?«

»Er hat’s für mich angelegt, abzüglich Provision.«

»Sagt er. Und warum sollte ich das Ganze erfahren?« Hold war mißtrauisch geworden, irgend etwas stimmte nicht, entweder die Picasso-Geschichte oder ihre Hand in seinem Haar.

»Ganz einfach«, flüsterte sie, »ich will, daß du mir nachher am Flughafen hilfst. Ich bin in einer üblen Lage.«

»Was soll ich tun?«

»Nur dafür sorgen, daß ich abhauen kann. Den Kerl, der mich beschatten soll, irgendwie ablenken.«

»Der wird sich kaum zu erkennen geben. Man kann nur davon ausgehen, daß er gleich hinter dem Zoll wartet.«

»Dann tun Sie irgendwas, das jeden dort ablenkt.«

Lou – der Name war ihr auf den Mund geschrieben – fiel plötzlich wieder ins Sie, und Hold schloß daraus auf den Grad ihrer üblen Lage; das Wasser stand ihr wohl bis zum Hals.

»Gut, was bekomm ich dafür?«

Sie küßte seine Ohrmuschel.

»Meine Handynummer. Abends können Sie mich anrufen, ich bin in meiner Wohnung. Dann sehen wir weiter…«

»Du solltest dich besser woanders aufhalten.«

»Die Wohnung kennt keiner, ich bin nicht die Mieterin.«

»Der Mieter ist dein Bekannter.«

»Woher wissen Sie das?«

»Hab ich geraten«, sagte Hold. »Wie heißt er?«

»Das spielt keine Rolle.« Lou nahm die Serviette, auf der ihr letzter Drink stand, sie schrieb mit Kugelschreiber eine Nummer darauf. »Mein Gerät ist immer an. Aber warte bis zum Abend.«

»Am Abend hab ich was vor.«

»Dann meld dich danach.«

»Und dein Bekannter?«

»Der ist noch in Manila.«

»Wurde dort das Bild verkauft?«

»Ja, kann sein.«

»Dann muß er einiges draufhaben, dieser Bekannte.«

Willems Sitznachbarin lächelte, aber es gefiel ihm nicht, dieses Lächeln, es machte sie älter.

»Wovon lebt der Typ?«

»Vom Reden. Er verhandelt für eine Firma.«

»Ach so?« Hold wandte ihr das Gesicht zu, während hinter ihnen schon wieder gezischt wurde und auch gleich die Flugbegleiterschwuchtel nahte. »Worüber verhandelt er denn?«

»Er verhandelt nicht, er erzählt von Produkten.«

»Also ein Vertreter.«

»In der Art«, sagte Lou. »Helfen Sie mir jetzt?!«

Leselampen gingen an, empörtes Flüstern war zu hören, der Flugbegleiter holte die Kollegin mit dem Vorstadtreiz, während Hold, von alldem unberührt, an die Schlafbrille seiner Nachbarin griff. »Erstens, ich heiße Willem. Zweitens, ich bleibe nur vierundzwanzig Stunden in Frankfurt. Drittens, ich habe selbst Ärger genug.« Und damit klappte er die Schlafbrille hoch und sah in zwei umwerfende Augen und sagte, nach kurzem Luftholen: »Viertens, ich werd sehen, was ich tun kann.«

5

Die frühere Hauptkommissarin Helene Stirius, stets bemüht, ihren Vornamen um ein kleines e zu erleichtern, Helen also, sechsunddreißig, mit Generalkrise vor einem Jahr – Austritt aus dem Polizeidienst wegen Überempfindlichkeit, Scheidung mit Verlust des Sorgerechts für Sohn Kasimir, Einfrieren ihres Sexuallebens bei Verbleib in einer Luxuswohnung, Halt am Strohhalm der Erwachsenen-WG und einer Firmengründung –, Helen Stirius saß mit ihrer Katze Naomi in der Küche und betrachtete die Reproduktion eines nicht gerade jugendfreien, vielleicht nicht einmal erwachsenenfreien Bildes aus der Hand des berühmtesten Künstlers der Neuzeit, zwar leicht verstört durch das Sujet, doch keineswegs tangiert in ihrer bekannten Empfindlichkeit (die im Grunde erst bei Vorgesetzten mit Dreitagebärten oder deutschen Polizeiuniformen tangiert war).

Ein stehend defäzierender Mann war da zu sehen, einschließlich dessen, was er von sich gab, ein Mann mit großen dunklen Augen, dem Künstler nicht unähnlich, sowie zwei alte Prostituierte, die der Angelegenheit beiwohnten oder dem Mann auch sachte zur Hand gingen, ihr neuer Mitarbeiter war jedenfalls dieser Ansicht. »Sie erlösen ihn von Verstopfung, ich glaube, darum geht es«, hatte Feuerbach beim Beziehen seines Bettes gesagt, und irgendwie erschien ihr das immer noch einleuchtend.

Allerdings war Helen auch bereit, sich überzeugen zu lassen von diesem Mann, den sie da in ihr kleines Unternehmen und auch gleich in ihre Wohnung aufgenommen hatte, auf Probe versteht sich. Carl Feuerbach war keine gescheiterte Kriminalbeamtenexistenz, das hatte sie gleich gemerkt, er war höchstens an sich selbst gescheitert, ohne die Lust am Ermitteln verloren zu haben. Außerdem behauptete er, ihre Katze zu mögen und überhaupt Tiere, bis auf kalbsartige Hunde, und was die Menschen betraf, so unterschied er, ähnlich wie sie, nur zwischen kleinen und großen Schweinen, wobei er sich selbst natürlich zu den kleinen zählte, von jeher gewillt, wie er sagte, die großen der Gerechtigkeit zuzuführen. Aus ihrer Sicht war das eine gewisse Neigung zum Pathos – der Sicht der älteren, vier Jahre seinen Papieren nach –, doch diese Neigung war nicht das Problem, das sie auf sich zukommen sah; das Problem war sein Aussehen. Feuerbach war dunkelblond, mit blauen Augen und zwei Falten um einen beim Lachen breiter und breiter werdenden Mund, und eine wie sie, die gern ins Kino ging, müßte schon halb blind sein, um nicht an den jungen Steve McQueen zu denken. Im übrigen glaubte er, daß der Picasso in Asien gut eine Million gebracht haben dürfte, jetzt müßte man dieser Schultz nur noch die Tötungsabsicht nachweisen und an das Geld herankommen oder, noch besser, an den Käufer und das Bild selbst, dann wäre ein sattes Honorar fällig, zehn Prozent vom Erlös oder Wert des Picassos. Ihr neuer Mieter und Mitarbeiter hatte sich förmlich gerissen um den Flughafenjob am Morgen, so konnte sie in Ruhe aufstehen, um sich mit ihrem Sohn zu treffen – dessen arbeitsloser Erzeuger schon wieder mehr Unterhalt von ihr verlangte.

Helen war bereits angezogen und saß mit dem Rücken zum Fenster, wie immer bei Regen, neben dem Frühstücksei eine teure Uhr, die alte Baume&Mercier ihres Vaters, und vor sich die einem Privatkatalog entnommene Picasso-Reproduktion.

»Warum hat der so was gemalt, möcht ich mal wissen.«

»Er konnte ja nicht dauernd Guernica malen. Oder irgendwelche schiefen Frauen.« Nola brachte den Tee und setzte sich, während die Katze vom Tisch sprang. Naomi mochte nicht jede und jeden, aber jeder mochte Naomi, und irgendwie schien sie das verdorben zu haben, das war Nolas Theorie, die sie aber für sich behielt. Sie wußte, wie Helen an ihrer Katze hing, als sei ihr Naomi nicht einfach zugelaufen, sondern hätte sie gesucht, überhaupt glaubte Helen nicht an Zufälle, und in diesem Punkt waren sich Nola und ihre Vermieterin sofort nähergekommen, auch wenn es die Offenheit einer Annonce war, die sie eines Tages in die Morgensternstraße geführt hatte, Ruhige, gescheite Mitbewohnerin gesucht, keine WG-Atmosphäre!

Helen klopfte das Ei auf, eher ein Herumtrommeln auf der Schale, sie war nicht bei der Sache, sie war immer noch bei dem Bild. »Eins verstehe ich trotzdem nicht, ein Mann bei dieser Tätigkeit, das ist doch kein Motiv für einen Maler.«

»Du vergißt die zwei Frauen, die ihm zusehen.«

»Und dadurch wird es besser?«

»Nein«, sagte Nola. »Aber vielschichtiger.«

Helen köpfte das Ei jetzt; es war zu weich. Vermutlich hatte Nola recht, immerhin studierte sie. Und die kleine Belehrung war ihr auch nicht unangenehm, sie hatte selbst das Wort gescheit in die Annonce gesetzt. Nola war ihr sofort sympathisch gewesen, ein Kind aus gutem Haus, das sich für Gott interessierte, angeblich froh, bei einer früheren Kriminalbeamtin zu wohnen, eine bessere Untermieterin war kaum vorstellbar. Feuerbach erschien ihr dagegen als rein provisorische Lösung, ein Mitarbeiter in der Wohnung, das konnte nicht gutgehen. Und dann hatte er sie auch noch, aus Unkenntnis oder Angeberei, schwer zu sagen, für den heutigen Abend in ein kleines Lokal am Opernplatz eingeladen, eins der besten und teuersten der Stadt, wenn nicht das beste und teuerste; seit Tagen war dort auf seinen Namen der begehrteste Tisch reserviert, mit Blick auf den Brunnen.

»Das Ei wird kalt«, sagte Nola.

Helen nahm einen Happen; die Einladung durch einen Jüngeren hatte ja oft etwas Überwältigendes, wie die Geschenke von Kindern an ihre Eltern, ihre kleine Schwäche war also verständlich. Und was sollte schon passieren? Feuerbach sagte Sie und Helene zu ihr, er war äußerst zurückhaltend, in jeder Hinsicht; nicht einmal Tröpfchen hinterließ er im Bad.

»Kann es sein, daß heute nacht jemand in der Küche war?«

Nola strich sich das Haar hinter die Ohren, sie wurde niemals rot beim Lügen. »Keine Ahnung. Vielleicht der Neue.«

»Da hat aber jemand geredet. Und vorher hat’s geklirrt.«

Helen stand auf und sah in den Müll; jemand hatte ihn geleert.

»Oder ich hab’s nur geträumt.«

»So was gibt’s«, sagte Nola.

»Aber irgendwer hat geredet.«

»Dann war das im Radio. Er ist der Typ, der Radio hört.«

»Wenn du ihn so siehst… Willst du Tee?«

»Nein.«

»Die Kanne ist sowieso leer.« Helen strich Nola übers Haar und zog noch ein bißchen daran, bevor sie die Küche verließ, gefolgt von der Katze. Da läuft also schon was, dachte sie.